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Mit viel schwarzem Humor parodiert Tom Hofland in seinem Roman die verloren gegangene Menschlichkeit am Arbeitsplatz. Ein virtuoses Pastiche aus Krimi, Horrorroman, absurder Groteske, tragikomischem Büroroman und überspitzter Satire.
Als Qualitätsmanager bei einem großen Pharmakonzern führt Lute ein beschauliches Leben. Doch mit der Übernahme der Firma durch einen Schweizer Investor soll plötzlich seine gesamte Abteilung wegrationalisiert werden. Eine bittere Pille für Lute: Nicht nur muss er zig loyale Kollegen loswerden, er soll sie auch noch dazu bewegen, von sich aus zu kündigen. Als Lombard, ein selbstständiger Headhunter, ihm seine Dienste anbietet, ist Lute froh, die Verantwortung abgeben zu können. Und tatsächlich: Lombard sorgt dafür, dass ein Mitarbeiter nach dem anderen verschwindet, und Lute kann seine Hände in Unschuld waschen. Doch mit den ersten Todesfällen wird klar, dass er einem Wolf im Schafspelz Tür und Tor geöffnet hat.
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Tom Hofland, 1990 geboren, ist Romanautor, Dramatiker und Podcastredakteur. Seine Werke wurden für zahlreiche Preise nominiert und in mehrere Sprachen übersetzt. Nimms nicht persönlicherhielt den BNG Bank Literatuurprijs und ist sein erster Roman, der auf Deutsch erscheint.
Als Qualitätsmanager bei einem großen Pharmakonzern führt Lute ein beschauliches Leben. Doch mit der Übernahme der Firma durch einen neuen Investor soll plötzlich seine gesamte Abteilung wegrationalisiert werden. Eine bittere Pille für Lute: Nicht nur muss er zig loyale Kollegen loswerden, er soll sie auch noch dazu bewegen, von sich aus zu kündigen. Als Lombard, ein selbstständiger Personalvermittler, ihm seine Dienste anbietet, ist Lute froh, die Verantwortung abgeben zu können. Und tatsächlich: Lombard sorgt dafür, dass ein Mitarbeiter nach dem anderen verschwindet, und Lute kann seine Hände in Unschuld waschen. Doch schon bald wird klar, dass er einem Wolf im Schafspelz Tür und Tor geöffnet hat.
But ’tis strange And oftentimes, to win us to our harm, The instruments of darkness tell us truths, Win us with honest trifles, to betray’s In deepest consequence.
Aber seltsam! Oft, uns in eignes Elend zu verlocken, Erzählen Wahrheit uns des Dunkels Schergen, Verlocken erst durch schuldlos Spielwerk, um Vernichtend uns im Letzten zu betrügen.
William Shakespeare, Macbeth (I,3) ins Deutsche übersetzt von Dorothea Tieck
1
Pascal Bonare legt seine blutige Hand auf den Schreibtisch. Der Kommissar tritt näher und mustert sie. Den dunkelblauen Anzugärmel, das weiße Hemd mit den roten Flecken, einen Manschettenknopf mit abgeplatztem Blattgold.
Er sieht die behaarte Hand – den leicht krummen Mittelfinger, der wohl mal gebrochen war, betrachtet das dunkle, fast schwarze, auf dem Handrücken geronnene Blut.
»Ihr Blut?«
»Ich glaube nicht.« Pascal hebt die Hand, um zu zeigen, dass er nicht verletzt ist.
Der Kommissar nickt und nimmt ihm gegenüber am Schreibtisch Platz. Der Ledersessel ächzt unter seinem schweren Körper.
»Zwei Frauen also, Herr Bonaire?«
»Bonare.«
»Bonaire? Wie die Insel?«
»Wie die Insel ohne i.«
»Bonare.«
»Genau.«
Der Kommissar zieht die Tastatur zu sich heran.
»Zwei Frauen also?«
Pascal nickt.
»Die eine dunkelhaarig, die andere blond gelockt.«
Mit zwei Fingern gibt der Kommissar etwas in den Computer ein.
»Die beiden waren mit einem Fiat Coupé unterwegs? Einem roten?«
»Mit einem roten Fiat Dino Coupé 2400 von 1969. Ich weiß das deshalb so genau, weil mein Onkel vor drei Jahren denselben Wagen zu Schrott gefahren hat.«
»Denselben oder den gleichen?«
»Den gleichen.«
Die alten, vergilbten Tasten bleiben an den Zeigefingern des Kommissars kleben. Er starrt auf den Bildschirm.
»Und dieser Mann, war das ein Freund von Ihnen?«
»Ein Geschäftskontakt. Gerade erst kennengelernt. Eigentlich kannte ich ihn gar nicht.«
»Ein Italiener?«
»Ich denke schon.«
»Laut dem Kellner war er Deutscher.«
»Tatsächlich?«
Der Kommissar nickt.
»Wie gesagt«, meint Pascal. »Im Grunde kannte ich ihn gar nicht.«
Erst jetzt merkt er, dass seine rechte Hand, die mit dem Blut, zittert. Er ballt sie zur Faust, aber das Zittern hört nicht auf. Das ist auch dem Kommissar nicht entgangen.
»Wenn es Ihnen zu viel wird, reden wir ein andermal weiter.«
Pascal atmet tief ein und flach aus.
