Niobe - Markus Haack - E-Book

Niobe E-Book

Markus Haack

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Beschreibung

Terranova ist zu einem Ort geworden, an dem Menschheitsträume zu Albträumen werden. Für Niobe endet die Kindheit abrupt, als ihr Bruder den Clan verlässt. Sein Traum vom Aufbruch ins Weltall treibt ihn in die Fänge der Xian. Niemand weiß, was dieser mächtigste aller Clans tatsächlich vorhat. Eines aber ist gewiss: Im Kampf um die Vormachtstellung im All schrecken die Oberen der Xian vor nichts zurück. Zusammen mit dem Gebäude aus Trug und Schein, das sie errichtet haben, droht der Untergang von Teranova. Als Niobe erkennt, in welcher Gefahr ihr Bruder sich befindet, bricht sie selbst auf, um ihn zu retten. Dabei ahnt sie noch nicht, wie sehr ihre Liebe und Verzweiflung sie in den Mahlstrom unheilvoller Geschehnisse treiben. Sie ahnt auch nicht, dass aus ihrer Verzweiflungstat für einen einzelnen Menschen eine Großtat für die ganze Menschheit werden könnte. Als Schlüsselfigur für den organisierten Widerstand liegt das Schicksal Terranovas in ihren Händen.

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Markus Haack

Niobe

Letzte Hoffnung für Terranova

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Inhalt

1. Teil

2. Teil

3. Teil

4. Teil

5. Teil

6. Teil

7. Teil

8. Teil

9. Teil

10. Teil

11. Teil

12. Teil

Epilog

Über den Autor:

Impressum neobooks

Inhalt

Markus Haack

Niobe

Letzte Hoffnung für Terranova

Originalausgabe2. Auflage 2017

© Markus Haack

Covergestaltung und Satz: Markus Haack

Bildlizenzen für Umschlagillustration:

Gesicht: Fotolia_2905868_Isis Ixworth

Hintergrund: Fotolia_42528550_isoga

1. Teil

Ly XianJahr 2017 nach der Erleuchtung, 8. Monat

Ly hatte ihrem Vater Thanh eine Mitteilung zu machen. Sie war vor kurzem mit ihrem Studium der Heilkünste an der Akademie des Distrikts Nanjing fertig geworden und hatte sich am renommiertesten Krankenhaus ihres Heimatdistrikts beworben. Heute war die Zusage in der Post gewesen. Sie würde in einem Monat dort die Leitung einer Station übernehmen können.

Mit wippendem Gang lief sie durch den Hain aus Feuerahorn, der den Abschluss der größten privaten Biosphäre von Terranova bildete. Dieser Garten unter einer gläsernen Kuppel verband die beiden Türme des Habitats der Xian. Wollte Ly zu ihrem Vater, musste sie immer hier entlang, da die Gemächer der Söhne und Töchter in dem hinteren Trakt waren, während ihr Vater in den drei obersten Geschossen des Turms zur Seeseite hin residierte.

Ly erreichte bald den Lift, der sie nach ganz oben beförderte. In weiten Spiralen fuhr die kleine gläserne Gondel an dem helixförmigen Turm empor, der die ansonsten flache Bebauung der Agglomeration weit überragte. Ly kannte den Blick hinüber zu den Bergen und über die Schaumkronen der See schon seit frühen Kindheitstagen und nahm die Schönheit kaum mehr war. Jetzt hatte sie erst Recht keinen Blick dafür, da sie beseelt war von der Freude, ihrem Vater von ihrem großen Erfolg erzählen zu können.

Sie schritt den Flur entlang, der zu den Räumen führte, in denen ihr Vater sich zu dieser Zeit üblicherweise einige entspannende Momente auf der Massageliege gönnte. Als sie an einer der Türen vorbeikam, in denen manchmal kleinere Versammlungen abgehalten wurden, hielt sie inne. Die Tür war nicht ganz verschlossen, sondern nur angelehnt und Ly hörte die Stimme ihres Vaters durch den Spalt dringen. Sie wollte die Tür aufreißen, doch dann erschien ihr im Tonfall ihres Vaters etwas unvertraut und merkwürdig. Sie blieb stehen und spitzte die Ohren. Was sie hörte, ließ sie innerlich vor Schreck erstarren.

„Wenn wir erst im Glanz der zwei Sonnen das neue Terranova erschaffen haben, dann kehren wir als unsterbliche Triumphatoren zurück und nehmen uns, was uns gebührt.“

Lu Xian, Lys Bruder, erwiderte darauf: „Was ist mit all den Menschen, mit all den Unschuldigen?“

„Diese paar Menschenleben sind der Preis dafür, dass wir nicht nur den Clan der Xian, sondern das ganze Menschengeschlecht in ein neues Zeitalter führen.“ Thanh unterbrach sich. „Ich habe etwas gehört.“

Ly verbarg sich rasch im benachbarten Raum und hielt still. Sie hatte Angst. Nie zuvor hatte sie Angst vor ihrem Vater gehabt, aber auch nie zuvor hatte sie ihn so sprechen hören, so fanatisch, so abgründig und böse. Er war ihr immer ein strenger, aber guter Vater gewesen. Sie hatte immer gewusst, dass er nur so erfolgreich hatte werden können, weil er zuhause wie auch in seinen vielen Unternehmen ein strenges Regiment führte. Sie hatte immer daran geglaubt, dass er alles, was er tat, für das Wohl seines Clans tat. Sie war auch immer davon überzeugt gewesen, dass alles, was für den Clan gut war, am Ende auch zum Wohle von ganz Terranova sein müsse. Was aber hatte er diesmal nur vor? Was hatte ihn so sehr verändert, dass ihm offenbar Menschenleben nichts mehr wert waren? Das war nicht der Vater, den sie kannte. Etwas musste mit ihm geschehen sein, was sie nicht verstand. Ihre Gedanken überschlugen sich und die Freude über ihren kleinen Erfolg war vergessen. Was bedeutete es schon, dass sie wegen ihres Namens in irgendeinem Krankenhaus eine Station würde leiten können, wenn ihr Vater womöglich Dinge vorhatte, die dem Wahnsinn entsprangen und ihnen allen schaden könnten? Sie musste erfahren, was es war, aber sie konnte ihn nicht fragen. Mit ihr hatte er nie über das Geschäftliche gesprochen und in diesem Fall, wo es um etwas Schlimmes ging, würde er ihr mit Sicherheit nicht die Wahrheit sagen.

