Noatun - William Heinesen - E-Book

Noatun E-Book

William Heinesen

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Beschreibung

William Heinesen (1900–1991) umfasst mit seinem Leben fast das ganze färöische 20. Jahrhundert. Er schrieb über die raue Inselgruppe im Nordatlantik, mythengetränkt, aber von der unmittelbaren Lebenswirklichkeit. »Noatun«, 1938 veröffentlicht, ist färöisch durch und durch: Fischfang, Ackerbau und Schafzucht bestimmen die Tage – Regen, Schnee, Steinschläge und Wellengang prägen wie der Rhythmus der Jahreszeiten den Lauf der Dinge. Eine zusammengewürfelte Gruppe von eigensinnigen Menschen, denen im ärmlichen Kleinstadtleben und den dortigen besseren Kreisen keine Zukunft beschieden ist, beschließt, sich in einem verrufenen Tal niederzulassen und die Siedlung »Noatun« zu gründen. Ein Schiffsunglück hat die Bucht mit einem Schatten belegt, doch die Siedler lassen sich davon nicht abschrecken. Ihr Drang nach einem freien, wenn auch harten, einem selbstbestimmten, wenn auch unsicheren Leben ist stärker als alle Rückschläge und die Sorge vor dem Scheitern. Den Kampf mit den Elementen und den gesellschaftlichen wie politischen Widerständen schildert William Heinesen mit herber Schönheit und wortkarger Tiefgründigkeit. Die Sprache ist ganz nah an der mythischen Natur und an den Menschen, von der Geburt über das Leben und Überleben bis zum Tod. Durch Inga Meinckes und Verena Stössingers hellhörige Übersetzung braust der Wind, schmirgelt, schnarcht und brodelt die Brandung. Hoffnung, Solidarität und Hartnäckigkeit drücken dem Roman ihren Stempel auf und führen die Bewohner Noatuns aus der archaischen Vergangenheit in eine verheißungsvolle Zukunft.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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William Heinesen

Noatun

William Heinesen

NOATUN

Aus dem Dänischen von Inga Meincke und Verena Stössinger

Mit Nachworten von Klaus Müller-Wille und Sólrún Michelsen

I

Die Fallwinde konnten mit einem wilden, unbändigen Wiehern die Bergpässe herabkommen. Manchmal klang es, als streiften Herden ausgelassener Pferde wiehernd durchs Tal. Unten vom Strand her drang zuweilen ein anderer merkwürdiger Laut, besonders bei Hochwasser, wenn das Wetter völlig still war. Ein tiefes, träges Schnarchen, wie von einem schlummernden oder dösenden Riesentier. Anfangs war es unheimlich anzuhören, das Schnarchen erschreckte vor allem die Frauen und Kinder, die noch neu am Ort waren. Sogar der alte Angelund, der schon den ganzen Sommer über im Tal gearbeitet hatte, vermochte sich nicht recht an das Spektakel zu gewöhnen, dabei hatte er selbst mehrere Male unten am Strand beobachtet, dass es nur die von einer Spalte zusammengepresste Luft am Ufer war.

Überhaupt war das Dødmandsdal – oder Noatun, wie der neue Ort ja nun heißen sollte – zur Nachtzeit unerschöpflich an merkwürdigen Geräuschen, zumal bei ruhigem Wetter. Im Talgrund strömte der Fluss mit seinen vielerlei Stimmen. Und bei südlichem Wind, wenn das Tal und die kleine Bucht im Lee der hohen Felsen lagen, gab es hoch droben gern ein sonderbares Lärmen, es klang wie das ferne Flattern eines riesigen Segels oder als züngelte dort großmächtig ein gewaltiges Feuer.

In dieser Nacht ist das Geräusch wieder da, lauschend liegt Angelund im Bett. Es ist wohl der Südwind, der sich in der großen Gebirgsspalte im Urefjeld vergnügt, warum auch nicht. Soll er nur. Der Mond scheint, schräg über den Fußboden der kleinen Kammer zeichnet das Fenster sein Kreuz. Es geht auf fünf. Angelund fühlt sich ausgeschlafen, vielleicht sollte er aufstehen und sich etwas Nützliches vornehmen. Plötzlich ist da aber ein Gefauche, fern zwar, aber fest, malmend … Es kommt nicht vom Strand, es kommt von den Bergen. Weder Wasser noch Wind bewirken so ein Geräusch, das ist Angelund schnell klar – es ist herabstürzendes Gestein. Ein Felssturz! Er springt aus dem Bett, horcht mit offenem Mund. Schweiß steht ihm auf der Stirn. Auf einmal verstummt das Geräusch, es ist totenstill, dann wieder Stein auf Stein, ein paar dumpfe Huster, darauf das kurze Krachen von zersplitterndem Holzwerk. Hohl und unheilvoll hallt das Echo durchs Tal.

»Was ist passiert?« Angelunds Tochter Sunneva steht in der Tür, der Mondschein fällt auf ihr Gesicht.

»Still«, mahnt Angelund.

Nun sind auch die beiden anderen Frauen auf den Beinen, Tilda und Sara; die kleinen Kinder beginnen zu weinen.

»Ein Felssturz!« Tilda erscheint im Mondlicht. Schwere schwarze Locken bauschen sich auf ihren Schultern. »Ja, sicher war es ein Felssturz«, meint Sunneva unruhig, »und er hat eines der Häuser beschädigt, das war deutlich zu hören!«

»Ja, es war ein Felssturz«, flüstert Angelund, »das schon, ja … Aber doch nur ein sehr kleiner …!«

Da klopft es heftig an der Tür: »Ich bin’s! Lass mich herein, Angelund!« Angelund geht zur Tür und öffnet, und herein tritt Ole Ørnberg mit seiner Frau, halb angezogen und mit klappernden Zähnen.

»Wir gehen fort von hier, jetzt gleich!«, jammert die Frau. »Kommt, wir müssen alle fort, bevor der ganze Berg herabstürzt.«

Ole hustet und sagt kurzatmig: »Ja, das ist wohl das einzig Vernünftige, hier scheint es ja lebensgefährlich zu sein, nicht wahr, Angelund … Es heißt ja wohl nicht umsonst Dødmandsdal … ja, oder was meinen Sie?«

Angelund nestelt an seinem Bart: »Nun ja, gewiss. Aber eigentlich – ein richtiger Bergrutsch war es ja nun nicht, es hat sich in Gottes Namen nur etwas Geröll gelöst. Wir sollten lieber nachsehen, ob etwas beschädigt ist. Ein Glück jedenfalls, dass es eines der leeren Häuser getroffen hat.«

Ole Ørnberg kämpft gegen seine klappernden Zähne an. »Nein, wir müssen zusehen, dass wir hier wegkommen, je eher, desto besser!«, schüttelt er den Kopf.

Angelund zieht sich hastig an. Ebenso machen es die Frauen und älteren Kinder. »Sicher ist es unser Haus«, bemerkt Sara still, »es steht ja am weitesten oben.«

Sara hat Recht, wie sich zeigt, das Haus von ihr und Halvdan ist beschädigt. Ein Felsbrocken hat im unteren Teil der Giebelwand mehrere Bretter zerschlagen. Die Frauen zittern leise vor Kälte und Entsetzen beim Anblick der Zerstörung. Auf dem Fußboden der Küchenstube leuchten Holzsplitter im Mondlicht. Es riecht staubig und kräftig nach Holz.

»Wenn Halvdan und ich … Wenn wir hier gewohnt hätten«, flüstert Sara, »dann wären wir beide jetzt sicherlich tot, weil unser Bett … unser Bett …!« Sie birgt das Gesicht in den Händen und schluchzt leise. Angelund nickt wortlos. Es stimmt ja – das Kopfende des Alkovens, den Halvdan als Bettnische eingerichtet hat, ist teilweise zertrümmert. Ein hässlicher Anblick. Sunneva legt den Arm um Saras Schulter und drückt sie tröstend an sich. »Bedenk lieber, wie weise Gott es für euch gefügt hat«, sagt sie, »es war sein Wille, dass ihr nicht im Haus wart, als der Schaden geschah, sondern dass Halvdan auf See ist und du bei uns wohnst.«

»Ja, genau«, bekräftigt Angelund nickend.

