Nordlichtnächte - Jytta Rasmussen - E-Book

Nordlichtnächte E-Book

Jytta Rasmussen

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Beschreibung

Überstunden, missgünstige Kollegen und nasskalter Januarregen. Laura sehnt sich nach Urlaub unter Palmen mit ihrer besten Freundin Nicky. Doch diese überrascht Laura mit Winterurlaub in Lappland: Dunkelheit und Schnee bei zehn Grad minus statt Sonne, Strand und Meer. Am liebsten würde Laura ihre Koffer wieder einpacken und sofort zurückfliegen, wenn da nicht Rune mit seinen Schlittenhunden wäre... Ein romantischer Winterurlaub zwischen Schlittenhunden, Schnee und Nordlicht. Alle Bücher der Reihe "Lapplandnächte" sind in sich abgeschlossen und können einzeln gelesen werden.

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Jytta Rasmussen 

 

 

Nordlichtnächte

 

 

 

 

Für meine Tochter

 

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

23. Kapitel 

24. Kapitel 

25. Kapitel 

Drei Monate später 

Nachwort 

Über die Autorin 

Impressum 

1. Kapitel

Bochum

Mit einem leisen Klicken zog sich die schwere Eingangstür hinter Laura ins Schloss.

Erleichtert stieß sie die Luft aus.

Zwei Wochen Urlaub!

Endlich!!!

Sorgfältig schloss sie die Tür ab und rüttelte zur Sicherheit noch einmal daran. Wie so oft in den letzten Monaten war sie die Letzte im Büro gewesen. Sogar zwischen Weihnachten und Neujahr hatte sie arbeiten müssen, damit ihr Projekt nicht in Terminrückstand geriet. 

Fröstelnd zog Laura die Schultern hoch, während sie durch den eiskalten Januarregen zur U-Bahn-Station lief. Sie hasste diese dünnen, langen Tropfen, die man auf der Haut kaum spürte, die ihren dunkelblauen Wollmantel aber sofort durchnässten und die feuchte Kälte auf direktem Weg in ihre Knochen transportierten. 

Quer über den Straßen hing noch die Weihnachtsbeleuchtung, deren Lichter sich auf dem nassen Asphalt spiegelten. Doch statt ein Gefühl von Wärme zu verströmen, schienen die Lichterketten die Trostlosigkeit des nasskalten Januarabends noch zu verstärken.

Ja, wenn Schnee liegen würde. Oder zumindest der Himmel klar wäre, so dass man die Sterne leuchten sehen könnte. Dann könnte man den Bochumer Winter zumindest ein ganz klein wenig genießen. Stattdessen regnete es annähernd täglich. Oder dichter Nebel hing zwischen den Häusern.

Meistens beides.

Ein Auto zischte vorbei und ließ das dreckige Wasser einer Pfütze bis auf den Gehsteig spritzen. Lauras Wildlederpumps und ihre graue Anzughose wurden bis zum Knie durchnässt. Auch das noch. Hoffentlich überlebten ihre Schuhe das Wasserbad.

Außer ihr waren kaum Menschen auf den Nebenstraßen der Bochumer Innenstadt unterwegs. Wer konnte, saß an einem nasskalten Freitagabend gemütlich zu Hause auf dem Sofa oder mit Freunden in einem warmen, trockenen Restaurant. Die wenigen Menschen, die bei dem Wetter zu Fuß unterwegs waren, hasteten mit hochgezogenen Schultern und hängendem Kopf durch den Regen. Ein großer Golden Retriever, dessen ursprünglich blondes Fell in dunklen nassen Strähnen an ihm herunter hing, trabte mit hängenden Ohren und hängender Rute so dicht an Laura vorbei, dass sein nasses Fell ihren Mantel streifte. 

Verständnisvoll bückte Laura sich, um ihn zu streicheln. „Auch Dir gefällt das Wetter nicht, oder?“ Doch der Besitzer zog seinen Hund hektisch weiter. Einziges Ziel: dem grässlichen Wetter so schnell wie möglich zu entkommen.

Genau das würde sie ab morgen für zwei lange Wochen tun.

Gemeinsam mit ihrer besten Freundin und Mitbewohnerin Nicky.

