Niemand sollte vor seinem Tod sterben - Carolin Tillmann - E-Book

Niemand sollte vor seinem Tod sterben E-Book

Carolin Tillmann

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Beschreibung

Wenn man schwer kranke Menschen danach fragt, wann sie sich erstmals ihrer Endlichkeit bewusst wurden, so berichten diese nicht etwa von Krankenhausaufenthalten und Medikamenteneinnahmen. Sie schildern die Momente, wo ihnen bewusst wurde, im Job nicht mehr auf dem alten Niveau mithalten zu können; sie berichten über Situationen, in denen sie eigene Hobbies und Interessen aus gesundheitlichen Gründen aufgeben mussten und vor allem: über Erlebnisse, in denen sie das erste Mal sozial ausgegrenzt oder diskriminiert wurden. Dieser Prozess eines sozialen Sterbens kann aufgrund des medizinischen Fortschritts ganze Lebensjahrzehnte von Menschen bestimmen. Carolin Tillmann hat mit Menschen in genau diesen Situationen gesprochen und die wichtigsten Hürden in ihrem Lebens- und Arbeitsalltag aufgedeckt. Sie fragt: Was können diese Menschen tun, um sich Lebensqualität zu erhalten, welche Teilhabemöglichkeiten gibt es und wie kann das soziale Umfeld Unterstützung bieten? Ein authentischer Ratgeber, der tiefe Einblicke in Lebenswelten eröffnet, vor denen wir alle gern die Augen verschließen.

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Carolin Tillmann

Niemand sollte vor seinem Tod sterben

Ein Mutmachbuch für Schwerkranke und ihre Angehörigen

ISBN (Print) 978-3-96317-127-7

ISBN (ePDF) 978-3-96317-643-2

ISBN (ePub) 978-3-96317-681-4

Copyright © 2019 Büchner-Verlag eG, Marburg

Bildnachweis Cover: margie | photocase.de

Bildnachweise Innenteil: Melanie Schol (Abbildungen zu den Kapiteln 1 bis 5); Istockphoto | Fatcamera (Abbildung zu Kapitel 6)

Das Werk, einschließlich all seiner Teile, ist urheberrechtlich durch den Verlag geschützt. Jede Verwertung ist ohne die Zustimmung des Verlags unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

www.buechner-verlag.de

Allen,

die schwer krank sind,

die mehr als nur ihre Gesundheit verloren haben,

die etwas Verlorenes zurückbekommen möchten,

die etwas verstehen wollen,

die andere unterstützen können

und die, die denken, dass sie das Thema dieses Buches nicht betrifft.

Sorge um die Resozialisierung der Sterbenden

Ein Geleitwort von Prof. Dr. Andreas Heller

Von Karl Valentin stammt der Satz, die Zukunft sei auch nicht mehr das, was sie einmal war. Auch das Sterben ist nicht mehr das, was es einmal war. Leben und Sterben haben sich verändert und zwar tiefgreifend. Die moderne Gesellschaft begegnet uns »Sterblichen« mit Imperativen:

Du musst dein Leben und dein Sterben selbst in die Hand nehmen!

Du musst selbst entscheiden wie du leben und sterben und bestattet werden willst!

Du bist autonom und musst selbstbestimmt leben bis zum Ende!

Du sollst als Patient über dich und dein Sterben verfügen (Stichwort: Patientenverfügung)!

Du sollst beizeiten planen, was du willst und nicht willst, bevor du es nicht mehr kannst (Stichwort: Vorsorgeplanung)!

Sterben heute ist ein hochgradig individueller Vorgang geworden. Die individualisierende Dynamik der Gesellschaft (Jede ist ihres Glückes Schmied!) wird natürlich auch im Sterben spürbar. Die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen wirft neue soziale Fragen auf.

Die Moderne hat sich bedingungslos dem Prinzip der Autonomie verpflichtet. Selbstbestimmung ist das Gebot der Stunde. Bis in die Höchstgerichtsurteile ist Autonomie leitend. Nichts darf getan werden gegen den (informierten) Konsens mit den Betroffenen. Das ist zweifelsfrei eine Errungenschaft. Der Respekt vor der Person, vor ihrer unantastbaren Würde ist ein Nein gegen jede Form paternalistischer oder maternalistischer Fremdbestimmung.

