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Im Zeichen der industriellen Revolution und der Globalisierung des 19. Jahrhunderts wandte sich Nietzsche von der Metaphysik ab und begründete eine Philosophie des lebenden Körpers. Er erdachte den Begriff des Stoffwechsels neu als Austausch zwischen einem Organismus und seiner Umwelt, wobei das Gedächtnis als Fähigkeit fungiert, etwas in sich aufzunehmen und zugleich einen Teil für sich zu behalten. Auf diese Weise sei der Mensch in stetigem Fluss, und die Erfahrung eines Individuums basiere auf den Einflüssen zahlreicher anderer. Die französische Philosophin Barbara Stiegler skizziert den Weg dieser neuen Philosophiegeschichte, geht auf Vorreiter und Mitstreiter Nietzsches wie Descartes, Kant, Schopenhauer, Hegel und Marx ein und verknüpft sie mit der Entwicklung biologischer und physiologischer Konzepte. So wird klar, dass fundamentale Hypothesen der heutigen Biologie auf Nietzsches Ideen fußen, insbesondere die Vorstellung, die Identität lebender Organismen beruhe auf einer außerordentlichen internen Pluralität und komplexen Beziehungen zu ihrer Umwelt. Mit Nietzsche und das Leben liefert Barbara Stiegler nicht nur eine überraschende Lesart des umstrittenen Philosophen und neue Einblicke in dessen Denken, sondern eröffnet innovative Ansätze für die großen Herausforderungen unserer Zeit.
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Seitenzahl: 511
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Barbara Stiegler
Die Geschichte der Philosophie neu erzählt
Aus dem Französischenvon Christian Driesen
EINLEITUNGDas Leben und die Lebewesen im Telegrafenzeitalter
ERSTER TEILDie Schutzschirme der neuzeitlichen Metaphysik
ERSTES KAPITELErster Schutzschirm: Descartes’ Ich
ZWEITES KAPITELZweiter Schutzschirm: Kants transzendentales Subjekt
DRITTES KAPITELDritter Schutzschirm: Der Körper bei Schopenhauer
VIERTES KAPITELLetzter Schutzschirm: Die Evolution aus Sicht der Geschichtsphilosophien
ZWEITER TEILNietzsche und die Biologie
FÜNFTES KAPITELDas Leben mit der Biologie denken
SECHSTES KAPITELKörper und Physiologie als Ausgangspunkt. Warum?
SIEBTES KAPITELDer Wille zur Macht als Leben, das heißt das Gedächtnis
ACHTES KAPITELDie große Politik des Lebendigen
DRITTER TEILNach Nietzsche: Gegner und Fürsprecher
NEUNTES KAPITELEvolution und Demokratie. Nietzsche und der amerikanische Pragmatismus
ZEHNTES KAPITELFluss und Wirklichkeit. Nietzsche und der Bergsonismus
ELFTES KAPITELGesundheit, Medizin und Normativität. Canguilhem, »Nietzscheaner ohne Mitgliedsausweis«
ZWÖLFTES KAPITELJenseits von Naturalismus und Konstruktivismus. Nietzsche, Foucault und die aktuelle Biologie
AUSBLICKNietzsche als Philosoph eines Zeitalters nach der Wahrheit?
Erkenntnis des Lebens, Wissenschaft und Wahrheit in ökologischen und medizinischen Krisenzeiten
ANHANG
Anmerkungen
Danksagung
Anmerkung zur Entstehung des Buchs
In einem seiner letzten Bücher schreibt Nietzsche, dass er sich ab dem Sommer 1876 mit nichts anderem mehr beschäftigt hat als mit Naturwissenschaften, Medizin und Physiologie.1 Während jede Lektüre für seine schwachen Augen zu einer Herausforderung wurde, begann er ab jenem Zeitpunkt, physikalische Theorien und Grundlagen der Medizin und Biologie seiner Zeit frenetisch zu studieren. Wie lässt sich eine solch radikale Wahl rechtfertigen?
Zur Erklärung dieses Umschwungs schreibt Nietzsche in demselben Abschnitt, er dürste nach Wirklichkeit:
die Realitäten fehlten geradezu innerhalb meines Wissens […] – Ein geradezu brennender Durst ergriff mich: von da an habe ich in der Tat nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissenschaften.2
Nicht dass er so naiv gewesen wäre zu glauben, Physik und Biologie seien in der Lage, die Wirklichkeit zweckmäßig und besser als alle anderen Formen des Empfindens und Denkens zu erfassen.
Doch ebenso wie die strengsten Physiker und Biologen seiner Zeit spürte auch Nietzsche, dass sie ein gemeinsames Ziel verfolgten:
die Überwindung der starren Kategorien des Denkens sowie seiner kollektiven Fiktionen, um vielleicht, mochte es auch nur durch näherungsweise Darstellungen sein, zu fassen zu bekommen, was die Wirklichkeit im Allgemeinen und leben im Besonderen bedeuten konnte.
Warum hat sich Nietzsche dazu entschieden, sich mit Leib und Seele den Wissenschaften vom Leben und von der Gesundheit zu widmen? Diese Frage sucht das vorliegende Buch zu beantworten, wie der Titel eindeutig zu verstehen gibt: Nietzsche und das Leben.
Unter »Leben« darf hier nicht so etwas wie ein unbestimmter Ausgangspunkt verstanden werden, denn für Nietzsche genügt es nicht, das »Wesen« der Alten und das »Bewusstsein« der Modernen gegen den »Leib« oder das »Leben«, so wie die Philosophen diese Ausdrücke oft in einem allgemeinen und unscharfen Sinne gebrauchen, einzutauschen. Diesen radikalen Wechsel, der das Leben und den Leib als neuen Anfangspunkt des Denkens setzt, kann die Philosophie seiner Meinung nach nur dann vollziehen, wenn sie sich in ernsthafter und präziser Weise damit auseinandersetzt, was uns die Lebenswissenschaften über die Entwicklung der Arten, die Lebensfunktionen von Organismen und die notwendigen Bedingungen ihres Erhalts lehren.
Aus seiner emsigen und zumeist kritischen Lektüre biologischer Theorien behält Nietzsche zwei wesentliche Einsichten. Auch er gelangt zu der Überzeugung, dass das Leben zwei grundlegende Aktivitäten voraussetzt, die bis heute alle Geschichte der Lebewesen bedingen. Auf der einen Seite setzt sie die Evolution voraus, eine Annahme, die sich ab dem Ende des 18. Jahrhunderts zu verbreiten beginnt und mit Darwins Revolution sowie dem durch das Erscheinen von Der Ursprung der Arten im Jahre 1859
hervorgerufenen Schock auf brachiale Weise durchsetzt. Doch auf der anderen Seite setzt sie eine weitere Aktivität voraus – sofern Nietzsche zufolge die Evolutionstheorie niemals ausreicht, um das Leben einzufangen. Diese andere Aktivität, die allen Lebewesen zutiefst eignet, ist die Ernährung, die Nietzsche in »Einverleibung« umtauft. Mit diesem Ausdruck erfindet er einen Begriff, mithilfe dessen er den Akt des Sichernährens (trophein) neu zu denken vermag, der bereits in der Antike als wesentliches Merkmal des Lebendigen galt,3 und zwar ausgehend von dem, was die heutige Physiologie »Metabolismus« nennt: die Gesamtheit aller organischen Wechselbeziehungen zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt.
Durch diese sehr weit gefasste Deutung der Ernährung als Einverleibung kann er vor allem dem Gedächtnis eine zentrale Rolle zuweisen, jenem Vermögen also, Anderes in sich aufzunehmen und von ihm eine Spur zu bewahren (sei diese nun bewusst oder unbewusst, psychisch oder somatisch, individuell oder kollektiv), worin Nietzsche das erkennt, was das Leben als solches ausmacht:
Die Entstehung des Gedächtnisses ist das Problem des Organischen. Wie ist Gedächtniß möglich?4
Indem er sich die Lehren der Biologie seiner Zeit aneignet – die Evolutionstheorie, jedoch auch die Theorien der Physiologie –, gelangt Nietzsche zu einer völlig neuen Schlussfolgerung innerhalb der Geschichte des Denkens: Evolution und Einverleibung sollten fortan als die zentralen Probleme der Philosophie gelten.
Die Entstehung des absoluten Flusses
Genau in dem Moment aber, da Philosophie und Biologie schließlich Notiz von ihnen nehmen, stellt Nietzsche fest, dass beide vitale Aktivitäten bedroht sind, und mit ihnen die Bedingungen des Lebens selbst. Mit der industriellen Revolution, der Globalisierung des Warenverkehrs sowie den neuen Kommunikationstechniken, die die Gesellschaft im 19. Jahrhundert von Grund auf verändern, sehen sich die Lebewesen einer vollkommen neuartigen Lebensumwelt gegenüber, in der Nietzsche sich als einer der ersten fragt, ob das Leben nicht nur bloß gelebt werden kann, sondern überhaupt noch möglich ist. Denn es sei daran erinnert: Weder, was wir heute recht unbestimmt »Globalisierung« nennen, noch die neuen Kommunikationstechniken, die sie erst möglich gemacht haben, noch die durch die industrielle Revolution hervorgerufene Umwelt- und Gesundheitskrise haben den Beginn unseres Jahrhunderts abgewartet, um unsere Lebensweise zu erschüttern. Die atemberaubende Beschleunigung dieses Prozesses, der bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Gesellschaften zu verändern begann, hat einhundertfünfzig Jahre vorher, zu Nietzsches Lebzeiten, eingesetzt. Man bedenke, dass er 1844 das Licht der Welt erblickt, zeitgleich mit dem Telegrafen, und dass seine philosophische Arbeit in den 1870er Jahren anhebt, während das Telegrafennetz unter den erstaunten Blicken seiner Zeitgenossen in rasanter Weise seine Wirkungen entfaltet. Mit dem Telegrafen verbreiten sich auch Eisenbahn und Dampfmaschinen, während im Verbund mit all diesen Neuerungen die Massenmedien regelrecht explodieren. Für Nietzsche sind diese Umwälzungen von solcher Heftigkeit, dass sie unser Denkvermögen lähmen:
Prämissen des Maschinen-Zeitalters. – Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat.5
Dasselbe notiert er 1877: »Wir hören wohl das Hämmern des Telegraphen aber verstehen es nicht.«6
Das Hämmern des Telegrafen verstehen, seine Auswirkungen auf die Seele und das Bewusstsein, jedoch auch auf den Leib untersuchen, eben dies macht sich Nietzsche zu seiner Aufgabe.
