No llores mi querida. Weine nicht, mein Schatz - André Pilz - E-Book

No llores mi querida. Weine nicht, mein Schatz E-Book

André Pilz

3,8

Beschreibung

Der erste deutschsprachige Skinhead-Roman, nicht von einem Journalisten oder Kinderbuchautor, sondern von einem Skinhead geschrieben. André Pilz, Jahrgang 1972, hält sich mit diversen Jobs über Wasser und ist Gitarrist einer Oi!-Punkband. Wenn André Pilz über den Skinhead "way of life", über Gewalt im Stadion, Stress mit Einwanderergangs oder Neonazis in der Szene schreibt, weiß er, worüber er spricht. "Ein Leben lang der letzte Dreck. Ein Leben lang haben sie mich geschlagen und gedemütigt, und ich habe es regungslos hingenommen. Ein artiger, braver Junge. Doch irgendwann war irgendein Schlag zu viel, und ich habe begonnen, mit meinen Augen zu sehen, mit meinen Ohren zu hören, und meinen Verstand gebraucht. Ich habe gelernt. Und mir den Kopf geschoren und Euch den Krieg erklärt." Aber "No llores, mi querida– Weine nicht, mein Schatz" ist keine verkappte Autobiographie, kein Tagebuch, sondern ein erstklassiges, bis zur letzten Zeile superspannendes Stück Literatur. "Gewalt ist die einzige Form von Achtung, die wir von Euch erzwingen können. Gewalt ist in Eurem Spiel nicht erlaubt, jedenfalls nicht die, die die Leute beim Einkaufen oder Spaß haben stören könnte. Aber wir, wir lieben sie. Nur die Gewalt auf der Straße und im Stadion schafft es, uns für kurze Zeit über Euch zu stellen. In dem Moment, wo es knallt, da spüren wir Eure Angst. Vor uns, den Glatzköpfen."

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André Pilz

No llores, mi querida –

Weine nicht, mein Schatz.

Ein Skinhead-Roman

André Pilz

No llores, mi querida –Weine nicht, mein Schatz

Ein Skinhead-Roman

Originalausgabe

© 2005 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin

in Zusammenarbeit mit dem Verlag Thomas Tilsner

Alle Rechte vorbehalten

Herausgeber:

Archiv der Jugendkulturen e.V.

Fidicinstraße 3

10965 Berlin

Tel.: 030 - 694 29 34

Fax: 030 - 691 30 16

www.jugendkulturen.de

Vertrieb für den Buchhandel:

Verlag Thomas Tilsner

Lektorat: Klaus Farin

Titelzeichnung: Esther Bernhard

Layout: Conny Agel

Druck: werbeproduktion bucher

Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Der Titeldatensatz für diese Publikation ist bei

der Deutschen Bibliothek erhältlich

eISBN 978-3-945398-76-0

ISBN 3-86546-031-3

ISSN 1439-4316 (Archiv der Jugendkulturen)

Für Esther Bernhard

Inhalt

Kapitel 000

Kapitel 001

Kapitel 002

Kapitel 003

Kapitel 004

Kapitel 005

Kapitel 006

Kapitel 007

Kapitel 008

Kapitel 009

Kapitel 010

Kapitel 011

Kapitel 012

Kapitel 013

Kapitel 014

Kapitel 015

Kapitel 016

Kapitel 017

Kapitel 018

Kapitel 019

Kapitel 020

Kapitel 021

Kapitel 022

Kapitel 023

Kapitel 024

Kapitel 025

Kapitel 026

Kapitel 027

Kapitel 028

Kapitel 029

Kapitel 030

Kapitel 031

Kapitel 032

Kapitel 033

Kapitel 034

Kapitel 035

Kapitel 036

Kapitel 037

Kapitel 038

Kapitel 039

Kapitel 040

Kapitel 041

Kapitel 042

Kapitel 043

Kapitel 044

Kapitel 045

Kapitel 046

000

Ein Leben lang der letzte Dreck. Ein Leben lang haben sie mich geschlagen und gedemütigt, und ich habe es regungslos hingenommen. Ein artiger, braver Junge. Habe das Spiel der Großen und Starken akzeptiert, nie in Frage gestellt, mich immer schön gefügt. Doch irgendwann war irgendein Schlag zu viel, und ich habe begonnen, mit meinen Augen zu sehen, mit meinen Ohren zu hören, und meinen Verstand gebraucht. Bin ganz tief in mich hineingetaucht und habe gelernt. Und mir den Kopf geschoren und euch den Krieg erklärt.

001

„BAUEN STATT STAUEN“ stand wochenlang auf einem Wahlplakat vor unserem Block. Ich hätte dem Esel, der diesen Slogan erfunden hat, gerne alle Autos und Lkws geschenkt, die Tag für Tag, Nacht für Nacht, am Haus vorbeidonnerten. Hätte ihn gerne gequält, mit dem Lärm und dem Gestank. Ich hasse Autos. Ich hasse Straßen. Und ich hasse Politiker. Straßen sind die Lebensadern des Wohlstands! posaunen sie von den Rednerpulten. Würde den Schwachsinn vielleicht sogar glauben, wenn ich nicht an einer gewohnt hätte, die die Hölle war.

Ich wohnte in einer Scheißgegend, ganz im Osten der Stadt, dort, wo es ständig Ärger gab. Meine Cousine Klara sagte mal, hier würde es aussehen wie in Kasachstan, und weil die Jungs das hörten, nannten sie den Stadtteil von nun an nur mehr Kasachstan. Aufgewachsen bin ich aufm Land, in nem kleinen Ort in der Nähe vom Bodensee mit nicht mehr als 1.000 Einwohnern. Dort hab ich mich jahrelang mit meinem Cousin in einer Baumhütte vor den Menschen versteckt, das war die schönste Zeit in meinem Leben. Als ich acht war, zogen wir nach Lindau, eine miefige Kleinstadt, die das unbeschreibliche Glück hat, an einem See zu liegen, aber selbst ohne See wäre sie noch tausendmal besser als Kasachstan, denn Kasachstan ist das Letzte. Kasachstan ist das Scheißhaus Deutschlands. Da wimmelt es nur so von Zuhältern, Kriminellen, Pennern und Kanaken – und so kranken Typen wie mir.

Ich zog mich aus und rasierte mir vor dem Spiegel über dem Waschbecken die Haarstoppel vom Kopf. Die Maschine summte und vibrierte, und ruck-zuck waren die Härchen im Waschbecken, auf dem Boden und meinem Rücken. Ich spielte mit meinen Muskeln. Ey, meine Muckis sind absolut okay. Ich mein, ich hab nie ernsthaft Gewichte gestemmt, war noch nie in meinem Leben auch nur für ne halbe Stunde in nem Fitnesscenter, aber wer wirklich arbeitet, der braucht das auch nicht. Jau, ich bin stark. Ein Skinhead bin ich, ein Krieger, ein Boxer. Keine Schwuchtel, kein Feigling. Ein Krieger.

Ich weiß gar nicht mehr, wie das ist, Haare auf dem Kopf zu haben. Es ist so lange her. Es wird nie wieder sein. Klara sagte immer, eines Tages, spätestens dann, wenn sie mir altersbedingt ausgehen, würde ich bereuen, so viele Jahre mit nem Glatzkopf rumgerannt zu sein. Nein, liebe Cousine, ich bereue all die Jahre, in denen ich Haare hatte. Ich schäme mich für nichts so sehr wie für die Zeit mit Haaren.