Nun erscheinen Ole Ørnberg und seine Frau in der Tür. Sie sind in Reisekleidung und wollen fort. Ole trägt seine karierten Reithosen und hat einen Bergstock in der Hand. »Ich wäre ja ohnehin heute Morgen aufgebrochen«, erklärt er wie zu seiner Entschuldigung, »ich habe eine wichtige Angelegenheit in Storefjord zu erledigen, da nehmen wir dies nun zum Anlass … Wenn es sich nun schon so ergibt, nicht wahr.«

Angelund nickt. Da aber hebt Tilda mit leisem Hohnlachen den dunklen Kopf: »Von einem echten Mann hast du nicht viel, Ole Ørnberg, weiß Gott der Vater im Himmel, wirklich nicht!«

Oles Frau Mary blickt scharf und will zu einer Erwiderung ansetzen, aber Ole beschwichtigt sie und wendet sich lächelnd zu Tilda. »Entschuldige bitte, meine Liebe«, sagt er höflich, »aber was du meinst, damit kann ich mich nicht befassen.«

»Dann muss eben ich Tilda beipflichten«, wirft Sunneva hastig mit gedämpfter Stimme ein, »beim erstbesten Unglück rennst du davon, Ole Ørnberg, dabei warst du doch einer der Allereifrigsten, als es darum ging, hierherzuziehen!«

»Ole muss gehen dürfen, wann er will«, meint Angelund mit einem vermittelnden Räuspern.

»Das möchte ich annehmen«, erwidert Ole freundlich und fasst seine Frau am Arm. »Komm jetzt, Mary, wir haben es eilig!«

Sara weint immer noch vor sich hin. Sie zupft an dem zersplitterten Holzwerk.

»Bis Halvdan und die anderen zurück sind, habe ich den Schaden bestimmt ausgebessert«, meint Angelund. Er nimmt einen Augenblick Saras Hand: »Komm nun, mein Mädchen, es ist doch nichts passiert, nicht wahr? Dass ab und zu Gestein von einem Berg herunterrasselt … Das kommt doch in allen Dörfern vor, wo es Berge gibt. Das ist nun wirklich das Geringste.«

Er lacht leise in seinen strähnigen grauen Bart, und während sie zu Niels Peters Haus zurückgehen, wiederholt er summend und erleichtert: »Das ist nun wirklich das Geringste von allem, mein Mädchen. Wirklich das Geringste, liebe Kinder.«

*

Sobald es hell war, ging Angelund daran, den Schaden zu beheben. Der herabgefallene Felsbrocken war sehr groß und allein nicht zu bewegen, Angelund benötigte die Hilfe der Frauen und der beiden ältesten Jungen. An einer Stelle war die ganze Wand zerstört, aber bei Niels Peter lagen einige Bretter im Keller, damit konnte er sich in Gottes Namen behelfen.

Bei seiner Arbeit kam ihm der Gedanke, dass sie auf den Tag genau vor einem Monat hier angekommen waren. An einem neuen Ort vergeht ein Monat schnell, nun hatten sie schon Mitte September. Um diese Zeit kehrten allmählich die Schiffe vom Nordmeer zurück. Bald wären sie hier also wohl alle vereint. Bislang war Angelund mit den Frauen und Kindern allein gewesen. Sie hatten Kartoffeln gelesen, Torf getrocknet und andere kleinere Arbeiten verrichtet, Angelund und die Jungen hatten Zäune gebaut und abends am Strand Rotbarsche geangelt. Einige Male war Angelund auch mit dem Boot draußen gewesen, gemeinsam mit Ole Ørnberg, sie hatten jedoch nur wenig Fangglück gehabt. Im Übrigen war es ja mit Ole Ørnberg und seiner Frau ein Kommen und Gehen. Ole war voller Unruhe, er hatte in Storefjord und anderenorts offenbar sehr viel zu tun. Was ihn so beschäftigte, war für Angelund allerdings nicht zu begreifen, es war ja allgemein bekannt, dass Ole Ørnberg für bankrott erklärt worden war und sich unter Geschäftsleuten völlig unmöglich gemacht hatte. Dem Armen ging es nicht gut, es trägt sich schwer an der Verachtung der Mitmenschen, und ihre Nachsicht drückt nicht minder. Dabei hatte Ole Ørnberg durchaus viele guten Seiten und seine Frau ja nun auch. Als Tochter eines Kaufmanns hatte sie bessere Tage gesehen.

Ole hatte wie die anderen Männer hier im Tal Land gepachtet, aber dass er nicht ernstlich beabsichtigte, seinen Lebensunterhalt durch einfache Arbeit zu bestreiten, darüber war sich Angelund im Klaren. Zwar hatte er nun langsam mit dem Roden seines Flurstücks begonnen, das war jedoch nichts, wonach ihm der Sinn stand, gewohnt, wie er war, mit dem Kopf zu arbeiten, nicht mit Händen und Körper. Verschiedentlich war er drüben bei der Skibe-Ur gewesen und hatte mit einer Brechstange in dieser Geröllhalde gestochert. Eines Tages war Angelund mit ihm dort gewesen, und Ole hatte lang und breit von der Jernvågen gesprochen, dem großen Kriegsschiff, das seinerzeit hier gestrandet war und angeblich unter diesen Haufen von Steinen und Felsbrocken begraben liegen sollte. Die Überbleibsel dieses Schiffes ließen sich ans Tageslicht befördern, das war Oles unerschütterlicher Glaube. Die großen Bronzekanonen, meinte er, machten ihre Finder zu schwerreichen Männern. Nun, warum auch nicht? Angelund hoffte bei Gott, dass etwas daran war. Aber das mächtige Geröllfeld abzuräumen, was für eine unmenschliche Arbeit wäre das, allein der Gedanke ließ einen schwindeln.

*

Im Laufe des Nachmittags war Angelund mit der Ausbesserung von Halvdans Haus so weit vorangekommen, dass die gröbsten Spuren der Verwüstung beseitigt waren. Sara war jedoch weiterhin in gedrückter Stimmung, seufzend ging sie umher. »Nie und nimmer ziehe ich in dieses Haus«, erklärte sie, »bestimmt bringt es Unglück.« »Was für ein Unsinn«, wies Angelund sie sachte zurecht, »und sobald dein Mann zurück ist, wirst du es dir auch bestimmt anders überlegen, warte nur ab.« »Vielleicht kommt er überhaupt nicht mehr zurück«, sagte Sara.

Lächelnd schüttelte Angelund den Kopf. Aber die kleine frischverheiratete Frau tat ihm herzlich leid. Sara war erst achtzehn und wirkte mit ihrer schmächtigen Gestalt und dem kindlichen, blassen Gesicht noch jünger. Hin und wieder machte sie sonderbare Bemerkungen, da stutzte man mitunter und wusste nicht recht, ob sie als Scherz oder ernst gemeint waren.

»Du nimmst die Sache viel zu schwer«, tröstete Angelund, »vertrau auf Gott, Sara, lass dich von so einer Kleinigkeit nicht entmutigen. Freu dich lieber über den glücklichen und weisen Umstand, dass das Haus unbewohnt war, als das Unglück geschah.«

Sara hatte ihre kleine Küchenstube gefegt und machte sich nun daran, den Boden zu wischen. Ohne aufzusehen, sagte sie: »Vor einigen Tagen habe ich nachts geträumt, dass ich in Storefjord war, im Kleiderladen, und schwarze Bänder kaufte. Darum habe ich solche Angst, dass Halvdan nicht zurückkommt. Wenn er wenigstens auf demselben Schiff wie die anderen wäre, die Bellona ist ja ein großer Schoner, aber die Star of Hope ist so klein, kaum größer als ein Decksboot!«

Angelund räusperte sich, er wollte etwas einwenden, aber sie sprach mit scharfer Stimme weiter, während sie die erdfleckigen Dielen scheuerte: »Und dass wir jetzt an einem Ort wie diesem wohnen, macht es auch nicht besser, hier gibt es keine Wege, keinen Landungsplatz, ja nicht einmal Telefon, und sogar in seinem eigenen Haus kann man sich hier nicht sicher fühlen.«

Angelund saß da und starrte aus dem Fenster, da sieht er plötzlich oben an der Kvanfjeldsklev Menschen den engen Steig an der Felswand entlanggehen. »Ei ei«, sagt er und steht auf, »heute Abend scheint wer zu kommen! Komm, schau einmal, du hast junge Augen! Sind das nicht unsere Leute?«

Hastig erhebt sich Sara, einen Augenblick steht sie da und hält den Atem an, das Scheuertuch in ihrer Hand zittert leicht. »Es sind die vier von der Bellona und außerdem Ole Ørnberg«, sagt sie kurz.

Die fünf Gestalten kommen näher, nun kann sie auch Angelund erkennen, schwer beladen gehen sie im Gänsemarsch den schmalen Felsabsatz entlang. Vornweg sein Schwiegersohn Niels Peter, dahinter Ole Ørnberg mit seinem Bergstock, nach ihm Samson, Tildas Mann, und Bernhard, Angelunds Junge, und als Letzter in der Reihe Sinklar, breit und gedrungen, mit wiegendem Seemannsgang. Nun bleiben sie stehen, Ole Ørnberg hebt seinen Bergstock. Es werden die Spuren des Felssturzes sein, auf die er aufmerksam macht.