NiobeJahr 2020 nach der Erleuchtung, 4. Monat

Niobe stand am Fenster und ließ den Blick schweifen über die Kuppeln, die Biosphäre und die hängenden Gärten zwischen den Habitaten Tsingtaos. Der Abend war gekommen und tünchte alles in den roten Schimmer der untergehenden Sonne, die als große Scheibe am Himmel über den flachen Bauten hing. Einzig ein Bauwerk ragte weit in die Lüfte empor. Es war ein Protzbau des Clans der Xian, für den ein Teich hatte weichen müssen, auf dem früher immer der Lotus geblüht hatte.

Hinter Niobe lagen die Gemächer, die sie in dem großen Habitat des Clans der Lingdao bewohnte. Als sie in die Stille lauschte, wurde sie der Anwesenheit einer weiteren Person gewahr. Ihr Bruder Lao hatte beinahe lautlos das Zimmer betreten und kam zu ihr ans Fenster.

Niobe wollte die Stimmung nicht zerstören und sprach daher im Flüsterton. „Lao, sieh nur wie schön alles ist in diesem Licht. Die Kirschbäume wirken wie entflammt von einem magischen Feuer.“ Im Glas sah sie das Spiegelbild von Laos Gesicht, das die Farbe des Himmels angenommen hatte.

„Verzeih, dass ich mich angeschlichen habe, aber ich wollte dich nicht stören. Ich möchte bloß ein wenig bei dir sein.“ Lao sah schemenhaft Niobes Gesicht im Glas und bemerkte die Anmut, die darin lag. „Sieh nur, der Abendstern steht schon am Himmel.“

Niobe sah den Stern und sprach, noch immer flüsternd. „Überall ist Schönheit, hier unten und dort oben. Wir ergänzen uns gut darin, uns gegenseitig zu zeigen, dass wir von Schönheit umgeben sind. Du öffnest mir die Augen für die Blüten, die am Himmel blühen und ich zeige dir die Ebenbilder der Sterne hier unten.“ Hier machte Niobe eine Pause und Lao sah den Schatten, der über ihr Gesicht huschte. „Aber, ich habe Angst“, fuhr sie mit leiser Stimme fort, „dass die Schönheit verblasst. Überall verändern sich die Dinge so rasch, dass es mir den Atem raubt.“

„Ja, die Schönheit hier unten ist vergänglich und sie ist bedroht. Alles, was wir am Firmament sehen und von dessen Schönheit nur ein schwacher Abglanz zu uns strahlt, überdauert Jahrmillionen. Nur ist es so unerreichbar fern und wir wissen so wenig darüber. Dort gibt es noch so vieles zu entdecken und zu lernen.“ Niobe hörte auch im Flüstern, welche Sehnsucht in den Worten ihres Bruders mitschwang.

„Zu viel zu wissen kann der Schönheit ihr Geheimnis und damit auch ihren Zauber nehmen. Sieh noch einmal hinab auf die Kirschblüten. Ginge ich hinunter, um sie mir aus der Nähe zu betrachten und würde ich damit beginnen, die Blütenstände zu untersuchen, dann verlöre sich die Schönheit.“

„Aber, du hast die Botanik studiert und nimmst die Schönheit doch noch wahr, obwohl du das Geheimnis dahinter kennst, so wie auch ein Medicus jeden Knochen des menschlichen Körpers kennt. Was hat dich angetrieben, mehr über das zu erfahren, was das Auge nicht sieht? Doch das Gleiche, was mich angetrieben hat, als ich das All von hier unten aus studiert habe und zur Akademie gegangen bin, um alles über die noch so unvollkommene Weltraumtechnik zu lernen.“ Lao sah, dass Niobe jetzt ein wenig lächelte.

„Lao, du hast ein unausstehliches Talent, meine eigenen Argumente gegen mich zu verkehren. Du hast recht, Wissen und Empfinden sind nicht immer im Widerstreit zueinander und vielleicht ist dort oben auch tatsächlich noch viel Schönheit, die nur darauf wartet, von uns entdeckt zu werden. Ich habe nur Angst, dass es uns entzweien könnte, wenn du die Schönheit dort oben suchst und ich hier unten. Dann ist es so, als würden das ewige Yin und das ewige Yang voneinander getrennt.“

Niobe und Lao standen noch so lange am Fenster, bis sie sich nicht mehr sahen und alles um sie herum dunkel geworden war. Dann schlich Lao sich aus dem Gemach seiner Schwester und ging in sein eigenes.

Niobes Geschichte

Niobe war nicht in den Clan hineingeboren worden. Vor nunmehr gut zwanzig Jahren wurde sie als Baby aus einer Einrichtung für Waisen in Ostia, der ärmsten Provinz des Distrikts Italia, von Caius Lingdao aufgenommen und als Andenken an seine Heimat mit in den Clan nach Tsingtao gebracht. Auf Terranova war es üblich, dass die reichen Clans Waisenkinder aufnahmen, die wie Geschwister von eigenem Blut zusammen mit den vielen Kindern des Clans aufwuchsen. In den Habitaten ringsherum war es nicht anders, dass die Alten mit den Jungen zusammenlebten und der Reichtum daran abzulesen war, wie viele Angestellte und Ziehkinder der Clan um sich scharen konnte. Das wurde lange Zeit auch als soziale Verpflichtung gesehen, von der nicht nur die Clans profitierten. Es war nunmehr aber zu beobachten, dass die Zahl der Bedürftigen und Waisen in den letzten Jahren immer weiter angestiegen war und auch manchen ehemals reichen Clans das Geld ausging, um ihre Angestellten zu halten.

Niobe wusste um ihre Stellung innerhalb des Clans. Sie hatte zusammen mit Lao gelernt, gespielt und war für ihn wie eine Schwester. Dennoch konnte sie als Waisenkind nie ganz eine Lingdao werden und wusste, dass Laos Vater sie damals auch aufgenommen hatte, damit sein einziges Kind eine Spielgefährtin bekäme. Auch wenn es im Umgang zwischen ihr und Lao, seinen Eltern oder anderen untereinander blutsverwandten Mitgliedern des Clans fast nie zu spüren war, so fehlte ihr doch der Stolz der Lingdaos. Aber sie spürte, dass sie von ihren Zieheltern nicht nur für das geschätzt wurde, was sie ihrem Sohn bedeutete. Sie war nicht betrübt darüber, keine geborene Lingdao zu sein, denn sie wurde geliebt und es ging dem Clan und somit auch ihr noch verhältnismäßig gut.