Die massivste Auswirkung dieser Umwälzungen bildet für ihn zunächst die Entstehung dessen, was er »absoluten Fluß«7 nennt.
Die Entdeckung, dass »Alles Fluß«8 ist, hat ihre Ursache in der Beschleunigung der Lebensrhythmen sowie in der zunehmenden Auflösung aller Eingrenzungen. Mit dem fließenden Werden aller Wirklichkeiten verflüssigen sich letztere gleichsam vor den Augen seiner Zeitgenossen, bis dass sie jegliche Form verlieren, die noch irgend von Dauer sein, geschweige denn Festigkeit besitzen könnte:
Die ehemaligen Mittel, gleichartige dauernde Wesen durch lange Geschlechter zu erzielen: unveräußerlicher Grundbesitz, Verehrung der Älteren (Ursprung des Götter- und Heroenglaubens als der Ahnherren). Jetzt gehört die Zersplitterungdes Grundbesitzes in die entgegengesetzte Tendenz: eine Zeitung (an Stelle der täglichen Gebete) Eisenbahn Telegraph. Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu sehr stark und verwandlungsfähig sein muß.9
Die Beschleunigung der Lebensrhythmen lässt die Menschen des
19. Jahrhunderts erkennen, dass sie in einen absoluten Fluss eingetaucht sind, in dem sich jede stabile Entität als eine Illusion, als zerbrechlich und vorläufig erweist. Diese Entdeckung zerstört auf brutale Weise jedwede Sicherheit gewährende Abstützung durch den Glauben und durch Orientierung, die die früheren Gesellschaften gegeben hatten. Doch ebenso stößt sie auf die Lehre von Heraklit, einem der ersten griechischen Philosophen, der bereits verkündet hatte, dass alles im »Fluss des Werdens« begriffen sei und nichts mit sich selbst identisch bleibe. An die Stelle einer strukturierten Zeitlichkeit, die in der Folge und gegen Heraklit mit der von Platon durchgesetzten griechischen Metaphysik eine Trennung zwischen der Zeit der Veränderung und jener des Bestehens oder der Ewigkeit eingeführt hatte, tritt von Neuem die Entdeckung eines »absoluten Flusses«, der aber dieses Mal alle notwendigen Stauungen bedroht. Unter »Stauung« (oder »Stase«) verstehe ich hier nicht allein ihre biologische und medizinische Bedeutung: »das (vorübergehende) Stillstehen oder Aussetzen von Körperfunktionen oder Ähnlichem«,10 sondern auch alle Formen von Festigkeit oder Stockung, die den Fluss des Werdens dank langsamerer Rhythmen, die durch den Leib erfunden werden, entweder zu verschleiern oder tatsächlich zu verlangsamen vermögen. Wenn zwar das Telegrafenzeitalter den absoluten Fluss nicht erzeugt oder hervorruft, so ist es doch dafür verantwortlich, dass alle Stauungen und Eingrenzungen, die das Leben erfunden hat, um ihn zu verlangsamen und sich vor ihm zu schützen, tendenziell und physisch zerstört werden.
Denn nicht nur erfährt, wie dieses Buch zeigt, die Zeit, sondern ebenso der Raum eine Umwandlung. Der Fluss hat zwar die Tendenz, alle Stauungen zu zerstören, doch auch jegliche Form von Hindernis, von Grenze oder Einschluss in sich selbst, sodass die Seele und der Leib allen Prozessen, die die Welt prägen, ausgesetzt sind. An die Stelle einer geordneten, in stabile und relativ undurchlässige Grenzen unterteilten Welt tritt ein offener und tendenziell grenzenloser Raum, in dem, weil sie »einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen« ausgesetzt sind, alle Individualitäten, ob nun organischer, psychischer oder kollektiver Natur, weder von der Außenwelt sich abzuschließen noch als ein Körper zusammenzuhalten vermögen.
Diese allgemeine Verflüssigung von Verfestigtem und Abgeschlossenem bedroht die Unversehrtheit der Lebewesen sowohl psychisch als auch somatisch und begünstigt die Entstehung neuer Pathologien. Mit seismografischer Präzision beschreibt Nietzsche das Auftauchen einer neuen Welt, in der alle früheren Konstitutionsweisen – Ewigkeit, Dauerhaftigkeit und Identität, doch ebenso die schlichte innere Festigkeit als Garant für Individuen und kollektive Entitäten, die bei den Menschen bislang durch die Religion, die Metaphysik, die Moral, das Recht und die Politik, aber auch und in erster Linie, bei den Lebewesen im Allgemeinen, durch organische Prozesse von Verfestigung und Schließung das Leben möglich gemacht haben – nach und nach durch die Beschleunigung der Ereignisse, die vor aller Augen die Wirklichkeit des absoluten Flusses hervortreten lassen, aufgelöst werden: »Ich sehe etwas Furchtbares voraus. Chaos am nächsten, Alles Fluß.«11
Und das bedeutet für ihn »etwas Furchtbares«, denn weder feiert Nietzsches Philosophie – entgegen einem geläufigen Vorurteil –
auf romantische Weise das Chaos, noch stellt sie eine flammende Rede auf den Fluss des Werdens dar. In seinen Untersuchungen zu den Bedingungen des Lebens entdeckt er recht bald, dass sich alle Lebewesen auf der einen Seite dem stets neuen Fluss dessen, was ihnen zustößt, auszusetzen haben, denn er ist es, der sie nährt und dazu zwingt, sich weiter zu entwickeln und zu verändern, und dass sie auf der anderen Seite diesem Fluss widerstehen, ihn aufschieben oder hinauszögern müssen, indem sie ein ganzes Arsenal an Stauungen und Schließungen anfertigen, durch das sie ihn verlangsamen, filtern, verdauen, kurz einverleiben können, was wiederum voraussetzt, dass sie ihn, damit er dem Leben zuträglich ist, in eine Ordnung bringen und umwandeln.
Das tragische Problem der Griechen
In dieser zweifachen Bedingtheit, in dieser unüberwindlichen Spannung zwischen Fluss und Stauungen glaubt Nietzsche die tragische Polarität wiederzuentdecken, die bereits von den Griechen zwischen Dionysos, dem Gott des Grenzenlosen, der alle Ordnungen stört, und Apollo, dem Gott der Grenze, Ordnung und Festigkeit, empfunden wurde.12 Diese Spannung, notwendig und unmöglich zu versöhnen zwischen den Anforderungen, die der Fluss des Werdens sowie die Lebewesen und Gesellschaften stellen, bildet für ihn nicht nur das Herz der griechischen Tragödie im 5. Jahrhundert v. Chr., sondern auch den Ursprung des tragischen Denkens der Griechen, eben jenes Denkens des 6. Jahrhunderts v. Chr., das die Griechen des darauffolgenden Jahrhunderts »Philosophie« nennen werden – und das wir heute als »vorsokratisch« bezeichnen.13 Gewiss, wir befinden uns in einer Zeit vor dem Telegrafen und der Aufdeckung des absoluten Flusses. Doch mit der griechischen Welt setzt bereits die Öffnung der riesigen Meere, Ozeane und Kontinente ein und mit ihr die Frage nach der Einverleibung des Fernen, Unbekannten und Fremden ins Innere, ins Eigene, was schon Homers Odyssee im 8. Jahrhundert v. Chr. beschäftigt hatte:
Nichts ist thörichter als den Griechen eine autochthone Bildung nachzusagen, sie haben vielmehr alle bei anderen Völkern lebende Bildung in sich eingesogen […].14
Das bereits von Odysseus verkörperte Problem besteht von nun an darin, zu sich selbst zurückkehren zu können, während man zugleich durch Abenteuer in der Ferne ein anderer wird. Genau diese Frage kennzeichnet im 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. »das tragische Zeitalter der Griechen«: Wie bleibt man, in den festen Grenzen Apollos und unter dem Druck des fernen Gottes Dionysos, der alle Grenzen und alle Formen von Identität untergräbt, man selbst?
Es wundert also nicht, wenn in dieser Welt, in der alle Schließungen und alle Stauungen grundsätzlich ins Wanken geraten, manche die Entdeckung des absoluten Flusses machen. Das bedeutet Heraklits berühmter »Fluss«:
Lauter als Anaximander rief Heraklit es aus: »Ich sehe nichts als Werden. Laßt euch nicht täuschen! In eurem kurzen Blick liegt es, nicht im Wesen der Dinge, wenn ihr irgendwo festes Land im Meere des Werdens und Vergehens zu sehen glaubt. Ihr gebraucht Namen der Dinge als ob sie eine starre Dauer hätten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zweiten Male steigt, ist nicht derselbe als bei dem ersten Male.«15
Laut Nietzsche wird im Zuge dieser Entdeckung die tragische Frage der Griechen geboren und mit ihr die Philosophie, die – ein Jahrhundert vor Sokrates und Platon – mit dem intensiven und rastlosen Dialog derer einsetzt, die man »Vorsokratiker« nennt und von ihm »Vorplatoniker« genannt werden. Thales, Anaximander, Heraklit und Parmenides, dann, zu Zeiten Sokrates’, Anaxagoras, Empedokles und in gewissem Maße Platon selbst stellen tatsächlich immer wieder dieselbe Frage: Wenn wir in einem Fluss des Mannigfaltigen schwimmen, wie verhält es sich dann mit dem Festen und dem Einen? Und wenn die Wirklichkeit jene feste Einheit bildet, warum gibt es dann überhaupt Fluss und Mannigfaltiges?