Laura war gespannt, wo genau sie morgen mit ihrer Freundin hinfliegen würde. Nicky arbeitete in einem Reisebüro und buchte jedes Jahr im Januar einen exotischen Last-Minute Urlaub für sie beide. Einen Urlaub, den Nicky in der Regel dazu verwendete, um mit möglichst vielen Männern zu flirten und um möglichst viele interessante Artikel für ihren Reiseblog zu schreiben, während Laura im Liegestuhl lag und möglichst viele Bücher las. 

Letztes Jahr waren sie zum Tauchen am Great Barrier Reef gewesen. 

Laura sehnte sich danach, am Strand unter Palmen zu liegen, warme Sonnenstrahlen auf ihrer Haut zu spüren und das Rauschen des Meeres zu hören. Luft die nach Salz und Freiheit schmeckte statt nach nasskaltem Stadtmief. Entspannt an einen kühlen Cocktail zu nippen statt lauwarmen Kaffee zu schlürfen, während man nächtelang am Computer durcharbeitete. 

Einfach Nichts tun.

Hoffentlich hatte Nicky einen klassischen Strandurlaub gebucht.

Jamaika wäre schön. Oder die Seychellen. Oder Hawaii.

Da wollte Laura schon immer mal hin.

Abisko

Auch der letzte seiner Alaskan Huskies hatte seine Fleischportion gefressen und Rune begann die metallenen Futterschüsseln auf dem Schnee einzusammeln. Die Schüsseln klirrten leise, während er sie ineinander stapelte. 

Wie üblich begleitete ihn Pelle beim Einsammeln und steckte seine Nase in jede Schüssel. Laut schnüffelnd überprüfte er, ob die Schüsseln wirklich leer waren. Sanft schob Rune die Schnauze des großen alten Rüden aus der letzten Schüssel. „Auch die ist wirklich leer, Pelle.“

Pelle war lange Jahre einer seiner Wheeldogs gewesen. Einer der beiden Hunde in jedem Gespann, die direkt vor dem Schlitten liefen. Sie mussten besonders stark und kräftig sein, weil sie in Kurven den driftende Schlitten in der Spur halten mussten. Inzwischen war Pelle zu alt, um noch als Schlittenhund zu arbeiten. Er hatte Arthrose und lahmte manchmal, besonders wenn das Wetter feuchtkalt war. Doch er hatte immer noch eine beeindruckende Statur und sein ruhiges, gutmütiges Verhalten tat dem Rudel gut, besonders den Junghunden. 

Rune ließ den Blick prüfend durch den Auslauf seiner Huskyfarm gleiten. Im starken Licht der Eckscheinwerfer war es trotz Dunkelheit kein Problem Details zu erkennen. 

Er hatte den sportplatzgroßen Auslauf bis auf vier Meter Höhe mit stabilem Metallgitter eingezäunt, damit auch bei hohem Schnee weder ein Elch in seinen Auslauf eindringen, noch einer seiner Hunde ungewollt Spazieren gehen konnte. Eine der Schmalseiten seines Auslaufes wurde fast komplett vom hölzernen Hundestall eingenommen, dessen weiß gestrichene Türen und Hundeklappen sich deutlich vom dunklen Rot seiner Holzwände absetzten. Besonders ausländische Touristen liebten seinen Stall, weil er so aussah, als hätte Astrid Lindgren ihn in einem ihrer Bücher beschrieben. Spätestens wenn sie merkten, dass er seine Hunde nach Figuren aus Astrid-Lindgren-Büchern benannt hatte, fingen sie an hysterisch zu kreischen.

Selbst Olivia war begeistert von seiner Huskyfarm gewesen.Zumindest als sie die Farm zum ersten Mal sah.Aber vielleicht war auch das gelogen gewesen.

Rune sah auf die Uhr. Hastig trug er die Futterschüsseln in die Futterküche des Stallgebäudes, die vom Auslauf durch eine Tür zugänglich war. Er musste sich beeilen. Seine Schwester Reidun wollte irgendwelche Änderungen für die Tourplanung der kommenden Woche mit ihm besprechen.

Bochum

Als Laura ihren Schlüssel ins Schloss ihrer Wohnungstür steckte, wurde diese von innen aufgerissen.