Als Lao an die Akademie gegangen war, um sein Studium in Weltraumtechnik aufzunehmen, war sie ebenfalls zur Akademie gegangen, um alles über die Botanik zu lernen. Die Wahl des Studienfachs war ihr nicht leicht gefallen, da sie lieber die Geschichte von Terranova oder Archäologie studiert hätte. Diese Fächer waren aber längst einem Nützlichkeitsdenken zum Opfer gefallen, das Einzug gehalten hatte, kurz nachdem die Xian das Regiment an der Akademie Tsingtaos übernommen hatten. Der Hohe Rat hatte mit einem Federstreich gebilligt, dass auf ganz Terranova Bildungseinrichtungen privatisiert werden durften. Die Folgen davon waren verhängnisvoll.

Der Gram über die geringe Auswahl an Studienfächern dauerte nur kurz. Niobe fand sich damit ab, Botanikerin zu werden. Sie liebte alles, was lebte und hatte sich schon seit Kindheitstagen an der Zartheit der Blütenblätter oder dem morgendlichen Tau an den Gräsern erfreuen können. Auch sah sie mit Freuden den Aufgaben entgegen, die sich ihr als Pflanzenpflegerin in der etwas heruntergekommenen Biosphäre der Lingdaos noch bieten würden.

Mit der gleichen Liebe und Sorgfalt, mit der sie Pflanzen behandelte, spielte sie auch mit den Kindern des Clans oder pflegte die Alten. Niobe verstand es, die richtigen Worte und Gesten zu finden, um den Kindern die kleinen Bekümmernisse zu nehmen und die Alten zu erheitern, wenn sie ihres Todes gedachten. Oft bekam sie bei solchen Gelegenheiten zu hören, dass sie so gut zu allen sei, aber sich selbst dabei vergesse. Sie antwortete dann immer, dass sie vom Wohlergehen und Glück jedes Lebewesens um sich herum etwas aufnähme und in ihrem Innern gar nicht so viel Glück fassen könne, wie ihr von allen Seiten zuteil werde. Für Verrichtungen des häuslichen Alltags wurde sie nicht gebraucht, denn das erledigten Maschinen flink und beinahe ohne dabei von den Menschen des Habitats bemerkt zu werden.

Niobe und die Kunde von der SternenstadtJahr 2020 nach der Erleuchtung, 4. Monat

Manchmal verließ Niobe auch das Habitat und wanderte über die Pfade, die zwischen den allerorts angelegten Landschaftsgärten verliefen. Es war früher eine herrliche Ruhe überall gewesen. Man hatte nur das gedämpfte Reden anderer Spaziergänger gehört oder die Schritte von Menschen, die ohne Eile von ihren Habitaten aufgebrochen waren, um zu einer der Kuppeln zu laufen. In manchen der Hallen blühte der Handel mit Waren von überall her noch immer wie in ihrer Kindheit. In anderen konnte man sich noch immer vergnügen oder aber seine Fähigkeiten erweitern. Alles war aber teurer geworden und an vielen der Hallen prangte heute das Signet der Xian oder einer der anderen großen Clans. Auch sah Niobe auf ihren Spaziergängen immer häufiger Menschen ohne Obdach, die an Brotresten nagten. Noch zu Zeiten ihrer Kindheit wäre sofort jemand gekommen und hätte Hilfe angeboten, wenn ein anderer solche Not erlitten hätte. In den Jahren, die seitdem vergangen waren, war ein notleidender Mensch am Wegesrand aber schon ein vertrautes Bild geworden und jeder hatte seine eigene Last zu tragen.

Niobe hatte einige Orte, die sie außerhalb des Habitats gerne aufsuchte. Dafür musste sie mit einer Gondel fahren, die lautlos durch Röhren aus einer unverwüstlichen Kohlenstofffaser glitt. Die gläsern schimmernden Röhren verliefen an manchen Stellen unterirdisch durch Tunnel, durch die vor langer Zeit noch stählerne Wagons auf Schienen gefahren waren. Diese einst staatlich betriebenen Gondeln gehörten seit einigen Jahren auch den Xian, was einen stetigen Preisanstieg zur Folge hatte.

Eine kaum mehr beachtete museale Attraktion Tsingtaos waren zwei Haltestellen, an denen der Innenausbau und sämtliche Einrichtungen, die seit bald 1800 Jahren dort existierten, konserviert worden waren. Niobe war dort gerne, weil es ein merkwürdiges Gefühl in ihr wachrief, dass alle Dinge und alle Zeiten irgendwie miteinander in Verbindung stehen. Oft war sie alleine dort und dachte darüber nach, warum sie vieles so anders empfand als die meisten Menschen, die sie kannte. Es musste etwas in ihr sein, das sie in allen Dingen mehr erkennen ließ, als die Oberfläche preisgab. Was war heute mit dem einst großen Geschichtsbewusstsein geworden, das die meisten Bewohner von Terranova in sich getragen hatten? Für die Menschen war dieses Bewusstsein einst eine der Säulen gewesen, auf denen Terranova ruhte. Diese Zeit war lange vorbei. Heute waren die Bewohner von Terranova vor allem dem Gegenwärtigen zugewandt und suchten ihr Glück in den Dingen und Vergnügungen des Hier und Jetzt. Doch auch das war ihnen nur so lange möglich, wie die Not, die allerorten um sich zu greifen schien, sie noch nicht erreicht hatte.

Niobe fuhr oft mit der Gondel zum großen Kreuz. Das große Kreuz war der Verkehrsknotenpunkt im Distrikt Tsingtao. Dort starteten die Expresslinien, die den gesamten Planeten umspannten und die entferntesten Gegenden in nur wenigen Stunden erreichbar machten. Von dort aus hob auch einmal am Tag ein lautloses, gläsernes Shuttle ab, das wie ein Aufzug zuerst zu Tetrathlon, der bewohnten Außenstation von Terranova im All, und dann zu den spärlich besiedelten Kolonien auf dem Mond und dem Mars glitt. Diese überwiegend wenig einträglichen Kolonien waren die Zeugnisse eines Wettlaufs der Xian, der Antracis und einiger anderer Clans um die Vorherrschaft im All. Einmal wöchentlich startete von hier aus auch ein kleineres Shuttle der Xian, das eine Forschungsstation anflog, zu der nur Befugte reisen durften.