Kann diese Verteidigung der Selbstbestimmung nicht auch zu einer Haltung der Beziehungslosigkeit führen? In Europa scheint man immer mehr geneigt zu sein, einfach zu akzeptieren, achselzuckend hinzunehmen, wenn ein Mensch entscheidet, nicht mehr leben zu wollen: »Er wird schon seine Gründe haben.«

Das Leiden wird als unerträglich empfunden, man sieht keinen Sinn im Weiterleben und möchte den anderen nicht zur Last fallen, schon stellen wir Möglichkeiten bereit, das Sterben zu beschleunigen. Es ist eben nicht nötig, sich weiter als Last zu empfinden, Selbstentsorgung (durch Sterbefasten, durch assistierten Suizid, durch Euthanasie) erscheinen als Alternativen. Wer sich ein Leben mit Demenz nicht vorstellen kann – »kann man ja verstehen« –, kann sich ›rechtzeitig‹ aus dem Leben machen.

Eine solidarisch-sorgende und empathische Gesellschaft (caring com- munity) reagiert möglicherweise anders. Mitgefühl und Mitleidenschaft prägen sich in einem neuen Interesse aus. Inwieweit gibt es eine soziale Verantwortung für die Sterbenden, für die am Leben müde Gewordenen? Zwingt die Haltung der Sorge nicht dazu, in Beziehung zu bleiben, den Widerspruch anzumelden und für das verbundene Leben zu kämpfen? Und inwiefern haben auch Sterbende eine soziale Mitverantwortung? Inwiefern können und sollten Überlegungen zum selbstbestimmten Sterben sinnvollerweise auch die sozialen Folgen des Sterbens einbeziehen? Ist es ganz gleichgültig oder irrelevant, für meine Kinder, Familie, für Freunde und Nachbarn, wenn ich mich suizidiere und gewaltsam aus dem Leben scheide? Kann ich die Frage, wie sie damit werden leben und umgehen können, gänzlich ignorieren?

Als Menschen sind wir fundamental soziale Lebewesen. Wir sind existenziell immer auf andere angewiesen und verwiesen. Die Antworten auf die Fragen, wer wir sind und sein können, können wir erst in Beziehung zu anderen und aus diesen Beziehungen heraus geben. Wir sind relationale Lebewesen und deshalb können wir unsere Autonomie in Relation zu anderen zur Geltung bringen. Oder anders: Die Beziehungen, das In-Beziehung-Sein zu anderen ermöglicht uns erst, im gedanklichen und gefühlsmäßigen Austausch zu sein und herauszufinden, was wir wollen, können, sollen. Autonomie und Verbundensein bilden keine Gegensätze, Autonomie ist eben relationale und soziale Autonomie.

Dieses Buch setzt mit seinen intensiven und bewegenden Geschichten und Reflexionen ein längst überfälliges deutliches Signal, es verändert die Perspektive und gängige Sehweise auf das Sterben. Sterben ist wesentlich auch ein sozialer Prozess:

Sterbende Menschen leben noch. Wir können mit ihnen in Kontakt treten. Wir können oft auch mit ihnen sprechen, verbal und nonverbal. Sterbende haben oft radikal andere Perspektiven. Nicht selten sind sie durch ihre Erkrankungen aus einer Wirklichkeit gestürzt worden und leben in anderen Wirklichkeiten als wir. Sie lehren uns, dass es verschiedene Wirklichkeiten des Lebens gibt, die zu verstehen, auf die hin Zugänge zu entwickeln ein Gebot der Mitmenschlichkeit ist. Das führt oft zu einer Relativierung der eigenen Perspektive und macht das Leben reicher.

Sterbende brauchen wie wir die Anteilnahme und Anteilgabe an der Sozialität des Lebens. Leben ist miteinander leben. Sterben ist miteinander leben bis zum Ende. Es geht um eine neue, sorgende Lebensweise, um eine Konvivialität, ein Miteinander, in dem alle und alles Platz haben, es geht um die Resozialisierung der Sterbenden in unsere Leben. Kraftvoll, leidenschaftlich und parteiisch tritt Carolin Tillmann dafür ein und eröffnet eine überfällige Debatte.

Prof. Dr. Andreas Heller

Lehrstuhl für Palliative Care und Organisationsethik an der Universität Graz; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands, Berlin; Schirmherr der bundesweiten Hospizorganisation Omega.

