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Georg Braun

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Beschreibung

Die Stuttgarter Erfolgsanwältin Renate Drachenberger geht zum Frauenarzt und erhält die niederschmetternde Botschaft: Sie hat noch drei Monate zu leben. Sie beschließt, die restliche Zeit ohne ihre Familie – Mann Olaf und die noch kleinen Kinder Maja und Tim – zu verleben. Als erstes löst sie die Kanzlei auf. Sie irrt obdachlos durch Stuttgart, weil sie ihren Kindern ihr Leiden ersparen möchte. Nachdem die Odyssee durch die Heimat und die Vergangenheit keinen Halt geboten hatten, entflieht sie auf Gran Canaria. Dort lernt sie den Arzt Roy Manfeld und dessen Familie kennen, die wie sie den Urlaub verbringen wollen. Zwischen dem Arzt und Katja beginnt eine Liebelei, die der Arzt aus Angst vor der Trennung von Frau und Tochter bald aufgibt. Katja tut ihm leid. Er kennt einen bisher unbekannten, aber erfolgversprechenden Weg der Krebsheilung. Katja wird wieder gesund. Doch als sie gesund nach Hause zurückkehrt, erwartet sie die nächste Überraschung …

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Veröffentlichungsjahr: 2021

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Georg Braun

Noch drei Monate zu leben

Inhaltsverzeichnis

Noch drei Monate zu leben

Brutale Wahrheit

Wie geht es weiter?

Die Gunst der Stunde

Impressum

Noch drei Monate zu leben

Roman

Georg Braun

Deutschsprachige Erstausgabe September 2019

Copyright © 2019 Georg Braun

Alle Rechte vorbehalten

Paperback: ISBN-13:

Brutale Wahrheit

Der Hals fühlte sich trocken an. So staubig, dass man Sand hätte rieseln hören können. Die befremdliche Ruhe, die die Damen vereinte, weil die Angst sie beherrschte, stockte ihren Atem. Das Schweigen verband in der erwartungsschwangeren Stimmung, die allen aufs Gemüt schlug. Jene Frauen hofften noch, die meisten ahnten jedoch, was auf sie zukommen würde. Der halbvertrocknete Gummibaum, der das Wartezimmer schmückte und zur Hälfte ausfüllte, stand symbolisch für die vorherrschende seelische Verfassung. Mit einem Mal könnte alles aus sein. Der Lenker ihres Schicksals drückte „End and Over“. Das Leben fiel in den Schlund der Sinnlosigkeit. Dabei hatte es gerade erst richtig begonnen.

Sie stierte an die kahle, weiß gestrichene Wand. Sie fühlte sich wohl dabei. Die Leere entsprach ihrer Gefühlslage.

»Ja, ich bin leer. Schließlich ahne ich, was mich erwartet.« Sie saß nicht einsam und allein im Wartezimmer. Wie im Schlachthof zitterten fünf weitere Frauen mit ihr im Raum und wirkten äußerst angespannt. Warteten auf das Finale. Den endgültigen Bolzenschuss, der ihre Träume wie Plastik zersplitterte.

»Die kucken auch alle wie zehn Wochen Regenwetter. Alle warten auf das Urteil des Arztes.«

Katja fühlte wie die anderen Frauen, eine ernstgemeinte Änderung ihres Lebens heranschleichen. Leise und diskret. Hinterlistig grub sich eine Krankheit erst in ihren Leib, dann in das gesamte Leben. Sie fragte nicht, ob sie erwünscht wäre. Sie bat nicht um Einlass. Sie machte einfach. Und schuf sich Bahn, genauer, fraß sich in die Blutbahn. Das ahnte sie und aus dem Grund suchte sie am 16.9.2016 das Arztzimmer von Dr. Manfred Gruber in Degerloch auf. Er war der Gynäkologe ihres Vertrauens. Er kannte sie, seit sie quasi die erste Regel hatte. Die Mutter schleppte sie zu Dr. Gruber. Sie kannte ihn über dessen Frau, Schulkameradinnen eben.