»Es geht schon.«
Der Kommissar reckt halbherzig den Daumen und wendet sich wieder dem flimmernden Bildschirm zu.
»Sie sitzen also mit Ihrem deutschen Bekannten in einem Restaurant. Sie waren vor ihm da und haben schon eine kleine Vorspeise gegessen. Jetzt bestellen Sie die Meeresfrüchte und er … auch so was Ähnliches?«
»Das porcheddu. Damit nahm er es genau. Ohne Salz.«
»Stimmt. Das porcheddu ohne Salz. Sie essen, Sie besprechen ein paar Dinge, ein Kellner kommt von einem anderen Tisch und fragt, ob alles nach Wunsch ist, und in dem Moment sehen Sie die Frauen.«
»Eine Frau«, erwidert Pascal. »Die Dunkelhaarige. Ich hab sie für die Geschäftsführerin gehalten, weil sie so gut gekleidet war. Sie kam aus der Küche.«
»Und ging direkt auf Sie zu?«
»Sie kam aus der Küche schnurstracks auf uns zu.«
»Und dann?«
»Und dann? Hob sie eine Pistole.«
»Hatte sie die Waffe bereits in der Hand?«
»Das weiß ich nicht, ich glaube schon.«
»Glauben Sie das, oder wissen Sie es?«
»Ich glaube es.«
»Gut. Wie oft hat sie geschossen?«
»Drei Mal. Auf meinen Gast. Aus nächster Nähe.«
»Tot?«
»Zweimal in die Brust und einmal durch sein linkes Auge. Ganz gezielt.«
»Und dann? Haben Sie die Flucht ergriffen?«
Pascal schüttelt den Kopf.
»Warum nicht? Hatten Sie keine Angst, der Nächste zu sein?«
»Nein, ich war mir sicher, dass das nicht passieren wird.«
»Jetzt müssen Sie mir aber schon erklären, warum Sie sich da so sicher waren.«
»Das hab ich ihr angemerkt. Sie hatte nur ihn im Visier. Hatte ausschließlich Augen für ihn. Ihr Blick ging einfach durch mich und den Kellner neben uns hindurch.«
Der Kommissar schielt auf den Bildschirm.
»Der Kellner sagt, sie hätte eine Sonnenbrille aufgehabt.«
»Stimmt«, bestätigt Pascal. »Ja, ich konnte ihre Augen nicht erkennen. Trotzdem wusste ich, dass sie es nicht auf uns abgesehen hat. Keine Ahnung, warum – vielleicht auch weil alles so selbstverständlich gewirkt hat, genauso gut hätte sie eine Karaffe Wasser bringen können. Sie hat es mit derselben zielstrebigen Selbstverständlichkeit getan.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagt der Kommissar.
»Was ich damit meine, ist, dass es fast schon etwas Routiniertes hatte. Sie kam auf uns zu, bis sie direkt vor mir stand, hob die Hand, gab drei Schüsse ab und ging dann durch die Vordertür hinaus. Es war im Nu vorbei. Etwas rein Geschäftliches. So selbstverständlich wie das Herausgeben von Wechselgeld.«
Der Kommissar trommelt mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er hat die Stirn in tiefe Falten gelegt.
»Nun gut, und dann haben Sie die andere Frau bemerkt?«
»Draußen stand der Fiat. Ich konnte ihn durchs Fenster sehen.«
»Wie lang stand er da schon?«
»Keine Ahnung. Eine Stunde vielleicht, vielleicht kam er auch gerade erst angefahren.«
»Und die Frau?«
»Die Blondgelockte saß am Steuer. Die Dunkelhaarige ist eingestiegen, und dann sind sie weggefahren.«
»Mit quietschenden Reifen?«
»In aller Seelenruhe. Ordnungsgemäß. Sie hat geblinkt.«
»Sonst noch irgendwelche Auffälligkeiten? Irgendetwas Außergewöhnliches? Seltsame Gäste im Restaurant?«
»Mein Geschäftspartner fuhr einen großen Pickup. So einen amerikanischen. Und da war ein Hund.«
»Ein Hund?«
»Ein Hund.«
»Was für ein Hund?«
»Ein schwarzer Pudel.«
Der Kommissar legt die Finger wieder auf die Tasten.
»Und Sie sind sich sicher, dass es ein Pudel war?« Er tippt etwas.
»Ja. Das sind auffällige Tiere.«
»Stimmt. Hier bekommen wir allerdings eher Labradoodles zu sehen.«
»Es war ein Pudel.«
»Das sagten Sie bereits. Aber hätte es nicht auch ein Labradoodle sein können?«
»Haben Sie schon mal einen Labradoodle gesehen, Herr Kommissar? Die haben nicht die geringste Ähnlichkeit mit Pudeln.«
»Nun gut, da war also ein Hund«, sagt der Kommissar. »Und das war auffällig?«
Pascal zuckt mit den Schultern.
»Sie haben mich gefragt, ob ich etwas Ungewöhnliches bemerkt habe. Das ist mir in Erinnerung geblieben.«
Der Kommissar gibt wieder etwas in den Computer ein, zu Pascals großer Verärgerung immer noch mit zwei Fingern.