Niobe saß gerne auf einer Bank auf dem Platz vor dem großen Gebäude, das ihr mit seiner avantgardistisch anmutenden Architektur wie ein Objekt aus einer fernen Welt vorkam. Sie selbst war noch nie mit einer der Expresslinien gefahren und sah immer wieder mit Staunen, wie der Platz sich leerte, wenn eine Großraumgondel einfuhr und die Menschen von den Vergnügungen, die der Platz bot, abließen und hastig das Gebäude betraten. Mit noch größerem Staunen sah sie zu, wie der Platz sich kurz darauf wieder füllte mit Menschen aller Couleur, die von überall her kamen. Gerne hätte sie mehr erfahren über ihre Beweggründe und über die Orte, von denen sie kamen.

An einem Tag, als sie wieder einmal am großen Kreuz saß, sah sie von ihrer Bank auf und bemerkte eine Werbetafel, die vor ihr über den Platz schwebte. Früher hatte es das kaum gegeben, aber jetzt war jeder öffentliche Platz überfrachtet davon. Niobe las den Schriftzug „Wir greifen nach den Sternen“, der über einem Raumschiff prangte, neben dem die Raumstation Tetrathlon, die als Maßstab abgebildet war, wie ein Staubkorn anmutete.

Für gewöhnlich ignorierte Niobe solche Werbetafeln. Diesmal suchte sie aber im Menü ihres Neuroimplantats die Funktion, mit der sie eine Verbindung zu der Tafel und den Informationen herstellen konnte, die sich darin befanden. Vor ihren Augen spannte sich ein großes Feld mit bewegten Bildern auf und sie hörte eine Stimme, die vom Aufbruch zu einer Galaxie kündete, in der kurz zuvor ein neuer Planet entdeckt worden war. Nicht nur sollte es sich um einen Planeten mit einem großen Reichtum an Rohstoffen handeln, sondern er sollte auch noch bewohnbar sein und ein herrlich mildes Klima haben. Die Worte waren so gewählt, dass jeder Zweifel an der Realisierbarkeit eines so tollkühnen Kolonialisierungsprojekts lächerlich erscheinen sollte. Eine Vorhut der Menschheit sollte aufbrechen und mit ihrer Großtat den Reichtum und das Wohl aller Menschen auf Terranova vermehren. Niobe ahnte, worum es tatsächlich ging: Um Rohstoffe, Macht und noch mehr Geld für die Xian, die federführend hinter dem Projekt standen. Mit diesem Coup würden sie den Wettlauf gegen die anderen Clans für sich entscheiden. Niobe erkannte aber auch, dass die Xian mit ihren Plänen an den innersten Instinkten des Menschen rührten, zunächst für den eigenen Clan, dann für den eigenen Distrikt und letztendlich für die gesamte Menschheit den Lebensraum verbessern und vergrößern zu wollen. Bestimmt, so erschrak Niobe, verfehlte diese Vorstellung auch bei Lao nicht ihre Wirkung.

Niobe hatte Angst bei der Vorstellung, dass die Dinge auf Terranova sich weiter verschlechtern würden. In der Schulzeit hatte sie noch in den knappen Unterweisungen über die Geschichte von Terranova gelernt, dass die Gier nach immer mehr und der unbedingte Fortschrittsglaube längst überkommene Gedanken waren. Ihre Überwindung hatten erst Frieden und die greifbare Realität eines Wohlstands für die meisten Menschen möglich gemacht. Gleichzeitig empfand Niobe in einem Winkel ihres Geistes auch eine Faszination daran, was der Mensch vollbringen kann. Unter ganz anderen Vorzeichen hätte sie dem Vorhaben, in die Tiefen des Alls vorzudringen, etwas abgewinnen können. Sie spürte durchaus eine Neugierde, fremdes Leben und was es dort draußen alles geben mochte, zu sehen und selbst untersuchen zu können. Aber, so war sie sich sicher, war dies alles andere als eine Forschungsmission zum Wohle aller.

Die Werbetafel enthielt auch eine Ausschreibung, in der nach verschiedensten Mitarbeitern für das Projekt gesucht wurde. In der Ank-Climat, der größten Wüste der Welt und damit einem der wenigen kaum besiedelten Gebiete, war die Sternenstadt bereits im Bau. Dort sollten die bislang größten wissenschaftlichen und technischen Anstrengungen der Menschheit unternommen werden, um das Projekt zum Erfolg zu führen, zum Erfolg für die Xian. Unter den Gesuchen waren auch solche für Raumfahrttechniker, die sich bei der Entwicklung neuer Triebwerkstechnik und neuer Materialien für die Hülle des Schiffes einsetzen sollten. Lao, so fürchtete Niobe, würde also mit seinem guten Abschluss bestimmt dort unterkommen können, wenn er wirklich so dumm wäre, sich dafür zu bewerben.

Niobe sprang sofort auf und eilte heimwärts. Sie konnte nicht darauf vertrauen, dass Lao von all dem nichts mitbekäme. Sie musste handeln und ihm vorauseilend sicherstellen, dass er nicht seinem Traum alles andere opfern würde. Ihm würde eine Verbannung aus dem Clan drohen, ließe er sich mit dem Dämon ein, der in der Sicht der Lingdaos von ihrer Welt besitzergreifen wollte. Die Lingdaos waren immer Verfechter eines unabhängigen Terranova gewesen, dessen politische Organe auf dem Boden der Werte handelten. Wäre es nach ihrem Vater Caius gegangen, dann wäre kein Clan jemals so reich und so mächtig geworden wie es die Xian und die Antracis heute waren. Caius würde seinen Sohn nicht verstoßen, aber er würde sich dem Votum des Clanrates beugen müssen. Aber noch war nichts geschehen.

Lao auf der Suche nach sich selbstJahr 2020 nach der Erleuchtung, 6. Monat

Lao lehnte an der Bar auf dem Dach des runden Gebäudes mit seinen vielen Erkern, hängenden Gärten und Terrassen. Er sah über die Brüstung des Daches hinunter zu den benachbarten, flacheren Bauten, von denen die meisten mehrere Habitate beherbergten, in denen die Clans Tsingtaos wohnten. Er sah auch die kuppelförmigen Gebäude, in denen die Menschen ihrer täglichen Arbeit nachgingen, sofern sie noch eine hatten.