*

Wenig später sitzen die heimgekehrten Männer in Niels Peters Haus in der Küchenstube. Die Lampe wird angezündet. Der kleine Raum füllt sich mit dem Geruch von Kautabak, Pech, Schweiß, Fisch und Kaffee. Die Frauen gehen hin und her, dabei lauschen sie den Erzählungen der Männer und ermahnen die Kinder, die vor Wiedersehensfreude ganz aus dem Häuschen sind und unbedingt mit am Tisch sein wollen. Sunneva ist dabei, Kaffee zu kochen, sie lächelt glücklich, den Kopf leicht zur Seite geneigt, rote Flecken auf den hervorstechenden Wangenknochen. Angelund betrachtet froh und bewegt seinen jungen Sohn, breitere Schultern hat Bernhard im Laufe des Sommers bekommen und die Haltung und den Blick eines erwachsenen Mannes. Niels Peter hat seinen Bart wachsen lassen und wirkt deshalb mehrere Jahre älter als bei der Abfahrt im Frühjahr. Samson ist schwerfällig und verschlossen wie immer. Seine Frau Tilda lacht Ole Ørnberg mit unverhohlenem Spott ins Gesicht: »Also dass du dich wieder hertraust, Ole!« Ole streicht sich über den kleinen Schnurrbart: »Ich hatte heute Nacht ja keine solche Angst, das war meine Frau. Ich für meinen Teil habe ja tausendmal schlimmere Dinge erlebt als so ein bisschen Steinschlag … Weiß Gott!« Er dreht sich von Tilda weg und meint zu Sinklar: »Ja, diese Frauensleute, manchmal sind sie die reinsten Hühner«, und lacht. Sinklar blickt verstohlen zu Tilda, ohne etwas zu erwidern. Er trägt eine abgenutzte Lederweste über dem Pullover und vor dem Bauch eine mehrreihige Uhrenkette mit Kompass, Anker und Krimskrams.

Man spricht über Fischerei und Fischpreise, trocken und sachlich, erzählt und erfragt Neuigkeiten. Die Star of Hope, auf der Halvdan als Bestmann fährt, ist auf dem Rückweg und hat einen guten Fang gemacht. Auch die Bellona hatte reichlich Fangglück, und die meisten Fische hat auch dieses Jahr wieder Bernhard über die Reling gezogen. Sinklar hingegen hatte Pech, um Mittsommer bekam er einen vereiterten Finger, die Geschichte kostete ihn fast eine Woche guter Fangtage, weil die Entzündung sich im Arm ausbreitete. Aber dann dokterte er mit etwas, das sich in der Medizinkiste fand, an sich selbst herum, und das half.

Angelund erzählt, was im Laufe von Sommer und Herbst zu Hause geschehen ist. Es war nichts Großes. Sie hatten Torf auf ihren Torfheiden auf der anderen Seite des Kvanfjelds getrocknet und Glück mit dem Wetter gehabt. Zu Sankt Olav wurde in Tyrilsvig eine große Grindwalschule gefangen, Angelund war so glücklich gewesen, beim Töten der Wale dabei zu sein, und wie mit den anderen Männern vereinbart, hatte er gut fünfhundert Pfund Fleisch und Speck gekauft, die er und die Jungen mit dem Boot nach Hause gebracht hatten, der eine Teil davon war eingesalzen, den anderen hatten sie zum Trocknen aufgehängt. Mitte August waren sie dann also alle zusammen an den neuen Ort gezogen, und bislang ließ es sich hier offenbar gut wohnen. Simon Toft, der Lehrer, hatte sie besucht, und Bauer Sigvard. Einen ganzen Vormittag lang hatte Sigvard mit seinem Schafhirten Andreas und einem anderen Mann hier in der Siedlung herumgeschnüffelt, barsch und unfreundlich waren sie gewesen, wie es nun einmal ihre Art war. Simon Toft jedoch – er war derselbe Prachtmensch, der er sein Lebtag gewesen war.

»Was hat Sigvard gesagt?«, fragte Niels Peter.

Angelund fuhr sich über seinen dünnen Bart und legte den Kopf zur Seite: »Was er gesagt hat? Tja, er meinte unter anderem, dass er es augenblicklich dem Sysselmann meldet, falls wir uns erdreisten, Treibholz oder was sonst hier in der Bucht angespült wird, anzurühren, und dass man uns das Land dann wegnimmt.«

»Ja, damit hat es wohl auch seine Richtigkeit«, meinte Niels Peter. »Was hat er noch gesagt?«

Angelund dachte nach: »Ach, er beschwerte sich über die Ziegen, sein Hirt behauptete, wir würden sie jenseits der Einfriedung grasen lassen. Da täuscht sich der gute Andreas allerdings, wir haben sie nicht außerhalb laufen lassen. Aber ich wollte keinen Streit mit Sigvard anfangen, das hat ja keinen Zweck.«

»Mit Bauer Sigvard bekommen wir viel Schererei«, meinte Niels Peter, »aber das war ja zu erwarten.« Da mischte sich plötzlich Tilda ins Gespräch ein und sagte in tief vorwurfsvollem Ton: »Hirt Andreas – der schleicht ständig hier im Tal herum, gestern Abend war er auch hier … Es könnte also gut sein Werk sein, dass die Steine heute Nacht heruntergefallen sind … Er ist ein böser Mensch. Ja, das ist nun meine Meinung.«

»Ja, das behauptet Tilda«, sagte Angelund rasch und lächelte entschuldigend, »aber da irrt sie sich, meine ich, ein Unmensch ist Andreas ja nun auch nicht, das macht mir keiner glauben.«

»Nein, ich denke auch, dass Tilda sich irrt«, sagte Niels Peter ernst. »Sie sind keine Unmenschen. Und, wie gesagt, lasst uns bei Gott keinen Streit mit ihnen anfangen, sondern so vorsichtig wie nur möglich vorgehen, besonders in der ersten Zeit! Wir haben hier eben erst Fuß gefasst, das dürfen wir nicht vergessen – wir sind hier nur geduldet, solange wir nicht mit jemandem Streit anfangen!«

»Ja, aber ich denke mir meinen eigenen Teil!« Tilda warf den Kopf in den Nacken.

Der Kaffee wurde eingeschenkt, und Ole Ørnberg zog eine Flasche Cognac aus der Gesäßtasche und entkorkte sie mit einem Knall. »Ja, hiermit heiße ich euch willkommen daheim und wünsche viel Glück für Noatun!«, sagte er feierlich. Er nahm nur ein Schlückchen aus der Flasche, der Höflichkeit halber, und reichte sie Niels Peter über den Tisch, der sie eine Weile stehen ließ, bevor er trank. »Du trinkst ja mächtig feine Tropfen, Ole«, bemerkte er mit einem leichten Lächeln. Ole wurde etwas rot und hob die großen geschwungenen Augenbrauen: »Ich habe sie heute drüben in Storefjord bekommen, von einem Handelsvertreter, dem ich einige gute Ratschläge und Hinweise gab.«

Die Flasche kreiste um den Tisch und kam wieder zu Ole, der einen erneuten Schluck nahm. Unruhig saß er da und hob die Hand, als wollte er etwas Bedeutungsvolles sagen, besann sich aber und schickte die Flasche auf eine weitere Runde.

Niels Peter reckte sich und gähnte: »Ah, wird das gut tun, seine Glieder wieder auf festem Boden auszustrecken!« Und fügte hinzu, wobei er die Brauen runzelte: »Wir sollten übrigens morgen am besten zeitig aufstehen und in Kyrrevig unsere restlichen Sachen holen. Wir bekommen morgen sicher einen schönen Tag.«

Ole Ørnberg sah ihn höflich an. »Ja, nach den Strapazen auf See seid ihr sicher müde«, sagte er. Aber plötzlich wurde er sehr unruhig und neigte den Kopf erst zur einen, dann zur anderen Seite. »Es gibt da etwas, das ich gern jetzt gleich sagen möchte!«, meinte er. »Und das ist … hm … das betrifft meine Gedanken in Hinblick auf die Skibe-Ur. Ich möchte lieber im Vorhinein wissen, wie ihr euch dazu stellt.«

Niels Peter gähnte und rieb sich die Augen, Ole fuhr fort, das Gesicht leicht gerötet: »Wir sind ja an diesen neuen Ort gekommen, weil wir hier Land bekommen haben, das wir bebauen sollen, und das ist und bleibt natürlich das Wichtigste. Aber was mich betrifft … Also ich meine, neben dieser Arbeit könnten wir auch Zeit und Gedanken für das erübrigen, wovon ich gerade sprach … also die Skibe-Ur. Denn eine solche Arbeit könnte sich, wie wir alle wissen, wohl durchaus auszahlen.«

Sinklar nickte ernst mit dem großen langnasigen Kopf und spielte mit seiner Uhrenkette.