„Tach auch! Wo bleibst Du denn?! Wir müssen doch Kofferpacken und Einkaufsliste schreiben, damit wir morgen noch besorgen können, was uns fehlt!“ Nicole, von allen nur Nicky genannt, hüpfte aufgeregt vor Laura auf und ab.  

Nickys ultrakurze Haare leuchteten heute in neongrün. Sie wechselte ihre Haarfarbe fast so häufig wie ihre Männer. Mit den neongrünen Haaren und ihrer kleinen zierlichen Gestalt wirkte Nicky mehr denn je wie eine Koboldin. Besonders wenn sie sich fröhlich hüpfend durch die Gegend bewegte, was sie eigentlich immer tat. Nicky kannte keine schlechte Laune. 

Mit einem Seufzer zog Laura ihren Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Nicky war seit dem Kindergarten ihre beste Freundin. Meistens war ihre immerwährende Fröhlichkeit und Begeisterung einfach nur ansteckend. Doch manchmal konnte sie auch nerven. So wie jetzt. Laura ging achtlos weiter, als ihr Mantel vom Bügel auf den Boden rutschte. Ihre Pumps zog sie nacheinander auf dem Weg in die Küche aus. Dort angekommen ließ sie sich erschöpft auf einen der Stühle fallen. 

Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Nicky ihren Mantel zum Trocknen auf einen Stuhl vor die Heizung hing und ihre Schuhe darunter stellte. Vertauschte Rollen. Normalerweise räumte Laura der leicht chaotischen Nicky hinterher. Aber heute Abend konnte sie einfach nicht mehr. Weder Aufräumen, noch Kofferpacken.

„Ich glaube ich habe ausreichend Bikinis. Sonst kaufe ich mir halt einen im Urlaub.“

Sie schloss ihre Augen und lehnte sich an die Stuhllehne. Die nasse Anzughose klebte an ihren Unterschenkeln und ihre Füße waren eiskalt. Sie konnte es kaum erwarten, die warme Sonne auf ihrer Haut zu spüren und das Meer zu riechen.  

Als Nicky nicht sofort antwortete, öffnete sie ihre Augen halb.

Nicky stand vor ihr und biss sich verlegen auf die Lippe. „Das – das wird dieses Jahr nicht möglich sein.“ 

Laura riss ihre Augen komplett auf und setzte sich aufrecht hin. Prüfend betrachtete sie ihre beste Freundin. „Es gibt keine Geschäfte in der Nähe?“

„Ähm– ehrlich gesagt, keine Ahnung.“ Nicky wich Lauras Blick aus. 

„Aber jedes vernünftige Hotel hat doch Bikinis für vergessliche Touristen vorrätig.“ 

„Ja, schon. Aber - aber Du wirst vermutlich keinen Bikini brauchen.“ Nicki mied immer noch ihren Blick und lief rot an. 

Laura verstand gar nichts mehr. Keine Geschäfte? Kein Bikini?

Plötzlich kapierte sie.

Sie sprang begeistert auf und fiel Nicky um den Hals. „Eine einsame Insel. So einsam, dass wir nicht einmal Bikinis benötigen?“ 

Nicky erwiderte ihre Umarmung nicht und Laura spürte wie Nicky an ihrer Schulter den Kopf schüttelte. „Nein. Wir fahren auf keine Insel. Wir fahren überhaupt nicht ans Meer. - Wir fahren nach Lappland." 

Laura hatte das Gefühl, dass die Temperatur im Raum schlagartig auf eisige Grade sank. Allein bei dem Gedanken an Lappland im Winter bekam sie eine Gänsehaut auf den Armen.  

Sie packte Nicky an den Schultern und schob sie von sich. „Du möchtest mich auf den Arm nehmen?“, krächzte sie. „Erzähl! Wohin fahren wir wirklich?“

Nicky machte sich los und sprang zum Küchentisch. Sie schnappte sich den Prospekt, der dort lag und hielt ihn Laura vor die Nase. 