Ich sprang unter die Dusche und wusch mir die beißenden Dinger vom Leib, als wären sie Flöhe, in denen all das steckte. Die Leere, die Müdigkeit, die Verzweiflung. Die Zeit, die so viel versprach und doch nichts hielt.

Das Telefon klingelte, aber ich hatte keinen Bock ranzugehen. Ich war schon zu spät dran, außerdem rief eh meistens nur Hausmeister Renz an, weil ich zu laut Oi! hörte oder Schlachtgesänge ausm Stadion grölte. Manchmal drehte er dann einfach den Strom ab. Ich duschte wie immer kalt, trocknete mich ab, schlüpfte in die Kleider, zog meine Bomberjacke, die Doc Martens und meinen Fußballschal an. Mein Messer steckte ich in die rechte kleine Tasche der Jeans. Vor dem Stadion würde ich es in meinem rechten Schuh verstecken. Ohne mein Messer geh ich nirgendwohin. Nicht mal in die Dusche oder ins Bett.

Ich stürmte aus dem Haus und rannte zur Straßenbahnhaltestelle. Die Leute sahen mich an. Den Glatzkopf mit den Docs und der Bom­ber­jacke. Das ist das Geile, wenn du Skinhead bist. Übersehen tut dich keiner mehr. Und wenn dir so n scheiß Penner nicht ausm Weg gehen will, dann remple ihn um, dann lass ihn deine Stahlkappen spüren, damit er weiß, wer du bist. Überall lungerten sie herum, die Zuhälter, die Alkis und Junkies, die verfluchten Kanaken. Der Punkerin vom Nachbarblock, die alle wegen ihrer feuerroten Haare die „Rote Zora“ nannten, spuckte ich vor die Füße.

„FICK DICH, DU SCHEISS NAZI!“

„HA! Dich fick ich im Leben nicht! Deine Fotze stinkt ja bis hier nach Fisch!“

Die Rote Zora war der einzige Mensch in der Nachbarschaft, der null Schiss vor uns Glatzen hatte. Das irritierte mich. Angerührt hätt ich die nie. Die hatte sicher nen schwarzen Gürtel in Taek-wan-do oder ne Gas­pistole. Und da war auch noch Störtebecker, dieser scheiß Riesenköter, der keine Sekunde von ihrer Seite wich.

„Ey, leckt dich der Köter eigentlich?“ fragte ich aus sicherer Distanz. „Oder ekelt er sich vor den roten Schamhaaren?“

Sie streckte die Zunge raus und überquerte mit ihrem Killerhund ohne einen Blick nach links oder rechts die Straße. Die Autos wichen aus oder blieben quietschend und hupend stehen.

Die Straßenbahn war überfüllt. Fußballfans krakelten, kleine Burschen mit geleckten Frisuren und gewaschenen Fußballschals küssten kleine Mädchen mit denselben Schals und grapschten nach ihren Babytitten, andere Kinder brüllten in ihre Handys oder machten lautstark Witze über Türken, Neger und Schwule.

Ich bin FC-Fan, seit mir mein Bruder nen FC-Schal vom Jahrmarkt mitgebracht hat. Ich hab Dutzende von Schals, aber nur für den würd ich killen. Ich weiß immer, wo er gerade liegt oder hängt, und weiß ich es nicht, dann muss ich es auf der Stelle herausfinden, so wie eine Mutter wissen muss, wo ihr Baby ist, wenn sie es nicht gerade in den Händen hält oder hinter dem Haus verscharrt hat.

Mein Bruder und ich, wir sind uns nicht immer grün. Wir kamen als Kinder miteinander aus, aber nachdem das mit Mama passiert war, war alles aus. Wir vermöbelten uns jeden Tag, zerstörten uns gegenseitig Spielsachen und Freundschaften, spuckten uns ins Essen. Manchmal frage ich mich, ob es mir egal wäre, wenn er abkratzen würde, und die Antwort auf diese Frage ist die Liebe zu diesem Schal. Ich glaube, er hätte mir jeden Schal der Welt bringen können. Es konnte für mich nur noch einen Verein in meinem Leben geben. Und es war mir scheißegal, dass er gerade in die Regionalliga abgestiegen war und seine Schals an jeder Ecke verbrannt oder verscherbelt wurden.

Ich stieg eine Haltestelle zu früh aus, um den Umweg über den Ein­­kaufs­park zum Stadion zu machen. Alte Gewohnheit, um den Bullen aus dem Weg zu gehen. Als ich am Einkaufszentrum vorbei an den großen Parkplatz kam, sah ich, wie n Penner eine Bierflasche in die Unter­führung warf und dabei nur knapp zwei Kinder auf ihren Fahr­rädern verfehlte. Die Kinder, ein Mädchen und ein Junge, beide mit Sturzhelm, schauten groß, aber noch viel größer schaute der Penner, als ich ihm zur Strafe einen Arschtritt verpasste und gleichzeitig meine Faust auf sein linkes Ohr knallte, in der Hoffnung, kein Doktor der Welt wäre fähig, ihm das Trommelfell jemals wieder zu flicken. Wie hatte ich sie satt, diese besoffenen, hässlichen Scheißkerle, die Leute anstänkerten, Leute angriffen, überall ihren Dreck und ihren Gestank verbreiteten, dieses verdammte Gesindel, das sich dann wieder kleinlaut und mit Unschuldsmiene in die nächste Ecke kniete, um zu betteln. Ey, ich hab nix gegen Obdachlose, nichts gegen die, die nur saufen und grölen, aber ich hasse die aggressiven unter ihnen, die Stänkerer und Schläger. Vielleicht, weil sie ein bisschen sind wie wir. Nur wilder und schmutziger, nur unberechenbarer und verzweifelter.

Seitdem die Wachstube um die Ecke aus Spargründen geschlossen wurde, gibt’s hinter dem Einkaufszentrum Mord und Totschlag. Der private Wachdienst hat die Sache nicht im Griff. Sie können zwar die Autos auf dem Parkplatz und den Platz vor dem Eingang schützen, aber über die Plattform, die hinter dem Gebäudekomplex liegt, haben sie längst jegliche Kontrolle verloren.

Kein Wunder also, dass ich keine zwanzig Meter weiter auf eine Gruppe Halbstarker traf, die ungestört und hemmungslos auf nen Fettwanst in ihrem Alter einprügelten, als wäre er ein Sandsack, den es vom Haken zu schlagen galt. Der Dicke flehte um Gnade.

„HEY!“ brüllte ich, als ich mich mit einem Blick zurück vergewisserte, dass der Penner mir nicht folgte. „LASST IHN IN RUHE!“

„Geht dich n Scheiß an, Glatzkopf!“ maulte einer, den ich sofort als Anführer ausmachte, aber sein Protest klang halbherzig und nicht sehr überzeugend. Ich hatte schon gewonnen.

„Haut ab, sonst reiß ich euch die Schwänze aus und stopf sie euch in die Ohren!“

Sie ließen von dem Dicken ab. Der plumpste auf den Boden, Tränen kullerten über seine roten Backen. Ich bückte mich, half ihm auf die Beine. Provokant langsam schlenderte die Bande davon.

„Schwanzlutscher!“ hörte ich einen von ihnen noch sagen.

„Du musst dich wehren, Kleiner“, sagte ich zu dem Dicken. „Du musst dich wehren.“

„Sie sind so viele!“ schluchzte er.