»Ja, falls das mit dem Schiff unter der Geröllhalde denn nicht bloß ein altes Märchen ist«, wandte Niels Peter ein. Er hatte seine beiden Jüngsten auf den Knien. Ole warf ihm einen gekränkten Blick zu: »Warum sollte die Sage lügen? Dass die Jernvåge hier strandete – das können wir doch schon mal festhalten, das Lied über den Schiffbruch stammt ja von einem, der dabei war und … und …«

»Das Lied sagt nichts davon, dass das Wrack von einem Bergsturz zertrümmert wurde«, bemerkte Niels Peter, »es handelt nur vom Schiffbruch und der Rettung der Mannschaft.«

»Ja, aber ich sage ja auch nur, es ist der Beweis dafür, dass das Schiff wirklich hier unterging«, fuhr Ole Ørnberg fort. »Aber dann gibt es ja auch noch die Sage! Und soweit ich weiß, entsteht eine Sage nicht einfach so von allein. Und einige kluge Männer – klüger als wir alle hier – haben die Sache durchdacht und meinen, die Sage sagt die Wahrheit. Das Wrack wurde unter der Geröllhalde begraben. Deshalb heißt sie ja auch Skibe-Ur! Und selbst wenn von dem Wrack nichts weiter übrig sein sollte, dann sind da die ganzen Bronzekanonen mit ihrem hohen Wert, Bronze ist ja ein sehr edles und unvergängliches Metall.«

»Das ist es«, warf Sinklar ein, »daraus werden ja Kirchenglocken gegossen.«

Ole schnäuzte sich heftig die Nase: »Ja, genau. Und wenn wir die Bronze finden, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit sie uns gehört!« Er hob seine magere Hand und schlug auf den Tisch.

»Wenn wir die Bronze stehlen«, beharrte Niels Peter, »dann wird man uns in der Folge entdecken und uns das Land wegnehmen. Eines musst du bedenken, Ole, wir sitzen hier am neuen Ort noch nicht allzu fest, wir müssen vorsichtig vorgehen.«

Oles Flasche war mittlerweile geleert, aber Sinklar war aufgestanden und kam mit einer neuen zurück. Es war eine Flasche gewöhnlicher Branntwein. »Wir müssen morgen früh los!«, erinnerte Niels Peter. »Ja schon, aber es ist doch unser erster Abend an Land und am neuen Ort«, schob Sinklar den Einwand beiseite.

»Mein Land grenzt an die Geröllhalde«, fuhr Ole Ørnberg fort, »und ich habe das Recht, mir dort Steine für die Einfriedung zu holen, da frage ich niemanden. Ich habe das Recht dazu. Und wenn mir keiner von euch helfen will, dann miete ich fremde Arbeitskraft.«

»Ja, wenn du so wohlhabend bist, Ole«, lacht Niels Peter, »von mir aus gern! Ich lege dir nicht den geringsten Stein in den Weg.« »Ich bin ein armer Mann«, erwidert Ole und nimmt einen Schluck aus Sinklars Flasche, »aber ich kann Wind um die Sache machen und eine landesweite Sammlung auf die Beine stellen … Dafür wird sich nämlich das ganze Land interessieren! Das kann ich machen. Und dann können wir lange auf unseren Gewinn warten. Für uns heißt‘s dann: Gehabt euch wohl.« »Nein, mach das nicht«, rät Sinklar leise: »Wenn wir beide, du und ich, ein wenig im Ur herumstochern … Das geht niemanden etwas an. Das bleibt unter uns.« »Ja, nicht wahr!«, sagt Ole und steht freudig auf. »Und haben wir erst eine der Kanonen ausgegraben … Dann, wette ich, wird auch Niels Peter mehr Interesse haben. Und wer weiß … Vielleicht stoßen wir nicht nur auf Kanonen. Auf so einem alten Orlogman finden sich gewiss manch andere guten Dinge. Der Kapitän etwa – er wurde ja nicht gerettet, und so ein Kapitän ist kaum ein armer Teufel gewesen wie du und ich, Sinklar – was?«

Mit einem Mal verdüstert Erinnerung Oles schwermütigen Blick, und er beginnt leise zu singen:

Als zur Dezemberzeit

man tat den vierten kund,

zur Abfahrt war bereit

da unser Schiff im Sund.

Der Anker ward gelichtet,

dem König der Salut

mit manchem Schuss entrichtet,

Kronborg antwortet’ gut!

»Nein, das ist wahrlich keine kleine Jolle gewesen!«, lächelt er: »›Die große Jernvåg‹ heißt es im Lied. Und dieses Schiff liegt also nicht auf dem Grund des Meeres, sondern an Land, sozusagen direkt vor unserer Tür!«

Sinklar wiegt sich in den Schultern, die Tanzlust überkommt ihn, er pufft seinen Nebenmann Samson kameradschaftlich in die Seite und bricht in lauten Gesang aus:

Komm mit in jene Zeit:

Von Gottes Wunderwerken

zu hören sei bereit,

es lohnt sich, drauf zu merken …

Er steht auf und macht ein paar Tanzschritte, aber Ole Ørnberg redet begütigend auf ihn ein und sagt höflich: »Nein, hier können wir nicht tanzen, Sinklar, Niels Peter ist müde und will ins Bett, außerdem sind kleine Kinder und eine Frau in anderen Umständen hier im Haus. Gehen wir lieber zu mir, da stören wir niemanden!«

Kurz darauf ist der Tanz unten in Oles Hütte munter in Gang. Alle sind dabei, bis auf Niels Peter, seine Frau und die jüngsten Kinder. Sie haben sich schlafen gelegt, horchen aber. Von Zeit zu Zeit, wenn die Tänzer an besonders wichtigen Stellen der Ballade die Stimme heben, sind die Worte deutlich zu hören:

Den achten dann, o je!,

im gleichen Mond zumal

uns überkam groß Weh,

erspart blieb keinem Qual.

Es war ganz fürchterlich,

des Himmels Feuerspiel,

für Donnerschlag mit Blitz

war unser Schiff das Ziel.

Angelund macht bewegt beim Tanz mit und erinnert sich an seine Jugendjahre auf See. Wie oft hat er nicht mit guten Kameraden diese Ballade getanzt, versunken in der Schilderung vom Untergang des stolzen Schiffes. Sie drückten einander die Hände und stampften fest auf Boden oder Deck, wenn es hieß:

O Seemann, denk daran,

der kreuzet auf den Wellen,

wir standen unsern Mann,

um ja nicht zu zerschellen,

wo Himmel, Luft und Meer

als Brüder fest vereint

so manchem Tod gebracht

als Seemanns bittrer Feind.

Samson, der den ganzen Abend über stumm dasaß und den anderen zuhörte, hat es nun die Zunge gelöst. Er ist der stimmgewaltigste der Tänzer, seine tiefe Stimme hallt, als riefe man in ein leeres Fass hinein:

O Seemann, denk daran,

du treues Bruderherz,

wie gar betrüblich dann

die Freude ward zum Schmerz.

Ein Wrack in Wind und Wetter

so trieben wir auf See;

hilf, Heiland, unser Retter!

Jedoch – dein Will’ gescheh’.

Die beiden Ältesten von Niels Peter und Sunneva, Ole Jakob und Lille-Angelund, die 13 und 12 Jahre alt sind, stehen in der Tür zu Oles Stube und lauschen mit offenem Mund, während sie mit schlaftrunkenen Augen auf die Tanzenden blicken. Schauer von Grauen und Aufregung gehen durch sie hindurch, die Ballade berichtet ja von etwas, das hier passiert ist – hier in der Bucht, nur wenige Schritte von Ole Ørnbergs Haus.

Stets sei des Tag’s gedacht,

als Våge, unser Schiff,

in dunkler Neujahrsnacht

scheitert an Kjovøs Riff.

Der Bug und Steven kracht

ist dort gar rasch verbleicht,

Gott halt für uns die Wacht!

Land ward nicht mehr erreicht.

Und fast ist den Jungen so, als hätten die Tänzer dieses Grauenvolle selbst erlebt, als wären es Sinklar und Samson und Bernhard gewesen, die in schweren Seestiefeln und zerrissenem Ölzeug den Großmast der Jernvågen hinaufkletterten und sich auf einen Absatz in der Felswand schwangen.

Die meisten noch gewannen

doch jene Felsenhöhle,

und dadurch sie entrannen

des Todes garst’ger Kehle.

Zurück noch blieben zehn

auf unsres Schiffes Planken.

Sie mussten bald vergehen,

im Wasser sie ertranken.

Aber schließlich verklingt das Lied, die Heftigkeit der Tänzer legt sich, sie senken die Stimmen, als sie die letzte Strophe singen.

Hab Dank, Erlöser mein,

dank sei Dir, Jesu Christ.

Lasst Gott uns dankbar sein,

der unser Retter ist

aus wilder Wogen Schlund.

Du bist’s, dem Dank gebührt!