Früher war der Wohlstand allgegenwärtig gewesen. Davon zeugten noch die weitläufigen Parkanlagen und die Verzierungen an vielen Bauten. Und doch hatte Lao beim Blick über die Stadt schon immer gespürt, wie privilegiert er war, als Lingdao geboren worden zu sein. Alles unter seinen Füßen gehörte seinem Clan. In fünf Ebenen trachtete jeder danach, seinen nächsten und so auch dem gesamten Clan dienen zu können. Dazu zählten auch sein Vater Caius und seine Mutter Ailan, die beide hohe Ämter bekleideten. Trotzdem waren sie alle unbedeutend und arm, verglichen mit den Xian. In jeder größeren Agglomeration des Ostens hatten die Xian einen Prunkbau errichtet, der alles andere überragte.

Das schmälerte nicht den Stolz, den Lao gegenüber seinen Eltern empfand. Laos Mutter Ailan war Richterin am Kommunalgericht des Distrikts und sein Vater überstand als unabhängiger Berater des Hohen Rates im Rang allen Mitgliedern seines Clans.

Während Lao seinen Blick wandern ließ, sah er bald nichts mehr von dem, was um ihn herum geschah, so sehr ergriff ihn eine Unruhe. Er war ganz in sich gekehrt und überlegte, wie so oft in diesen Tagen, wo sein Platz im Habitat und in der Welt sein könnte.

Zur Politik taugte er nicht. Das wusste er schon früh, weil er als Kind zuerst lieber mit physikalischen Baukästen experimentiert hatte und dann als Jugendlicher aus Einzelteilen einen Jahrhunderte alten, mit Wasserstoff betriebenen Hydrokopter wieder lauffähig gemacht hatte. Damit hatte er, den Zorn des Vaters in Kauf nehmend, im Luftraum von Terranova einige verbotene Pirouetten gedreht. Lao war ein Tüftler und liebte nichts so sehr, wie mit seinem besten Freund und späteren Kommilitonen Jun Chou an technischen Geräten zu basteln oder Programme für sein Implantat zu schreiben. Mit solchen Programmen konnte er frei durch das virtuelle Weltall fliegen, wenn er nur seine Augen schloss. Jun hatte von Anfang an mit ihm zusammen die Akademie besucht und teilte viele seiner Interessen. Lao bewunderte Jun für sein mathematisches Genie und sein absolutes Gedächtnis, für das er sein Implantat gar nicht zu bemühen brauchte. Jun hingegen bewunderte Lao für seine Unerschrockenheit und seinen Mut. Manchmal schlug diese Bewunderung auch in Furcht um, dass Lao zu weit gehen könnte. Im Studium der Antriebstechnik ergänzten sich beide perfekt, indem Lao mit flammender Begeisterung immer die besten Ideen und Konzepte entwickelte, während Jun still die geometrischen Berechnungen anstellte, die in ihren Ansätzen oft unkonventionell waren.

Doch diese Zeiten waren vorbei. Jun hatte eine Anstellung bei einem der wenigen noch unabhängigen Konstruktionsbüros gefunden und arbeitete, ohne dass ihn dies sonderlich gefordert hätte, an einem Entwurf für eine neue Transfergondel für den Verkehr innerhalb des Distrikts. Lao hatte sich bei einem Unternehmen beworben, dass für die Erschließung neuen Wohnraums den Meeresboden besser nutzbar machen wollte. Die Ironie, dass der ewige Sternengucker womöglich bald in den Tiefen der Meere im Schlamm versacken würde, war Lao nicht entgangen. Doch er musste etwas tun und eine Möglichkeit, seine Träume vom Weltall zu verwirklichen, sah er nicht. Er war ein Lingdao und dazu der einzige Statthalter und spätere Erbe des von allen verehrten Caius. Daher erwartete man viel vom ihm. Jede Woche des Müßiggangs spürte er den Druck stärker auf sich lasten.

Während Lao betrübt vor sich hinstarrte und ihm dabei ein Gefäß mit einem grünen Ale an den Lippen hing, kam Niobe auf die Dachterrasse.

2. Teil

Die Geschichte des Caius

Caius´ langer Weg nach oben hatte in dem Distrikt Ostia begonnen. Er wurde als Sohn eines Vaters geboren, der sich in Gelegenheitsjobs verdingte. Seine Mutter hatte die Familie schon verlassen, als Caius noch klein gewesen war. Von ihr hatte er kaum mehr als ein schemenhaftes Bild in Erinnerung behalten. In der Kindheit hatte er sich daher andere Vorbilder suchen müssen. Schon früh hatte er eine große Bewunderung für ein paar Jungs aus seinem Viertel entwickelt, die es verstanden, durch Einschüchterung Macht über andere Kinder zu erlangen. Er eiferte ihnen nach und übertraf sie bald noch, wenn es um aufschneiderisches Verhalten ging. Südlich vom Nabel der Macht über ganz Terranova hatte Caius als zehnjähriger die Regentschaft über den Bezirk übernommen. Er führte eine Horde von Kindern an, vor denen jüngere und gleichaltrige Angst hatten und denen auch die älteren nicht in die Quere kommen wollten. Wenn es darum ging, wer die besten Plätze am Strand, in der Holotech-Spielwiese oder im Schulzubringer bekam, war die Verteilung klar. In der Schule hingegen besetzte er immer die letzte Reihe, von wo aus er den Unterricht am besten ignorieren konnte. Caius drohte sich zu einem Nichtsnutz zu entwickeln, aus dem bestenfalls kaum mehr als ein Gelegenheitsjobber oder schlimmstenfalls ein Kleinkrimineller hätte werden können.