Alles, was danach folgt, wird für Nietzsche den Untergang der Tragödie und die Aufgabe der tragischen Frage durch die Philosophie selbst bedeuten. Nietzsche wird immer wieder zeigen, wie Platon und dann die gesamte Metaphysik nach ihm systematisch versucht haben, die Stauungen (das Andauern dessen, was die Griechen Äon, »die immerwährende Zeit«, nennen, sowie des Wesens und, mit der modernen Metaphysik, der »Substanz«, der »Identität«, ja sogar des »Objekts«) gegen den »Fluss des Werdens« bei Heraklit in Anschlag zu bringen, das heißt gegen die Wirklichkeit des absoluten Flusses, den sie unablässig entweder zu leugnen oder zu entwerten versuchen wird, indem sie ihn bezichtigt, bloße Erscheinung zu sein.
Die vollkommen neue Zeit aber, die mit dem Telegrafen anhebt, kehrt die Dinge radikal um und stellt, ob die Philosophie es nun will oder nicht, die tragische Frage, die zuvor ausgeblendet worden war, von Neuem. Denn fortan ist es der Fluss, der überall gegen die Stauung ins Feld geführt wird, und es ist die Entdeckung eines absoluten und vollkommen offenen Flusses, der sich künftig als einzige Wirklichkeit durchsetzt und dabei mit einem Schlag die gesamte Geschichte der Metaphysik seit Platon abstraft sowie alle alten gefestigten Wahrheiten zu Fiktionen erklärt. Wenn aber fortan und in den Augen (fast) aller »alles fließt«, wenn jede Stauung, jede Schließung und jede feste Begrenzung sich nur als vorläufige Konstruktion erweist, dann finden sich die menschlichen Lebewesen tatsächlich in einer »furchtbaren« Situation wieder, die dazu zwingt, über die doppelte Bedingtheit allen Lebens mit neuer Verve nachzudenken: sich dem Fluss des Werdens zu öffnen und zugleich, denn als solcher ist er lebensfeindlich, sich vor ihm zu schützen zu wissen. Zweifellos ist es diese Erschütterung, diese fortschreitende Auflösung aller in der Vergangenheit ererbten Verfestigungen und Stauungen durch das unausgesetzte Hämmern des Telegrafen, die Dionysos’ Rückkehr in den Texten Nietzsches und mit ihm die Wiedergeburt einer tragischen Philosophie doppelter Bedingtheit erklärt.16 Seine Frage ist einfach und deutlich: Können die Lebewesen im Telegrafenzeitalter überleben?
Und wenn dies der Fall wäre, könnten sie mehr als nur überleben, nämlich lernen, ein neues Leben zu leben, das ebenso reich und voll wäre wie die früheren Formen des Lebens?
Verdauung, Beschleunigung, Anpassung
Wie wird im Telegrafenzeitalter weiterhin verdaut? Und wie wird sich weiterhin entwickelt, das heißt sich und die Welt um einen herum verändert, wenn die menschlichen Lebewesen nicht mehr in der Lage sind, sich einzuverleiben, was ihnen zustößt? Dieses Problem wirft ein wichtiges Fragment von 1887 auf, das nicht genügend Beachtung gefunden hat und sehr gut zeigt, wie Nietzsche, was er für die tragische Frage der Griechen hielt, in Begriffen der Wissenschaften vom Leben neu stellt:
Die »Modernität« unter dem Gleichniß von Ernährung und Verdauung.
Die Sensibilität unsäglich reizbarer (– unter moralistischem Aufputz als die Vermehrung des Mitleids –) die Fülle disparater Eindrücke größer als je: – der Kosmopolitism der Speisen, der Litteraturen, Zeitungen, Formen, Geschmäcker, selbst Landschaften usw.
das tempo dieser Einströmung ein prestissimo; die Eindrücke wischen sich aus; man wehrt sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu »verdauen«
– Schwächung der Verdauungs-Kraft resultirt daraus.17
Bilden Ernährung und Verdauung Symbole der Modernität, erscheinen beide als das Problem schlechthin, so weil sich die menschlichen Lebewesen einer Unmenge fremdartiger Elemente gegenüber sehen, die es in sich aufzunehmen gilt, einer »Fülle disparater Eindrücke größer als je«. Dasselbe kommt in einem anderen Fragment zum Ausdruck:
wir können gar nicht mehr eine Einzigkeit des ego fühlen, wirsind immer unter einer Mehrheit. Wir haben uns zerspalten und spalten uns immer neu. […] wir haben »die Gesellschaft« in uns verlegt, verkleinert […]. […] wir sind der Kosmos, soweit wir ihnbegriffen oder geträumt haben. Die Oliven und die Stürme sind ein Theil von uns geworden: die Börse und die Zeitung ebenso.18
Standen die Griechen bereits im Begriff, sich den Kosmos einzuverleiben, indem sie ihn sich vorstellten (die Oliven, die Stürme, ja selbst, hätte Nietzsche hinzufügen können, die »weinfarbene« Unendlichkeit des »unfruchtbaren Meeres«, auf dem Odysseus herumirrt), so sind wir fortan dazu gezwungen, die Welt im hektischen Rhythmus von Börse und Zeitungen zu verdauen, die mehr und mehr »ein Teil von uns« werden. Die quantitative Explosion »disparater Eindrücke« wird durch eine Beschleunigung der Lebensrhythmen begleitet: »das tempo dieser Einströmung ein prestissimo«. An die Stelle einer Mannigfaltigkeit von relativ geschlossenen und mehr oder weniger stabilen Umwelten, die sowohl die Einheit des Leibes als auch die Konzeption eines geordneten und hierarchisch gegliederten Kosmos erlaubten, setzt sich eine große offene Umwelt, in der die Lebensrhythmen, dem absoluten Fluss hinterherjagend, immer schneller werden. Diese Grundtendenz beschreibt ein weiteres Fragment, das vom Telegrafen handelt:
Vorhistorische Zeitalter werden unermeßliche Zeiträume hindurch vom Herkommen bestimmt, es geschieht nichts. In der historischen Zeit ist jedesmal das Faktum eine Lösung vom Herkommen, eine Differenz der Meinung, es ist die Freigeisterei, welche die Geschichte macht. Je schneller der Umschwung der Meinungen erfolgt, um so schneller läuft die Welt, die Chronik verwandelt sich in das Journal, und zuletzt stellt der Telegraph fest, worin in Stunden sich die Meinungen der Menschen verändert haben.19
Wie das weiter oben zitierte lange Fragment von 1887 erklärt, zerstört nun diese Beschleunigung der Lebensrhythmen die Bedingungen selbst aller Verdauung. Mit dem prestissimo, das die neuen Arten zu leben charakterisiert, »wehrt man sich instinktiv, etwas hereinzunehmen, tief zu nehmen, etwas zu ›verdauen‹«. Was den Menschen des 19. Jahrhunderts zustößt und dem gegenüber offen zu sein sie sich vormachen, bleibt gewissermaßen an der Oberfläche, »unter der Epidermis«, sagt Nietzsche, wodurch die oberste Schicht ihrer Haut äußerst beweglich, sensibel und reaktiv wird.
Beschrieben wird hier die Hypersensibilität der Modernen, die keinerlei Festigkeit besitzen, leicht erregbar sind und unmittelbar und vehement auf Schmerz und Gefühle aller Art reagieren. Dieses Thema ist den Zeitgenossen Nietzsches am geläufigsten und wird als »Mitgefühl« zelbriert. Was aber den Menschen des 19. Jahrhunderts zustößt, affiziert in Wirklichkeit keineswegs die tieferliegenden Schichten als solche:
Künstliche Zurechtmachung seiner Natur zum »Spiegel«; interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter der dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, »Sturm«, Wellenspiel giebt Gegensatz der äußeren Beweglichkeit zu einer gewissen tiefen Schwere und Müdigkeit.20
Die modernen Menschen sind dem Fremden gegenüber gewiss nicht verschlossen oder feindlich. Das Gegenteil ist sogar der Fall.
Doch sie haben nicht mehr die Zeit, sich von ihm affizieren und verändern zu lassen. Daher auch die Kälte der Modernen unter der falschen Wärme ihres oberflächlichen Mitgefühls, das sich zeigt, sobald man unter die Epidermis schaut und die tiefer liegenden Schichten ihrer Körper und ihres Gedächtnisses erreicht.
An den Neuigkeiten, die aus der ganzen Welt herbeiströmen, an jedem Fakt oder jeder neuen Information, mit der er bombardiert wird, ist der moderne Mensch »interessirt, aber gleichsam bloß epidermal-interessirt; eine grundsätzliche Kühle, ein Gleichgewicht, eine festgehaltene niedere Temperatur dicht unter« der Epidermis, dieser »dünnen Fläche, auf der es Wärme, Bewegung, ›Sturm‹, Wellenspiel« gibt.