Inhalt

Sorge um die Resozialisierung der Sterbenden – Ein Geleitwort von Prof. Dr. Andreas Heller

Vorbemerkung

Einleitung

Kapitel 1: Warum Kranksein kein individuelles Problem ist

Gesund oder krank: Länger leben und länger sterben

Gesundheitssystem: Hauptsache, der Euro rollt

Mediziner: Gemacht wird, was der Arzt sagt

Versicherungen: Zweiklassenmedizin

Pflegekräfte: Notstand weit und breit

Kapitel 2: Sichtbare und unsichtbare Symptome

Unsichtbare Symptome: »Stell Dich nicht so an!«

Kranksein und nicht Krankscheinen

Sichtbare Symptome: »Das hatte ich auch schon!«

Wenn die Krankheit sichtbar wird

Kapitel 3: Auswirkungen chronischer Krankheit auf die Betroffenen

Leben mit der neuen Normalität

Schubladendenken

Leben in zwei Welten

Aus den Augen, aus dem Sinn

Nichts bleibt, wie es ist

Kranke Kindheit

Viel zu jung, um krank zu sein

Wer zuletzt lacht, lacht am besten

Pflegekräfte unter Druck

Zusammenfassung: Was wir aus den Berichten der Betroffenen lernen können

Erkrankte, so vielfältig wie ihre Krankheiten

Rückzug und Isolation

Neue Perspektiven

Kapitel 4: Erfahrungen von Angehörigen

Partnerschaft: Kampf mit Bürokratie und Ärzten

Elternschaft: Krankheit und Schuld

Zusammenfassung: Was wir aus den Berichten der Angehörigen lernen können

Was an den Kräften zehrt

Entlastungen schaffen

Kapitel 5: Zwischen Gesundsein-Wollen und Gesundsein-Sollen

Kapitel 6: Tipps und praktische Hinweise

Alltag: Leben mit der neuen Normalität

Wünsche: Haben und erfüllen

Intimität: Let’s talk about sex

Ansprechpersonen: Unterstützung im Umgang mit der Erkrankung

Unsichtbare Symptome: Verheimlichen oder ansprechen

Schwerbehindertenausweis: Gut zu wissen

Diskriminierung: Nicht mit mir

Angehörige und Freunde: Unterstützen und sich selbst nicht vergessen

Kinder: Gegen Isolation und für Teilhabe

Psychische Diagnosen: Vorsicht Schubladendenken

Pflege: Gewusst wie

Checkliste: Vorbereitung auf die Pflegebegutachtung

Pflegende Angehörige: Arbeitsfreistellung und Arbeitsverhinderung

Musterformular zur Ankündigung der Pflegezeit

Musterformular zur Ankündigung der Familienpflegezeit

Rechte und Leistungen: Kennen und wahrnehmen

Seltene Erkrankungen: Einzigartig und besonders

Die eigene Krankheit: Informieren geht über Studieren

Leben: Aber Selbstbestimmt

Literaturverzeichnis

Endnoten

Vorbemerkung

Kapitel 1. Warum Kranksein kein individuelles Problem ist

Kapitel 2. Sichtbare und unsichtbare Symptome

Kapitel 3. Auwirkungen chronischer Krankheit auf die Betroffenen

Kapitel 4. Erfahrungen von Angehörigen

Kapitel 5. Zwischen Gesundsein-Wollen und Gesundsein-Sollen

Kapitel 6. Tipps und praktische Hinweise

Epilog

Vorbemerkung

Liebe Leserin und lieber Leser,

wenn Sie dieses Buch in die Hand nehmen, dann haben Sie vermutlich einen guten Grund, sich mit den Auswirkungen chronischer Krankheit zu beschäftigen. Entweder sind Sie selbst erkrankt oder es hat einen lieben Menschen in ihrem Umfeld getroffen. Auch kann es sein, dass Sie mit Krankheit bisher wenig Berührungspunkte hatten und sich aus Interesse mit dem Thema beschäftigen möchten. Vielleicht sind Sie auch in einem Gesundheitsberuf tätig und möchten mehr über das Erleben von kranken Menschen erfahren, um diesen noch mehr Verständnis entgegenzubringen und besser helfen zu können.

Das vorliegende Buch soll Ihnen, aus welcher Perspektive Sie es auch betrachten, Einblicke geben. Krankheit geht nicht nur mit Symptomen, medizinischen Diagnosen und Behandlungen einher. Krankheit trifft den Menschen in seiner Gesamtheit, als psychosoziales Wesen. Diesen psychosozialen Phänomenen, mit denen kranke Menschen1 unweigerlich – und ab einem bestimmten Erkrankungsstadium in zunehmendem Maße – zu tun haben, widmet sich dieses Buch. Es macht klar, welch gravierende Folgen schwere Krankheit hat und warum Kranksein uns alle angeht.