Ich gab ihm eine Kopfnuss.

„Na und? Mike Tyson hätte sie platt gemacht.“

„Ich bin nicht Mike Tyson.“

„Dann werde einer, verdammt. Du musst stark sein, Kleiner, sonst bist du schwach. Wenn du schwach bist, bist du der letzte Arsch. Und der letzte Arsch beißt immer als Erstes ins Gras.“

Der Mops sah mich mit großen Augen an. Ich sah in ihm den Feigling, der ich einmal war. Der Klassentrottel, über den jeder lachte. Ich gab ihm noch ne Kopfnuss.

„Die Menschen sind böse. Die meisten jedenfalls. Ein Leben lang wollen sie dir nehmen, was dir lieb ist. Ein Leben lang wollen sie dir sagen, was du zu tun hast. Ein Leben lang hast du die Chance, sie zu vernichten.“

Er verstand mich nicht. Er sah mich nur mit großen Augen an. Ich ließ ihn stehen. Die Jungs warteten im Stadion.

Als ich kaum hundert Meter weiter war, sah ich, wie die Bande den Dicken jagte, und es blieb mir nichts anderes übrig als zurückzulaufen. Shit. Mit den Doc Martens nen Sprint hinzulegen, das ist ne verdammt unangenehme Sache. Ich kauf mir nämlich die Docs aus Prinzip zwei, drei Nummern größer, weil’s einfach geiler aussieht. Aber zum Laufen sind sie beschissen. Ich hatte das Gefühl, die Stiefel würden Löcher in den Asphalt rammen.

Die Feiglinge hatten den Mops wieder in der Mangel. Ich wusste nicht, wen ich mehr hassen sollte. Den Anführer, der wie wild auf den Dicken eindrosch, oder die grinsenden Mitläufer, die den Dicken fest­hielten. Als sie mich sahen, formierten sie sich. Hatze hat mir beigebracht, immer der Erste zu sein, der zuschlägt. Niemals der Zweite. Immer voll drauf und killen. Sonst bist du der, dessen Kiefer bricht.

Ich packte den Anführer und schleuderte ihn gegen eine Plakatwand. Sein Kopf prallte mit solcher Wucht gegen das Holz, dass ich dachte, der müsse zerbersten. Zwei der Mitläufer entkamen, den zwei anderen verpasste ich Ohrfeigen, dass ihnen das Blut nur so aus den Ohren rann. Dem einen, der mich benommen anstarrten, rammte ich als Draufgabe das Knie in den Bauch.

Es gibt sie überall. An jeder Ecke. Die Schläger. Und ihre feigen Hel­fer. In der Berufsschule waren es Erkan und seine Türkengang gewesen. Jeden Tag Prügel, jeden Tag Demütigungen. Sie steckten meinen Kopf in die Klomuschel, sie steckten mir gespitzte Bleistifte in den Arsch, sie bohrten in den Nasen und ließen mich ihren Rotz fressen. Einmal musste ich sogar den Urin eines dieser verfluchten Kanaken trinken. Wer das nicht selbst erlebt hat, der weiß nicht, wie das ist. Jeden Morgen aufzustehen mit der Angst und dem Ekel vor sich selbst. Jeden Abend ins Bett zu gehen, mit der Gewissheit, dass morgen dasselbe wieder geschieht. Das ist n Alptraum, aus dem man nie erwacht. Du wünschst diesen Kerlen den Tod, aber sterben tut der Abschaum nie von selbst. Dafür musst du schon selbst sorgen.

Ich schlug dem Anführer, der am Boden lag und sich den Kopf hielt, die Doc Martens in den Bauch, bis er Blut kotzte und um Gnade flehte.

„Hör auf, du Schwein!“ jammerte er. „Hör auf!“

„WICHSER!“ sagte ich und trat noch mal nach. „Kleiner, elender Wichser.“

Erst als n Bullenwagen mit Blaulicht an uns vorbeifuhr, ließ ich von ihm ab.

Wir standen schon damals auf nem Abstiegsrang, fünf, sechs Punkte hinter dem rettenden 14. Platz. Trotzdem ging es voll ab. Fast immer gab es Randale, kleine Scharmützel mit der Polizei oder gegnerischen Fangruppen. Und mit Hatzes Comeback würde alles noch viel geiler werden. Dachten wir. Aber Hatze hatte sich verändert. Nicht nur, weil er abgenommen hatte. Er wirkte älter, ruhiger, und er lachte auch nicht mehr so viel. Wir glaubten, das sei nur am Anfang so, aber es sollte nie mehr so wie früher werden. Ich wollte ihn umarmen, aber er erlaubte es nicht.

„Ey, was ist ’n los?“

„BIN ICH SCHWUL ODER WAS?!“

Als wir zufällig beide auf dem Klo waren, fragte ich ihn, ob die schlechte Laune daher komme, dass er im Knast noch mal ordentlich gefickt worden sei. Ich lachte dabei, er aber schlug mir die Faust in die Leber. Ich krümmte mich, denn wo Hatze hinschlug, da wuchs kein Gras mehr. 106 Kilo brachte der Arsch auf die Waage, und er legte jedes seiner Kilos in den Schlag. Er wollte davongehen, drehte sich aber noch mal um und sagte: „In nächster Zeit will ich keinen Ärger mit den Bullen.“

Ich zog eine Grimasse, bekam kaum mehr Luft. Mit der rechten Hand griff ich in eine Pisslache.

„Hast du verstanden?“ fragte er mich und packte mich mit seinen Bärenpratzen am Nacken und drückte meinen Kopf nach unten, bis Nase und Stirn die Pisse küssten.

„Bist du bescheuert oder was?“ stöhnte ich und hielt dagegen.

„Jetzt hör gut zu, du kleiner Scheißer. Ich geh nicht zurück in den Knast. Nicht, bevor ich mich an den Ultras gerächt habe. Am 1. Februar steigt die große Schlacht, da kriegen sie die Abreibung ihres Lebens. Bis dahin sparen wir unsere Kräfte.“

„Willst du mich verscheißern? Bis zum 1. Februar sind’s noch fünf Monate. Mich juckt’s heut schon in den Fäusten!“

Er ließ mich los, sah mich an, als wär ich das letzte Stück Scheiße, und ging hinaus. Ich wollte mich nicht gleich am ersten Tag mit ihm anlegen, schließlich war Hatze auch nach der langen Zeit immer noch der unumstrittene Boss der Truppe. Die Clique bedeutete ihm alles. Einmal küsste er mich im Suff auf den Mund und sagte: „Ich scheiß auf die Weiber, so lange ich dich hab, Rico. Dich und die Jungs. Ihr seid alles für mich. Ich bin nichts ohne euch. Und ihr seid nichts ohne mich.“

Ein betrunkener Fan half mir auf die Beine. Ich wusch mir die Hände und das Gesicht. Draußen lärmte die Nordtribüne, der Vorsänger peitschte die Masse gegen den Erzfeind, die Violetten, ein, obwohl die heute gar nicht unser Gegner waren.

„VERRECK! VERRECK! VIOLA-DRECK!“

Die Ultras der Violetten waren schuld, dass Hatze sitzen musste. Die Schweine haben ihn zu fünft aufm Marktplatz aufgemischt, ihn wirklich böse zugerichtet. War eigentlich schon vorbei, die Geschichte, aber als sie noch ne Runde auf ihn eintreten wollten, da hat er n Messer gezogen und zweien von denen die Bäuche aufgeschlitzt. Irgend­wie war’s Selbstverteidigung, irgendwie auch nicht. Vielleicht wär er freigesprochen worden, wären seine Haare länger und sein Vor­strafen­register kürzer gewesen und hätte er die Richterin nicht „Stinkfotze“ genannt.