Die Dinge entwickelten sich aber anders. Ab etwa seinem zwölften Geburtstag ging mit hoher Rasanz eine Veränderung in Caius vor, die allen in seinem Umfeld den Atem verschlang. Der Grund für diese Veränderungen war ein Mädchen, in das er sich unheilbar verliebt hatte. Das Ganze hatte aber einen Haken. Sie war zwei Jahre älter als er und stand als Musterschülerin in der Gunst des gesamten Lehrpersonals. Caius spürte, dass er nie mit Kühnheit würde aufwiegen können, was dieses Mädchen ihm an Geist voraus hatte. Alles, wonach er bis dahin getrachtet hatte, wurde ihm wertlos, wenn er an sie dachte. Und das tat er sehr oft. Er träumte von ihr während des Unterrichts, während der Pausen, während des Nachhausewegs und Abends, wenn er in seiner schäbigen Kammer die Augen schloss und nur mit ihr zusammen ganz weit fort sein wollte. Sein Charakter und seine zweifelhaften Fähigkeiten, die eher darauf ausgerichtet waren, Unfrieden zu stiften, erschienen ihm gleichermaßen wertlos. Er wusste, dass das Mädchen nie ein Auge für ihn haben würde, wenn er so bliebe, wie er war. Also dachte er nach und dachte und dachte. Er hörte nicht mehr auf nachzudenken und an seinen geistigen Fähigkeiten und seinem Charakter zu arbeiten. Das hielt an, auch nachdem das Mädchen längst anderer Wege gegangen war, ohne ihn jemals beachtet zu haben. Bis heute hält es an, dass Caius jede Schlechtigkeit, die er an sich spürte, mit seinem mittlerweile gereiften Geist im Zaum zu halten weiß. So gelang es ihm, sich über die Position des Schulsprechers, dann des Sprechers der Akademie und des Präsidenten des Rates der Studierenden über die öffentlichen Ämter des Tribuns, des Ädils und des Prätors bis an den Rand des hohen Rates von Terranova zu bringen. Ihm war sogar der Rang eines Konsuls ehrenhalber verliehen worden.

Seine Frau Ailan Lingdao hatte Caius damals durch einen großen Zufall kennen gelernt, als er in der Funktion eines Assistenten für einen Ministerialbeamten nach Tsingtao gereist war. Doch das ist eine Geschichte, die vielleicht ein andermal erzählt wird. Entscheidend war, dass er sich nach so vielen Jahren, in denen er vor allem nur an seine Karriere gedacht hatte, wieder verliebte. Diesmal wusste er aber, dass er eine Chance hatte. Und diese nutzte er auch. Den Namen Lingdao nahm er selbstverständlich an, da er so viel wie ein Ritterschlag für jemanden bedeutete, der aus so kleinen Verhältnissen stammte.

Caius arbeitete nun, mehr als zwanzig Jahre später, als hoher Berater des Ministeriums für Sicherheit und Freiheit und war so dem ständigen Ränkespiel der Ministerialbeamten ausgesetzt. Die eine Hälfte des Ministeriums stand für mehr Sicherheit ein und die andere für mehr Freiheit. Das Ministerium war vor zwei Jahrhunderten als Zusammenschluss zweier Ministerien entstanden, die sich einen so heftigen Kampf um ihren jeweils eigenen ideologischen Nährboden geliefert hatten, dass keine Beschlussfassung mehr möglich gewesen war. Die einen wollten die technischen Möglichkeiten der Implantate stärker zur Überwachung nutzen. Dabei gingen einige so weit, dass sie damit auch kleinkriminelle Absichten vor der Ausübung von Verbrechen erkennen und ein Einschreiten vorab ermöglichen wollten. Die anderen waren strikt dagegen und verwehrten sich grundsätzlich einer Nutzung der Implantate für Überwachungszwecke. Die einen wollten alle nur irgendwo verfügbaren Daten für alle Ewigkeit speichern. Die anderen sahen in diesem Vorhaben den drohenden Untergang der Menschheit. Sie sahen die Gefahr, dass einige wenige, die eine Befugnis dazu hatten, ein gottähnlicher Überblick über alle Vorgänge auf Terranova gegeben würde. Dadurch würden Tür und Tor für jede Art von Missbrauch geöffnet. Die Situation war bald so verfahren, dass keiner von der einen Seite mehr mit einem von der anderen Seite überhaupt sprechen konnte, ohne dass es zu Handgreiflichkeiten kam. Die einzige Lösung war, beide Ministerien aufzulösen und ein neues Superministerium zu gründen, in dem das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit immer wieder neu verhandelt werden musste.

In diesem Spannungsfeld hatte sich also Laos Vater mit größter diplomatischer Souveränität in den letzten zwanzig Jahren bewegt. Dabei war ihm immer das Wichtigste gewesen, für die Erhaltung der Werte von Terranova zu kämpfen, die schon so lange die Grundfesten des gesellschaftlichen Zusammenhalts und auch des Friedens gebildet hatten. Umso schmerzlicher war es für ihn, erleben zu müssen, wie das Ministerium von der gleichen Korrosion befallen wurde, die auch alle anderen Regierungsorgane von innen langsam zerfraß. Er wollte es sich noch nicht ganz eingestehen, aber er spürte bereits, dass die Gier nach Macht und Geld überbordend geworden war und dass daraus eine große Gefahr für Terranova entstanden war. Der Sog des Geldes, das sich in den Händen der mächtigen Clans befand, hatte die Ministerien erfasst. Er spürte es auch daran, dass sein Rat immer öfter ungehört verhallte und die Seite derjenigen, die unter Werten nichts als Reichtum verstanden, an Gewicht zunahm.

Caius vor dem Hohen RatJahr 2019 nach der Erleuchtung, 3. Monat

An einem Tag, vor nicht allzu langer Zeit, betrachtete Caius Lingdao sich im Spiegel. Dabei brachte er, so wie er es gewohnt war, mit einem Brenneisen seine Augenbrauen in Form. Es war noch eine Stunde Zeit bis zu seinem großen Auftritt vor dem Hohen Rat. Er brauchte dafür nicht zu reisen, sondern würde sich im Wohnzimmer des Gemaches vor die große Regalwand mit antiken Schriftrollen und Büchern aus dem ersten Jahrtausend nach der Entdeckung des elektrischen Stroms setzen. Für den Erwerb dieser Schätze war er im Laufe der letzten zwanzig Jahre in alle Teile von Terranova gereist.