Das deutsche Gesundheitssystem und der medizinische Fortschritt sind dabei ganz zentrale Aspekte, weshalb wir uns mit der Situation von kranken Menschen beschäftigen sollten. Es kann jeden treffen und das zu jeder Zeit. Glücklich sind die, die die Chance haben, wieder zu gesunden.

Im vorliegenden Buch wird in vielen Facetten geschildert, was benannt werden muss: die zahlreichen Baustellen innerhalb unseres Gesundheitssystems, der Verlust von Freunden, Schwierigkeiten in der Partnerschaft oder gar das Ende der Arbeitsfähigkeit. Während manch einer an sich und seiner Umwelt zweifelt und die »Schuld« für krankheitsbedingte Probleme in Partnerschaft, Beruf, privatem Umfeld sowie im Umgang mit Ärzten und Behörden in erster Linie bei sich selbst sucht, dem wird dieses Buch aufzeigen, dass das Leben mit einer Krankheit zahlreiche Probleme mit sich bringt, die eben nicht in der Person des Kranken begründet sind; das macht hoffentlich Mut.

Dieses Buch erleichtert es Menschen, die krank sind und bisher die Ursache ihrer Misere bei sich selbst und Ihrer Erkrankung suchten, die Gesellschaft und deren Institutionen in den Blick zu nehmen. Es zeigt Wege auf, wie man als Kranker mit den vielfältigen medizinischen und nichtmedizinischen Folgeproblemen von Krankheit umgehen kann; es fordert diejenigen auf, die professionell mit Kranken arbeiten, und diejenigen, die gesund sind, sich gegen diese Missstände zu engagieren. Denn letztlich müssen wir uns nach der Lektüre fragen: Wollen wir so miteinander leben und umgehen? Möchten wir, dass irgendwann mit uns selbst so umgegangen wird?

In diesem Buch kommen zahlreiche schwerkranke Menschen und Angehörige von Betroffenen zu Wort und lassen uns an ihren Erfahrungen teilhaben. Auf meiner Suche nach Interviewpartnern für dieses Buch habe ich Flyer verteilt, einen Onlineaufruf gestartet, kranke Menschen persönlich angesprochen und meinen Aufruf an Freunde und Bekannte weitergeleitet. Entstanden sind Interviews mit Schwerkranken, die dieses Buch geprägt haben und uns tiefe Einblicke in deren Lebenssituation geben. Diese Menschen waren trotz eingeschränkter Kraftreserven und unterschiedlichster schwerwiegender Symptome bereit, mit mir zu sprechen. Ihnen gebührt mein besonderer Dank, denn sie haben mir und Ihnen – liebe Leserschaft – das Wertvollste geschenkt, was sie besitzen: Ihre kostbare Lebenszeit!

Neben Erkenntnissen aus Wissenschaft und Forschung sind in dieses Buch auch eigene Erfahrungen eingeflossen, da ich zwischenzeitlich sehr schwer erkrankt war. Letztendlich war es jedoch der Austausch mit vielen kranken und schwerstkranken Menschen, der mir vor Augen hielt, wie wichtig das Thema ist und meine Motivation nie versiegen ließ. Die Idee zu diesem Buch ist somit langsam gewachsen und nahm durch die Gespräche mit vielen Betroffenen Gestalt an. Eine Patientin sagte einmal zu mir: »Es wird Zeit, uns endlich eine Stimme zu geben!«

Nachdem die Idee für dieses Buch geboren war, waren es Ina Beneke und Mareike Gill vom Büchner-Verlag, die dieses Projekt aus der Taufe gehoben haben. Zusammen mit Dr. Sabine Manke, die das Lektorat übernahm, bekam ich tatkräftige Unterstützung. Ihnen und dem gesamten Team des Büchner-Verlages gilt mein besonderer Dank.

Darüber hinaus war es mir eine große Freude, mit der Fotografin Melanie Schol von der Bilderstube zusammenzuarbeiten. Ihre spontane Bereitschaft, dieses Buch mit ihren ausdrucksstarken Fotos zu bebildern und darüber hinaus mit viel Einsatz zu unterstützen, gab dem Buchprojekt einen zusätzlichen Schub. Die vertrauensvolle, engagierte und überaus kompetente Zusammenarbeit mit Verlag und Fotografin hätte nicht besser sein können!

Besondere Unterstützung beim Schreiben dieses Buches erfuhr ich zudem durch Frank Graf, durch dessen Liebe, Wohlwollen und pfälzische Beharrlichkeit ich nie aus den Augen verlor, dass dieses Buch geschrieben werden muss. Weiterhin waren es Roland Stürmer, Heinz-Otto Keinecke, Susanne Göbel und die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e. V., die mir mit Rat und Tat zur Seite standen; ihnen allen gilt mein herzlicher Dank.