Das ist die Triebfeder von Nietzsches berühmter Kritik des Mitgefühls und der Rührseligkeit seiner Zeitgenossen, deren erste Symptome bereits im 18. Jahrhundert mit der Lobpreisung von Gefühl und Bewegtheit auftreten. Nicht dass Nietzsche ihnen die Gefühllosigkeit starker und männlicher Menschen, die zur Zeit der Antike gelebt haben sollen, gegenüberstellt, eine weitere Fehldeutung seines Denken, die sich hartnäckig hält. Viel eher stellt er ihnen die allen wirklich lebendigen Wesen eigene Fähigkeit gegenüber, den Anderen, das Neue und das Fremde zutiefst in sich willkommen zu heißen und sich sowohl durch es affizieren und verändern zu lassen, als dabei auch man selbst zu bleiben: »Centralisation einer ungeheuren Menge verschiedener Interessen in Einer Seele: die dazu sehr stark und verwandlungsfähig sein muß.«21 Nietzsches Untersuchungen zur Biologie der Verdauung und des Stoffwechsels versuchen zu begreifen, wie ein solcher dem Anschein nach widersprüchlicher Vorgang – man selbst werden, indem man sich durch das, was man nicht selbst ist, verändert –
jedoch bereits in allen lebendigen verdauungsfähigen Körpern stattgefunden hat.
Doch vor allem versuchen diese Arbeiten eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die Verdauung auch weiterhin vonstattengehen könnte, da im Telegrafenzeitalter gerade das Gegenteil der Fall ist, sprich die »Schwächung der Verdauungs-Kraft« sowie die zunehmende Zerstörung der herrschenden Fähigkeiten zur Erinnerung:
– Schwächung der Verdauungs-Kraft resultirt daraus. Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren; er reagirt nur noch auf Erregungen von außen her. Er giebt seine Kraft aus theils in der Aneignung, theils in der Vertheidigung, theils in der Entgegnung.
Tiefe Schwächung der Spontaneität […].22
Für Nietzsche ist die doppelte Schwächung sowohl der Fähigkeiten zur Einverleibung als auch der natürlichen Kräfte des Organismus zutiefst mit dem gleichzeitigen Auftauchen des Begriffs der »Anpassung« verbunden, der künftig nicht nur in den Lebenswissenschaften, sondern auch in den Sozialwissenschaften, die ebenfalls an der Verbreitung eines neuen Paradigmas mitwirken, eine zentrale Rolle einnehmen wird. Um sich zu entwickeln, so lässt sich in Nietzsches Zeit ein wenig überall vernehmen, muss man sich anpassen, das heißt sich passiv durch die Anforderungen der Umwelt formen lassen. Dieser neue gesellschaftliche und politische Imperativ, den im 20. Jahrhundert eine neue Form des autoritären Liberalismus durchsetzen wird, findet seinen frühesten Rückhalt in der Evolutionstheorie, die selbst wiederum ab dem
19. Jahrhundert aufs Gesellschaftliche angewendet wird.23 Während Darwin in ihr den Schlüssel zur Entwicklung alles Lebendigen sieht, geht der Soziologe Herbert Spencer sehr viel weiter und führt den Anpassungsbegriff in den sozialen und politischen Bereich ein in dem Versuch, den später so genannten »Sozialdarwinismus« zu begründen – eine unglückliche Bezeichnung, da Darwin selbst es abgelehnt hatte, seine biologischen Analysen ohne Vorkehrungen auf menschliche Gesellschaften zu übertragen. Indem er den Begriff der Anpassung dekonstruiert und ihm seine zentrale Stellung aberkennt, nimmt Nietzsche also nicht nur gegenüber der biologischen Theorie Darwins, sondern auch gegenüber den großen, seinerzeit vorherrschenden Entwicklungstheorien eine Gegenposition ein. Denn im Gegensatz zu den Anhängern der Anpassungstheorie setzt Entwicklung für ihn die Fähigkeit voraus, sich selbst aktiv und tiefgreifend zu verändern, während sie gleichzeitig die Welt um einen herum verändert. Dies stellt nun eine derartig tiefgreifende Veränderung dar – seiner selbst durch das, was man nicht selbst ist, und dessen, was man nicht selbst ist, durch sich selbst –, die durch alle Anpassungsprozesse blockiert wird.
Erläutert wird dies ebenfalls in dem Fragment von 1887, das im Primat der Anpassung ein weiteres Resultat des Telegrafenzeitalters und seiner Verdauungsprobleme erkennt: »Eine Art Anpassung an diese Überhäufung mit Eindrücken tritt ein: der Mensch verlernt zu agiren; er reagirt nur noch auf Erregungen von außen her.« An dieser Stelle hat Nietzsche bereits die oberflächliche oder bloß »epidermale« Hypersensibilität der Modernen im Sinn, die er ein paar Zeilen weiter beschreibt. Wie das oberflächliche Mitgefühl bildet die Anpassung ein wesentlich passives Vermögen, wodurch sich der Organismus einzig an seiner Oberfläche modifizieren lässt. Wie ein weicher Teig, der durch die Form, in die er gegeben wird, seine Form erhält, so ändert das sich anpassende Lebewesen zwar seine Oberfläche, doch ohne irgendetwas anderes zu verändern, sprich weder seine eigene innere Struktur noch die Bestimmungen der Umgebung, in der es sich befindet. Eine wirkliche Entwicklung bedarf für Nietzsche aber sowohl einer tiefgreifenden und aktiven Veränderung seiner selbst als auch dessen, was einen selbst umgibt. Ist die Anpassung leicht, oberflächlich und abgestuft, so die Entwicklung tiefgreifend, schmerzhaft und konfliktreich. Hier setzt eine leidenschaftliche Debatte zwischen Nietzsche und Darwin ein, die andere Evolutionstheoretiker im
20. Jahrhundert fortführen werden und die uns noch heute prägt.24
Reaktion oder Anpassung:Zwei Formen von Ressentiment
Mit diesem riesigen Missverständnis, was die Evolution angeht, scheint eine neue Aufteilung hervorzutreten zwischen denen, die sich der immer schnelleren Folge von Ereignissen anpassen, und jenen, die ihre ganze Energie aufbringen, sich dem zu widersetzen.
Doch für Nietzsche laufen beide neuartigen Lebensweisen im Grunde auf dasselbe hinaus. Sie sind nur zwei Formen dessen, was er »Ressentiment« nennt, eine Affektdisposition, die schon die gesamte Geschichte der Metaphysik des Christentums beherrscht und für ihn stets von demselben Hass angetrieben wird: auf das Werden oder den absoluten Fluss. Bei denjenigen, die sich anzupassen ablehnen, tritt das Ressentiment explizit hervor und entgeht keinem aufmerksamen Beobachter. Sich auf sich selbst zu besinnen, die phantasmatische Konstruktion fester und in sich selbst geschlossener Identitäten, die Verherrlichung von Schließung und Stauung, die zu falschen ewigen Entitäten verhärtet sind (ganz gleich, welche Form dieses Phantasma annimmt, Nation, Rasse, Gemeinschaft, das souveräne und seiner selbst sichere Individuum), all jene treibt nur eines an:
sich der Wirklichkeit des absoluten Flusses entgegenzustellen und sich endgültig vor ihr zu verschließen.
Aber bei denjenigen, die sich anpassen – und hier reiben sich dieselben Beobachter verwundert die Augen –, herrscht keineswegs die Liebe zum Fluss, zum Werden oder zur Entwicklung vor. Was sich hinter der falschen Dynamik und der oberflächlichen Flexibilität verbirgt, ist die ebenso rigide Ablehnung jeder echten Veränderung. Denn wie wir sehen konnten, bedeutet sich anzupassen, eine wirkliche Veränderung seiner selbst und der Welt um uns herum abzulehnen und zu versuchen, den Lauf der Entwicklung strikt festzulegen. Wie Lampedusas berühmte Formulierung in Der Leopard besagt, geht es um Folgendes: »Wenn wir wollen, dass alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, dass alles sich ändert.«25 Das ist die paradoxe Situation, die für Nietzsche das Jahrhundert der industriellen Revolution kennzeichnet: Seine Feier des Fließens, der Veränderung und der Beschleunigung führt, ganz gleich, ob man nun auf Seiten der Reaktionäre oder auf Seiten der Verfechter der Anpassung steht, in jedem Fall dazu, den Hass auf das Werden zu verstärken und alle Lebensformen zum Stillstand zu verdammen.
Wie kann es gelingen, das Erscheinen des absoluten Flusses zu verdauen? Das ist eigentlich die grundlegende Frage, die Nietzsches Untersuchungen zum Leben und zu dessen Bedingungen antreibt. Zu dieser Frage gesellt sich jedoch noch eine andere: Wie ist es den neuen Formen der Einverleibung, deren Zahl bereits zu antiken Zeiten beträchtlich angewachsen und im Telegrafenzeitalter noch ungleich mächtiger geworden war, gelungen, die umgekehrte Wirkung zu erzielen: einen Leib herauszubilden, der, weil er weder sich zu entwickeln, noch das, was ihm zustößt, zu verdauen vermag, einen Hass auf den Fluss des Werdens ausgebildet hat, dem er jedoch mit Liebe hätte begegnen können, da er mehr als alle anderen Lebewesen die Mittel dazu besitzt?
Wie Nietzsche in Zur Genealogie der Moral erklärt, geht seine Untersuchung sowohl genealogisch als auch medizinisch vor. Wie jede gute medizinische Wissenschaft macht sie nicht nur eine Ursache aus, sondern ein ganzes Bündel an Vererbtem und kausalen Linien, was wiederum die Anwendung einer genealogischen Methode ermöglicht. Auf Grundlage dieser Diagnose schlägt sie eine Behandlung vor, die Nietzsche als »Medizin der Kultur« bezeichnet und die seiner Ansicht nach als einzige Bedeutung von Philosophie zu gelten hat.26Der Philosoph als Arzt der Kultur, so sollte ursprünglich, nach Die Geburt der Tragödie, der Titel von Nietzsches Buch über die Philosophen des tragischen Zeitalters der Griechen lauten. Damit er den zerstörerischen Prozess des Nihilismus, der zur Entwertung aller Werte führt und die Bedingung des Lebens als solche bedroht, zu überwinden vermag, wird sich Nietzsche auf zwei Entdeckungen stützen: auf der einen Seite die Entdeckung des Lebens als Wille zur Macht und auf der anderen Seite die Entdeckung jener neuen Aufgabe, die sich fortan dem Menschentier stellt, der Gedanke der ewigen Wiederkehr, deren Funktion darin besteht, die Gesamtheit der Vergangenheit unseren Gedächtnissen einzuverleiben. Hier schwankt Nietzsche zwischen zwei Möglichkeiten, den Gedanken zu verstehen: als eine rein individuelle und vereinzelte Ausnahme, die sich von der Masse aller anderen Lebewesen abgrenzt, und einer notwendig kollektiven Kritik der Kultur und einer neuen Politik des Lebens.