Gleich würde er den Sphärengenerator einschalten und auf den Anruf der Kanzlerin warten, bevor er und ein Teil seiner Umgebung als holographisches Abbild im Saal des Hohen Rates im fernen Rom erscheinen würden. Eine Reise dorthin war zum letzten Mal vor 5 Monaten nötig gewesen, als man ihm für seine Leistungen persönlich den saphirblauen Adler am Bande überreicht hatte. Diese Auszeichnung bewahrte er in einer Schatulle auf und hatte sie noch nie getragen. Er hatte das Gefühl, dass diese Bauchpinselei nur dem einen Zweck diente, ihn in Selbstgefälligkeit bequem und gefügig zu machen.

Zwischen den Terminen, an denen sein holographisches Bild zur Beratschlagung vor den Hohen Rat zitiert wurde, recherchierte er und wertete geheimdienstliche Informationen aus. Diese gewann er aus den unermesslichen Datenströmen des gesamten Terranova, auf deren versteckteste Bereiche er durch die Sonderrechte Zugriff hatte, die nur Mitgliedern und hohen Beratern des Rates eingeräumt wurden. Diese Macht war etwas, das ihn selbst mit einer Furcht erfüllte und ihn zu einem noch selbstkritischeren Menschen gemacht hatte. Seine Stärke, die der Hohe Rat früher einmal sehr geschätzt hatte, lag aber in der hohen Sensibilität, jedes Anzeichen für Unruhe und Unfrieden auf dem Planeten erkennen zu können und Schlüsse daraus zu ziehen, auf denen dann auch seine Ratschläge beruhten. Er hielt das, was er tat, im Grunde seiner Überzeugungen für falsch, rechtfertigte es aber damit, dass es sonst jemand anders tun würde, der vielleicht die falschen Schlüsse ziehen würde. Mehrmals wöchentlich stand er per Implantatverbindung mit dem Minister für Freiheit und Sicherheit in Verbindung und konnte so unmittelbar Einfluss auf die Geschicke von Terranova nehmen.

In letzter Zeit war er mit seinen Einschätzungen immer öfter auf erheblichen Widerstand gestoßen. Früher hatte er eindeutig kriminelle Aktivitäten versprengter Grüppchen aus dem Untergrund aufgedeckt. Wenn er sich dann mit den Ministerien beratschlagt hatte, gab ihm das immer das Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen. Heute war er gezwungen, gegen Widerstandsgruppen zu ermitteln, deren Motive er mehr und mehr nachvollziehen konnte. Als er einmal einen Vorstoß gewagt und diejenigen angeklagt hatte, die das Recht der einfachen Arbeiter beugten und Profitmaximierung über alles stellten, spürte er, dass die Feinde des alten Terranova bereits gewonnen hatten.

Seine Frau Ailan hatte ihn immer belächelt, wenn er feierlich seine Tunika aus dem Kleidermagazin des Habitats entnahm. Dies tat er auch vor dem heutigen Termin. Nachdem er im Menü des Holospiegels das Kleidungsstück ausgewählt hatte, das nach dem Vorbild der Tuniken geschneidert war, die schon die Würdenträger der Antike getragen hatten, stand er noch immer fast nackt im Zimmer. Er sah dabei aber bereits in der bekleideten holographischen Kopie seiner selbst, welch stattliche Figur er mit der Tunika abgeben würde. Er bestätigte die Auswahl und fand wenige Augenblicke später das gewünschte Gewand im Schacht des Kleidermagazins. Mit wenigen Handgriffen streifte er es sich über und befestigte es mit einer rubinbesetzten goldenen Fibel, die einen Habicht darstellte, das Clansymbol der Lingdaos. Am Bauch spannte die Tunika bereits ein wenig. Er würde bald etwas dagegen unternehmen müssen.

Es war alles vorbereitet. Caius nahm seinen Platz an der großen hölzernen Tafel ein und richtete den Ausschnitt, den der Sphärengenerator erfassen würde, auf sich und das Regal im Hintergrund. Er hatte, um Eindruck zu schinden, einen besonderen Coup geplant, für den er das Regal und seinen Inhalt noch brauchen würde. Vor ihm war eine leere Fläche. Er brauchte keine Aufzeichnungen, kein weiteres Gerät, das ihm Informationen bereitstellen würde. Er würde sich nicht einmal seines Implantats bedienen müssen, da er alles in seinem Kopf gespeichert hatte. Eine Rede zu halten, so hatte er früh gelernt, erfordert die Fähigkeit, durch seinen sprühenden Geist überzeugen zu können. Dieser geriete in einen Schlafmodus, würde er nur Worte reproduzieren, die zuvor im Implantat gespeichert worden waren. Caius war gefasst und innerlich ruhig, als der Anruf kam und kurz darauf die Kanzlerin vor ihm erschien. Er deutete mit dem Kopf eine Verneigung an und hörte die Worte, die im fernen Rom gesprochen wurden.

„Ehrenwerter Caius Lingdao,“ hob die Kanzlerin an, „wir haben sie dazu eingeladen, vor dem Hohen Rat zu sprechen, da wir alle gerne erführen, ob beunruhigende Neuigkeiten in der Luft liegen, die den Frieden und Wohlstand von Terranova gefährden könnten. Besonders möchte ich um eine Einschätzung zu der jüngsten Häufung von Aktivitäten des Widerstands bitten.“

Caius war auf dieses Ansinnen des Rates vorbereitet und begann mit seiner Rede. „Verehrte Kanzlerin, ich danke für die Gelegenheit, meine Sicht dem Hohen Rat darlegen zu dürfen. Es wird jedem von Ihnen bekannt sein, dass der Hohe Rat in der letzten Zeit Beschlüsse gefasst hat, die von Teilen des Volkes als Verrat an den alten Werten von Terranova aufgefasst werden können. Es wurden den reichen Clans so weitreichende Zugeständnisse gemacht, dass dies als Kapitulation des Hohen Rates vor dem Kapital und dem Machtgebaren einer kleinen Oberschicht gewertet werden könnte. Ich möchte nur ein paar Beispiele nennen. Die Akademie der Wissenschaften des Distrikts Ostia wurde privatisiert und steht nun unter der Ägide der Ramses-Dynastie. Was dort gelehrt wird, bestimmt fortan nicht mehr der autonome Wissenschaftler, sondern der reichste Clan des Vorderen Orients. Den Xian wurden exklusive Schürfrechte für Bodenschätze auf dem Saturn übertragen. Die Antracis dürfen im Gegenzug den Mars ausbeuten. Wissen Sie, was die Unterbindung jeglichen Wettbewerbs für die Rohstoffpreise bedeuten wird? Haben Sie eine Ahnung, was das für den Wohlstand von Terranova bedeuten wird? Doch damit nicht genug. Der Hohe Rat hat die Eugenik-Gesetze geändert, die uns seit dem Skandal im letzten Jahrhundert davor geschützt hatten, dass die reichen Clans bald ihre Vorstellungen vom Übermenschen oder auch vom willenlosen Arbeiter realisieren können.“

Caius unterbrach sich, da Stimmen des Protests laut wurden.