»Katja, kommen Sie herein.« Die Anrede entsprach der Beziehung der beiden. Den Vornamen behielt er bei, weil er mit der Patientin seit ihrer Kindheit bekannt war. Das »Sie« drückte den Respekt gegenüber der erwachsenen jungen Dame aus. Schließlich handelte es sich bei Katja Maurer um eine dreiunddreißigjährige Mutter zweier Kinder. Maja, sechs und Tim vier Jahre. Und eine erfolgreiche Strafverteidigerin trotz des jugendlichen Alters. Sie lebte und Stuttgart und man kannte sie.

»Wie fühlen Sie sich?«, erkundigte sich der Arzt mit seiner üblichen, professionellen Miene. Dabei musste er es doch wissen, in welcher emotionalen Verfassung sein Gegenüber wäre.

»Wie fühle ich mich? Gute Frage. Wie alle, die da draußen im Wartezimmer sitzen und auf eine Hiobsbotschaft warten«, antwortete sie mit einer gefassten Trauer.

»Sie rechnen nur mit dem Schlimmsten?«, machte er Katja beinahe Mut. Fast schon verantwortungslos, diese Frage.

»Hören Sie bitte auf, Theater zu spielen«, reagierte seine Patientin unwirsch und von dem langen Warten genervt. »Die meisten Frauen erhalten doch ihr Todesurteil ausgehändigt.«

»Jetzt bleiben Sie auf dem Teppich und hören auf, mich zu beleidigen. Ja, Schreckensmeldungen gehören zu meinem Job. Ich würde jeder Frau liebend gerne nur das Beste wünschen. Ich lüge aber nicht.«

»Spannen Sie mich nicht länger auf die Folter.«

»Auf die Folter spannen? Diese Zeiten sind vorbei. Können Sie überhaupt die Wahrheit ertragen, ich meine in Anbetracht Ihres dünnen Nervenkostüms?«

Diese Reaktion überraschte sie, aber gab ihr eine Vorahnung, die sie endlich verbalisiert schwarz auf weiß sehen oder hören wollte.

»Katja, ich habe die Ergebnisse der Gewebeprobe vorliegen. In ihrer rechten Brust befindet sich ein bösartiges Karzinom. Es beißt sich regelrecht durch die Brust und es besteht nicht die geringste Chance einer zielführenden OP.«

»Äh, ja, äh. Was heißt das?«, fragte Katja verwirrt.

»Drei Monate.«

»Was, drei Monate?«

»Regeln Sie Ihre Angelegenheiten. Sorgen Sie sich um Ihre Kinder und genießen die letzte Zeit.«

»Moment, Dr. Gruber. Woher wollen Sie exakt wissen, wie lange ich zu leben habe? Spielen Sie nicht den lieben Gott.«

»Frau Maurer, ich spiele keine Rolle. Sie wollten die Realität, jetzt macht Sie Ihnen Angst. Todesangst. Verstehe ich.«

»Hören Sie, ich bin zeitlebens eine Kämpferin gewesen. Aufgeben ist nicht. Bitte, forschen Sie nach Möglichkeiten, wie ich doch noch gesunden kann, bitte.« Gruber drehte ab. Er dachte an die Forschungen der Dr. Kübler-Ross, einer schweizerischen Forscherin, die in die Staaten ausgewandert war. Die zweite Sterbephase lautet »Verleugnung«. In jener schien seiner Meinung nach Katja gerade zu sein.

»Frau Maurer, wir kennen uns schon etwa zwanzig Jahre. Sie hatten mir immer vertraut, wieso verlieren Sie ausgerechnet jetzt das Zutrauen in meine ärztliche Kompetenz?«

Sie überhörte die Frage und reichte nicht mal dem Doktor zum Abschied die Hand, was er ihr nachsah. Sie stapfte vor die Praxis und kämpfte mit der Realität, die sie als Juristin gerne ein wenig hinbog.