Der erste Teil des hier vorliegenden Buches erinnert zu Beginn daran, dass die Philosophie das Problem des Lebens, des Körpers und von deren Bedingungen durchgehend ausgeblendet hat, selbst dann noch, als sie im Zuge der neuzeitlichen Metaphysik behauptete, in erster Linie an diesen als ihren grundlegenden Gegenständen interessiert zu sein. Sei es nun der Versuch, die lebendige Erfahrung seiner selbst durch sich selbst (Descartes) oder Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt (Kant) sowie der Wirklichkeit des Leibs (Schopenhauer) oder des Lebens als Entwicklung (Hegel, Marx und Spencer) zu denken, Nietzsche zeigt, dass die neuzeitliche Philosophie jedes Mal Schutzschirme aufgestellt hat, die sie daran gehindert haben, das Leben zu denken. Im Verlauf des ersten Teils versuche ich, eine neue Geschichte der Philosophie zu skizzieren, die sich von jener stark unterscheidet, die sich im Bereich der deutschen Philosophie nach Heidegger hauptsächlich durchgesetzt hat. Letzterer vertritt die Ansicht, Nietzsche bleibe darauf beschränkt, die neuzeitliche Metaphysik zu vollenden, indes der Phänomenologie im Ausgang von Husserl so etwas wie ein Neuanfang gelungen sei. Ist diese Erzählung einmal in ihre Einzelteile zerlegt worden, wird der zweite Teil des Buches zeigen, wie Nietzsche seine eigene Therapie oder seine »Medizin der Kultur« zu entwickeln versucht, indem er seine eigene biologische Auffassung der Einverleibung und der Evolution entwickelt, und dies in einer sowohl subtilen als auch äußerst präzisen Auseinandersetzung mit den besten Biologen seiner Zeit. Der letzte Teil des Buches versucht schließlich, die Wirkkraft sowie die Grenzen der durch Nietzsche eröffneten Wege zu beurteilen, indem er sie der zeitgenössischen Philosophie (James, Dewey, Bergson, Canguilhem und Foucault) und der jüngeren Geschichte der Wissenschaft sowohl vom Leben als auch von der Gesundheit gegenüberstellt.
Da Nietzsche den Körper als roten Faden wählt, reklamiert er einen Ausgangspunkt für sich, der dem durch die neuzeitliche Philosophie seit Descartes gewählten radikal entgegengesetzt ist.
Dieser Bruch wird oft durch den einfachen Gegensatz dargestellt, mit Nietzsche wechsle die Philosophie auf die Seite des Körpers und seiner Affekte, während alle Philosophen vor ihm auf Seiten des Bewusstseins und des Verstandes gestanden hätten. Doch so einfach ist die Sache nicht. Denn Descartes’ Cogito ist dadurch gekennzeichnet, dass es vom Bewusstsein im weitesten Sinne ausgeht. »Was ist ein denkendes Ding?«, fragt Descartes in der zweiten Meditation: »ein Ding, das zweifelt, einsieht, bejaht, verneint, will, nicht will und das auch Einbildung und Empfindung hat«.1 Descartes’ »Denken« – das von ihm mit dem lateinischen Ausdruck cogitatio belegt wird und sowohl das Denken im engeren Sinne (die Ausübung des Verstandes) überschreitet als auch darüber hinausreicht, was heute in einem viel weiteren Sinne »Kognition« genannt wird (die Gesamtheit geistiger Vorgänge, seien sie menschlicher oder tierischer Natur, durch die die Lebewesen ihr Milieu, ihre Umwelt zu erkennen vermögen) – verweist auf die Gesamtheit ausnahmslos aller bewussten Erfahrungen, einschließlich der Empfindungen, der Affekte und sogar der Phantasmen.
Um von »Denken« sprechen zu können, müssen jene Erfahrungen bewusst sein, darf ich, was ich spüre, nicht bloß empfinden, sondern muss Bewusstsein von der Empfindung haben. »Videre videor«, zieht Descartes dies in einer kurzen Formel zusammen, das heißt, ich darf nicht nur sehen, sondern muss sehen, dass ich sehe: »Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte […], das ist es eigentlich, was an mir Empfinden genannt wird«.2 Ferdinand Alquié hat auf diesen Punkt hingewiesen: Nicht »das reflexive Bewusstsein darüber, etwas zu sehen, sondern der unmittelbare Eindruck zu sehen«,3 bezeichnet Descartes hier als »denken«. In seinen Erläuterungen zum kartesischen Cogito kommt der Phänomenologe Michel Henry zu dem Schluss, dass eigentlich die Erfahrung einer »Selbstaffizierung« den Anfang bei Descartes bezeichnet: »In der Selbstaffizierung offenbart sich das Denken unmittelbar sich selbst und empfindet sich in sich selbst, so wie es ist.«4 Für die Phänomenologen, die Descartes im
20. Jahrhundert neu lesen, setzt die neuzeitliche Philosophie also auch beim »Leben« an (Michel Henry), und zwar verstanden als das Innige der Erfahrung (Husserl). Doch im Lichte dieser weitaus strengeren Lesart des Cogito verschwimmt der Gegensatz zu Nietzsche. Was ändert es letztlich, den Körper an die Stelle des Bewusstseins und seiner Erfahrungen zu setzen?
Kritik an den unmittelbaren Gewissheiten
Nietzsche geht vom Körper aus und setzt den Körper dem Bewusstsein entgegen, weil er der Ansicht ist, dass letzteres immerzu als ein Schleier, als ein Schirm dient, durch den das Leben gedacht und empfunden wird. Ob in geistiger Form als reflexive Verdoppelung der Vorstellung (ich denke, dass ich denke) oder rein sinnlich als Selbstaffizierung (ich empfinde, dass ich empfinde), jedes Mal tritt das Bewusstsein zwischen uns und die Wirklichkeit des Lebens und der Leiber. Doch zuerst muss sein vermeintlicher »Anfang«5
ins Visier genommen werden. Eben dies macht zum Beispiel § 15
von Jenseits von Gut und Böse:
Es gibt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es »unmittelbare Gewissheiten« gebe, zum Beispiel »ich denke«, oder […] »ich will« […].6
Nietzsche kritisiert an dieser Stelle jedoch nicht einfach die Illusion, der zufolge die Vorstellung – alle Produkte des objektivierenden Denkens, eines Denkens, das sich Objekte gegenüberstellt – prinzipiell erlauben würde, die Wirklichkeit in exakter und adäquater Form zu erfassen. Hieran hatte bereits Descartes, und endgültig dann Schopenhauer, seine Zweifel, als er auf das Cogito stieß:
Ich setze also voraus, dass alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, dass niemals etwas von dem existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt […].7
Statt die Vorstellung anzugreifen, nimmt er den Kern der Erfahrung des Cogito ins Visier: den Aberglauben einer sicheren Erfahrung seiner selbst durch sich selbst, den Glauben an eine unmittelbare Gewissheit des Erlebten, das von der Phänomenologie weiterhin als einzig möglicher Ausgangspunkt der Philosophie beansprucht und auch von Schopenhauer als Anfang bezeichnet wird.8
Geht Nietzsche vom Leib aus, wie ihn die Biologen untersuchen, und genauer noch vom Organismus, von einem Körper, der dazu gezwungen ist, sich zu ernähren und dadurch zu verändern, so wählt er einen gänzlich entgegengesetzten Ausgangspunkt. Denn obwohl es auch für Nietzsche darum geht, am »Phänomen des Leibes«9 anzusetzen, bleibt dessen Wirklichkeit für uns nicht nur im Dunkeln oder schwer zu begreifen (die Erkenntnis des Lebendigen verfährt, wie alle anderen Wissenschaften auch, rein hypothetisch), sondern sie ist uns auch und vor allem fast vollkommen unbewusst.
Wer von uns kann von sich behaupten, nicht nur ein genaues Wissen, sondern auch ein klares Bewusstsein davon zu haben, wie sein Körper funktioniert, wie er sich ernährt, verdaut, Erinnerungen speichert, sich entwickelt und verändert? Wer weiß klar und deutlich, wie sein eigener Leib letztlich mit dem absoluten Fluss dessen, was ihm widerfährt, umgeht?
Im Gegensatz zu dem von Nietzsche gewählten problematischen Ausgangspunkt entscheidet sich Descartes dafür, seine Untersuchung auf später zu verschieben, gerade weil ihm das Phänomen des Leibes größtenteils verborgen bleibt. Weil die »Natur meines Geistes leichter erkennbar ist als die meines Körpers«,10
hat der Geist also Vorrang nicht nur gegenüber der Ausdehnung, aus der die trägen Körper bestehen, sondern auch gegenüber meinem eigenen Körper, dem lebendigen Organismus, der ich bin. »Ich habe einen Körper«, sagt man in der Umgangssprache und trennt grammatikalisch den Körper vom Subjekt, das ich bin, doch Descartes weiß sehr wohl, dass so zu sprechen völlig unangemessen ist. Denn weder soll man sagen, dass »ich einen Körper habe«, noch dass »ich in meinem Körper stecke«, sondern, so erklärt er am Ende seiner Betrachtungen, dass ich, vielleicht ebenso sehr wie mein Geist, mein Körper bin:
[…] dass ich nicht nur in der Weise meinem Körper gegenwärtig bin, wie der Schiffer seinem Fahrzeug, sondern dass ich […] mit ihm eine gewisse Einheit bilde. […] Denn es sind doch sicherlich diese Empfindungen des Hungers, Durstes, Schmerzes usw. nichts anderes als gewisse, aus der Vereinigung und gleichsam Vermischung des Geistes mit dem Körper entstandene Weisen des Bewusstseins.11
Wenn ich aber mein Körper oder so mit ihm verbunden bin, dass man mich nicht klar von ihm trennen kann, warum hat man dann angefangen, zwischen Denken und Körper zu unterscheiden?