Dank sei Dir jede Stund’,

der uns an Land geführt.

Sinklar möchte weiter tanzen und singen, er schlägt vor, dass sie mit dem Lied vom Untergang der Westerbeek oder mit »Der Königs-Sohn aus Engeland« weitermachen, aber Samson und seine Frau sagen Gute Nacht und gehen, und bald ist außer Sinklar und Ole Ørnberg niemand mehr da.

*

Samson und Tilda wollten eben ihre Haustür öffnen, da rief Sara nach Tilda und lief zu ihnen. »Ich bin heute Nacht obdachlos!«, sagte sie mit einem Lachen in der Stimme. »Wisst ihr, allein möchte ich bei mir zu Haus lieber nicht sein, weil … Du verstehst mich, Tilda, nicht wahr? Und bei Niels Peter ist ja jetzt kein Platz für mich, und da … Könnte ich nicht auf der Bank in eurer Küchenstube schlafen, Tilda?«

»Ach, wie ärgerlich«, murmelte Tilda, »wo wir uns gefreut hatten, für uns zu sein … wie junge Eheleute!« Aber schnell bereute Tilda ihre Ungastlichkeit und fasste Saras Arm: »Nein, so machen wir es, du schläfst diese Nacht bei uns, Kind. Du kannst ja eine Decke mit in die Dachkammer nehmen und dort auf dem Fußboden schlafen, das macht dir doch nichts aus, du bist ja jung und gesund, nicht wahr? Aber was gibt es denn da nun zu flennen, Mädchen?« Sie schüttelt Sara und schiebt sie durch die Tür. »Ts, ts, nimm es dir doch nicht so zu Herzen. Es war doch nur Spaß, was ich gesagt habe!«

Sara holte einen Sack mit Bettgewändern aus ihrem Haus und richtete sich in der Dachkammer ein. Der Raum war so niedrig, dass man kriechen musste, und nur in dem einen Giebel gab es ein winziges Fenster, nicht mehr als handgroß.

Samson und Tilda hörten, wie Sara mit den Tränen kämpfte. Tilda stand auf und schimpfte sachte: »Was hast du nur, Kind? Liegst du nicht gut? Ist dir kalt?«

»Nein, ich liege gut«, flüsterte Sara.

»Weshalb flennst du dann?

»Ich weiß nicht.«

»Du bist schon ein arger Wirrkopf, muss ich sagen!«, sagte Tilda milde. »Dir gehört der Hintern versohlt, wirklich!«

II

Als Niels Peter am nächsten Morgen gegen sechs aufstand, waren Sinklar und Ole Ørnberg noch nicht schlafen gegangen. Sie saßen in Oles Hütte und wärmten sich die Hände an einem Primuskocher, auf dem ein Kessel schnurrte.

»Du vergisst hoffentlich nicht, dass wir heute nach Kyrrevig wollen, Sinklar«, sagte Niels Peter. »Wir haben einen arbeitsreichen Tag vor uns!«

»Sinklar und ich haben wichtige Dinge besprochen«, erwiderte Ole und rieb sich die übernächtigten Augen. Er richtete sich auf und blickte Niels Peter mit schläfriger Fröhlichkeit an: »Wir müssen ja jede denkbare Einkommensquelle nutzen, nicht wahr – – nicht nur, was Land und Fischerei abwerfen. Wenn man nur nachdenkt und sein Gehirn gebraucht, gibt es da ja noch vieles mehr. Nimm nur zum Beispiel all diesen Seetang, der da draußen für nichts und wieder nichts im Wasser wächst. Der lässt sich trocknen und brennen und zu einer Handelsware machen, Niels Peter … Hast du darüber einmal nachgedacht? Aus Seetang macht man Jod, ein kostbares Produkt. Und oben im Urefjeld, da wimmelt es nur so von Opalen … Man muss einfach auf den Berg klettern und sie holen, Opale sind kostbare Steine.«

Niels Peter zuckte die Achseln: »Können wir darauf zählen, Sinklar, dass du mitkommst? Allright, dann mach dich fertig, in einer Dreiviertelstunde brechen wir auf.«

Niels Peter ging über die Kartoffeläcker hinauf zum noch ungerodeten Teil des Pachtlandes. Der Tag dämmerte herauf. Er lehnte sich gegen einen großen Felsblock, sein Blick schweifte über die umfriedeten Flurstücke und weiter über das Tal und die Bucht. Einen Augenblick lang durchbebte ihn wohlige Ungeduld. Zu Hause! Die Füße unter dem eigenen Tisch! Froh und bewegt dachte er daran, wie der Gedanke, hier im Tal Land zur Pacht zu bekommen, von ihm Besitz ergriffen hatte. Vier Mal hatte er mit dem Gemeinderatsvorsitzenden und dem alten Sysselmann Berg gerungen, ohne Erfolg, stur hatten die beiden darauf bestanden, dass das Dødmandsdal unbewohnbar sei, ein menschenfeindlicher Ort … Bis Angelund die glückliche Idee hatte, an den Schulleiter heranzutreten, damit er, Simon Toft, helfe. Und Simon hatte die Angelegenheit wirklich zu seiner eigenen gemacht. Er hatte an die Gutsverwaltung geschrieben und mit den Landeigentümern verhandelt – er war unermüdlich gewesen. An die zwei Jahre zog es sich hin, dann endlich hatten sie Glück: Es wurde entschieden, dass Leute aus Kyrrevig im Dødmandsdal Pachtland erhalten könnten. Der Kampf war gewonnen. Das abgeschiedene Tal, das seit Anbeginn der Schöpfung als ein wüster und gottverlassener Ort dagelegen hatte, war eine Siedlung geworden, ein Dorf, und eine Gruppe Menschen, die bisher am übervölkerten Fjord gehaust und außer ihrem eigenen Leib nichts besessen hatten, hatten nun Land und Eigentum. Vorläufig nur Pachtland, das wohl, und auch nichts Großes. Aber es konnte mehr daraus werden. Es war nun an ihnen. Sobald ein Viertel der Flurstücke gerodet und bestellt war, konnten sie das Land für wenig Geld erwerben und dann sicherlich auch neues Land dazupachten.

*

Im Laden von Kaufmann Fredag Andreasen in Kyrrevig war bereits ein knappes Dutzend der Mannschaft der Bellona eifrig mit der Prüfung der Abrechnungen beschäftigt, und Fredag selbst, klein und glatzköpfig, ging zwischen ihnen herum, deutete mal hierhin, mal dorthin und gab Erklärungen ab. Es waren die Abrechnungen der Frühjahrsfahrt, 35 Prozent des Nettoertrags, verteilt auf 32 Mann … das ergab wie immer nichts Großes, obendrein war das Geld nicht nur bereits ausgegeben, nein, die Konten der Fischer strotzten vor neuen Schulden, die vom Sommerguthaben abzuschreiben waren.

»Ja, es ist furchtbar viel auf Kredit gekauft worden.« Fredag schüttelte den Kopf und äugte hastig umher. »Und was den Sommerfang angeht, ja da stehen wir nun und wissen nicht, woran wir sind, die Fischpreise wollen einfach nicht steigen, also wenn sich die Lage nicht im Laufe dieser Woche aufhellt, dann kann ich für meinen Teil einfach einpacken, an Unkosten, Jesus steh uns bei, ist ja niemals ein Mangel. Das wird mein Ruin … mein Ruin!«

Die Männer waren diese Predigt gewohnt, sie wiederholte sich bei jeder Abrechnung. Fredag war ein Mann vieler Worte, er huschte unaufhörlich hin und her, zog an seinem herabhängenden Schnurrbart und betrommelte seinen Glatzkopf. »Na … Wie viel Bargeld wollt ihr denn nur, Leute? Habt Erbarmen! Ihr habt doch gesehen, wie es mit Poul Poulsen in Storefjord letztes Jahr den Bach runter ging, ja, sein Geschäft konnte diese ganzen Außenstände nicht mehr tragen, diesen furchtbaren Kredit. Wir Kaufleute und Reeder stehen in diesen Zeiten stark unter Druck … stehen kurz vor dem Zusammenbruch, ja, schon darüber hinaus, kein Wunder, dass wir auf den Hund kommen, einer nach dem anderen. Schauerliche Zeiten. Der einzige Menschenschlag, der heute zurechtkommt, das sind die Rechtsanwälte, die schwimmen oben, wie Unrat auf dem Wasser!«

Bernhard stand da und starrte auf die Aufstellung des Kaufmanns in seiner Hand. Er hatte einen roten Kopf bekommen, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Fünf Meter Kleiderstoff, »für Abria«, Unterwäsche, Spitzen, Knöpfe für Abria, Zucker, Tee, Kekse, Bonbons – – alles für Abria. Ein Mantel zu 65 Kronen für Abria.