So genau, wie der Frauenarzt die Lage erläuterte, wollte sie es nicht wissen. Sie hatte geahnt, worauf Gruber abzielte. Sie lehnte die Botschaft ab. Nein, das entsprach weder der Wahrheit noch ihrem eigenen Gerechtigkeitsempfinden. Sie hatte erst vor drei Jahren angefangen, eine bekannte Juristin zu werden. Sie kämpfte um die Gerechtigkeit anderer. Straftäter boxte sie aus der Haft. Aber selbst? Sie wurde Opfer einer minimalen Krebsgeschwulst, die sich durch die Brust fraß. Ihre Methoden griffen nicht. Sie war gewohnt, für alle Probleme des Daseins ein Mittel zu haben. Eine Strategie zurechtlegen, eine Recherche durchführen. Doch jetzt ging es um was anderes. Es ging ums Ganze. Um sie. Und um niemand anderen.

»Wie bringe ich die Nachricht Olaf bei? Und den Kindern?«

Bei dem Gedanken an Maja und Tim schossen die Tränen das geschminkte Gesicht runter. Sie ließ alles zu. Warum schönen? Ich verlege meinen Wohnort sowieso bald unter die Erde. Dafür brauche ich keine Schminke mehr.

Katja war fertig. Sie torkelte wie ein Betrunkener aus der Praxis und wusste nicht, wohin sie gehen sollte. Ihre Eltern, Kurt Brandauer, 65, und die fünf Jahre jüngere Mutter Ilse, passten zur Stunde auf die Kinder auf. Sie in ihrem jetzigen Gefühlszustand aufzusuchen, würde alle aus dem Gleis werfen. Fürs Erste reichte, dass sie mit dem Schicksal haderte. Sie richtete die wässrigen Augen gen Himmel. Ihre religiöse Ader wirkte sehr unterentwickelt, zählte sie sich selbst eher zu den Agnostikern. Mit Gott hatte sie es nicht so eng. Sie vertraute mehr ihren eigenen Möglichkeiten. Aber jetzt, wo alles anders werden würde, könnte es nicht schaden, doch mal um himmlischen Beistand zu flehen. Es könnte sein, dass …

»Ja, Mama, was ist?«, fragte sie plötzlich ihre Mutter, die ihren Gedankenkreisel durch ihren Anruf abrupt abstoppte.

»Katja, was ist passiert? Du wolltest doch nach dem Arztbesuch Tim und Maja abholen?«

»Mir ist was dazwischengekommen. Wird später.« Die Lüge musste sein. Sie kämpfte berufsmäßig um die Wahrheit, wenn sie für den Mandanten günstig kam. Jetzt bot ihr die Notlüge einen kleinen Freiraum. Luft zu holen und die Gedanken ordnen.

Der Weg in die Innenstadt schien ihr seelisch verbaut. Sie befürchtete, einige der vielen Bekannten würden sie erkennen und etwa ansprechen. Nein, das löste Brechreiz aus. Rechtfertigen für eine Notsituation, für die sie nichts konnte. Darauf verzichtete sie liebend gerne. Sie erkannte plötzlich wieder, wo sie lief.

»Dort vorne muss der Degerlocher Park sein. Hier möchte ich hin, auf eine Bank sitzen und warten, was mir die Gedanken so flüstern.«

Sie betrat die mit Sträuchern überwucherte Parkanlage und stellte fest, wie belebt der Platz zu dem Zeitpunkt war. Viele Kinder tobten auf dem Spielplatz und nahmen kaum Notiz von ihr.

»Die haben alle noch ihr Leben vor sich. Ich …« Sie erlebte das Wuseln der Kids als Kontrast zu ihrer eigenen, brutalen Befindlichkeit. Erstmals, seit sie denken konnte, drängte der Gedanke der Endlichkeit des Lebens an die Bewusstseinsoberfläche und besetzte ihren Gedankenkreis. Die kindliche Lebhaftigkeit schmerzte sie. Ja, die Kinder fügten ihr Leid zu, ohne es zu wissen. Schweres Leid.

»Die sind brutal zu mir. Sie verdeutlichen mir, dass sie leben. Ich bald nicht mehr.« Sagte es und verließ den zweiten schmerzhaften Ort an dem Tag. Nach der Arztpraxis Dr. Grubers.