Warum hat man zu Anfang den berühmten kartesischen »Dualismus« von Leib und Seele installiert? Descartes’ Antwort findet sich erneut im Cogito. Solange die Erfahrung, die ich im Cogito mache, andauert – eine Erfahrung, in der ich mich »sehen, hören, warm werden« usw. fühle –, ist mein eigener Körper, der ich gleichwohl bin, nur ein zweifelhafter Teil der Welt:
Ich bin also genau nur ein denkendes Ding […]. Ich bin nicht jenes Gefüge von Gliedern, das man den menschlichen Körper nennt […].12
Mein Körper ist also etwas ganz anderes als ich, und das trotz der Fragen in der letzten Betrachtung – bin ich nicht letztlich mein eigener Körper? –, die erst später diese Anfangssituation ein wenig verwickelter machen. Im Grunde geht Descartes von einem Ich ohne Körper aus, weil die unmittelbaren Gewissheiten unserer Bewusstseinserfahrungen leichter zu begreifen sind als das, was sich eigentlich in unseren Körpern abspielt. Für Nietzsche heißt dies, dass Descartes und mit ihm die neuzeitliche Philosophie die dürren Gewissheiten des Bewusstseins der so reichhaltigen und komplexen Wirklichkeit des Lebens und des Leibes vorgezogen haben. Den Körper an die Stelle des Bewusstseins zu rücken, würde somit bedeuten, den Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie und damit auch die mächtigen, ihre Erkenntnistheorie leitenden Prinzipien regelrecht umzukehren.
Nietzsches Kartesische Argumente
Nun besteht aber das Problem darin, dass Nietzsche, um eine solche Ersetzung zu rechtfertigen, Gründe angibt, die auf den ersten Blick Descartes’ Argumente wiederaufzugreifen scheinen. Ist der Leib »methodisch voranzustellen«, dann weil er das »deutlichere
[…] Phänomen«13 ausmacht – erkenntnistheoretischer Vorzug des Deutlichen, der bereits durch den Verweis auf die Methode gegeben ist. In seinem Discours de la méthode erklärt Descartes, dass letztere unabdingbar sei, um »seinen Verstand richtig zu leiten«,14
ein Grundsatz, den auch Nietzsche zu beherzigen scheint. Darüber hinaus, so Descartes, gründe die Methode in dem, was »klar und deutlich« ist: »Ich meine als allgemeine Regel aufstellen zu dürfen, dass alles das wahr ist, was ich recht klar und deutlich erfasse.«15
Mit dem Adjektiv deutlich beschreibt Nietzsche den Körper à la Descartes:
Alles, was als »Einheit« ins Bewußtsein tritt, ist bereits ungeheuer complizirt: wir haben immer nur einen Anschein vonEinheit. Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen: methodisch voranzustellen, ohne etwas auszumachen über seine letzte Bedeutung.16
Aber gerade weil Nietzsche das kartesische Kriterium der Unterscheidung übernimmt, weist er sowohl die falsche Unmittelbarkeit der »Erlebnisse« als auch die falsche Einfachheit der »klaren und deutlichen Vorstellungen« des Bewusstseins zurück. Denn letztere sind in Wirklichkeit, wie alle anderen Phänomene auch, nicht nur komplex oder kompliziert, sondern vor allem hinter dem Schirm einer falschen Einfachheit verborgen. Sie sind stets das Ergebnis mannigfaltiger und verwickelter Prozesse, deren Geschichte sich uns nahezu vollständig entzieht. Verglichen mit der trügerischen, Verwirrung und Undeutlichkeit stiftenden Einfachheit und Einheit der Bewusstseinstatsachen ist das Phänomen des Körpers, so Nietzsche, sehr viel »deutlicher«. Bleibt noch zu verstehen, in welchem Sinne dies gemeint ist, denn an diesem Punkt der Diskussion zwischen Nietzsche und Descartes lässt sich noch nicht recht ausmachen, wodurch der Körper den Vorzug gegenüber dem Bewusstsein erhält. Nichtsdestotrotz muss man ihn hier bereits, will man Nietzsche und seiner Übernahme des kartesischen Kriteriums der Unterscheidung, des Deutlichen folgen, methodisch voranstellen.
Der zweite Grund, den Nietzsche anführt, um vom Körper auszugehen, macht seine Abhängigkeit vom kartesischen Anfang noch anschaulicher: »Ausgangspunkt vom Leibe und der Physiologie: warum? – Wir gewinnen die richtige Vorstellung von der Art unsrer Subjekt-Einheit.«17 Wie die Philosophie von Descartes, so zielt auch die von Nietzsche auf die Frage nach der subjektiven Einheit ab, das heißt auf die Frage, was es bedeutet, ein Subjekt zu sein, das in der Lage ist, sich als eins zu erfahren und sich selbst als ein Ich zu denken. Diese Erfahrung eines Ich denke findet Nietzsche auf allen Ebenen des Leibes wieder: »Das Ich-Geistige selber ist mit der Zelle schon gegeben.«18 Dadurch kann er in der Tätigkeit all unserer Organe die geistige Tätigkeit wahrhaft denkender Wesen erkennen. Hebt Nietzsches Philosophie auch mit dem Leib an, so sucht sie dennoch, wie jede neuzeitliche Philosophie, nach der »richtigen Vorstellung«, die das Subjekt von sich selbst hat.
Hat sich Nietzsche also letztlich damit begnügt, das Ego und sein Cogito nur herabzustufen?
Und wäre eine solche »richtige Vorstellung« des Körpers überhaupt möglich? Wenn Nietzsche die unmittelbaren Gewissheiten der Selbstaffizierung drangibt, warum zweifelt er dann nicht, wie Descartes und in gleicher Strenge wie dieser, an den Darstellungen, die uns die Wissenschaften von unserem Körper liefern? Das wird der gewichtige Einwand seitens der Phänomenologie gegen die von der darwinschen Revolution inspirierten Philosophien des Lebendigen oder Leibphilosophien sein, zu deren prominentesten Vertretern Nietzsche zählte. Anstatt das Leben von den Lehren der Biologie her zu begreifen, geht die Phänomenologie den genau entgegengesetzten Weg, nämlich, wie Husserl bereits 1907
sehr klar formulierte, zu den »Sachen selbst«, das heißt, dass sie zu den Bewusstseinstatsachen wieder zurückkehren und »von der ganzen in den natürlichen Wissenschaften […] geleisteten Denkarbeit absehen muß«.19 Die Rückkehr zu den Sachen vermittels Reduktion des gesamten angesammelten Wissens: Dieses neue philosophische Programm wird zum allmählichen Ausschluss des biologischen Wissens aus dem Bereich der zeitgenössischen Philosophie führen. Zusammen mit anderen historischen Faktoren wird es den Verdacht des »Biologismus« gegen die großen Philosophien des Körpers und des Lebens verstärken, die im letzten Drittel des
19. Jahrhunderts im Gefolge der darwinschen Revolution ihren Weg zu machen versuchten. Lange vor der Verbreitung der biologistischen Theorien der Nationalsozialisten kritisierte bereits Husserl jede Form der Anlehnung der Philosophie an die Biologie als »verhängnisvolles Vorurteil«,20 eine Verurteilung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem Großteil der Geisteswelt nur noch verstärkte.
Als Husserl jedoch »die beliebten Begründungen der Erkenntnistheorie durch die Erkenntnispsychologie und Biologie«21 verurteilt, kann Nietzsche dem Angriff sehr leicht ausweichen. Denn sein Rückgriff auf die Biologie ist weder ein Akt der Gründung noch eine Form von Reduktionismus, wodurch alle Wirklichkeit auf vermeintliche Grundelemente biologischen Ursprungs zurückgeführt würden. Die mannigfaltigen und weitgehend widersprüchlichen Hypothesen der Lebens- oder Biowissenschaften stellen ihm zufolge eher mehr oder weniger erfolgreiche, wenn nicht gar oftmals gescheiterte Versuche dar, etwas vom Leben, vom Lebendigen zu erfassen. Sein philosophisches Programm besteht darin, von diesem mannigfaltigen und notwendig unvollkommenen Material auszugehen und es mit anderen, ebenfalls unvollständigen Zeugnissen zu vergleichen, die uns zur Verfügung stehen (die gelebte Erfahrung des Einzelnen, jene berühmten Bewusstseinserfahrungen, doch auch das von den Völkern angesammelte kulturelle Wissen), um sie einander gegenüberzustellen und kritisch zu hinterfragen. Nur so können wir hoffen, eine wenn nicht adäquate, so doch »genauere« oder, um ein Adjektiv nach Nietzsches Geschmack zu verwenden, »redlichere« Vorstellung von unserer Subjekteinheit zu erlangen. Solche Redlichkeit, die Nietzsche in seinem ersten Beruf als Philologe erlernt hat, und zwar die Achtung der Methode, die das Lesen antiker Texte beinhaltet, setzt zunächst die Auflösung aller Diskurse voraus, die gleich Schutzschirmen das Phänomen des Lebens ausblenden. Was aber fungiert denn nun eigentlich als Abschirmung im kartesischen Ausgangspunkt?