Ihnen, liebe Leserinnen und Lesern, wünsche ich eine anregende Lektüre.

Dr. Carolin Tillmann, Marburg im Oktober 2018

Einleitung

Eine schwere chronische Krankheit hat Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche. Es ist nicht allein die Krankheit und deren Behandlung, die den Kranken zu schaffen machen. Vielmehr ist es gang und gäbe, dass kranke Menschen hierzulande wegen ihrer Erkrankung mit zahlreichen Problemen konfrontiert werden. Dabei rede ich nicht nur von den körperlichen Symptomen, die – je nach Erkrankung – ganz unterschiedlich sein können und in der Regel mit strapaziösen Folgen einhergehen. Ich spreche davon, dass sich schwer erkrankte Menschen einem Gesundheitssystem anvertrauen, in welchem ihnen geholfen werden soll und vielfach auch kann, das aber zunehmend wie ein Wirtschaftsbetrieb funktioniert. Sie werden bei angeschlagenem Gesundheitszustand mit den Folgen der Zweiklassenmedizin, des Pflegenotstandes und der wirtschaftlichen Fehlanreize für Ärzte konfrontiert. Außerhalb des Gesundheitssystems hören die Schwierigkeiten, die sich aus dem Kranksein ergeben, nicht auf: Je nach Krankheitsstadium werden die Betroffenen ausgeschlossen, gemobbt und mit Vorurteilen konfrontiert. Viele erleben, wie sich der Freundeskreis drastisch reduziert und wie sie durch ihre Erkrankung in soziale und zwischenmenschliche Notlagen geraten. Oft bekommen sie vermittelt, dass ihre negativen Erfahrungen in erster Linie selbstverschuldet sind.

So, wie die meisten Krankheiten nicht selbstverschuldet sind, sondern wie ein Erdbeben über uns hereinbrechen, so sind auch die sozialen Probleme, die sich daraus ergeben, in aller Regel nicht selbstverschuldet. Vielmehr sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse und Strukturen, welche stark zu der Misere kranker Menschen beitragen.

Immer wieder lesen wir in den Medien, dass einzelne Gruppen von Menschen ausgeschlossen und diskriminiert werden. Selten wird allerdings darüber berichtet, dass die Gruppe der Kranken ebenfalls auf unterschiedlichsten Ebenen ausgeschlossen wird. Können wir daraus schließen, dass chronisch kranke Menschen in Deutschland gesellschaftlich gut versorgt sind? Dass ihnen abgesehen von körperlichen Beschwerden, welche ausführlich in Gesundheitsmagazinen, Boulevardzeitschriften und dem Unterhaltungsprogramm ausgebreitet werden, eigentlich keine weiteren Steine in den Weg gelegt werden?

Gemeinsam mit all den Patientinnen und Patienten, die in diesem Buch zu Wort kommen, sage ich: Nein! Es sind nicht ausschließlich die Symptome, unter denen Kranke zu leiden haben; vielmehr sind es u. a. finanzielle Sorgen, ein schrumpfender Freundeskreis und Probleme am Arbeitsplatz. Es sollte uns aufhorchen lassen, dass Menschen, die gesundheitlich weniger Glück als andere haben und denen das Wichtigste genommen wurde – ihre Gesundheit –, in einer aufgeklärten, sozialstaatlich verfassten Gesellschaft diese Erfahrungen machen mussten und müssen.

Das geringste Problem stellen da noch Ablehnungsbescheide von Kostenträgern dar, die Kranke dazu zwingen, auch an dieser Stelle für ihre eigenen Rechte zu streiten. Immer wieder müssen sie entscheiden, auf welche weiterführenden Diagnostiken und welche Therapieoptionen sie sich einlassen möchten oder sollten. Manch jungen Menschen wird verwehrt, ein Kind zu adoptieren, weil eine »normale Lebenserwartung« ja nicht nachzuweisen sei, andere wissen nicht mehr, wie sie ihre Lieben gut versorgen können. Dies alles läuft scheinbar nebenbei, während die Betroffenen mit Ärzten und Therapeuten darum bemüht sind, ihre Symptome zu kontrollieren und um ihr eigenes Leben zu kämpfen. Dass diese Menschen in all dem Leid und all den Kämpfen, die sie ausfechten müssen, einen großen Erfahrungsschatz aufbauen, ist zu erahnen.