»Herr Bonare«, sagt der Kommissar plötzlich. »Wissen Sie, dass Sie mich ungemein an meinen Bruder erinnern?«
»An Ihren Bruder?«
»Und wie! Die gleichen Augen. Oder sind es die Augenbrauen? Der Rahmen oder das Gemälde selbst?« Der Kommissar lacht auf, fängt sich aber wieder. »Mein Bruder ist ein anständiger Kerl: aufrichtig, gewissenhaft, sanftmütig. Der hätte sich nicht mal als Kind an der Bonbondose vergriffen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Pascal lässt die Schultern hängen. Er interessiert sich kein bisschen für das, was ihm der Kommissar da von seinem Bruder erzählt.
»Aber seine Sanftmut macht ihn auch … wie soll ich das ausdrücken? Verletzlich. Er hatte manchmal das Gefühl, dass die Menschen sich über ihn lustig machen, und leider kann ich das nicht von der Hand weisen. Anfangs erlaubten sich die anderen Scherze mit ihm, aber irgendwann war es sein eigener Verstand.«
Bei diesen Worten tippt sich der Kommissar an die Schläfe.
Pascal Bonare fährt mit der Hand über seine noch immer zitternde Faust, als müsste er ein Tier beruhigen.
»Herr Kommissar, ich weiß nicht recht, worauf Sie hinauswollen.«
»Herr Bonare, wo ist Ihr Freund jetzt?«
»Er ist nicht mein Freund, nur ein Geschäftskontakt.«
»Von mir aus können Sie sein Lover sein«, sagt der Kommissar auf einmal streng, »wir wüssten bloß gern, wo er sich aufhält.«
Pascal weicht auf seinem Stuhl zurück wie ein Schüler, der sich beim Direktor melden muss.
»Woher soll ich das wissen?«
Der Kommissar beschreibt eine Vierteldrehung, setzt eine winzige Lesebrille auf, feuchtet mit der Zunge den Daumen an und nimmt ein Blatt Papier vom Tisch.
»Ich lese noch ein letztes Mal vor, was Sie ausgesagt haben, als meine Kollegen Sie im Restaurant antrafen. Ich zitiere: ›Mein Geschäftskontakt wurde zweimal in die Brust und einmal ins linke Auge getroffen. Von dem Blut, das mir in die Augen gespritzt ist, war ich vorübergehend blind. Aber nachdem ich es mit meiner Serviette abgewischt hatte, sah ich, dass die Schützin seelenruhig zum Ausgang lief. Mein Geschäftskontakt, das Gesicht – oder was noch davon übrig war – zur Decke gerichtet, hing wie ein nasser Sack in seinem Stuhl. Das Rückgrat schien gebrochen zu sein, so unnatürlich war die Haltung. Dann richtete er sich röchelnd auf, griff mit einer Hand nach der Serviette, presste sie energisch gegen das Loch, wo vorher sein Auge gewesen war, und stand auf. Mit seinem guten Auge würdigte er mich keines Blickes, fluchend und zeternd in einer mir unverständlichen Sprache lief er zur Küche und verschwand durch die Schwingtür.‹«
Der Kommissar mustert Bonare über den Rand seiner Lesebrille hinweg.
»In einer Ihnen unverständlichen Sprache?«
»Vielleicht sollten Sie das lieber den Kellner fragen, der scheint sich ja mit Fremdsprachen auszukennen.«
»Dass Sie den Mann nicht verstanden haben, lass ich mir ja noch gefallen. Das ist hier nicht das Seltsamste, da pflichten Sie mir doch sicherlich bei?«
»Natürlich.«
»Herr Bonare, ich war Soldat, habe also so einiges erlebt. Einen Hund mit einem Messer im Rücken, der noch drei Wochen weiterläuft und Pfötchen gibt, um ein Stück Speck zu bekommen. Einen Mann, der kurz nach seiner Enthauptung noch einen Zug von einer Zigarette nimmt. Aber ein Kerl, dessen lebenswichtige Organe einschließlich seines Gehirns aus nächster Nähe von Kugeln durchsiebt werden und der anschließend aufsteht und fluchend – in welcher Sprache auch immer – den Raum verlässt: Das ist mir neu.«
»Aber so war es nun mal, Herr Kommissar.«
Der fährt sich mit faltigen Händen über das müde, von Pigmentflecken übersäte Gesicht. Und während er aus dem Fenster auf die Bucht von Porto Cervo schaut, denkt er an sein kleines Boot. An seine Familie, die jetzt zu Hause das Abendessen zubereiten dürfte. Er denkt an den Welpen, den er seiner Tochter gekauft hat und mit dem er gleich noch zum Welpenkurs gehen muss. Er denkt an seine Frau, die ihm am Vorabend betrunken versprochen hat, ihn täglich oral zu befriedigen, wenn sie nur nie diesen Hund ausführen muss. Er weiß, dass das Quatsch ist, hofft aber dennoch, dass dieses Versprechen wenigstens teilweise eingelöst wird. Er hätte kein Problem damit, sich auf dieselbe Weise erkenntlich zu zeigen, ja fände das sogar wunderbar. Aber er weiß, dass sie nicht darauf steht, und gibt sich damit zufrieden. Auch wenn das nicht sehr befriedigend ist.
»Sie können jetzt gehen«, sagt der Kommissar schließlich. »Aber bitte bleiben Sie in der Nähe, wir melden uns, falls nötig.«
Pascal Bonare nickt kurz, steht auf und geht mit raschen Schritten zur Tür.
»Und noch etwas, Herr Bonare.«
Pascal dreht sich um.