Die Wahrheit tut weh

Olaf Maurer arbeitete als Vorstandsvorsitzender der Pekunia AG. Eine Vermögensberatungsgesellschaft mit dem Versprechen der bestmöglichen Geldanlage. Ob die Zusagen immer aufrechterhalten werden konnten, verriet Olaf nur zögerlich.

»Viele Unternehmen befinden sich in direkter Abhängigkeit der Global Player in den Staaten. Da können leider nur etwa siebzig Prozent der Versprechen gehalten werden. Den anderen bieten wir alternative Optionen an.«

Charmant, wie er die eingeplante Verlogenheit verbal verpackte. Der kleine Mann, der Gott sei Dank nicht zu den Kunden Maurers zählte, würde ihn vor den Kadi zerren. Unter seinesgleichen verzichtete man auf derart kraftzehrende Scharmützel. Sie ruinierten den beiderseitigen Ruf.

Olaf und Katja lernten sich während des Studiums in Stuttgart kennen. Er, der strebsame Betriebswirt, sie die ehrgeizige und karrieresüchtige Juristin. Die Zielstrebigkeit vereinte die beiden und trieb sie zu Höchstleistungen.

Sie heirateten bald nach ihren Abschlüssen. Der Steuer wegen, wie Olaf schmunzelnd prahlte. Als turtelnde, knutschende, Händchen haltende, junge Menschen traten sie niemals in der Öffentlichkeit in Erscheinung.

»Wie die beiden zu Kindern kamen, ist mir heute noch ein Rätsel«, flachste Gabi Bauer, eine gemeinsame Bekannte.

Für das nach schwäbischen Prinzipien lebende Paar gehörten Kinder dazu.

»Uns kommt sehr entgegen, dass meine Eltern auf die Kids aufpassen.«

Olaf wirkte privat höchst verklemmt und zurückhaltend, er brachte Worte wie „Liebe“ oder „Schatz“ niemals über die Lippen.

»Eine Ehe muss funktionieren, sonst brauche ich sie nicht. Wenn die Frau Zicken macht, suche ich eine Haushälterin und gut ist«, sagte er Gabi, als sie ihn dezent auf seine sachliche Sprache Katja gegenüber angesprochen hatte.

Der auswärtige Olaf gab ein deutlich anderes Bild ab. Von wegen prüde und zurückhaltend. Die Insider äußerten unabhängig, er hätte nur aus Prestigegründen Katja geheiratet. Sie entsprach den üblichen Wertvorstellungen.

Olaf gab den Mitarbeitern zu verstehen, er möge ungestört bleiben, weil er eine Vorstandssitzung vorbereite.

»Strategiealternativen angesichts des Präsidentschaftswechsels in den USA«, lautete der Titel. In Wahrheit hatte er Besuch. Jenny Kaufmann, die vierundzwanzigjährige Chefsekretärin verwöhnte ihn gerade. Französisch, was er besonders genoss. Die schalldichten Türen und Wände taten das Nötige, damit die Schäferstündchen unentdeckt geblieben waren. Abends fanden die Treffen ihre Fortsetzung. Bei Jenny in der kuscheligen Penthouse Wohnung. Eine Geldanlage Olafs, von der Katja keine Kenntnis hatte. Bei seiner Geliebten ließ er jegliche Hemmung fallen. Da verhielt er sich zügellos, weil Jenny seine sexuellen Wünsche und Vorlieben erfüllte.

Sie stand mehr auf Dildo-Spiele, während er hart rangenommen werden wollte. Olaf blieb so manchen Tag bis spät in den Abend bei seiner Geliebten. Katja war es egal. Sie zog ihre Befriedigung aus gewonnenen Strafverfahren, weniger aus sexuellen Aktivitäten. Das bedeutete indes keinesfalls ein asexuelles Leben. Sie pflegte nur eine intime Beziehung, nämlich zu Olaf. Man schlief wöchentlich einmal miteinander, das genügte ihr vollkommen.