»Das geht doch in Ordnung?«, fragte der Kaufmann ängstlich: »Du hast ja vor deiner Abfahrt gesagt, Bernhard, dass dein Mädchen …?«

»Ja, das geht in Ordnung.« Bernhard nickte verdattert.

Niels Peter ging seine Rechnung durch. Sie war, wie er erwartet hatte. Vernünftig. Sunneva kaufte nichts Unnötiges. Er rechnete mit einem Guthaben von über 400 Kronen, alles in allem, die Sommerfahrt mitgezählt und wenn Samson und Halvdan wie vereinbart für ihre Frauen bezahlt hatten. Nicht gerade viel, es musste für Winter und Frühjahr reichen. Aber dass in den ersten Jahren am neuen Ort Milch und Honig fließen würden, hatte er ja auch nicht erwartet. War man erst einmal so weit, dass das Futter für eine Kuh reichte … wenn nicht sogar für zwei oder drei!

Samson zog Niels Peter zur Seite und hielt ihm seine Rechnung unter die Nase. »Sieh mal hier«, er deutete auf einen Posten, »was kann das sein? Etwas zu essen?« Niels Peter schüttelte den Kopf, die Worte sagten ihm auch nichts. Samson wartete, bis der Kaufmann einen freien Moment hatte. »Ach, das«, sagte Fredag, »ja, das ist Oatine Nachtcreme. Das nehmen die Frauen, um eine weiche, zarte Haut zu bekommen. Deine Frau wollte unbedingt, dass ich sie für sie bestelle.« »Zarte, weiche Haut?« Hastig zog Samson den Zettel an sich. »Ja, um dir zu gefallen, du weißt schon!« Der Kaufmann puffte ihn in die Seite. »Ja gewiss, ja.« Samson nickte und sah sich unruhig um.

Sinklar ging durch den Laden und suchte sich verschiedene Dinge aus. Seine Rechnung war nicht hoch, er hatte weder Haus noch Familie. Etwas Ölzeug, ein Paar Wasserstiefel, außerdem noch Priem und Rauchtabak. Sein Jahresverdienst war annähernd unangetastet, 640 Kronen. Allerdings gab es ja auch so manches, was man sich vielleicht gern anschaffen mochte, nun, da man an dem neuen Ort wohnen würde. Eine Sturmlaterne, einen Petroleumkocher, einen Topf und eine Kasserolle. Einen Wecker. Ein paar Steppdecken. Und dann die Medizin. Sinklar hatte eine Schwäche für Medizin – Verbandszeug, Heftpflaster, Jod und Hoffmannstropfen im Kasten unter seiner Koje zu wissen, gab ihm ein Gefühl von Sicherheit und Wohlbehagen. Auch ein Fieberthermometer durfte nicht fehlen. Und zusätzlich zu dem gewöhnlichen Dolch, den man an der Seite trug, ein feines gutes Messer. Der Kaufmann musste all dies aufschreiben und bei der Apotheke in Østervåg bestellen. »Was willst du nur mit dem ganzen Zeug?«, fragte er mit einem Schulterzucken, aber Sinklar sah für eine nähere Erklärung keinen Grund.

»Wir sollten eigentlich hinüber nach Storefjord gehen und Simon Toft besuchen, wenn wir schon mal hier sind«, schlug Niels Peter vor, »ich finde, wir schulden ihm einen Dank für all das, was er für uns getan hat.« Das meinten Samson und Sinklar auch, die drei Männer gingen auf dem Dorfpfad nach Storefjord, es war kaum eine Viertelstunde dorthin. Bernhard kam nicht mit, er wollte hinauf nach Åbakke und seine Abria besuchen.

Der alte Lehrer empfing die Männer freundlich und bot ihnen Kaffee und Zigarren an. »Nun, wie läuft es mit Noatun?« Er musterte sie durch seine dicken Brillengläser. »Der Name … bewährt er sich?« »Er liegt gut auf der Zunge«, erwiderte Niels Peter, »wir benutzen ihn alle. Aber … ja, was bedeutet er noch einmal? Sie haben es uns ja seinerzeit erklärt, aber keiner von uns kann sich noch so richtig daran erinnern.«

Simon Toft nickte munter: »Wisst ihr, unsere Vorväter hatten ja nicht wie wir nur einen Gott, sondern viele Götter, einer davon war der Meeresgott, Njord. Und der Ort, an dem dieser Njord wohnte, hieß Noa-Tun – das bedeutet Schiffs-Flur. Seht ihr, ich dachte, das passt sehr gut zu eurem Ort, er liegt ja am offenen Meer, und dazu liegt dort im Geröll ein Schiff begraben.«

Er wiederholte den Namen ein paar Mal und schmeckte ihm nach: »Noatun … das klingt besser als Talbucht, Dalevig, wie wir ihn erst nennen wollten, von diesem entsetzlichen Dødmandsdal ganz zu schweigen! Außerdem ist der Name nordisch, er wird immer an unsere Ahnen erinnern, die einst unsere Inseln besiedelt haben.«

Gedankenvoll zog er an seiner Zigarre. »Aber wie ist das mit deinen Kindern, Niels Peter? Du hast ja vier, fünf schulpflichtige Kinder – nun, deine älteste Tochter Ella ist wohl fast schon erwachsen, aber drei, vier andere bleiben jedenfalls noch, die beiden Jungen und Mariane und die kleine Hanna. Kristoffer ist wohl noch zu klein. Aber die Kinder kommen ja nicht über den Berg, um hier die Schule zu besuchen. Gut, ihr habt natürlich Angelund, er kann den Kleinen Lesen und Schreiben beibringen. Aber unser junger Hilfslehrer soll doch wenigstens zwei, drei Mal im Monat hinüber nach Noatun kommen, dafür will ich Sorge tragen.«

Die Männer verabschiedeten sich von Simon Toft. »Ihr schafft das schon, ihr Noatuner!«, sagte der alte Lehrer, als er sie zur Tür brachte. »Also bei anderen als euch würde ich mich jetzt wohl sorgen, weil ich mich so stark dafür machte, euch in Noatun Grund unter die Füße zu verschaffen. Aber wenn ich euch so ansehe, tüchtig seid ihr, wahre Recken und Riesen … euch hier am Fjord verkommen zu lassen, wo weder Land noch Winterarbeit zu bekommen ist, das wäre doch eine Schande gewesen!«

*

Bernhard hatte seine Rechnung in die Tasche gesteckt. Er war so aufgebracht, er musste hinaus, allein sein. Unten am Strand zog er das engbeschriebene Papier wieder hervor. Drei Büchsen Räucherhering. Schokolade. Vanillestangen. Parfum. Ihn schwindelte förmlich. Und dann dieser Mantel für 65 Kronen! Eilig rechnete er nach, was von seinem Jahresverdienst übrig bleiben mochte. Bescheidene hundert Kronen, grob gerechnet. War denn das Mädchen völlig von Sinnen?

Kein Wort hatte sie über diese unglaublichen Käufe verloren, als sie gestern Abend beisammen waren. Eine ganze Stunde hatten sie im Haus ihres Vaters oben in Åbakke für sich gehabt, Abrias Vater und Brüder waren mit dem Heringsgarn draußen gewesen. Ein unvergesslicher Augenblick. Nie zuvor war sie so zu ihm gewesen, so zärtlich, so liebevoll.

Bernhard war den Tränen nahe. Abria war ein ungewöhnlich schönes Mädchen, ihr Aussehen erfüllte ihn mit Stolz, er wusste, dass viele seiner Alterskumpane ihn beneideten und nicht verstehen konnten, warum ein Mädchen, das so gut aussah und dazu noch die Tochter eines inzwischen wohlhabenden Pächters war, sich ausgerechnet für ihn entschieden hatte. Auch hatte er Abria für vernünftig und sparsam gehalten, deshalb hatte er ihr freie Hand gegeben, sich ein paar Kleinigkeiten auf Kredit zu holen. Kleinigkeiten!

Er steckte die Rechnung wieder ein und stieg mit zögerlichen Schritten die Anhöhe nach Åbakke hinauf, um mit seinem Mädchen zu reden. Abria kam ihm entgegen, sie lächelte unsicher und verdrehte die Augen: »Ja, du bist sicher furchtbar böse auf mich, Bernhard? Aber hundert Mal habe ich es mir überlegt, bevor ich den Mantel kaufte! Und … du solltest sehen, wie gut er mir steht! Ich trage ihn nur sonntags! Und ich brauchte unbedingt einen Mantel. Wie auch die anderen Kleinigkeiten, warum sollte ich herumlaufen wie eine Vogelscheuche zwischen den anderen Mädchen?«

Ihr rosiges Gesicht schien dem Weinen nah.