»Ihr Freund. Ihr Bekannter, was auch immer: Wenn Sie ihn sehen, in Ihren Träumen, als Vision oder wo auch immer Sie diese Hirngespinste herhaben: Dann richten Sie ihm doch bitte aus, dass er hierherkommen soll. Ich hätte da noch ein paar Fragen an ihn.«
»Die Schlange ist zwar verwundet, kann aber noch beißen, Herr Kommissar«, sagt Pascal und verlässt den Raum.
2
Die Sonne scheint auf die frisch gesprengten Gartenanlagen von Aletta. Dicke Wassertropfen funkeln auf grünem Farn. Sie rinnen am Stamm eines Kirschbaums herunter. Bakterien, die in ihrem Bett aus Stein und Erde gerade noch herrlich geschlafen haben, erwachen und sondern einen unverkennbaren Geruch ab: nasses Gras.
Der Rasen ist gemäht und von niedrigen Buchsbaumhecken umgeben. Hier und da, auf den ersten Blick zufällig, aber mit Sicherheit durchdacht, eine Skulptur. Repliken altgriechischer Kunst.
Der Gärtner sitzt auf seinem Rasenmäher, schaut sich auf dem Handy die Fußballergebnisse an. Über seinem Kopf, in den tiefen Zweigen der Zierkirsche, schreit eine Elster. Sie stößt den Schnabel ins Kirschfleisch.
Der Garten ist genauso alt wie Aletta und wird stets in Ehren gehalten werden, genauso wie das massive Steintor, das von zwei aufgerichteten Löwen geschmückt wird – dem linken fehlt eine Pfote. Eine Petition der Angestellten, die sich einen größeren Parkplatz wünschen, wofür eine Reihe Zierkirschen weichen müsste, ist nicht über die Poststelle hinausgelangt. Aletta hat Parkplätze von einem Baumarkt zugekauft, eine Viertelstunde zu Fuß entfernt. Die Angestellten fügen sich, weil die Arbeitsumstände relativ gut sind. Und weil Aletta als eine von wenigen Firmen noch Festanstellungen bietet. Den meisten Angestellten ist Sicherheit wichtiger als Bequemlichkeit, darin unterscheiden sie sich kaum von der Mehrheit der Menschen.
Ein marineblauer Volvo fährt auf das Firmengelände. Lute, der Fahrer, wirft seine Sonnenbrille auf den Beifahrersitz und beugt sich tief übers Lenkrad. Gott sei Dank, denkt er, als er sieht, dass die Besucherparkplätze leer sind. Tomer ist noch nicht da.
Er stellt seinen Wagen auf dem für ihn reservierten Platz gleich beim Eingang ab und eilt zur Pforte. Sein dichtes braunes Haar ist etwas zu kurz, um es hinters Ohr zu streichen. Seine leicht hängenden Schultern verschwinden unter einer dicken, viel zu warmen Fleecejacke. Auf den ersten Blick sieht er aus wie ein richtiger Outdoortyp: sonnengebräunt mit drahtigen Waden. Er ist vierzig, hat aber ein extrem jungenhaftes Gesicht, hätte er Geschmack, könnte er eine beeindruckende Erscheinung sein, aber die Jackenärmel sind zu kurz und seine Hose ist zu eng, was seine schlaksige Figur unterstreicht.
Das Büro, das er jetzt betritt, wurde im Spätstil von Willem Marinus Dudok errichtet: typisch Sechzigerjahre. Das Hauptgebäude umgibt einen Innenhof, es wurde aus hellbraunen glasierten Ziegeln hochgezogen, die an Sonnentagen unangenehm blenden können. Jede der sechs Etagen verfügt über große, in weißen Marmor eingefasste Fenster. Der Gebäudesockel besteht aus poliertem spanischem Granit. Das oberste Stockwerk wurde zum Chefbüro ausgebaut, auf der Rückseite ragt es etwas über die Fassade hinaus. Daneben, knapp über dem Eingang, befindet sich der Turm mit der goldenen Uhr, deren Zeiger von einer dicken Schicht Taubenkot bedeckt sind, wodurch die Zeit abwärts etwas rascher verstreicht als aufwärts.
Hinter dem Hauptgebäude liegt ein schlichter Platz mit Sitzbänken und ein paar jungen Bäumen. Fünfzig Meter weiter steht die Fabrik: ein riesiger roter Kasten mit stahlfarbenen Schornsteinen, nicht viel höher, aber deutlich breiter als das Bürogebäude. Der Lärm von laufenden Lkw-Motoren ist auf dieser Seite des Platzes ständig zu hören.
Als Lute das Hauptgebäude durch die großen Glastüren betritt, erreicht er die Rezeption. Juul, Ende fünfzig, schaut auf, das Telefon zwischen Kopf und Schulter geklemmt.
»Einen Moment«, sagt sie und legt die Hand auf den Hörer.
»Irgendwelche Nachrichten von Tomer?«, fragt Lute.
»Sein Vater ist krank. Er meldet sich, sobald er kommen kann.«
»Prima.«
Lute klopft mit seinem Ring – dem Ehering, den er nicht mehr tragen muss – auf den Empfangstresen und geht zur Treppe.
»Oh, Lute! Klara möchte gern, dass du gleich bei ihr vorbeischaust.«
Lute hebt den Daumen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend geht er die Treppe hinauf.
Als er an die Tür klopft, hat er Schweißperlen auf der Stirn.