Die Antwort darauf ist nicht so einfach, denn wenn auch Nietzsche und die Phänomenologie sich frontal gegenüberstehen, so ist doch der Bruch mit Descartes weit weniger offensichtlich, als man zu Beginn hätte meinen können. Der Verweis auf drei Grundkategorien – die Methode, der Vorrang der Unterscheidung und des Deutlichen sowie die subjektive Einheit des Ich – scheint Nietzsches neuen Ausgangspunkt, wie bereits erwähnt, eher der reinsten kartesischen Tradition einzuschreiben. Indem er von der Seele zum Körper und vom Geist zum Leben überging, hat Nietzsche das Ich zwar verkleinert. Doch hat er es damit auch schon dekonstruiert?
Die Verkleinerung des Ego:
eine Erwiderung auf das Cogito?
Schaut man sich Nietzsches im eigentlichen Sinne biologische Untersuchungen genauer an, scheint die Abhängigkeit von Descartes zunächst Bestätigung zu finden. Da er der Ernährung einen zentralen Platz einräumt, übernimmt Nietzsche von Seiten der Biologie die Ansicht, dass der lebendige Körper, der Leib, im Unterschied zum nicht lebendigen Körper zu Ernährung und Verdauung in der Lage ist, was wiederum voraussetzt, dass er in sich etwas aufzunehmen, einzuverleiben vermag. In Übereinstimmung mit der lateinischen Etymologie des von den Physiologen gebrauchten Ausdrucks beinhaltet die »Assimilation«, dass der Leib fähig ist, gleich zu machen oder auf dasselbe zu reduzieren (ad-similare), was ihm als absolut verschieden gegenübersteht. Für Nietzsche nun macht unser Geist fortwährend das Gleiche und funktioniert somit genau wie unser Magen:
Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen: […] wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner »Verdauungskraft«, im Bilde geredet – und wirklich gleicht »der Geist« am meisten noch einem Magen.22
Im Lichte dieser Beschreibung erweist sich die Tätigkeit des denkenden Ich, dessen Bild uns Descartes im Zuge der Analyse des »Wachsstücks« malt, als einfacher Sonderfall organischer Assimilation. In dem berühmten Abschnitt der Meditationen erläutert Descartes, dass wir beim Betrachten eines Stücks Wachs, mit all der sensorischen Vielfalt einer solchen Wahrnehmung und mit all den Veränderungen (der Größe, des Geruchs, der Farbe, der Konsistenz), denen das Wachs ausgesetzt sein kann, niemals durch unsere sinnlichen Erfahrungen, sondern stets durch das intellektuelle Urteil unseres »Geistes« und unserer »Gedanken« sagen können: Es ist dasselbe Wachs! Für Descartes ist es diese Fähigkeit, die sinnlich wahrnehmbare, stets wechselnde und unbeständige Vielfalt auf die Identität des Selben oder, genauer noch, auf das Bedürfnis, mit sich selbst identisch zu sein, zu reduzieren, was letzten Endes den Geist und seine »Gedanken« ausmacht und ihm seinen methodologischen Vorrang verleiht. Um mit Nietzsche zu sprechen: Erfahren wir, was uns durch die Sinne ankommt, als einen absoluten Fluss, so glauben wir jedoch, weil wir es beschließen oder dekretieren, dass wir dasselbe Wachs sehen. Wir erschaffen aus dem immer Neuen, das uns widerfährt, die fiktive Stockung (stase) eines festen (das Wachsstück) oder sogar eines ewigen Gegenstandes (die Substanz, die jedem Gegenstand zugrunde liege). Während ich unaufhörlich immerzu verschiedene Eindrücke gewinne, entscheide ich allein durch die Kraft des Denkens, was ich sehe, nämlich das gleiche Stück Wachs. Nun verhält es sich aber so, dass jedes Lebewesen, das sich ernährt, dies bereits tut. Ob es nun verdaut, wahrnimmt oder denkt, es assimiliert jedes Mal etwas Neues, indem es es auf die stabile Identität des Selben zurückführt.
Ich assimiliere, also bin ich. Ein Ego sein in dieser letzten, höchsten Version des Cogito heißt, die Identität der Gegenstände von sich aus, gleichsam natürlich zu wollen. Das bewusste Ich ist hier für Nietzsche nur ein Sonderfall des deutenden Leibes:
Alles Denken, Urtheilen, Wahrnehmen als Vergleichen hat als Voraussetzung ein »Gleichsetzen«, noch früher ein »Gleichmachen«. Das Gleichmachen ist dasselbe, was die Einverleibung der angeeigneten Materie in der Amoebe ist.23
Alle Leiber, eingeschlossen die rudimentärsten wie die »Amoebe« und die zahllosen Mikroorganismen, die in all den anderen Körpern stecken, machen gleich (Assimilation) und wandeln um (Appropriation), fremde in eigene Materie. In diesem Sinn ist die Hervorbringung stabiler und identischer Gegenstände durch das denkende Ich nur ein besonderer Fall von organischer Einverleibung und Aneignung. Auch lässt sich schließen, dass Descartes’
Ich nichts anderes als sein Körper ist. Die geistige Tätigkeit des denkenden Ich ist nur ein Sonderfall, ein Werkzeug, ein Organ des Leibes.
Letztere Aussage könnte aber auch genauso gut umgekehrt werden. Denn vielleicht ist es ja der Leib, so wie Nietzsche ihn betrachtet, der selbst nur eine Art Ich oder »Subjekt« darstellt: »Das kleinste organische Geschöpf muß Bewußtsein und Willen haben.«24 Wenn das Subjekt denkt – wenn es denkt, dass es Hunger hat oder ihm etwas weh tut, oder wenn es denkt, dass es dasselbe Stück Wachs sieht –, dann denkt in ihm in Wirklichkeit eine Mannigfaltigkeit an Subjekten oder Ichs, eine Menge an Organen, Zellen und Neuronen, die, um zu denken, unter- und miteinander kommunizieren:
Das Nervensystem und das Gehirn ist ein Leitungssystem und ein Centralisationsapparat zahlloser Individual-Geister von verschiedenem Range. Das Ich-Geistige selber ist mit der Zelle schon gegeben.25
Deswegen zögert Nietzsche auch nicht, nicht nur die kartesischen Begriffe des Ich und des Bewusstseins, sondern ebenso den zentralen Begriff der neuzeitlichen Philosophie, den des Subjekts oder der Subjektivität, zu übernehmen. Eben darin besteht einer seiner Hauptwiderstände gegen die Naturwissenschaften, denen er vorwirft, jene grundlegende Kraft, die die Philosophie »Subjekt« nennt, vergessen zu haben:
[…] den nothwendigen Perspektivismus, vermöge dessen jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze Welt construiert, d. h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet … [Die Naturwissenschaften] haben vergessen, diese Perspektiven setzende Kraft in das »wahre Sein« einzurechnen … In der Schulsprache geredet: das Subjekt-Sein.26
Während die Physik die Existenz von Atomen postuliert, die den Gesetzen der Natur passiv unterworfen sind, und der Darwinismus die Organismen ebenso wie einzelne Atome behandelt, die dem Druck der natürlichen Auslese unterworfen sind, versucht Nietzsche hingegen, die einverleibende Kraft des Subjekt-Seins in die Naturwissenschaften im Allgemeinen und in die Biologie im Besonderen wieder einzuführen. Entgegen der atomistischen Ansicht, die Natur sei nichts weiter als eine Gesetzen unterworfene Materie, haben Physik und Biologie mit aktiven Subjekten zu tun, die ebenfalls »die Welt konstruieren«, indem sie sie messen, betasten und verändern.
Zuletzt lässt sich noch die Radikalität der Nietzscheschen Umkehr infrage stellen. Ist der Leib nichts anderes als ein Ich (das bewusst, empfindend, wollend und denkend auf die Dinge eine Identität projiziert, die nur für es selbst besteht), so lässt sich daran zweifeln, ob die Ersetzung des Bewusstseins durch den Leib einen wahren Bruch mit der neuzeitlichen Metaphysik einläutet.
Für Heidegger, der wahrscheinlich am ehesten erkannt hat, was Nietzsches Leib Descartes’ Ego schuldet, ändert das streng genommen rein gar nichts: »Dass Nietzsche an die Stelle der Seele und des Bewusstseins den Leib setzt, ändert nichts an der metaphysischen Grundstellung, die durch Descartes festgelegt ist.«27 Damit schließt er Nietzsche in seine eigenen Deutungen der neuzeitlichen Metaphysik ein und erkennt allein in der Phänomenologie den Versuch eines Neuanfangs.
Der Leib als »Gemeinschaftsbau«
Wir hätten hier stehen bleiben und unsere Untersuchung beenden können, wenn für Nietzsche der Leib nur das gewesen wäre:
nicht mehr als ein Ego, das sich dank der assimilatorischen Fiktion einer Welt fester, beständiger, berechenbarer und verfügbarer Objekte selbst als ein Ich denkt, will und spürt. Das ist aber nicht seine Position, sondern genau da setzt die Auflösung des Schutzschirms des Cogito durch Nietzsche ein, deren Tragweite Heidegger nicht ahnen konnte oder nicht erkennen wollte. Um den Widersinn der Lesart Heideggers offenzulegen, durch die er aus dem Leib den letzten Platzhalter der Subjektivität der Neuzeit macht, muss daran erinnert werden, dass der von Nietzsche bezeichnete Körper nicht das Ich Descartes’ ist, sondern eine komplexe Gemeinschaft von Ichs, die sich innerhalb einer Mannigfaltigkeit von verwickelten und sich verändernden Beziehungen wechselseitig beeinflussen. Klar zum Ausdruck kommt dies in § 19 von Jenseits von Gut und Böse: Unser Körper ist nichts weiter als ein »Gemeinschaftsbau vieler Seelen«,28 ein Ausdruck, der ein Fragment zusammenfasst, das besagtem Paragrafen zugrunde liegt und in dem der Leib der Reihe nach beschrieben wird als eine »ungeheure Vereinigung von lebenden Wesen, jedes abhängig und unterthänig und doch in gewissem Sinne wiederum befehlend«, eine »prachtvolle Zusammenbindung des vielfachsten Lebens«, eine »ungeheure Synthesis von Lebewesen und Intellekten«, ein »feines Verbindungs- und Vermittlungssystem«.29 Eben diese mannigfaltige, komplexe und gemeinschaftliche Natur des Leibes unterscheidet ihn gänzlich von der falschen einfachen Einheit des Ich und all seiner Erlebnisse.