»Schatz, in deinem Terminkalender stand „Katja beim Frauenarzt“. Was kam bei der Untersuchung raus?«, fragte Jenny mit einer echten Besorgnis. Die bezog sich aber auf weniger werdende Treffen mit Olaf, weil sie befürchtete, er würde im Falle einer schlechten Ausgangslage aus Fürsorge mehr Zeit mit Katja verbringen wollen.

»Keine Ahnung, was der Gruber austüftelte.«

»Was? Hat sie dich nicht angerufen?«

»Nein. Findest du das schlimm?«

»Nee. Du musst wissen, ob das Verhalten deiner Frau Grund zur Sorge gibt.«

Jenny hatte Olaf durch die Frage aufgeschreckt. Er wirkte plötzlich introvertiert, beinahe traurig. Nicht, dass er sich was antäte, falls Katja eine schlimme Nachricht erhalten hatte. Ihm fielen im Bett neben Jenny Maja und Tim ein, die auf ihre Mama dringend angewiesen wären. Er kam sich schäbig und widerwärtig vor. Er vögelte die Geliebte, seine Frau könnte in der Einsamkeit mit dem Schicksal hadern und bräuchte händeringend eine tröstende Hand und eine warme Schulter, an die sie anlehnen könnte.

Jenny missfiel die ungewohnte Nachdenklichkeit Olafs und wollte ihn auf andere Gedanken bringen:

»Wie lief eigentlich die Vorstandssitzung?«

»Was? Vorstandssitzung?«

Olaf war in anderen Gedanken versunken. Er dachte an Katja und die Kinder. Das Ablenkungsmanöver missfiel ihm. Er sagte nichts zu dem Thema.

»Schatz, ich glaube, es ist besser, wenn ich gehe. Irgendwie spüre ich, wie sehr ich gebraucht werde. Sei mir nicht böse. Melde mich.«

Sagte es, zog die Kleidung an und verabschiedete sich mit einem kurzen, nicht minder zärtlichen Kuss. Kaum saß er im Auto, klingelte das Handy. Er nahm zunächst nicht ab, er wollte schnell zu Hause sein. Bei Katja, Tim und Maja.

»Sag mal, weißt du, wo Katja steckt?«, fragte ein aufgewühlter Kurt.

»Nein, ist sie noch nicht bei euch gewesen und hat die beiden abgeholt?«

»Leider nicht. Sie geht nicht mehr ans Handy. Kann aber auch ein Funkloch sein.« Die Sorge des Schwiegervaters wirkte ehrlich und authentisch. Olaf und er pflegten kein inniges Verhältnis, sie besprachen durchaus die wichtigsten Themen und respektierten unterschiedliche Auffassungen des anderen zu wichtigen Themen. Brandauer hatte den Braten gerochen, was die eheliche Treue Olafs betraf. Er spürte, dass der Schwiegersohn sie als dehnbar auslegte.

»Wo steckst du gerade? Habe vorhin versucht, dich zu erreichen?«

Olaf hörte die Frage, drückte den Anruf weg und trat aufs Pedal. Wie von einem Magneten angezogen, drängte es ihn zu den Kindern und der Ehefrau. Die Angst, als jämmerlicher Versager dazustehen, trieb den Puls in ungesunde Höhen und den Fuß härter aufs Gaspedal. Geschwindigkeitsbegrenzungen kümmerten ihn nicht. Zweimal schon fuhr er in eine Radarfalle.

Das regele ich mit meinen Kumpels von der Polizei. Verstehen, wie beschissen es mir gerade geht.

Vollbremsung. Kinder strömten aus einer Kindertagesstätte und rannten bei „Rot“ über die Ampel.

Verdammt, können die nicht kucken, hab’s verdammt eilig.

Schweiß tropfte aufs Lenkrad, er wischte den mit den Fingern weg und fuhr weiter. Noch zweihundert Meter, dann wäre er …

Wer läuft denn da vorne?

Er hielt an. Gab ihr zu verstehen, sie möge einsteigen. Mit einer abweisenden Handbewegung lehnte sie das Angebot trocken ab. Zu stark der Schmerz, dem Vernunftehemann Rede und Antwort zu stehen. Er fuhr Schritttempo, dass er sie beobachten konnte. Plötzlich war er angekommen, bei Ilse und Kurt. Sie war nicht mehr zu sehen.