»Herein!«
Er tritt ein und sieht Klaras Rücken. Sie raucht am offenen Kippfenster und schaut auf die Fabrik. Qualm steigt vor ihrem Gesicht auf, gleich neben dem einen Spalt breit geöffneten Fenster, und zieht in die vergilbte Systemdecke.
»Wie ich diese Stadt hasse, Lute.«
Sie redet, ohne sich umzudrehen, ist gern etwas melodramatisch, woran sich Lute inzwischen gewöhnt hat.
»›Die Veluwe ist herrlich‹, haben sie gesagt. ›Dort finden Sie die Ruhe, die Sie brauchen.‹ Weißt du, was das Komische ist? Wir befinden uns in der Mitte des Landes, und trotzdem fühlt es sich an, als würden wir in der Peripherie hocken. Dabei komm ich aus Friesland, also will das was heißen.«
»Die Wälder hier sind wunderbar, das macht so einiges wieder wett«, sagt Lute. Er geht zu Klaras Schreibtisch und nimmt ein Lakritzbonbon aus der Schale.
»Fängst du jetzt auch damit an?«
Klara drückt ihre Zigarette am Fensterrahmen aus und dreht sich um.
»Meine Güte, Lute, draußen sind dreißig Grad.«
Lute streicht über seine Jacke.
»Mir wird nicht so schnell warm.«
»Quatsch.«
»Mein Opa war genauso. Der war auch eher verfroren. Ein frostiger Typ.«
»Das redest du dir bloß ein. Ich kenne das: Mit fünfzehn hab ich mir eingebildet, ich hätte Schuhgröße 44. Nur weil ich große Füße haben wollte. Du hättest mich mal sehen müssen: Ich bin rumgelaufen wie ein Clown. Schau dich doch an: Der Schweiß steht dir auf der Stirn.«
Das Bonbon bleibt hartnäckig an Lutes Gaumen kleben.
»Wie lief es mit Henckel & Söhne?«, fragt er, während er das Bonbon mit dem Finger löst.
Klara zieht an einem Metallgriff und schließt das Kippfenster.
»Bring mir Henckels Kopf auf einem Bett aus Feldsalat, und ich lass dich sofort mit einer dicken Abfindung in den Ruhestand gehen.« Mit gespielt tiefer Stimme sagt sie: »Tiefblau, so kennen uns die Kunden. Ein Patient soll seine gewohnte Tablettenschachtel öffnen und plötzlich himmelblaue Pillen sehen? So geht das nicht. Ausgeschlossen. Das ist ja ungeheuerlich.«
»Wie das?«, fragt Lute.
Klara zuckt mit den Schultern.
»Irgendwas mit den Wirkstoffen, keine Ahnung. Mea kümmert sich darum. Aber mal im Ernst: Ich seh da keinen Unterschied. Zehn Millionen Kapseln. Nicht zu verwenden.«
»Ojemine.«
»Keine Angst, wir haben sie zu einem guten Preis an die mit den Haarpillen verkauft.«
»Sehr gut.«
Das Kippfenster kracht wieder auf.
Klara lehnt sich an ihren Schreibtisch und seufzt. Ihre hohen Absätze hinterlassen Abdrücke im Teppich. Für einen Moment scheint sie ihren Gedanken nachzuhängen, doch dann gibt sie sich einen Ruck, geht zum Fenster und schließt es.
»War Tomer schon da?«
»Sein Vater ist krank. Er kommt so schnell er kann.«
»Im Ernst? Arbeitet hier überhaupt irgendjemand? Haben wir sonst niemanden, der uns so ein Koscher-Zertifikat ausstellen kann? Ich möchte diese Israelis noch vor dem Herbst zufriedenstellen.«
»Tomer ist unser Mann dafür. Wenn er nicht kann, kommt niemand. Aber ich kenne ihn; er wird nicht lange auf sich warten lassen.«
»Gib mir Bescheid, sobald er da war.«
»Selbstverständlich.«
Lute dreht sich um und hat die Hand bereits zum Abschied gehoben, als Klara ihn zurückruft.
»Setz dich noch kurz, Lute. Ich möchte gern etwas mit dir besprechen.«
Sofort hat Lute ein ungutes Gefühl. Er ist regelmäßig bei Klara im Büro, aber noch nie hat sie ihn gebeten, sich zu setzen. Er lehnt sich eher irgendwo dagegen: an den Schreibtisch oder an die Fensterbank. Aber sich setzen? Als er das letzte Mal hier saß, war er am Vorabend von seiner Frau verlassen worden. Taschentücher wurden auf den Tisch gelegt. Er denkt nur ungern an diesen Moment zurück.
Während sich Lute zögernd setzt, nimmt Klara ebenfalls Platz. Sie füllt zwei Gläser mit Wasser, nippt an ihrem und stellt es auf den Tisch, neben ein kleines Ferrari-Modellauto, bei dem die Windschutzscheibe fehlt. Lute hat sich schon mal gefragt, ob das ein früheres Spielzeugauto ist oder bewusst als Deko-Objekt angeschafft wurde. Vermutlich eher Letzteres. Klara ist nicht der sentimentale Typ, der sich Kindheitserinnerungen ins Büro stellt.
Klara strafft sich.
»Weißt du, warum ich diese Firma damals übernommen habe?«
»Weil du mühsam darauf hingearbeitet hast?«
Klara lacht spöttisch.