In diesem Buch berichten sie davon, geben konkrete Hinweise und lassen uns Anteil daran nehmen, was ihnen in all ihren Kämpfen half, wie und wo sie Unterstützung erfahren haben und was sie Leidensgenossen für schwere Stunden mit auf den Weg geben möchten. Auch wenn Bücher nur Gegenstände sind, so möchte dieses Buch mehr sein: eine Sammlung der Erfahrungen von Menschen, deren Stimme oft nicht gehört und berücksichtigt wird.

Diese Menschen haben bewundernswert viel Kraft und sie leisten jeden Tag viel. Stellen Sie sich vor, sie würden für einen Monat von einer Krankheit ans Bett gefesselt, könnten Ihrer geliebten Arbeit nicht mehr nachgehen, würden im Laufe des Monats immer weniger Kontakt nach »außen« pflegen und sich ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr selbst erfüllen können. Sie würden so gerne mal wieder zum Bäcker oder in den Supermarkt oder auch nur einfach vor die Tür gehen. All das ist nicht möglich; stattdessen sind Sie darauf angewiesen, dass Ihnen andere Menschen helfen oder sie pflegen. Und nun stellen Sie sich vor, dass aus diesem einen Monat ein zweiter und ein dritter wird, das erste halbe Jahr vergeht und dann das erste Jahr. Es folgen vielleicht Jahre oder Jahrzehnte, in denen es immer so weitergeht. Welche Stärke müssen Menschen haben, die diese, andere oder ähnliche Situationen erlebt haben? Keine beruflich noch so anspruchsvolle Tätigkeit verlangt Menschen das ab, was schwerkranken Menschen abverlangt wird. Die Perspektiven von Schwerkranken und Angehörigen in diesem Buch laden daher zu einem Zwiegespräch mit all den Themen ein, die kranke, aber auch gesunde Menschen betreffen. Von ihnen zu lernen, kann zu einer Bereicherung für das eigene Leben werden. Es spielt dabei keine Rolle, in welcher Situation oder in welchem Gesundheitsstadium wir uns selbst befinden.

Es kommt nicht von ungefähr, dass zu vielen wichtigen persönlichen und gesellschaftlichen Feiertagen die Gesundheit auf der Wunschliste ganz oben steht. Auf Geburtstagen, beim Renteneintritt oder bei Jahreswechseln werden wir überhäuft mit Wünschen, die sich auf die Gesundheit beziehen. Was jedoch, wenn genau diese Gesundheit plötzlich abhandenkommt, oder wenn sie schon lange, vielleicht zunächst für andere nicht wahrnehmbar, verloren gegangen ist? Gibt es etwas, was uns, neben den üblichen Floskeln von Glück und Erfolg, häufiger gewünscht wird als Gesundheit?

Der Wunsch nach Gesundheit ist allzu verständlich, und wer erkrankt, kann spätestens dann die Bedeutung dieses Wunsches in seinem Ausmaß erfassen. Dennoch müssen wir uns fragen, was es eigentlich bedeutet, wenn einem das fehlt, was sich so oft oberflächlich oder tiefsinnig gewünscht wird. Gesundheit scheint ein Mysterium, das uns an vielen Orten begegnet: Wir werden im Berufsleben mit Gesundheitsmanagement konfrontiert, müssen uns, wenn wir erkranken, merkwürdigerweise «krankschreiben« lassen und werden in der Freizeit mit Präventionsangeboten überschüttet, um die Gesundheit zu verbessern. Schon der umgangssprachliche Terminus der »Krankschreibung« ist eine Anmaßung. Menschen werden nicht »krankgeschrieben«, sondern die momentane Arbeitsunfähigkeit (AU) aufgrund einer Erkrankung wird vom Arzt festgestellt und dokumentiert. Besonders absurd wird es, wenn Verwaltungsmitarbeiter nach Beendigung der Arbeitsunfähigkeit eine »Gesundmeldung« erwarten, was mir persönlich auch schon passiert ist. Allerdings musste ich die Mitarbeiterin dahingehend desillusionieren, dass sie von mir nie eine solche »Gesundmeldung« erhalten könne, da ich unheilbar krank sei und es keine Chance gebe, dass ich je wieder gesund werden würde.