»Nein, sicher nicht«, sagte Bernhard. »Es ist ja nur so, Abria … Du wusstest doch, dass ich gerade begonnen hatte, darüber nachzudenken, ein Haus zu bauen, jetzt, da ich Grund bekommen habe. Nein, aber dann ist es bloß so, dass wir warten müssen mit dem Heiraten. Immerzu warten. Nun gut! Geschehen ist geschehen, Abria. Es lässt sich nicht ändern.«

In Abrias Augen standen Tränen. Er wollte ihre Hand nehmen, aber sie zog sie hastig zurück. »Dass du mir den Mantel nicht gönnst!«, sagte sie mit belegter Stimme. »Aber das tue ich doch! Ich gönne ihn dir, Abria. Natürlich! Hörst du!« »Johanna hat von ihrem Verlobten neulich ein Grammophon bekommen«, sagte Abria mit abgewandtem Gesicht, »das hat fast hundert Kronen gekostet. Und dann kommst du und … nein, das habe ich von dir nicht erwartet, Bernhard.« »Aber Johannas Verlobter ist auch Schiffsführer«, antwortete Bernhard leise, »daran denkst du nicht.«

Sie gingen die Anhöhe zu Abrias Zuhause hinauf. Bernhard nahm ihren Arm und sagte munter: »Nun sei nicht töricht, Abria. Du weißt ja, dass ich dir den Mantel und das ganze andere Zeug von Herzen gönne. Natürlich sollst du gut gekleidet sein. Du verdienst es, niedlich und süß, wie du bist.«

»Aber was musstest du es dann so aufnehmen«, schmollte Abria.

Außer Abrias ältestem Bruder Johannes war niemand zu Hause. Er begrüßte Bernhard kurz und warf seiner Schwester einen unfreundlichen Blick zu. Kurz darauf ging er. Abria machte Kaffee. Sie hatte immer noch Tränen in den Augen. »Ach – nimm dir das doch nicht so sehr zu Herzen«, Bernhard strich ihr über den Arm, »hol lieber den Mantel und lass mich sehen, ob er dir steht!«

Nein, das wollte Abria nicht. Sie schenkte den Kaffee ein, stellte sich ans Fenster und wandte ihrem Verlobten den Rücken zu. Bernhard ließ den Kaffee stehen, ging zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter, aber sie schüttelte sie hastig ab. »Du willst es wohl wiedergutmachen«, sagte sie mit tonloser Stimme, »aber das kannst du dir sparen.«

Plötzlich drehte sie sich um, ging in die Wohnstube, holte den Mantel und warf ihn ihm vor die Füße: »Da hast du ihn zurück! Weitere Mühe kannst du dir sparen!«

Er beugte sich vor und hob den Mantel auf: »Aber liebste Abria! Sei doch vernünftig!«

»Ach, jetzt reicht es mir gleich!«, antwortete sie und wandte sich ab.

Wenig später war sie aus der Tür. Bernhard blieb zurück, in den Händen den Mantel. Er legte ihn vorsichtig über einen Stuhlrücken und schüttelte langsam den Kopf. Mein Gott, murmelte er vor sich hin und war für einen Moment völlig ratlos.

Johannes kam zurück, er warf seinem Schwager einen kurzen Blick zu: »Du trinkst deinen Kaffee nicht?«, fragte er freundlich.

»Sie war wütend«, meinte Bernhard und versuchte zu lächeln, »sie war wirklich richtig böse! Und alles nur wegen dieses kleinen Mantels!«

Johannes fuhr sich über das Gesicht und knetete lange sein Kinn. »Ich habe unten bei Fredag dein Konto gesehen«, sagte er. Bernhard lächelte wieder: »Ja, nun … Da waren auch noch ein paar andere Dinge … Aber es war nun sie selbst, die so aus der Haut gefahren ist.«

»Ich bedaure, dass ich dich nicht getroffen habe, als du gestern Abend hier warst«, meinte Johannes leise und wandte sich ab, »dann hätte ich dich gewarnt.« »Was meinst du damit?«, fragte Bernhard und wurde rot. Johannes deutete mit dem Daumen Richtung Haustür und flüsterte: »Ich hätte dich gewarnt vor … vor diesem Flittchen! Ja, das sage ich, obwohl sie meine eigene Schwester ist. Keinen Funken Anstand hat sie im Leib, nicht den geringsten!«

Bernhard hob den Kopf, feindselig sah er seinen Schwager fragend an: »Bist du des Teufels, Johannes?« Seine Stimme zittert und drohend machte er einen Schritt auf ihn zu. Johannes blickte ihm zum ersten Mal in die Augen und sagte schnell: »Da ist nicht nur das mit deinem Konto, Bernhard, es gibt noch etwas anderes – Schlimmeres! Ich sage es, weil ich auf deiner Seite bin, das weißt du doch sicherlich … weil ich der Ansicht bin, dass du es wissen sollst. Ich komme hier nicht mit gewöhnlichem Weibertratsch.«

Mit barscher Zutraulichkeit neigte er sich Bernhard zu: »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen … sie hatte Fredags Sohn Georg hier bei sich im Heuschober, nicht nur einmal, nein, mehrmals. Na! Und er dürfte kaum der Einzige sein. Hast du nun verstanden?«

»Sie? Abria?«, fragte Bernhard und fühlte sich plötzlich im Inneren so eiskalt, als handelte es sich um etwas, das ihn eigentlich nichts anging: »Wie, ist sie so eine? Ja dann.«

»Ja, so eine ist sie«, erwiderte Johannes, »sie hält dich zum Narren. Du bist ein Esel, wenn du weiter mit ihr zu tun haben willst. Such dir eine andere … es gibt genug davon!«

Bernhard nickte ruhig, als nähme er demütig seine Lektion entgegen. »Sicher. Ja. Ja, auf Wiedersehen, Johannes«, sagte er mit einem versteinerten Lächeln.

Johannes nahm seine Hand: »Auf Wiedersehen, du. Ja, verstehst du, ich wollte einfach immer ehrlich zu dir sein, von Anfang bis Ende. Ich weiß, dass du all right bist, Bernhard. Dir kann es nur recht sein, dass du gewarnt wurdest.« »Ja, sicher«, Bernhard nickte. »Sicher. Wenn es so schlimm aussieht.«

Einen Moment drehte sich alles um ihn. Gestern Abend … Sie hatte ja unten an der Brücke gestanden, als sie anlegten, und hatte glücklich und aufgewühlt gewirkt. »Komm mit rauf zu uns, ich bin allein zu Hause!«, hatte sie geflüstert, und sie waren den Åbakke hinaufgegangen, eng umschlungen, sie hatten kurz auf ihrem Bett gesessen und sie hatte sich ihm hingegeben. Ganz und gar, ganz wild war sie gewesen.

Bernhard ging langsam die Anhöhe hinunter, er fühlte sich so schwach in den Beinen, dass er sich für einen Augenblick auf einen Stein setzen musste. Abrupt stand er wieder auf und biss die Zähne zusammen. »Johannes lügt!«, dachte er bei sich. »Er lügt! Dahinter verbirgt sich irgendetwas anderes, was auch immer es sei. Er will, dass es mit Abria und mir aus ist … Er denkt wohl, ich bin nicht gut genug für sie. Es passt ihnen nicht, dass ein armer Neusiedler aus dem Dødmandsdal wie ich …«

Rasch wandte er sich um und lief zum Haus zurück, öffnete die Tür. »Abria!«, rief er mit tränenerstickter Stimme: »Bist du da? Abria, hörst du mich?« Nein, sie war ja nicht hier. Johannes sah ihn an, er wirkte sehr besorgt und sagte freundlich: »Du bist völlig außer dir, Bernhard, beruhige dich doch … Vorhin hast du doch so vernünftig reagiert!«

Bernhard stotterte: »Du … ihr … ihr wollt mir ans Leben, jawohl! Nichts anderes wollt ihr!«

Er bückte sich und bekam einen Schürhaken zu fassen, schleuderte ihn jedoch von sich und lief schluchzend aus dem Haus.

Zwei Männer kamen die Åbakke-Anhöhe hinauf, es waren Abrias Vater und ihr jüngerer Bruder. Bernhard verließ den Weg, damit er ihnen nicht begegnen musste, und fing an zu laufen. Eine Zeit lang lief er ziellos umher, watete durch Bäche, sprang über ein paar Steinzäune, lief weiter durch die Außenmark und hinunter zum Strand. Hier blieb er eine Weile stehen, um zu verschnaufen. Dann ging er langsam am Strand entlang zurück, bis er Fredags Landungsbrücke erreichte, an der das blau-grau gestrichene Noatunboot lag. Kurz darauf hörte er Niels Peters Stimme: »Na, da bist du ja endlich, Bernhard! Wo bleibst du denn? Lauf hoch und geh Sinklar zur Hand … Wir müssen zusehen, dass wir loskommen, es sieht nach Sturm aus!«

Wie durch dicken Schlaf hörte er Sinklars Stimme: »Hier, heb mir diesen Korb mit Fischköpfen auf den Rücken, du kannst einen der beiden Mehlsäcke nehmen!«

*

Am nächsten Morgen stand Niels Peter zeitig auf und weckte Bernhard.