»Ja, das habe ich bestimmt erzählt. Aber die Wahrheit ist: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Es ist nicht so, dass ich schon als Kind dachte: Was will ich später mal machen? Kapseln aus zermahlenen Schweineknochen herstellen und damit jede Menge Geld verdienen. Nein, ich habe mir ganz andere Dinge gewünscht. Rennfahrerin zu werden zum Beispiel. Das hab ich dann schnell aufgegeben, wollte aber immerhin Ingenieurwissenschaften studieren. Ich kann mich noch vage daran erinnern, mich dafür eingeschrieben zu haben. Ich glaube, ich habe sogar mal in einem Seminar gesessen. Ich erinnere mich an eine Party, auf der ich mich verliebt habe. Auch den Weg zur Uni habe ich noch ungefähr vor Augen. Aber irgendwas muss schiefgelaufen sein, denn irgendwann bin ich aufgewacht und saß hier. Hinter diesem Schreibtisch. Seltsam, was?«
Lute weiß nicht, ob das ein Witz sein soll, deshalb lächelt er.
»Ich stand auf und ging zur Uni. Ich schlief ein und wachte in der Veluwe wieder auf. Mit Blick auf eine stinkende Fabrik und die endlose Heide. Mit niedlichen Hirschen und Wildschweinen, das schon. Aber sonst?«
»Aber die Arbeit macht dir doch Spaß?«, fragt Lute.
»Na ja. Ich denke schon. Magst du Hirsche?«
»Natürlich.«
»Und Wildschweine?«
»Schon, ja.«
»Schön. Sehr schön. Hör zu, Lute, ich weiß nicht recht, wie ich es dir beibringen soll, aber egal was ich dir sage: Nimms bitte nicht persönlich. Es ist rein geschäftlich, verstanden?«
Lute spürt eine Enge in der Brust. Den ganzen Vormittag ist ihm noch kein einziges Mal wirklich heiß gewesen, aber jetzt bereut er es doch, diese Fleecejacke angezogen zu haben.
»Natürlich.«
»Prima! Wusst ich doch, dass ich offen mit dir reden kann. Also sag ich es am besten gleich: Sie haben einen Entschluss gefasst.«
»Von welchem Entschluss sprichst du?«
»Die Verrückten aus der Schweiz.«
»Du musst schon etwas genauer werden.«
»Wenger.«
»Wenger?« Bei der Nennung dieses Namens fällt Lute das Lakritz aus dem Mund und landet in seinem Schoß. Er nimmt das klebrige Bonbon zwischen Daumen und Zeigefinger und legt es neben sein Glas.
»Wenger?«, wiederholt er.
»Sie sind es leid, mit uns über Preise zu verhandeln«, fährt Klara fort. »Sprich: Sie kaufen den Laden. Das war schon seit einer ganzen Weile abzusehen, aber jetzt ist es so weit.«
»Im Ernst? Aber … Wenger?«
»Ja, Wenger.«
»Meine Güte, Klara. Ich … ich dachte, die sind knausrig?«
»Wie es genau dazu gekommen ist, weiß ich nicht, das Geld scheint jedenfalls nur so aus den Alpen zu strömen. Aber ich stelle keine Fragen.«
»Aber nur die Fabriken oder …?«
»Die ganze Firma. Alles.«
»Und … für wie viel?«
»Für das Doppelte, was sich dieser kleine Amerikaner vorgestellt hat. Ich musste keine Sekunde darüber nachdenken, Lute. Wir müssen noch unterschreiben und so, aber im Grunde ist alles geregelt.«
»Wow. Okay … Wow. Schräg. Wow. Wenger.«
Lute nimmt sein Glas und führt es zum Mund, aber noch ehe er einen Schluck nehmen kann, legt Klara ihm die Hand aufs Knie.
»Freust du dich?«, will sie wissen.
Lute macht große Augen und versucht, begeistert zu klingen, wodurch sich seine Stimme überschlägt.
»Aber natürlich! Das ist doch fantastisch!«
»Ja?«
»Ja! Warum trinken wir eigentlich Wasser?«, ruft Lute. Er springt auf und geht zur Tür. »Ich hole Champagner, nein, warte. Ich lasse welchen bringen.« Er greift nach seinem Handy.
»Lute«, sagt Klara gelassen. »Setz dich noch mal kurz.«
»Juul? Ja, hallo, Lute hier. Ich bin bei Klara, würdest du uns eine Flasche Veuve Clicquot bringen? Wie bitte? Nein, nein. Mit Cava kann ich nichts anfangen. Hast du nachgeschaut? Wirklich nicht? Schau noch mal nach. Den sollten wir immer im Haus haben, verstanden? Okay. Okay. Danke.«
Lute legt auf.
»Ist das denn die Möglichkeit? Kein Champagner. Aber mit Cava können wir das wirklich nicht feiern.«
»Lute.« Klara faltet die Hände. »Setz dich noch mal kurz.«
In diesem Moment fällt das Kippfenster erneut ächzend auf. Lute geht hin und mustert den Griff.
»Ganz schön verrostet, was?«
»Der Kauf ist an einige Bedingungen geknüpft«, fährt Klara fort.