Bevor die Spieler auftauchten, schickte man eine Gruppe 12-jähriger Cheerleader aufs Feld.

„AUSZIEHN! AUSZIEHN!“ krakeelten die Jungs und darauf die ganze Nord. Ich starrte die Mädchen nur an. Ausziehn, ausziehn.

Sie waren so schön. Und unverdorben. Diese weißen Kostüme. Ihre dünnen Beine. Ihr unschuldiges Lächeln. Die hatten doch nicht mal Haare auf der Muschi! Sie taten mir leid. Dieses Geschrei hatten sie nicht verdient. Ich klatschte Beifall, als könnte ich so die obszönen Rufe übertönen. Doogie und Hatze sahen mich erst groß an, dann stießen sie sich an und brüllten vor Lachen.

„Das nützt nichts“, sagte Hatze. „Die werden heut Nacht Rotz und Wasser heulen. Mama, Mama, die Leute im Stadion wollten uns nicht hüpfen, die wollten unsere Titten und Ärsche sehen!“

„Und was würdest du tun, wenn da unten deine Tochter stehen würde?“

„Runterlaufen und sie in den Arsch poppen, ist doch klar.“

„Du bist vielleicht n perverses Arschloch.“

Hatze drückte seine Zigarette auf meinem Schädel aus.

„Lieber n perverses Arschloch als n langweiliger Schlappschwanz!“ schrie Doogie in mein Ohr.

Darf ich vorstellen? Doogie, eigentlich Dominique, einundzwanzig, geboren in Ost-Berlin. Will dort auch sterben. Die Zeit bis dahin verbringt er bei uns.

Für Doogie zählt nur der Spaß: Saufen, Sex und Fußball. Doogie war schon mit vierzehn Skin. Sein Vater hat’s ihm verboten. Er hat trotz­dem weitergemacht. Haare rasiert, Docs und Bomberjacke getragen, Onkelz gehört und sich mit den „Rude Boyz“ um den Verstand gesoffen. Da hat ihn sein Alter ausm Haus geprügelt. Sein Alter war sowieso völlig durchgeknallt. Als Doogie noch ein Kind war, so hat er uns erzählt, da hätte ihn sein Vater jahrelang mitten in der Nacht geweckt und Laufen geschickt. Er hätte Fußballer werden sollen, hat vor ein paar Jahren sogar mal 23 Minuten in nem Cupspiel gegen Borussia Mönchengladbach auf dem Rasen gestanden. Ist trotzdem nur n Säufer geworden. Hat wohl Durst bekommen vom vielen Laufen.

„WANN HATTE DIESER MANN SEINEN SCHWANZ ZUM LETZ­TEN MAL IN NER MÖSE STECKEN?“ schrie er, als es für einen Augenblick ganz still war, aber keiner hörte ihm zu.

„Vor zwei Jahren, hab ich recht?“ sagte er, umarmte mich und gab mir nen feuchten Schmatz auf den Schädel.

„Ich will ne Prinzessin“, sagte ich, als sich die Bullen gerade nen Typen schnappten, der ein Bengalenfeuer auf nen Ordner geworfen hatte. „Keinen Fickfrosch.“

Wie ein Rudel hungriger Wölfe stürmten zwanzig, dreißig Fans auf die Polizisten zu, die darauf sofort Reißaus nahmen und ihre Beute aufgaben. Der ganze Block erhob wütend seine Stimme, und keiner wagte es, nicht mit in das Schlachtlied einzustimmen:

„WIR SINGEN HIER, WIR SINGEN DORT, WIR SINGEN RUDE BOYZ IMMERFORT, OB IN DER ZWEITEN, OB IN DER DRITTEN, WIR BLEIBEN IMMER AUF DER NORD, WIR SINGEN VORNE, WIR SINGEN HINTEN, DIE SCHEISS BULLEN SOLL’N VERSCHWINDEN, DENN IHR WERDET’S NICHT VERMUTEN, NUR WIR, WIR SIND DIE GUTEN!“

Doogie hatte immer noch seinen Arm um meine Schultern.

„Die Mädchen, in die du dich verliebst, verlieben sich niemals in dich. Schon mal aufgefallen?“ sagte er wie beiläufig zu mir.

„Kann sein.“

Das Spiel war wie alle Spiele zum Vergessen. Aber wir hatten trotzdem unseren Spaß. Sangen unsere Lieder, tranken unser Bier, feierten die elf Versager, auch nach einer 0:7-Klatsche wie heute. Es waren gute Zeiten.

002

Ich arbeitete bei der Post damals. Die suchten ständig Leute. Post war wie Fremdenlegion. Keiner fragte nach deinem Gestern, nach deinen Qualifikationen oder Motiven. Ein Handschlag genügte, und du warst an Bord.

„Briefträger zu sein, das bedeutet, jeden Tag zu versuchen, so schnell wie möglich fertig zu werden. Jede Minute Arbeit ist eine Minute weniger Freizeit“, bläuten mir die Kollegen ein. Aber ich kapierte schnell, dass man den Wettlauf nur für einen Tag gewinnen konnte, denn am nächsten Morgen ging alles wieder von vorne los. Du fühltest dich wie Sisyphos. Manchmal hatte ich das Gefühl, vor lauter Hetzerei meine Seele abgehängt zu haben. Alles war dann dumm und leer.

Meine Route war unter den Postlern berüchtigt und gefürchtet. Ein Mann alleine schaffte sie nur mit ner Menge Überstunden. Ursprünglich war das eine Route für drei Briefträger, aus Spargründen musste sie jetzt aber von einem einzigen bewältigt werden. Hinzu kam, dass da draußen gebaut wurde wie die Hölle. Über Nacht wurden Häuser aus dem Boden gestampft. Bezahlt wurden die freilich nicht, die Überstunden. I wo, keinen verfickten Cent gab’s dafür. Als ich mich beschwerte, da sagte mir so n Postfuzzi, dass ich selber schuld wär, wenn ich so lange unterwegs sei.

Ohne Scheiß, dieser Job war die allerletzte Kacke und verdammt mies bezahlt, aber ich hatte nen prima Boss, und das ist viel wert. Edde ist ein Mensch, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Edde war einsam, nachdem seine Mutter gestorben war, so einsam, dass er n bisschen wunderlich wurde und ständig mit sich selber sprach, aber das war nicht so schlimm. Schlimm war, dass Edde von allen verarscht wurde. Der war einfach zu gutmütig. Hat jedem geholfen, jedem vertraut, hat stets seine Geldbörse geöffnet, wenn wer um ein paar Kröten bat, aber das spielt sich auf dieser Welt nun mal nicht. Da tanzen sie dir bald aufm Kopf rum. Edde machte für alle den Trottel, aber das hab ich den Bastarden schnell ausgetrieben. Ari und ich haben uns seinen Nachbarn, der Eddes Hasen vergiftet hatte, und die Typen vom Stammtisch, die sich ständig von ihm die Zeche zahlen ließen, vorgeknüpft. Dafür durfte ich jeden Morgen beim Briefe sortieren die Onkelz hören. Volle Pulle. Böse Menschen, böse Lieder, Böhse Onkelz immer wieder!