»Das Wetter ist gut … Wir müssen los und oben anpacken, roden und Gräben anlegen! Wir müssen zusehen, dass wir vorm Winter so viel schaffen wie möglich!«

Bernhard antwortete verschlafen: »Ach, fahrt doch … zum Teufel mit euch!«

Niels Peter traute seinen Ohren nicht. Der freundliche, sanfte Bernhard! Da bemerkte er den scharfen Branntweingeruch, der vom Wandbett des Schwagers aufstieg. »Gott behüte«, sagte er leise, »hast du hier im Bett getrunken – ganz allein? Was ist denn los mit dir, Junge?« »Ist er betrunken?«, flüsterte Angelund bestürzt, der nun vollständig angezogen erschien, in der Hand einen ledernen Hautschuh. »Ja, verstehen Sie das?«, fragte Niels Peter mit versteinertem Gesicht. »Das habe ich ja noch nie erlebt! Ausgerechnet Bernhard, der sonst kaum einen Tropfen trinkt!«

Schnuppernd trat Angelund an den Alkoven und fasste die Hand seines Sohnes: »Aber Bernhard! Was machst du nur?«

Grimmig richtete sich Bernhard auf und donnerte die Faust gegen die Wand, dass das ganze Haus dröhnte: »Belogen und betrogen habt ihr mich, ihr alle. Habt ihr verstanden?«

»Ist ja gut, leg dich wieder hin und sei wenigstens still!«, ermahnte ihn hilflos der Vater.

Widerstrebend legte sich Bernhard wieder hin, und kurz darauf schnarchte er vernehmlich. Kopfschüttelnd blickten Angelund und Niels Peter einander an. Sunneva stand am Feuer, schüttelte ebenfalls den Kopf. »Als ihr gestern kamt, war er völlig nüchtern«, wisperte sie, »um sieben ist er schon schlafen gegangen … Woher hat er nur den Schnaps, er hat doch sonst nie welchen?«

Niels Peter ging hinunter zum Bootshaus, in dem Sinklar eine Dachkammer bewohnte. Sinklar entzündete eine Lampe neben seiner Koje. »Geht’s zum Fischen?«, fragte er hellwach. »Nein, ich wollte dich fragen, ob du Bernhard Schnaps gegeben hast.« »Nun ja … Er bat mich gestern Abend um einen Schluck, weil er Zahnschmerzen habe, ich hätte ihm den Zahn ja gezogen, aber davon wollte er nichts hören, also habe ich ihm eine Flasche überlassen.« »Bis heute morgen hat er sich nun betrunken«, sagte Niels Peter, »weiß der Himmel, was in ihn gefahren ist.«

Gegen Mittag wurde Bernhard wach, blieb jedoch im Bett, bis es dämmrig wurde. Dann schlich er sich hinaus an den Bach, um etwas zu trinken. Sein unmenschlicher Durst ließ ihn das Wasser wie ein Tier saufen, bäuchlings lag er da und ließ das kalte klare Wasser des Flüsschens in sich hineinlaufen. Als er sich wieder erhob, stand sein Vater bei ihm. »Sind die Zahnschmerzen jetzt besser?«, fragte der Alte vorsichtig und mit zärtlicher Stimme. »Ja, die Zahnschmerzen sind weg«, erwiderte Bernhard, »aber ich … ich …«

»Du hast wohl einen über den Durst getrunken!« Angelund lachte beruhigt. »Aber jetzt kommst du lieber mit nach Hause einen Happen essen, das wird dir gut tun!«

Widerstrebend ging Bernhard mit. Es gab gesalzenes Walfleisch und Speck und feine neue Kartoffeln, aber während er kräftig zulangte, hatte er die ganze Zeit nur einen Gedanken: »Hier sitze ich und fresse mich voll und kann doch nicht einmal meinen Anteil zahlen, betrogen wie ich bin!«

Niels Peter und Angelund hatten den ganzen Tag auf den Feldstücken gearbeitet und legten sich, müde, wie sie waren, gleich nach dem Abendessen schlafen. »Das nächste Mal, wenn du Zahnschmerzen bekommst, lass dir lieber von Sinklar den Zahn ziehen«, meinte Niels Peter.

Wieder allein, wurde Bernhard von Trauer und Verzweiflung übermannt. Eine Weile lag er da und kämpfte mit den Tränen, dann kam ihm der Gedanke, zu Sinklar hinunterzugehen und sich ihm anzuvertrauen.

Auf dem Dachboden des Bootshauses herrschte eine sengende Hitze, ein unbestimmbarer Geruch nach Teer und Essen hing in der Luft. Sinklar war damit beschäftigt, die Ritzen und undichten Stellen des Raumes mit Pech und Werg abzudichten. »Das soll hier drin wie in einer Blechbüchse werden, nicht ein einziges Loch«, meinte er, »aber für heute Abend reicht es, ich mache uns jetzt eine Tasse pechschwarzen Kaffee. Den Schnaps hast du Kerl ja gestern Abend wohl weitgehend leergemacht? Was machen die Zahnschmerzen, soll ich das Teil nicht lieber gleich rausbefördern?«

»Ich hatte gar keine Zahnschmerzen«, sagte Bernhard und machte es sich auf einem leeren Sack in der Ecke des langen, dreieckigen Raumes bequem. »Du kannst sicher ein Geheimnis für dich bewahren, Sinklar? Na, dann hör zu.«

Sinklar hörte aufmerksam zu und goss derweil den Kaffee auf. »Ruiniert hat sie dich und dir dazu auch noch einen nassen Handschuh aufs Maul geklatscht. Ja, das überrascht mich nicht, so sind sie, die Frauen. Ich alter Kerl weiß Bescheid, da kannst du deine Seele drauf verwetten! Und deshalb habe ich mich vor den Frauen gehütet, als wären sie die Pest!«

Sinklars großes vernarbtes Gesicht strahlte, während er den duftenden Kaffee in zwei neue Blechbecher füllte. Der verschleierte Blick und die grobe Nase ließen Wohlwollen und Behagen erkennen. Er reichte Bernhard eine Blechdose mit Zucker, schüttelte sich und fuhr in einem belehrenden Tonfall fort: »Ich bin fast ein halbes Jahrhundert alt und habe viele Frauen gesehen, viele gekannt. Alle möglichen Frauen, große und kleine, hässliche und hübsche, Frauen jeder erdenklichen Haarfarbe, aller möglichen Haut, verstehst du, aber ich habe den Schwarm an mir vorüberziehen lassen, denn ich habe sie alle, jede einzelne, durchschaut. Was wollen die Frauen? Einen Mann aussaugen wollen sie. Teufel sind sie, Bernhard, sie lieben niemanden außer sich selbst. Hast du mal eine nackte Frau gesehen? Nein. Nicht ganz nackt. Das habe ich mir gedacht. Erst dann begreift man nämlich, wie teuflisch Frauen sind. Überhaupt nicht hübsch, hübsch kann nur das Gesicht sein, der Körper aber, der ist scheußlich.«

Träumerisch schwelgend schlürfte Sinklar seinen Kaffee: »Ach, in einer englischen Stadt, wo wir eine Ladung Fisch verkaufen wollten, war ich einmal in einem Puff. Du meine Güte! Was konntest du da nicht für tolle Sachen sehen! Manchmal träume ich nachts davon, so grässlich war es, von vorne bis hinten ein einziger Albtraum! Arme, so dick wie die Oberschenkel erwachsener Männer, und Brüste wie Walmägen. Ja, das war höllisch, sage ich dir … Da gab es eine Schwarze, eine Art Afrikanerfrau, sie sah aus, als hätte man sie mit brauner Seife eingeschmiert. Und eine Rothaarige war da, ganz weiß wie eine Tote und voller blauer Adern wie ein gesprungener Lehmbecher, aber die Haare so glutrot, dass man sich schier daran verbrannt hat!«

Sinklar lachte, sein Blick verschwamm. »Und nicht nur körperlich sind sie schrecklich«, fuhr er fort, »sie haben auch keine Seele, sie sind unzuverlässige Wortbrecher und Lügenbolde und denken an nichts anderes, als einen Mann bis auf die Haut auszusaugen, seinen Körper wie seinen Geldbeutel. Hör zu, wir trinken ein Schlückchen zum Kaffee, nur einen kleinen Aufmunterer, den kannst du jetzt gebrauchen, du betrogener Hund!«

Sinklar zog eine Flasche hervor, seine Stimme klang jetzt ganz anders: »Ich bin auch einmal verlobt gewesen, Bernhard, und zwar mit einem anständigen Mädchen, einer, die nicht log und betrog. Jetzt zeige ich sie dir! Zum Wohl!«