Hoppla, wo ist die hingelaufen?

Die unerwartete Wendung verwirrte Olaf. Was sollte er als erstes tun? Die Kids abholen, nach ihr suchen?

Auto abstellen. Warten. Bis entweder die Kinder rausstürmen oder Katja zurückkehrt.

Die Haustür der Brandauers öffnet sich einen Spalt breit. Kinderaugen lugen raus. Tim spritzt aus der Tür und rennt zum Wagen. Reißt die Fahrertüre auf.

»Papa, spielst du mit mir?«

»Gleich, Schatz, Daheim. Hol Maja und sage Oma und Opa Danke und Tschüss.«

Die Schatten der Vergangenheit

Katja hatte Olafs Auto und dessen winkenden Hände wahrgenommen. Die Schmerzen, die sie spürte, für den Fall, dass Olaf sie blöde oder entsetzt anstarrte, löste in ihr nur in der mentalen Vorstellung ein unerträgliches Unbehagen aus. Sie zog den Rückzug vor. Olaf würde Tim und Maja schon abgeholt haben. Die beiden würden sowieso nie und nimmer verstehen, was mit ihrer Mama geschehen war und noch würde.

Instinktiv entschied sie, an Orte zurückzukehren, wo sie sich aufgehalten, Erfolge gefeiert hatte und akzeptiert wurde, wie sie war. Wo sie keine Verrenkungen vollführen musste, weil sie anders als andere war. Sie verfügte über außergewöhnliche Begabungen und als Konsequenz legte sie das beste Abi der Schule ab, des Hermann – Hesse-Gymnasiums in Degerloch, ab. Dort schätzte man ihre Auffassungsgabe, mit der sie vor vierzehn Jahren ihre Reifeprüfung ablegte. Es war Mittwochnachmittag, siebzehn Uhr. Eigentlich Feierabend für Schüler und Lehrer. Umso größer ihr Erstaunen, als sie die Eingangstüre öffnete und eintreten konnte.

»Es riecht immer noch wie zu meiner Zeit. Woran das wohl liegen mag?«, schmunzelte sie und vergaß für einen Moment den Grund für ihre ungeplante Rückkehr. Sie stand vor den Aquarien, die sie schon als Sechstklässlerin pflegte und beobachtete. Hier legte sie die Grundsteine ihres heutigen Verantwortungsbewusstseins. Denn auch in den Ferien bedurften sie Aquarienbewohner ihrer Aufmerksamkeit und Pflege. Sie verzichtete daher auf einige Urlaubsreisen mit Kurt und Ilse und blieb bei den Großeltern, nur um zweimal wöchentlich die Fische zu füttern und frisches Wasser nachzufüllen. Unbewusst hing sie damals schon an den irdischen, nicht - menschlichen Geschöpfen der Erde. Die Eltern verstanden sie oftmals nicht. Sie ließ die beiden alleine Reisen, als Ilse und Kurt in die Karibik flogen und dort die Schönheiten der Natur genossen.

Die Fische faszinierten die ausgebuffte, vom Leben gezeichnete Juristin auch als ausgewachsene Persönlichkeit. Die leuchtenden Farben, die Schuppen, die grazilen Bewegungen. Manches Lächeln huschte über ihre Lippen, als die Buntbarsche ihre Runden drehten und einander umkurvten.

»Wie die Hindernisse vermeiden, finde ich klasse. Sie gehen ihnen einfach aus dem Wege, als ob sie Luft wären. Wenn ich das auch könnte?«, dachte sie wieder an den Grund des Schulbesuchs.

Katja bemerkte den Beobachter hinter ihr nicht. Sie wurde erkannt. Bernd Grimmelshofer, Lehrer für Biologie und Chemie, hatte sie wiedererkannt und sich vorsichtig angeschlichen. Er tippte ihr auf die rechte Schulter. Sie erschrak, drehte sich ruckartig um und staunte:

»Herr Grimmelshofer, haben Sie keinen Feierabend?«

»Nein, wir hatten heute noch die Gesamtlehrerkonferenz. Was treibt sie zurück?«, stellte er die entscheidende Frage.