Als würde er die Sprache der Phänomenologie sprechen, jedoch nur, um ihren Ausgangspunkt zu kritisieren, wirft Nietzsche sowohl gegen Descartes als auch Husserl ein, »daß dies, eben dies – ›die Sache selbst ist‹«.30
Weil es stets leiblich verfasst ist, empfindet sich jedes Ich notwendigerweise zunächst als ein Wir: »Es giebt also im Menschen so viele ›Bewußtseins‹ als es Wesen giebt, in jedem Augenblicke seines Daseins, die seinen Leib constituiren.«31 Hiervon ausgehend jedoch müssen die Bestimmungen des Leibes, die kartesischer Provenienz schienen – ein unterschiedenes, deutliches und durch die Methode erfassbares Ding zu sein, das in der Lage ist, seine eigene Identität auszubilden, indem es sich den gesamten Rest gleichmacht –, eine nach der anderen erneut unter die Lupe genommen werden.
Betrachten wir hierfür als Erstes den Leib als »deutliches« Phänomen. Übernimmt Nietzsche zwar Descartes’ Aufwertung des Deutlichen, so weist er doch im Gegenzug, wie wir sehen konnten, das Vorrecht der Einfachheit zurück. Das Phänomen des Körpers muss an erster Stelle stehen, nicht weil es das einfachste wäre, sondern weil es im Gegenteil viel komplexer ist: »Das Phänomen des Leibes ist das reichere, deutlichere, faßbarere Phänomen«,32 das »Studium des Leibes giebt einen Begriff von den unsäglichen Complikationen«,33 am »Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit«.34 So ist es »methodisch erlaubt, das […] reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständniß des ärmeren zu benutzen«.35 Entgegen Descartes’ Empfehlung in den Regeln zur Leitung des Geistes geht hier die Methode nicht vom Deutlichsten und Fassbarsten zum Einfachsten und Leichtesten.36 In Umkehr zur kartesischen Regel geht sie indes vom Fassbarsten und Reichsten aus, vom Phänomen also, das am meisten zu denken gibt, gerade weil es, was wir bereits zu denken und begreifen vermögen, übersteigt und überschreitet.
Müsste man nicht aber eher Descartes Recht geben und dafürhalten, dass einzig das Einfache durch die Intuition oder den Begriff für »deutlich« und »fassbar« gehalten werden kann? Bleibt man im Register eines Verstehens qua Verstand, Geist, so liegt klar auf der Hand, dass sich diese Gleichsetzung in Luft auflöst, sobald man das Adjektiv »fassbar« samt seiner körperlichen und taktilen Bedeutung gebraucht. Indem der Begriff die Tätigkeit der Greiforgane verlängert, vor allem jene der Hand, die etwas greift und packt, »fasst« er stets besser, wenn es viel zu (be)greifen gibt. Eine solche Umkehr der kartesischen Regel verdankt Nietzsche Kant:
Wenn der Begriff irgendetwas greifen oder fassen, wenn die Kraft des Begriffs etwas Greifbares umschließen soll, dann kann dies nur anhand der sinnlichen Vielheit, des Mannigfaltigen geschehen, das etymologisch betrachtet »voller Falten« ist.37 Wenn der Leib dem Denken mehr zu begreifen gibt, dann liegt das genau daran, dass er dichter, komplexer und reicher ist als unsere allzu simplen Bewusstseinserlebnisse. Die Kraft eines Begriffs verhält sich direkt proportional zum Reichtum der Falten, die er greift. Nietzsches neue Regel zur Leitung des Geistes könnte wie folgt lauten: Je weniger Falten es gibt, umso weniger Begreifen des Mannigfaltigen ist möglich, umso weniger Begriff gibt es. Oder positiv ausgedrückt:
Je mehr Falten ein Phänomen besitzt, umso komplexer ist es und umso mehr kann es durch das Denken und seine Begriffe begriffen werden.
Bleibt nur noch zu verstehen, inwiefern der Leib »deutlicher« als das Bewusstsein ist. Wie vermag das Komplexeste zugleich das »Deutlichste«38 zu sein? Verweist das »Fassbare« aufs Greifen, so das »Deutliche« aufs Deuten, Übersetzen und Erklären. Je mehr Falten nun die Phänomene besitzen, umso mehr an jenen gibt es zu begreifen und umso mehr gibt es an diesen zu erklären und zu unterscheiden, deutlich zu machen. Etwas Unterscheiden – etymologisch: durch Einstiche oder Markierungen trennen –, das heißt (wie im lateinischen Ausdruck explicare) etwas entfalten, indem es auseinandergefaltet, auseinandergelegt wird, macht nur Sinn, wenn es auf ein reiches und komplexes Phänomen trifft. Das Beispiel der Lektüre als eine Praxis der Deutung von Texten, die diesen entfaltet, um seine Falten und Windungen zu unterscheiden und lesbarer zu machen, ist hier besonders erhellend. Nietzsche, für den die Methode aufgrund seiner ersten Tätigkeit als Philologe einen hohen Stellenwert besitzt, verwendet es regelmäßig, denn in der Philologie erlernt man den liebevollen Umgang mit Texten, um ihrer unerschöpflichen Komplexität respektvoll und redlich gegenübertreten zu können. Während eine simple Botschaft zu wenig enthält, um erklärt werden zu müssen und sich so jede Lektüreanstrengung erübrigt, erfordert ein echter Text aufgrund seiner Reichhaltigkeit und Komplexität die unterscheidende Arbeit der Deutung. Je verwickelter ein Text, umso mehr Falten und Schichten gibt es, umso mehr gibt es zu lesen und zu erklären, umso »lesbarer« und »deutlicher« ist er. Desgleichen ist es die erstaunlich komplexe Textur des Leibgewebes, die aus ihm ein Phänomen macht, in dem es mehr zu lesen, zu deuten und zu unterscheiden gibt als in den – armen und dürren – Bewusstseinsphänomenen.
Der Leib als »Wunder der Wunder«
All diese Bestimmungen haben zur Folge, den Akt der Erkenntnis umgekehrt zu Descartes’ Deutung, die sich zu Beginn der Neuzeit durchgesetzt hat, zu verstehen. Ist der Leib »deutlich«, unterschieden, distinkt und »fassbar«, dann nur unter der Bedingung, dass er sich in seiner »ungeheuren« Komplexität zeigt oder sich uns aufzwingt, wie nur ein Ungeheuer sich uns zeigt und uns ergreift, noch ehe wir es im Voraus gesehen, verstanden oder vorgestellt haben. Somit werden wir mehr ergriffen und überrascht durch den Körper, der sich uns als »ungeheures« Phänomen oder als »Wunder der Wunder«39 darbietet, als dass wir ihn selbst als ersten Gegenstand unserer Methode begreifen. In welchem Sinne spricht Nietzsche also weiterhin von »Methode«? In einem Sinne, der denjenigen vorwegnimmt, den Husserl einige Jahre später entfalten wird, wenn er in § 24 der Ideen zu einer reinen Phänomenologie feststellt, dass »das Prinzip aller Prinzipien« der phänomenologischen Methode darin besteht, keines zu haben, und jede »originäre gebende Anschauung« eine »Rechtsquelle der Erkenntnis« ist.40 Die Philosophie unterscheidet sich von der einfachen (zellulären oder logischen) Assimilation genau dadurch, dass sie nicht mehr bloß Ernährung und Verdauung ist, die alles auf dasselbe zurückführt (Erzeugung von Objekten oder Produktion von Dingen, was sowohl der natürlichen Haltung als auch der Lebenstätigkeit eigen ist), sondern dass sie die bewusste Suche nach dem ist, was sich der Assimilation widersetzt, die Lust am Problematischen, Wunderbaren und Ungeheuren – kurz: daran, was in den Phänomenen noch über das hinausgeht, was wir von ihnen verstehen.
Eben dies bedeutet »fröhliche Wissenschaft«, die wie Odysseus nicht zögert, aufs Meer in die Fremde und ins Ungewisse hinauszufahren. Im Gegensatz zum kartesischen Ausgangspunkt geht die »Methode«, die beim Phänomen des Leibes ansetzt, von dem aus, was sich unseren Methoden widersetzt, und knüpft bei dem wieder an, was die Griechen als den wahren Anfang aller Philosophie ausgemacht hatten: dem Staunen, das heißt dem absoluten Fehlen von Gewissheit. Hier schlägt Nietzsche zweifellos eine Bresche, die jenseits der Grenzen führt, die sich die Philosophie bei ihrer neuzeitlichen Gründung gesetzt hatte. Wird das Projekt der Neuzeit dadurch erschüttert, dass der Leib an den Anfang rückt, so weil er als ein erstaunliches und wundersames Phänomen erscheint, das die bereits bestehenden Assimilationsprozesse durch seine Widerständigkeit herausfordert.
Aus diesen Bemerkungen ließe sich schließen, dass die Philosophie genau das Gegenteil dessen tut, was Leiber tun. Während sich letztere das Verschiedene aneignen, um es gleich zu machen (ad-similare