Meine eigene Erkrankung hat mich in vielen Punkten wachgerüttelt und führt mir immer wieder vor Augen, dass Krankheit viel mehr ist als die Abwesenheit von Gesundheit. Krank zu werden, betrifft das Leben in sämtlichen Bereichen. Insbesondere, wenn man in einem Alter ist, in dem es nicht nur erwartbar, sondern existenziell notwendig ist, dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Dies möchte ich in der Einführung zu diesem Buch an ein paar Beispielen aus meinem eigenen Leben verdeutlichen: Von Haus aus bin ich Erzieherin sowie Heilpädagogin und erkrankte während meines Studiums zur Pädagogin an Rheuma. Wie ich dann am eigenen Leibe erfuhr, gibt es unter den über 300 Rheumaarten einige, die das Leben bedrohen können und die sogar den Einsatz von Chemotherapien notwendig machen. Die Phase, in der das Rheuma mich voll aus der Bahn warf, setzte ausgerechnet ein, als ich grade dabei war, das Studium zu beenden. Mitten im größten Stress bekam ich einen Schub, was sich durch eine verstärkte Symptomatik zeigte. Ich erlebte eine drastische Verschlechterung meines Gesundheitszustandes; plötzlich konnte ich nicht mehr laufen und spürte meine Beine nicht mehr vollständig. Ich wurde von Klinik zu Klinik überwiesen, so dass ich letztendlich in einem einzigen Jahr 79 Tage ohne Unterbrechung stationär in Krankenhäusern lag. Nebenbei tickte die Uhr, denn Prüfungen und die Abgabe der Diplomarbeit waren an bestimmte Fristen gebunden. Da merkte ich erstmals, dass ich mich als kranker Mensch nicht nur damit beschäftigen musste, wieder gesund zu werden. Dies allein ist ja schon eine enorme Aufgabe, denn in unserem Gesundheitssystem, das zunehmend privatisiert wird und in dem Profitinteressen den Interessen der Patienten immer häufiger entgegenstehen, müssen diese sehr wachsam sein. Es reicht leider keineswegs, sich vertrauensvoll in die Hände von erfahrenen Medizinern und Pflegekräften, die in einem etablierten stationären Krankenhaussetting arbeiten, zu begeben. Viele Erfahrungen von Mitpatienten haben dies bestätigt. Ich beschäftigte mich daher intensiv damit, wo ich als Kassenpatientin die bestmögliche Behandlung meiner Erkrankung erhalten würde. Ich las nächtelang im Internet über mögliche Therapieoptionen, die mir vorgeschlagen wurden oder die mir eben nicht vorgeschlagen wurden und die ich selbst ins Spiel bringen musste. Die Bedeutung meiner Recherchen zeigte sich schon bald: Ein Arzt nebst Gefolge machte während der Visite einen kurzen Zwischenstopp an meinem Bett, um mir kurz mitzuteilen, dass es keine Hoffnung geben würde, den aktuellen Schub zu überleben. Es wäre dringend angeraten, mir ein Pflegeheim zu suchen und mich auf das Lebensende vorzubereiten. Dem guten Rat mochte ich nicht ohne weiteres Folge leisten, sondern ergriff die Initiative und erreichte es, in eine andere Klinik verlegt zu werden. Dort bekam ich dann die notwendige Behandlung und konnte einige Monate später nach Hause zurückkehren – ohne Pflegeheim. Ich merkte schnell: Kranksein bedeutet eine Menge Arbeit, Engagement und die Auseinandersetzung mit vielen existenziellen und sonstigen Problemen. Und insofern ich bis dahin der Meinung war, dass ein Krankenhaus der Genesung dienen sollte, so wurde ich während dieser Zeit eines Besseren belehrt. Verband ich zuvor mit der Gesundung von Kranken, dass diese viel Ruhe, Schlaf und Fürsorge benötigten, so wurde ich in den Kliniken rasch desillusioniert: Frühmorgens um kurz nach sechs Uhr sprang die Zimmertür auf, das Neonlicht flutete den Raum, und noch bevor ich überhaupt Gelegenheit hatte, die Augen zu öffnen, spürte ich bereits die Blutdruckmanschette an meinem Arm und vernahm das sanfte Piepen des Pulsmessers. Kaum hatte ich realisiert, dass offenbar meine Vitalwerte für die Dokumentation überprüft wurden, drang bereits ein Gegenstand in mein Ohr vor; es war das Fiebermessgerät. Neben dem individuellen Biorhythmus, auf den im Krankenhaus völlig verzichtet werden muss, ist es auch die Privatsphäre, von der Abschied zu nehmen ist. Manchmal beschränkte sich mein privater Raum auf einen halben Meter zur linken und einen halben Meter zur rechten Seite des Krankenbettes. Es war oft nur eine spartanische Konsole, die mich von meinen jeweiligen Mitpatientinnen trennte.