»Ich habe Sie lange nicht gesehen«, legte er nach.

»Die Erinnerungen trieben mich hierher. Wissen Sie, es gibt Augenblicke im Leben, da will man an bestimmte Orte wieder zurück. Wie magisch angezogen. Die Erinnerungen geben Kraft und Sinn, wenn alles andere sinnlos geworden ist.« Der Lehrer staunte. Eine zwanzig Jahre jüngere Frau drängte es in die alte Penne. So ganz verstand er die Motivlage noch nicht.

»Und was sind die Situationen, in denen Sie an Ihre Zeit bei uns denken? Wenn ich richtig informiert bin, arbeiten Sie als sehr angesehene und erfolgreiche Juristin. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie unter Erfolglosigkeit leiden.«

»Meinen Sie, ich bestehe nur aus Erfolg, Anerkennung und Moneten. Glauben Sie allen Ernstes, ich komme aus diesen Gründen?«

Grimmelshofer stand mit geöffnetem Mund vor ihr und starrte sie an. So kannte er sie nicht. So nahm er sie in der Erinnerung nicht wahr. Sie wirkte als Schülerin auf ihn äußerst ehrgeizig, zielstrebig und materiell orientiert. Er wollte nicht nachhaken, meinte aber zur Rechtfertigung:

»Wissen Sie, in Ihrer Schulzeit strebten sie sehr nach monetären Gütern. Dass Sie sich gewandelt haben könnten, ist mir unbekannt geblieben. Ich will auch gar nicht insistieren. Einen schönen Tag noch.«

»Warten Sie, Herr Grimmelshofer. Ich wollte Sie nicht vor den Kopf stoßen. Aber auch in meinem Leben passieren unvorhergesehene Dinge, die die Planungen komplett über den Haufen schmeißen. Man wird aus dem Gleis geworfen und nirgendwo ein Kran, der einen hochhievt.« Die Andeutungen Katjas hatte er verstanden. Komischerweise, denn er wirkte auf die Schüler meist begriffsstutzig.

»Kann es sein, dass das Unvorhersehbare etwas mit der Gesundheit zu tun hat?«, fragte er vorsichtig. Katjas Blick und das leichte Kopfnicken verrieten, dass er mit seiner Vermutung richtiglag. Versteinert stand er neben ihr und rang mit den Worten, die er nirgendwo fand. Er wirkte schockiert, obwohl er nicht genau wusste, um welche Krankheit es sich handelte. Er vermochte sich vorzustellen, dass Katja nur eine begrenzte Lebenserwartung hatte. Instinktiv drückte er wie ein Vater sein Kind die schwerkranke Juristin und Mutter zweier Kinder an sich, worauf sie in Tränen ausgebrochen war. Grimmelshofer wurde die Situation plötzlich unbehaglich. Er sagte lediglich: »Alles, alles Gute für Sie. Ich drücke meine Daumen.« Schnell war er aus dem Schulhaus verschwunden.

Sie stand mit verheulten Augen immer noch vor dem Aquarium. Das unerwartete Mitgefühl des ehemaligen Lehrers hatte sie aufgewühlt und schwer geschüttelt. Grimmelshofer hatte einen unversorgten Nerv getroffen, den sie weiterhin unbeachtet halten wollte: die Akzeptanz der Realität. Sie war als Juristin gewohnt, die Wahrheit als dehnbaren Begriff anzusehen und zu behandeln. Sehr oft paukte sie einen Delinquenten aus den Mühlen der Justiz, weil die Wahrheit unbeweisbar war. Sie zog ihren Erfolg daraus und genoss ihre Anerkennung. Aus dem kreativen Umgang mit den Fakten und deren Unbeweisbarkeit. Als ihr dieser Gedanke durch den Kopf geschossen war, fühlte sie ihre aktuell aussichtslose Lage als Rache des Schicksals. Als Ausgleich der unbarmherzigen Gerechtigkeit musste sie büßen und in absehbare Zeit ihr Leben opfern. Sie bereute für einen Augenblick, Juristin geworden sein, Strafverteidigerin für besonders schwere Verbrecher. Wie oft wurde sie als Pflichtverteidigerin beauftragt, wenn ein Mörder im Knast saß und mit den Zangen des Gesetzes kämpfte? Sehr oft. Und sie durfte niemals grundlos ein Pflichtmandat ablehnen. Das verlangte das Gesetz. Dem hatte sie ihre Existenz verschrieben.