Edde und ich, wir hatten viel zu lachen damals. Und wenn einer von uns beiden gestorben wär, hätte sich der andere mitbegraben lassen. Da hättest du deinen Arsch drauf wetten können. Wir beide, Edde und ich, wir waren ein Herz und eine Seele.

„Zu spät!“ rief Edde, als ich am Morgen nach dem 0:7 um zwanzig vor acht das Postamt betrat. „Er ist zu spät!“

„Nur nicht hetzen“, sagte ich. „Ich werf was von dem Werbemist weg und schon bin ich wieder im Rennen.“

„Aber erwischen lassen darf er sich nicht.“

„Ay, ay Captain.“

Edde spricht mit allen Leuten nur in der dritten Person. Er sagt nie „du“ oder „Sie“, er sagt immer nur „er“ oder „sie“. Das dauerte dann natürlich seine Zeit, bis die Kunden checkten, was und wen er da meinte. Ich sagte ja, n bisschen wunderlich ist der Knabe schon, aber das sind sie bei der Post alle.

„War er gestern im Stadion?“

„Ich bin immer im Stadion“, sagte ich knapp. Aber Edde legte nach.

„Und? Wie haben sie gespielt?“

Ich sah ihn an, den Edde, und er wich meinem Blick aus. Da war n klitzekleines Lächeln zu erkennen. Ein klitzekleines, schadenfrohes Edde-Lächeln.

„Baby, Baby“, sagte ich. „Du musst noch viel lernen. Beim Rückspiel ficken wir die Ossis, aber fix. Die ficken wir, wie sie zuletzt von Erich Honecker gefickt worden sind. Da holen wir die drei Punkte wieder. Lieber einmal 0:7 als siebenmal 0:1, das sagt dir jeder, der was von Fußball versteht, was man von dir ja nicht behaupten kann.“

Edde ist n Violetter, seit dreißig Jahren ehrenamtlicher Ordner bei diesem Scheißhaufen. Jedes zweite Wochenende ließ er sich von Asozialen mit Bier beschütten, ohne auch nur ein einziges Mal nen Cent dafür zu bekommen. Nur zum Jubiläum, da haben sie ihm nen Schal geschenkt. „30 JAHRE TREUE“ stand auf der einen Seite. „EDDE, WIR DANKEN DIER!“ auf der anderen Seite. („DIER“ mit „IE“, was wieder mal dem IQ der Violetten entsprach.) Für Edde ist der Schal genauso heilig wie der Schal meines Bruders für mich. Hatze hätte nicht wissen dürfen, dass ich mit nem Violetten zusammenarbeite. In solchen Dingen kennt Hatze keinen Spaß.

Eigentlich hätte ich ja nur fünf Wochen als Urlaubsvertretung dort arbeiten sollen. Aber der reguläre Mann war zwei Junkies im Weg, als sie ne Tankstelle überfallen wollten, und da haben sie ihm eins mit dem Geißfuß übergezogen. Jetzt ist das arme Schwein arbeitsunfähig, für den Rest seines Lebens. Ein Krüppel wegen 278 Euros und 48 Cents. Edde konnte seinen Vorgesetzten überzeugen, dass er keinen besseren Ersatz als mich kriegen könnte.

„Die beste Aushilfe, die ich je hatte.“

„Sieht aus wie n Nazi.“

„Absolut topp, der Mann.“

„Sieht aus wie n Schläger.“

„Der ist in Ordnung.“

„Nein, kommt nicht in Frage. Wir nehmen doch nicht jeden!“

Ich bin im Hinterzimmer gestanden, wo ich jeden Tag die Post sortierte und in die verschiedenen Fächer warf, und hab mitgehört. Nach fünf Minuten war alles in Butter. Ich durfte bleiben. Weil sie eben doch jeden nahmen. Die hätten gar niemand anderen gefunden. Nur Rico Steinmann war so blöd, für die deutsche Post den Affen zu machen.

Wie gesagt, die Route war knallhart, und das, obwohl die Gegend alles andere als abgefuckt war, im Gegenteil – ich hatte den nobelsten Bezirk der ganzen Stadt. Dort gibt es alles, was du in Kasachstan nie finden wirst. Schöne Häuser, Alleen mit uralten Bäumen, höfliche Menschen und prächtige Gartenanlagen. Hier wohnen die, die „Bauen statt Stauen“ propagieren. Die meisten leisten sich einen privaten Sicherheitsdienst, um vor Einbrechern und Hausierern sicher zu sein. Durchzugsstraße gibt es keine. Die Stille ist richtig unheimlich. Da kannst du ne Eidechse furzen hören. Ganz komisch wurde einem da. Wenn man ständig von Lärm zugedröhnt wird, dann glaubt man, die Welt stehe still, wenn’s mal so leise ist.

Dort draußen ist der Fluss noch unschuldig, nicht der riesige Ab­wasserkanal, der in der Nacht gelb schimmert, weil sich die Straßen­beleuchtung darin widerspiegelt. Bei uns in Kasachstan ist das Ufer total verdreckt, ein Schlachtfeld voller Scherben, Dosen, McDonald’s-Verpackungen, Spritzen und gebrauchten Kondomen.

Das schönste Haus stand in der Gutenbergstraße. Es war ganz anders als der Rest der Häuser hier. Uralt und alles verwildert und zugewuchert. An der Wand hing n Traubenstock, Efeu und so Zeug. Fenster und Türen konnte man kaum mehr erkennen. Vorm Haus war so n kleiner, dreckiger Teich, Rasen gab es keinen, das Gras wuchs bis zum Himmel. Da musstest du mit der Sense deinen Weg bahnen.

Ich hätte dem Teufel meine Seele verkauft, um dort zu leben. Nicht, dass ich scharf auf so ne Bonzenvilla oder ewige Friedhofsruhe gewesen wär, aber dort draußen gab es keine Hackfressen, keine Zuhälter, keine Kanaken, keine Obdachlosen. In Kasachstan wirst du ständig angepöbelt. Auf der Straße, im Supermarkt, in den Lokalen, selbst die Oma im Rollstuhl nebenan schimpft dich nen alten Hurensohn. Alle wollen es wissen. In Kasachstan wollen’s alle wissen.

Jeden Tag so um halb zwei kam ich an das Haus, in dem sich nie was rührte. Wenn ich – was selten vorkam – mal Zeit hatte, machte ich hier meine Pause. Kletterte auf den Balkon, legte mich in nen Liegestuhl, ließ mir von allen möglichen Vögeln auf den Kopf scheißen und mampfte mein Jausenbrot. Naja, und an dem Tag nach dem 7:0, da bin ich einfach dort eingepennt, und als ich aufwachte, wollte ich nur so schnell wie möglich zurück zum Auto, aber wie ich den Liegestuhl zusammenklappte, dachte ich mir, warum nicht wieder mal in so ne Villa einsteigen? Haben wir doch vor Hatzes Knastzeit so oft getan. Das Leben ist ein Spiel, du kannst gewinnen und verliern, willst du nur im Schatten stehn und nie etwas riskiern?

Ich also da rein, das kribbelte so richtig in meinen Beinen, genau so, wie wenn man an nem steilen Abhang steht und in die Tiefe schaut. Und frag jetzt bloß nicht, wie man so was anstellt, einfach so in ein Haus einzusteigen, denn der Kavalier genießt und der Kavalier schweigt.