Datenschutz gegenüber den Zimmernachbarinnen? Selbstverständlich nicht vorhanden. So erfuhr ich unweigerlich die Details der Krankengeschichten meiner Zimmergenossinnen und diese wurden zwangsweise Mitwisserinnen meiner Krankengeschichte. Dies geschah ganz nebenbei durch die Pflegekräfte, aber auch durch Ärzte und Therapeuten, die ihrer Arbeit am Krankenbett nachgingen. Der Besuch meiner Zimmernachbarinnen stieß nicht selten, den engen Räumlichkeiten geschuldet, an mein Bett. Und falls es mir, trotz der vielen Hintergrundgeräusche, einmal gelang, tagsüber einzuschlafen, so wurde ich durch die hereinbrechende Visite plötzlich geweckt. Dabei sprach man über mich und viel zu selten mit mir. Manch ein Arzt brachte es fertig, sich ungefragt auf mein schmales Krankenbett zu setzen oder sich abzustützen und den Raum meiner letzten »Privatsphäre« so auf weniger als 90 × 200 cm zu verkürzen.

Als besonders entwürdigend empfand ich manche Situationen auf Intensivstationen und in Notaufnahmen. An beiden Orten spielt die Privat- und Intimsphäre des Patienten kaum noch eine Rolle. Natürlich: An beiden Orten steht der Kampf um Leben und Tod im Vordergrund. Dennoch gibt es durchaus auch in diesem Kontext Situationen, wo es sehr unangenehm ist, dass zum Beispiel nicht auf eine Geschlechtertrennung in den Intensivzimmern geachtet wird. Ich erinnere mich gut an eine Nacht auf der Intensivstation, als ein älterer Herr mit Schlaganfallverdacht neben mir lag. Die Pflegekräfte hatten mithilfe zweier Infusionsständer und eines Bettlakens einen provisorischen Sichtschutz zwischen uns beiden errichtet. Ich wusste zunächst gar nicht, wer in welchem Zustand neben mir lag. Der offensichtlich verwirrte Patient stand jedoch nachts auf, verhedderte sich in der spartanisch aufgebauten Konstruktion und geriet ins Straucheln. Ich erwachte und erschrak, als dieser Mann im offenen Krankenhaushemd und mit Bettlaken auf dem Kopf wie ein Geist an meinem Bett stand und sich darauf abstützte. Das laute Piepen der Geräte zur medizinischen Notfallüberwachung und ein rotes Warnlicht gaben der Situation endgültig den Anstrich einer Szene aus einem Horrorfilm.

Auch erlebte ich einmal in der völlig überfüllten Notaufnahme eines Universitätsklinikums, dass aufgrund mangelnder räumlicher Kapazitäten die Patienten auf den Fluren in Rollstühlen und in Betten »geparkt« wurden. Eine Frau, die – wie die anderen Patienten auch – verlassen und verloren hier schon mehrere Stunden verbracht hatte, wollte nun ihre Notdurft verrichten. Eine Krankenschwester erklärte ihr, dass leider kein Raum frei sei und sie ihr den Toilettenstuhl gerne auf den Flur stellen würde. Diese ältere Frau sollte tatsächlich ihre Notdurft zwischen anderen Patienten gleich welchen Geschlechtes und auf dem Flur verrichten. Die Patientin verzichtete und entschied sich, der Sache ihren freien Lauf zu lassen. Dies ist ein Beispiel dafür, mit welch entwürdigenden Praktiken kranke Menschen in Krankenhäusern mitunter konfrontiert werden.

Ob dies der Genesung dienlich ist, kann einfach beantwortet werden:

Wären Krankenhäuser dazu da, um gesund zu werden, hießen sie sicherlich nicht Kranken-, sondern Gesundheitshäuser!

Die zum Teil verstörenden Erfahrungen, die kranke Menschen machen, sind leider nicht – wie vielleicht anzunehmen wäre – auf das Gesundheitswesen beschränkt. Ein Beispiel aus dem Berufsalltag soll dies verdeutlichen: Es gelang mir letztendlich, trotz meiner Erkrankung das Studium zu beenden und einen Arbeitsplatz zu finden. Seit Studienbeginn hegte ich den Wunsch, in der Forschung zu arbeiten und später einmal meine Doktorarbeit zu schreiben. Dieses Ziel wollte ich nicht der Krankheit opfern, sondern verfolgte es konsequent weiter. Während sich andere an ihrem Schreibtisch tüftelnd ans Werk machten, sich vernetzten, austauschten und gegenseitig weiterhalfen, so war es mir teilweise nicht möglich, überhaupt nur