Die Fische strahlten eine erschreckende Ruhe aus. Sie stand mutterseelenallein vor dem Aquarium und wusste nicht, ob noch jemand außer ihr im Haus zugegen war. Die Stille fühlte sich anders an als jene beklemmende am Morgen im Wartezimmer der Arztpraxis Dr. Grubers. Die momentane Ruhe beruhigte, obwohl sie so ruhig wirkte, dass man auch hätte Angst bekommen können. Fast Todesangst. Sie nahm wahr, wie die Lichter gelöscht wurden, und schrie »Halt, Stopp.« Der Hausmeister, Leo Kyber, schaute um die Ecke und forderte sie zum Verlassen des Gebäudes auf. Sie kam der Aufforderung nach, trat vor den Hausmeister und sagte:

»Schönen Feierabend, Herr Kyber.«

»Moment mal, Sie kennen mich?«

»Ja, ich war Schülerin, als Sie schon hier arbeiteten.« Kyber musterte Katja von oben nach unten. Zentimeter für Zentimeter. Man spürte, wie er im Gedächtnis die Gesichter der Vergangenheit checkte und meinte:

»Sie waren die supergute Abiturientin, stimmt`s?«

Katja presste die Lippen zusammen. Die damals Super-Abiturientin stand gepeinigt vom Schicksal, seelisch miniklein, vor dem Hausmeister ihrer Kindheit.

»Für den grandiosen Abi-Schnitt kann ich mir heute nichts mehr kaufen. Vor allem keine Gesundheit.« Kyber stutzte über die Bemerkung, er ahnte, was Katja quälte.

»Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten, sorry.«

»Schon in Ordnung, Herr Kyber. Schönen Abend.« Sie verließ den Ort ihrer Jugend, an dem sie aufgeblüht war und die Lebensgrundlagen vermittelt bekommen hatte. Die leider für die Zukunft untauglich geworden waren.

Sie vermied den Weg nach Hause. Den sofortigen. Die Kinder würden sie kaum verstehen, vielleicht trösten wollen. So, wie sie die Kleinen getröstet hatte, als sie die Knie aufgeschlagen oder eine Schürfwunde zugezogen hatten. Doch ihre Verletzungen sahen anders aus. Sie saßen tiefer und wirkten endgültiger. Nach dem Besuch der ehemaligen Penne bestieg sie den Bus zur Uni, wo sie die Grundlagen ihres derzeitigen Berufs erlernte. Eingetrichtert bekam. Wo sie ihr Gerechtigkeitsgefühl ausformte, das je nach Lage des Falles zurechtgebogen werden musste. Aber sie hatte damit keine Gewissensprobleme. Es war kurz vor 18 Uhr, eine Abendvorlesung über Recht und Psychiatrie stand auf dem Plan. Ein sehr interessanter Apsekt, der die erfolgreiche Strafverteidigerin jederzeit in den Bann gezogen hatte. Der Dozent, Professor Haberlechner, war ihr ein hellleuchtender Begriff. Ihm verdankte sie tiefe Einblicke in die Seelenstrukturen von Straftätern. Er demonstrierte den angehenden Juristen, wie kompliziert ein Fall werden würde, übersähe man pathogene Kränkungen im Leben der Delinquenten. Er erklärte, dass jeder Mensch, unabhängig der Lebenssituation, einen Anspruch auf menschenwürdige Behandlung und ein faires Strafverfahren genösse. Niemand dürfe aufgrund krankhafter Störungen des Seelenlebens abgestempelt werden.

---ENDE DER LESEPROBE---