Ich hab mir nie groß den Kopf zerbrochen, wenn ich was tu, was andere niemals tun würden. Ey, ich denk nicht lang drüber nach. Ich bin n Bauchmensch. Ich lebe Volldampf, immer volle Kraft voraus. Und nie ohne ein paar Promille. Aber selbst wenn ich einmal nüchtern bin, scheint mir das Leben irgendwie unwirklich zu sein. Als würde sich irgendein durchgeknallter Typ voll bekifft und stockbesoffen ne Geschichte ausdenken und ich wär die Hauptfigur darin.

Wie sagt Tyler Durden in „Fight Club“? Lass die Dinge einfach laufen.

Klar frag ich mich manchmal, wer ich eigentlich bin und was ich da tu, aber kaum ist die Frage in meinem Kopf formuliert, ist auch schon die Zeit weg, über ne Antwort nachzudenken. Skinhead bin ich, und sonst bin ich nichts. Ein Krieger, so hämmern es mir meine Bands immer wieder in den Schädel, hat vor nichts Angst. Vor gar nichts. Ich fürchte keinerlei Konsequenzen. Ich habe nichts zu verlieren. Ich bin n Kerl, der sich mindestens fünfzig Mal „Fight Club“ und „Taxi Driver“ reingezogen hat. Tyler Durden und Travis Bickle waren meine Helden.

Nein. Tyler Durden und Travis Bickle warenmeine Götter.

Lass die Dinge einfach laufen.

Ich inspizierte das Zimmer. Es war gemütlich eingerichtet, wie das nur Mädchen hinkriegen. Alles ordentlich aufgeräumt und geputzt. Auf dem Bett lag ne Kette, n echt feines Stück, die steckte ich ein, für Klara, die stand auf so Klunker. Auf dem Schreibtisch stapelten sich jede Menge langweiliger Bücher, so Zeug, dass man in der Schule oder auf der Uni liest, und in dem großen Wandschrank fand ich jede Menge Slips und BHs. Scheiße, und wie ich grad so an der Wäsche rumschnüffelte, stand da plötzlich dieser Köter vor mir und glotzte mich an. Das war n ganz junger Hund, n hässlicher Hund. Pechschwarz, mit struppigem Fell und wedelndem Schwanz. Ich war mir sicher, dass der gleich zu kläffen anfangen würde. Oder mich ins Bein beißen. Aber er tat nichts. Der glotzte bloß und hechelte wie blöd. Ich hab ganz vorsichtig den Rückwärtsgang eingelegt und bin da raus, mit nem schwarzen Slip in der Hand.

Verdammt, war ich froh, als ich in Sicherheit war und die Schiebetür zuziehen konnte. Aber da traf mich auch schon der nächste Schock: Ich stand vor meinem eigenen Spiegelbild. Ich erschrak wegen der Glatze, der Bomberjacke, der hochgestülpten Jeans, den Doc Martens und dem bösen Blick. Ich bekam Herzklopfen, weil es so ein verdammt geiles Gefühl war, ein Krieger zu sein. Und auf dem T-Shirt unter der Bomberjacke, da stand nicht nur Skinhead-Power, unter der Bomberjacke, da steckte sie auch. Tief in dir, diese Wucht, diese Kraft, dieser Stolz. Das packt dich einmal. Und dann ist es für immer. Niemand kann das begreifen. Niemand. Der nicht selbst einmal bewundernd seinem Spiegelbild gegenüber gestanden hat. Ich hab, ich hab mein Herz verlor’n, es ist, es ist, als wär ich neu gebor’n. Ich bin jetzt Skinhead, ein jeder soll es sehn, ich bin ein Krieger, ihr könnt das nicht verstehn ...

Ich ging auf die Knie, um Aug in Aug mit dem Köter zu sein. Ich zog Grimassen, bis er anfing zu kläffen. Ich knüpfte meine Jeans auf und präsentierte ihm mein bloßes Hinterteil. Der staunte, und das nicht schlecht.

„Bye, bye“, sagte ich und winkte ihm zu. „Auf Nimmer-, nimmerwiedersehn.“

Wenn ich gewusst hätte, wie oft ich Peluches wiedersehen sollte. Und wenn er gewusst hätte, dass ich ihm eines Tages mit ner Eisenstange den Schädel einschlagen würde. Wir wären beide laut schreiend davon gerannt. Er bestimmt ein bisschen schneller als ich.

003

Am folgenden Wochenende fuhr ich nach Lindau zu meinen Eltern. Niemand setzte sich zu mir ins Abteil. Nicht mal der Schaffner wagte es, meine Karte zu kontrollieren, dabei hatte ich das Messer nur rausgeholt, um mir die Fingernägel zu polieren.

Irgendein Typ schmiss sich kurz vor Friedrichshafen vor den Zug und wir steckten vier Stunden in einem Waldstück fest. Scheiße, ich war so dumm, die Notblockade aufzuheben und auszusteigen, und da sah ich dann ein abgetrenntes Bein und noch so anderes blutiges Zeug. Ich bin ja sonst n echt harter Hund, aber so was lässt einen nicht kalt. Kein Wunder, dass Soldaten völlig bekloppt ausm Krieg kommen. Ich beruhigte meine Nerven mit zwei Flaschen Wodka, was dazu führte, dass ich mich auf dem Weg vom Bahnhof zum Haus meiner Eltern verirrte. Ich torkelte durch die Gassen, versuchte Hausnummern zu lesen, fragte Passanten, aber ich war so randvoll, dass ich nach ein paar Sekunden schon wieder vergessen hatte, welche Richtung ich nun einschlagen musste. Ich ging zu einem Taxistand, aber kein Fahrer wollte mich in sein Auto lassen. Vielleicht auch, weil ich meine Klappe nicht halten konnte und ständig „SKINHEAD-POWER! SKINHEAD-POWER! OI! OI! OI!“ grölte und viel Spaß dabei hatte, mit meinen Stiefeln die Mercedessterne von den Kühlerhauben zu kicken. Die Taxifahrer wollten mich vermöbeln, aber ich war selbst im Vollrausch und mit den Monster-Docs schneller als diese Horde Fettärsche mit ihren Schnauzbärten und CSU-Parteibüchern.

Von der Brücke am Bahnhof pinkelte ich runter auf die Idioten und da jaulten und tobten sie, ich aber schwenkte meinen Schwanz vor Freude.

„GRATISSEKT FÜR ALLE!“ johlte ich und stolperte weiter.

Kurze Zeit später fuhr ein Bullenauto langsam an mir vorbei, aber ich riss mich zusammen. Der Mittelfinger blieb in der Faust, die Zunge im Maul, der Arsch in der Hose. Ich hab eigentlich überhaupt nix gegen Bullen, aber die haben was gegen mich. Wär ich n Bulle, würd ich die Glatzen vielleicht auch aufm Kieker haben, weil man ja immer wieder mal hört, dass irgendwo Skins nen Bullen halbtot geschlagen haben. Trotzdem. Sie haben kein Recht, uns alle in einen Topf zu werfen.

Im Hafen legte ich mich auf ein schickes Motorboot, trank n bisschen von dem Champagner im Kühlschrank und schlief ein, aber die Bullen weckten mich und schickten mich nach Hause.

„Ja, verdammt, wenn ich nur wüSSte, wo das ist!“

„Abmarsch, Glatzkopf! Aber dalli!“

Ich marschierte weiter, wankte zum nächsten Haus, drückte die Klingel und hämmerte mit meinen Fäusten gegen eine Tür. Die Frau, die öffnete, war hübsch, aber recht unfreundlich. Ich erkundigte mich nach der Fischergasse 23a.