»Oh. Müssen die Zierkirschen weichen?«
»Nein, nein, viel schlimmer.«
»Dann mal raus mit der Sprache. So schlimm kann es doch nicht sein.« Lute macht das Fenster zu, öffnet es wieder und untersucht die Scharniere. »Du hast schließlich eingewilligt.«
Klara betrachtet das Modellauto auf ihrem Schreibtisch, trommelt mit den Fingernägeln gegen ihr Glas.
»Gut. Am besten, ich sag es einfach. Wir haben vereinbart, rein geschäftlich zu sein, und genau das machen wir. Wir können Berufliches und Privates doch gut trennen, oder, Lute? Deshalb leg ich einfach die Karten auf den Tisch. Damit du Bescheid weißt. Die Abteilung Sales & Quality wird überflüssig. Die wollen das selbst machen, von der Schweiz aus.«
Lute spürt ein Stechen in der Schläfe. Er bekommt einen trockenen Hals. Langsam öffnet er das Fenster.
»Vielleicht kann ich was dazwischenklemmen. Ein Stück Holz oder so.«
»Hast du mich gehört, Lute?«
»Ja, ja. Ich höre dich. Meine Güte, Klara.«
»Ja?«
»Meine Güte.«
»Was sagst du dazu?«
Lute nimmt einen leeren Briefumschlag von der Fensterbank, rollt ihn auf und steckt ihn in eines der Scharniere. Das Fenster bleibt zu.
»So.« Seufzend macht Lute einen Schritt zurück und betrachtet das Fenster.
»Keine Sorge, Lute. Für dich finden wir schon eine Stelle.« Klara klingt resolut, fast fröhlich.
Lute schaut nach draußen. Aus den Fabrikschornsteinen kommt dicker, undurchdringlicher Rauch, der am knallblauen Sommerhimmel jedoch rasch verfliegt. Es bleibt nichts davon übrig. Nicht das Geringste.
»Und die anderen?«, fragt er.
»Schau«, sagt Klara. »Da müssen wir hart sein.«
»Im Ernst? Alle?«
Klara steht auf.
»Wenger will keinen Ärger mit dem Arbeitsgericht. Die können hier niemandem legal kündigen.«
»Ja, ja, ich verstehe«, sagt Lute.
Klara schnappt sich eine Packung Zigaretten vom Tisch und steckt sich eine an.
»Die Leute müssen also weg, sonst klappt das nicht mit dem Verkauf. Es steht ein wenig Geld zur Verfügung, um ihnen entgegenzukommen. Aber auch nicht viel. Das Beste wäre, sie würden freiwillig … Du verstehst, was ich meine. Das Beste wäre, die Angestellten ergreifen selbst die Initiative.«
Lute schaut zur Fabrik hinüber. Zwei Männer in weißen Overalls treten lachend ins Freie, zünden sich eine Zigarette an und setzen sich auf einen Metallcontainer.
»Wenn ich dich richtig verstehe, möchtest du, dass …«
»Lute«, sagt Klara. »Ich vertraue dir. Dir fällt immer eine Lösung ein, und das wird auch jetzt so sein, da bin ich mir sicher.«
»Nun ja«, hebt Lute an. »Ich würde das schon machen, besser gesagt, ich werde es wohl machen müssen. Aber na ja … bei aller Professionalität muss ich doch sagen, dass …«
»Lute.« Auf einmal klingt Klara streng. »Das fällt in deinen Aufgabenbereich. Das ist dein Job, kapiert? Du bist ein netter Kerl. Aber jetzt musst du zeigen, dass du auch durchgreifen kannst. Deine zugewandte, nachgiebige Art – es wird Zeit, dass du beweist, welche Führungsstärke sich dahinter verbirgt.«
Lute schaut zum Wald hinüber: Hunderte Tannen, eine neben der anderen, bilden eine klare Grenze zwischen dem Firmengelände und der Natur. Er hat vom ersten Arbeitstag an vorgehabt, dort ein bisschen spazieren zu gehen. Einfach irgendeinen Weg einzuschlagen und sich treiben zu lassen. Doch er hat es nie getan. Vielleicht mach ich es ja noch, denkt er. Einfach in den Wald laufen, immer weiter und dann schauen, wo ich wieder rauskomme.
Sein Mund wird immer trockener. Er schluckt mühsam und leckt sich über die Lippen.
»Wie viel Zeit habe ich?«
»Zwei Monate. Bis November müssen sie weg sein.«
Lute dreht sich um und geht zur Tür. Als er an Klara vorbeikommt, hält sie ihm die Zigarettenpackung hin.
»Nein, danke.«
Nachdem Lute die Tür geöffnet hat, dreht er sich ein letztes Mal um.
»Klara?«
»Ja?«
»Wie kommst du eigentlich an den Ferrari?«
Klara schweigt einen Moment. Dann betrachtet sie das Spielzeugauto auf ihrem Schreibtisch.