„Es waren Beschlüsse des Rates aus der letzten Zeit, die ein Erstarken unterschiedlicher Widerstandsbewegungen zur Folge hatte.“

Der Protest wurde lauter.

„Offenbar teilen nicht alle meine Auffassung, dass der Rat selbst diesen Widerstand provoziert hat.“ Er wartete ab, bis das Raunen sich gelegt hat.

„Alle Evidenzen sprechen auch dafür, dass die Entscheidungen des Rates die Balance von Sicherheit und Freiheit in den letzten Jahren ins Wanken gebracht haben. Es hat viele Verhaftungen gegeben, die nur aufgrund solchen Wissens geschehen konnten, das die Sicherheitsbehörden sich durch das Erfassen der Datenströme aus Implantaten angeeignet haben. Dies mag vom Standpunkt der beschlussfassenden Richter eine Notwendigkeit zur Verbrechensbekämpfung gewesen sein. Dennoch verstößt es gegen die Werte und damit auch gegen die Grundfesten unseres Rechtssystems. Eine Behörde bedient sich damit an dem Privatesten, was der Mensch besitzt, nämlich seinen Gedanken. Es wurden Menschen für etwas bestraft, was sie noch gar nicht getan hatten. Diese vielen Brüche eines Vertrauens, dass die Regierung innerhalb der letzten tausendfünfhundert Jahre bei seinem Volk geschaffen hatte, hat viele Menschen beunruhigt, weil niemand sich mehr vor dem Zugriff des Staates sicher fühlt und sich die Position breitmacht, der Hohe Rat stünde auf der falschen Seite.“

Die Kanzlerin unterbrach und wies Caius an, den Redebeitrag eines Ratsmitglieds anzuhören.

Es erschien Marcus Secundus, eine schmächtige Gestalt in moderner Kleidung, die er sich morgens von einem der in fast jedem Haushalt befindlichen Kleidungsautomaten an den Leib hat drucken lassen. Damit alleine schon, so dachte Caius, war ein Statement verbunden, dass eine Abkehr vom Traditions- und Wertebewusstsein darstellte, das den Hohen Rat von je her ausgezeichnet hatte.

Die Lippen des Mannes begannen sich zu bewegen, während seine Stimme noch im All war. Mit Verzögerung hörte Caius ihn sprechen. „Die Auswüchse des Terrors, der um sich greift, begründen Sie mit dem Fehlverhalten des Hohen Rates. Das ist allerhand. Es sind andere Zeiten angebrochen. Wir müssen als die eine Regierung von Terranova, die die Interessen aller vertritt, hart durchgreifen. Wenn der eine oder andere es nicht versteht, dass die reichen Clans die Stützpfeiler unserer Welt sind, dann müssen wir dafür sorgen, dass er es verstehen lernt. Ihre Kritik an der Privatisierung der Akademie ist unbegründet. Es wird sich zeigen, dass dort endlich Dinge gelehrt werden, die dem Fortkommen unserer Gesellschaft nützen. Außerdem haben wir dadurch viel Geld eingenommen, das wir für die längst überfällige Schaffung einer weltweit operierenden Polizeibehörde gut gebrauchen können. Die Verteilung von Schürfrechten war nach Jahren des Stillstands ebenfalls dringend nötig. Das hat auch viel Geld in die Staatskassen gespült, wovon wir Gefängnisse modernisieren und von mir aus auch ein paar Schulen bauen können. Wir müssen darauf achten, dass die wenigen Aufrührer, die alles aufs Spiel setzen wollen, nicht am Ende obsiegen. Wir müssen hart durchgreifen, müssen die Informationen nutzen, an die wir herankommen können, und müssen zeigen, wer Herr auf Terranova ist.“

Caius unterbrach an dieser Stelle. „Am Ende kommt dann heraus, dass tatsächlich der Clan der Xian über ganz Terranova herrscht, und seine wirtschaftlichen Interessen über alles stellt. Er wird noch so mächtig werden, dass er dem Hohen Rat diktieren kann, was er zu tun und zu lassen hat.“

Erneut wurde ein Raunen, begleitet von einigen lauten Protestrufen, vernehmbar.

Secundus machte eine wegwerfende Handbewegung. „Es sind die Separatisten und Widerständler, die sich von Terranova und damit von der besten aller Welten lossagen, um eine vermeintlich noch bessere Welt für sich zu schaffen. Sie erzeugen das Chaos, dass wir ein für alle Mal beendet zu haben glaubten. Wenn nur ein einziger Flecken Erde mit einer Gruppe von Separatisten darauf aus dem engen Bund heraustritt, den die gesamte Menschheit geschlossen hat, dann sind wir alle gescheitert und fallen zurück in ein Zeitalter der großen Kriege.“

Das war der Zeitpunkt für den dramaturgischen Kniff, den Caius sich für diesen und ähnliche Fälle zurechtgelegt hatte. Er griff hinter sich in das Regal und zog ein offensichtlich sehr altes, in Leder eingebundenes Buch hervor.

Caius las. „Wir müssen unsere Kräfte mobilisieren gegen den Feind, der in unseren eigenen Reihen, in unserer Mitte lebt und nur darüber nachsinnt, wie er uns schaden kann. Wir müssen alles über ihn wissen und dafür unsere eigene Freiheit für einen Moment opfern, um am Ende freier zu sein als jemals zuvor.“ Caius sah auf und blickte seinem Gegenüber ins Gesicht.

„Welche Weisheit aus vergangenen Tagen“, sagte Secundus.

„Sie scheinen nicht zu wissen, von wem diese Worte stammen. Sie sind vor mehr als tausendfünfhundert Jahren von einem Unmenschen gesprochen worden, der die Welt in dem Blut seines eigenen Volkes getränkt hat. Es war Marcus Valerius, dessen Namen und Schandtaten wir nie vergessen sollten.“