„Willst du mich verarschen?“

„Tschuldigung, aber ...“ Ich spuckte auf den Boden, der Geschmack in meinem Mund war unerträglich. Ein Teil der Spucke landete auf der Hose der Frau. Ich wollte mit meiner Hand die Sauerei aufputzen, aber die Frau wich zurück.

„Komm rein!“ sagte sie.

Ey, ich geb’s zu, ich steh auf ältere Ladys. Schon als Kind bin ich lieber unter Tante Christianes Rock gekrochen, als dass ich mit meinen Cousins meine Cousinen beim Pinkeln beobachtet hätte. Trotzdem winkte ich ab.

„Nein, nein, ich muss ... ich muss zu meinen Eltern, wenn es zu spät ist, schlafen sie, und ich will sie auf keinen Fall wecken ... also, wirklich, auf keinen Fall. Ich mach denen schon genug Ärger, ich mein …“

Ich stellte meine Sporttasche auf den Boden. Ich hörte Glas zerbrechen.

„Rico“, sagte die Frau. „Ich bin deine Mutter.“

Ich rotzte wieder auf den Boden. Dieses Mal bekam meine Bomberjacke was ab. Ungeschickt wischte ich die Spucke weg.

„Oh ... oh nein. Meine Mutter ... ich würde doch meine eigene Mutter erkennen.“

„Komm rein.“

Sie packte mich am Arm, nahm die Tasche, aus der Wodka tropfte, und führte mich in das Wohnzimmer. Ich umarmte die Braut, die wollt’s ja wirklich wissen. Ich grapschte nach ihrem Hintern, kassierte dafür aber nur ne kräftige Ohrfeige. Sie zeigte auf ein Photo auf dem Bücher­regal über dem Fernseher. Auf dem Photo war ich. Ich mit der Frau.

„Leg dich auf die Couch, Rico. Papa ist noch bei der Probe.“

Ihr Blick war so traurig, Scheiße, das ging mir richtig ans Herz. Ich stand da, völlig zugedröhnt, mit dieser Frau, und machte mir in die Hosen. Ich spürte, wie die Pisse in den Stoff drang. Ich zog mir die Bom­ber­jacke und den Lonsdalepulli aus. Ich ließ mich auf die Couch fallen. Die Frau schnürte mir die Schuhe auf und zog sie mir ab. Die Frau deckte mich mit einer Decke zu und brachte mir ein großes, weiches Kissen.

Mama und Papa waren die Fixsterne meiner Kindheit. Ihre Liebe über­­strahlte alles. Fixsterne sind wichtig, Fixsterne geben Sinn und Orien­tierung. Umso unheimlicher, wenn sie erlöschen. Ich hatte Angst vor den Nächten. Angst vor den Träumen.

Wenn ich träumte, dass Mama und Papa starben, war das schlimm. Wenn ich jedoch träumte, dass Mama und Papa böse waren, verlor mein Leben jeden Sinn. Ich erinnere mich noch gut, wie ich sie belauschte, in einem dieser Alpträume.

„Wir müssen Rico in der Leiblach ertränken, wenn er schläft.“

„Ja, ich denke, das wird das Beste sein.“

„Wir können ihn nicht mehr gebrauchen.“

„Nein, das können wir nicht.“

Ich bin nicht davongerannt, weggeflogen oder aufgewacht wie üblich, wenn Gefahr drohte. Nein, ich öffnete die Tür und trat aus dem Gang in das Wohnzimmer, wo meine Eltern am Tisch saßen und ihre Pläne ausheckten. Ich wollte nicht sterben, aber wie hätte ich weiterleben können, wenn diese eine Sicherheit, diese alles überragende Gewissheit eine Lüge war?

In meinem Leben haben sich alle Gewissheiten nach und nach als Ungewissheiten oder Lügen erwiesen. Nichts ist fix, nichts ist klar, alles unsicher, nichts zu greifen, nichts zu verstehn. Alles ist ein Rätsel, ein Geheimnis. Nur meine Eltern sind immer das geblieben, was sie waren. Die einzige Hoffnung. Die einzige Liebe. Der einzige Halt.

Nachdem Mama ins Bett gegangen war, betrachtete ich die Kette, die um meinen Hals baumelte. Die Kette, die ich geklaut hatte, die Kette, die ich Klara schenken wollte. Eigentlich war sie nicht schön, sie war alt und schwer, und trotzdem hatte ich ein schlechtes Gewissen. Ich dachte an den Fußballschal, den mir mein Bruder geschenkt hatte, und dass ich eher sterben würde, als ihn herzugeben. Vielleicht fühlte jemand genauso für die Kette. Der Gedanke an ein trauriges Mädchen in dieser traurigen Nacht ließ mich nicht einschlafen. Ich war völlig übermüdet, völlig k. o., aber erst als ich mich entschloss, die Kette zurückzubringen, konnte ich endlich mützen.

004

Das erste Mal rasiert hab ich mich vor knapp sechs Jahren. Es war Dezember damals und kalt, und ich wollte mich umbringen, weil mich so ein Mädchen verlassen hatte. Weil die mich dauernd verließen, die Mädchen. Ich sperrte mich in meinem Zimmer ein und schnitt mir mit einer Schere die Haare vom Kopf, schnipp-schnapp, bis nur mehr so Stoppeln standen. Die waren viel dunkler als meine eigentliche Haarfarbe, sie waren beinahe schwarz, sie waren gefährlich. Ich starrte in den Spiegel und konnte es kaum glauben. Mein Gesicht war so hart, so fremd, so anders. Mann, ich sah zum Fürchten aus. Petrus würde Augen machen, wenn ich an die Himmelspforte klopfte. Petrus würde mich zur Hölle schicken.

So ne Glatze, das war damals schon nichts Besonderes mehr. Nicht wie früher in den Achtzigern oder frühen Neunzigern, als die Leute zusammengefahren sind, wenn sie nen Glatzkopf auf der Straße sahen. Nein, vor sechs Jahren war das längst Mode. Und doch. Mit den Doc Martens und der Bomberjacke war’s immer noch das Schärfste, was es gab. Skinhead war die radikalste Kriegserklärung an die Welt. An die ganze Welt. Niemand konnte uns ausstehen. Nicht einmal die alten Nazis mochten uns. Die freuten sich zwar über jeden Asylanten, der brannte, aber wenn wir mal zufällig ihre Kinder oder Enkel aufmischten, hörte der Spaß für sie auf.

Ich hab mir die Haare rasiert und die ganze Zeit über dasselbe Lied gehört. Über den Wolken fühl’ ich mich zu Haus, ich such mir hier oben die schönsten Plätze aus, ich weiß, es ist gemein, doch die Welt ist viel zu klein, also lasst euch bombardier’n, bombardier’n, ich bin Bomberpilot, ich bringe euch den Tod, Bomberpilot! Bomberpilot!

Ich wollte immer schon ein Skinhead sein. Ein Bomberpilot, ein Fascho, ein Krieger. Ich wollte nie so sein wie ich war. Skins waren so stolz und so stark. Ich habe sie bewundert und gehasst zugleich. Ich hatte nicht den Mut gehabt, einer zu werden, weil ich wusste, wie die Welt darauf reagieren würde. Aber jetzt gab es keine Welt mehr. Es gab nur noch mich. Ich war fertig mit den anderen, fertig mit Cleo, die mir den Laufpass gegeben hatte, fertig mit allem, ich konnte nicht mehr, ich wollte nicht mehr. Verwüsten und zerstören ist alles, was ich kann, und seh’ ich was, was mir gefällt, fang ich zu bomben an.