»Ein Geschenk. Von meinem Vater.«
»Aha.«
3
Lute macht einen Umweg, geht über die stählerne Feuertreppe zu seinem Arbeitszimmer. Von außen schaut er in das Großraumbüro, unterteilt in Nischen und flexible Arbeitsplätze. Dort sitzen zweiunddreißig Leute, die abgesehen von ihren privaten Sorgen, kleinen Wehwehchen und fehlender Motivation unbeschwert ihrer Arbeit nachgehen. Mea, Jelle, Josephine, Tilde – alles Menschen, die an einem ganz normalen Tag zur Arbeit gekommen und jetzt, kurz vor Mittag, sonst wo sind mit ihren Gedanken: beim Wochenende, bei einem Lover, beim heutigen Grillabend. Pieter hat den Kopf in die Hände gestützt und beugt sich tief über sein Tablet; bestimmt hat ihn sein kleiner Sohn wieder mal um den Schlaf gebracht. Francesca wischt mit einem nassen Lappen über ihre private Kaffeemaschine. Lute hat mehrfach Streit schlichten müssen, weil Roman ihre Kapseln benutzt hat. Trotzdem: Von solch kleinen Reibereien einmal abgesehen, ist es ein eingeschworenes Team aus Leuten, die Lute schon seit Jahren kennt. Er war auf ihre Hochzeiten eingeladen und hat sie nach Scheidungen getröstet, ihnen Umzugskartons und überzähliges Geschirr geschenkt. Zwei Mal hat er ihr Neugeborenes – darunter auch das von Pieter – im Arm gehalten. Und jetzt? Jetzt muss er ihnen die Kugel geben. Besser gesagt, sie davon überzeugen, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Er muss es tun, es geht nicht anders. Er darf Klara nicht enttäuschen, oder? Kann er sich weigern? Kann er ihr sagen, dass sie sich selbst darum kümmern soll, wenn sie derart bereitwillig nach der Pfeife von diesen Wenger-Leuten tanzt? Warum soll er die Drecksarbeit machen? Sie werden ihn dafür hassen. Nicht mehr mit ihm reden. Ihm im Supermarkt aus dem Weg gehen. Beim Abendessen über ihn tuscheln und ihm die schlimmsten Krankheiten an den Hals wünschen. Aber sie müssen doch auch verstehen, dass das nichts Persönliches ist? So ist nun mal das Geschäftsleben. Mal hat man Arbeit, mal nicht. Wir alle sind nur Figuren auf einem Schachbrett, die mal dahin, mal dorthin geschoben werden, und einige werden geschlagen. »So ist nun mal das Leben«, sagt er leise zu sich selbst. Er darf sich auf keinen Fall zu sehr von Gefühlen leiten lassen. Das ist der Moment, in dem er zeigen kann, was er wert ist. Wie rational und zielstrebig er ist! Das Schwert Gottes! Er lacht kurz auf, sieht sich mit Flügeln und einem flammenden Schwert über der ägyptischen Wüste schweben. Gab es nicht irgendeinen Engel, der das gemacht hat? Obwohl er auf einer katholischen Schule war, kennt er sich nicht gut mit biblischen Figuren aus. Aber Flammenschwert hin oder her: Er ist kein Gott. So viel Macht hat er nicht. Er ist bloß der Bote, der die Nachricht überbringen muss. Ihn trifft keine Schuld; er gibt bloß Befehle weiter.
Lute betritt den schmalen Flur und schlüpft ungesehen in sein Büro. Das ist groß, aber nicht einmal halb so groß wie Klaras. Auf dem Betonboden liegen zwei ausgeblichene Perserteppiche, vom Architekten ausgesucht. Lute hatte sie gegen etwas Moderneres austauschen wollen, wurde aber sofort zurückgepfiffen. Die Einrichtung müsse strengsten Anforderungen genügen, wenn er einen anderen Look wolle, müsse er sich von der Stilkommission beraten lassen. Das war ihm dann doch zu viel Aufwand gewesen. Deshalb sah sein Büro seit Jahren mehr oder weniger gleich aus. Ein verschlissener Eames Chair – einst ein Prunkstück, jetzt mit rissigem Leder – steht traurig in der Ecke. Neben dem Fußschemel befinden sich ein Zeitschriftenständer aus Edelstahl mit ungelesenen Zeitungen sowie ein Marmoraschenbecher auf einem Sockel, ein Überbleibsel aus der Zeit, als er noch geraucht hat.
Sein Schreibtisch ist auch so ein Klassiker: Holz und Stahl, Sechzigerjahre, ein Designmöbel von Pastoe. Ginge es nach ihm, würde er es vintage für ein Vermögen verkaufen und sich für einen Bruchteil des Geldes etwas bei einem modernen Büroausstatter holen. Aber gut, dass er keinen Geschmack hat, bekommt er öfter zu hören.
Die Wand vor seinem Schreibtisch besteht vollständig aus Glas. Er schaut auf die Veluwe hinaus. Nicht auf rauchende Schornsteine und nicht auf den Innenhof eines Bürogebäudes, sondern – wenn man sich die Wanderwege wegdenkt – auf unberührte Natur. Nach etwa fünfzig Metern Heidelandschaft beginnt der Wald.
Der Regen von gestern Abend hat Schlammpfützen hinterlassen, die rasch in der heißen Sonne verdunsten. Während Lute eine Weile in die Heide starrt und seine Gedanken um Schuld und Verantwortung kreisen, kommen kleine Ferkel aus dem Wald. Ungefähr sieben Frischlinge, fein gestreift und noch nicht so dunkel wie ihre Eltern, zockeln zu den Schlammlöchern. Es folgen drei große Bachen. Raschelnde Zweige am Waldrand lassen weitere Familienmitglieder vermuten.
Die größte Bache schaut zu Lutes Büro herüber. Er kann nicht erkennen, ob sie schnuppert, geht aber fest davon aus. Im Gegensatz zu den anderen, die munter umherspringen, steht sie unbeweglich da, mit erhobenem Kopf.