Mit der Glatze sah ich so verdammt geil aus, dass ich keinen Bock mehr hatte, mich umzubringen.

Gleich am nächsten Tag, einem 24. Dezember ganz ohne Schnee wie in all den Jahren zuvor und danach, bin ich in den Amishop am See und habe mir Doc Martens und eine blaue Bomberjacke gekauft. Eine Woche später eine Severin-Haarschneidemaschine. In meine Brust ritzte ich mir mit meinem Messer „SKINHEAD“. Mama hat geweint. Mama hat wirklich geweint. Saß da am Kachelofen mit den grünen Kacheln und war nur mehr ein Häufchen Elend. Es ist ein Scheißgefühl, Mama weinen zu sehen und zu wissen, sie tut es wegen dir.

„Wie kann man sich nur so verschandeln?!“

„War bloß ne Wette.“

„Du lässt sie dir wieder wachsen.“

Du lässt sie dir wieder wachsen. Das war weder Frage noch Auf­for­derung, es war ihre Hoffnung, die sich nicht erfüllen sollte. Arme Mama. Sie tat mir so leid. Obwohl ich sie nicht verstehen konnte, fühlte ich mich schuldig. Sie dachte, sie hätte mich verloren. Sie dachte, ich wäre jetzt ein Nazi, und sah mich schon hinter Gittern. Mir kamen Zweifel, aber die waren wie weggeblasen, als ich den festlich geschmückten Christ­baum im Wohnzimmer stehen sah und keine Cleo darunter lag. Da wusste ich, dass ich es tun musste, und dass Mama noch tausendmal mehr geweint hätte, wenn sie mich gefunden hätte, in meinem Zimmer, tot.

Irgendwann nach Mitternacht wachte ich auf, und Papa saß neben mir auf der Couch. George Bush sah mich aus der Glotze so traurig und mitleiderregend an, dass ich ihm am liebsten alle Sünden vergeben hätte.

„DIESES VERDAMMTE YANKEESCHWEIN! DIESER LÜGNER! DIESER VERBRECHER!“ Papa war mit einem Satz auf dem Sofa, schimp­f­te und fluchte und fuchtelte so heftig mit der Weinflasche in der Luft herum, dass er damit die Lampe abschoss. Eine Nudel hing in seinem Bart, wahrscheinlich noch von einem Mittagessen vor drei Wochen.

„Hai“, presste ich heiser hervor, und er sah auf mich runter. Er musterte mich. „Warum schläfst du denn nicht in deinem Bett, Jens?“

Er hielt mich für meinen Bruder, der sich immer verkrümelte, wenn ich zu Hause auftauchte, weil er wusste, dass wir uns spätestens nach zehn Minuten die Fresse polieren würden. George Bush sprach von der großartigsten Nation unter Gottes Sonne. Ich applaudierte, denn ich war mir sicher, er meinte die Rude Boyz.

„Das war doch alles wie in einem schlechten Film, Filius. Das war doch alles Slapstick pur! Die ganze Vorgeschichte zu dem Krieg, die Lügen und Peinlichkeiten, der Krieg selber mit diesem irakischen Informationsminister, die Zeit danach, die alle Befürchtungen bestätigte, die Großaufträge für Dick Cheneys Ex-Firma, die Misshandlungen der Kriegsgefangenen, das war alles nur ein schlechter Witz, jemand soll endlich sagen, dass es nur Show war, nur n Gag, n bisschen Ablenkung für uns arme Malocher. Sie sollen endlich sagen, dass alles gar nicht wahr war. Jens, sag mir, daSS DAS ALLES NICHT WAHR IST!“

„Ich bin nicht Jens.“

„Das kann jeder sagen, Filius“, sagte er, während er einen Rülpser ausstieß, der einem Urschrei glich und die Luft mit Knoblauchduft würzte.

Papa hatte einen sitzen. Papa hatte jeden Abend einen sitzen. Er war nie richtig betrunken, aber immer ein bisschen in der Welle, immer ein bisschen high.

„Hast du uns eigentlich überhaupt jemals unterscheiden können?“

„Natürlich. Du warst der, dem man nie was in die Hände geben durfte. Auf der ganzen Welt gab es keinen größeren Tollpatsch als dich!“

Papa lachte, und wenn Papa lachte, dann vibrierte sein ganzer Körper und sein Kopf lief feuerrot an. Er hüpfte mit seinen kurzen Beinen auf dem Sofa wie ein kleines Kind, bis Hessens Ministerpräsident auf dem Bildschirm erschien.

„Arschloch“, sagte er und setzte sich wieder. Er zündete sich eine Zigarette und blies mir den Rauch ins Gesicht.

„Die Politiker sind Marionetten“, sagte er. „Die Großkonzerne, die Unter­weltbosse, die haben doch das Sagen. Und außerdem: von wem wird die Regierung gewählt? Schau sie dir an, diese stumpfsinnigen Men­schen, Weltmeister im Autofahren, Fernsehschauen und Einkaufen. Die wählen die Regierung! Die Politiker versuchen, weder Kapital noch Masse zu verprellen, um sich so lange wie möglich oben zu halten. Auf der Strecke bleibt der Rest. Auf der Strecke bleiben wir. So Typen wie du und ich.“ Er stand auf und ging hinaus, die Tür fiel ihm aus der Hand, die Wucht hob sie beinahe aus den Angeln.

Wenn man die Grünen nicht erfunden hätte, wäre Papa bei der RAF gelandet. Papa ist ein wütender Mann, wenn es um Politik geht, genau wie Opa. Opa hat im Krieg ein Auge und den Glauben an alles und jeden verloren. Wir haben keinen Kontakt mehr zu ihm. Er hat gesagt, wenn wir noch einmal vor seiner Tür aufkreuzen, schieße er jedem von uns die Augen aus dem Schädel.

Ich hörte Papa in der Abstellkammer lärmen und stolpern, und als er zurückkam, ließ ich n Furz vor Schreck, denn er hatte statt ner Wein­­­­­­fla­sche ne gottverdammte Pistole in der Hand. Er zielte auf den Fern­­seher und drückte ab. Der Knall ließ mich zusammenfahren. Der Fern­­seher lief weiter, aber einer der Bierkrüge auf dem Regal darüber zer­s­plitterte in tausend Stücke.

„Wow!“

Er reichte mir die Pistole.

„Schenk ich dir“, sagte er, setzte sich zurück auf die Couch, griff nach der Weinflasche und trank daraus.

„Das ist ne Beretta. Die hat die Polizei Opa abgenommen, als er mit ihr auf dem Balkon rumgesprungen ist“, sagte er, als er sah, wie ich das Ding bestaunte. „Munition ist noch jede Menge im Abstellraum, in der untersten Schublade des alten Kastens. Los, knall den Penner da im Fernsehen ab!“

Ey, ich hatte noch nie in meinem Leben eine Schusswaffe in der Hand. Sie war viel schwerer, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich streichelte sie ehrfürchtig und küsste sie, die kleine Braut. Jetzt gehörte sie mir.

„KNALL DEN PENNER AB!“