„Schau mal hier! Wir fahren nach Abisko. Das liegt in Nordschweden, in Lappland. Dort kann man Nordlichter sehen. Und man kann mit dem Rentierschlitten fahren und Eisklettern und ganz viele andere tolle Sachen machen, die wir noch nie! gemacht haben. Und ich habe uns eine Drei-Tages-Tour mit dem Hundeschlitten gebucht. Du magst doch Hunde! Mit Zelt und Lagerfeuer und so. Das wird der Hammer!“ 

Laura schluckte. Ganz offensichtlich nahm Nicky sie nicht auf den Arm und ganz offensichtlich war diese total begeistert von ihrer Idee. Nickys graugrünen Augen funkelten.   

Laura warf einen Blick auf das Deckblatt des Prospektes. Die Nordlichter auf den Bild hatten die gleiche neongrüne Farbe wie Nickys Haare.

Abisko

Rune klopfte sich den Schnee von den Stiefeln, bevor er die Tür zur Northern Light Lodge Abisko, dem Hotel seiner Schwester Reidun, öffnete. Der Geruch von Holzfeuer empfing ihn. Nichts vermittelte mehr das Gefühl, an einem Ort willkommen zu sein, als ein prasselndes Feuer im Kamin.  

Und eine Tasse frisch gebrühter Kaffee.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, kam Reidun hinter dem hölzernen Empfangstresen hervor, der gleichzeitig als Bar für die Empfangshalle diente, und trug trotz der abendlichen Uhrzeit zwei Becher Kaffee in der Hand.

„Hej, Schwesterchen!“

Er zog seine Stiefel im Eingangsbereich aus und stellte sie auf das Schuhregal neben der Tür. Statt sich ein Paar der bereitstehenden Filzpantoffeln zu nehmen, ging er auf Strümpfen durch die Eingangshalle und ließ sich auf eines der beiden steingrauen Sofas fallen, die vor dem offenen Kamin aus Natursteinen standen.   

Er hatte Reidun ausgelacht, als sie die beiden Sofas mit babyrosa Kissen dekoriert hatte. Aber jedes Mal, wenn er die Eingangshalle betrat, zogen ihn die weichen Sofas vor dem Kamin magisch an. Trotz der rosa Kissen.

Außer den beiden Sofas gab es noch weitere in grau und rosa gehaltene Sitzecken. Für den Boden und die Wände hatte Reidun rustikales naturfarbenes Kiefernholz gewählt, während der geradlinige, kantige Empfangstresen und die Beistelltische weiß lasiert waren. 

Seine Schwester reichte ihm eine der Tassen Kaffee und setzte sich neben ihn. „Hej, Rune! Da bist Du ja endlich.“

Gierig sog Rune den Geruch des Kaffees ein und trank einen großen Schluck, während Reidun ihm einen Ausdruck reichte. „Das sind unsere Buchungen für nächste Woche. Das Pärchen heute war übrigens total begeistert von Deiner Tour. Besonders die Frau.“ Reidun zwinkerte ihrem Bruder zu. „Sie hat gefragt, ob Du Single seist. Ihre jüngere Schwester würde Hunde so sehr lieben.“

Rune stöhnte. Die Frau hatte unablässig geredet und ihn mit Fragen bombardiert. „Sag mir, dass sie morgen abreisen und nicht eine weitere Tour gebucht haben!“

Reidun lachte. „Sie wollten tatsächlich verlängern, aber seit heute morgen bin ich für die nächsten zwei Wochen komplett ausgebucht.“

„Ausgebucht?“

Reiduns Augen strahlten. „Ja, ausgebucht. Zum allerersten Mal seit der Eröffnung vor drei Jahren.“

Rune umarmte seine Schwester herzlich. Sie hatte in den letzten Jahren so hart für ihren Traum eines Hotels gearbeitet. „Das ist großartig! Auch wenn das vermutlich heißt, dass Du mehr so anstrengende Gäste für mich hast.“

Seine Schwester hatte sich auf das Angebot von Aktiv- und Abenteuerurlaub in Lappland spezialisiert. Die Hundeschlittentouren übernahm seine Huskyfarm und für alle anderen Touren sprang er ein, falls die anderen Guides in Abisko, mit denen seine Schwester zusammenarbeitete,  bereits ausgebucht waren. Nur gegen Eisklettern hatte er eine Abneigung. Genaugenommen gegen jegliche Form der Kletterei. 

Reidun zog eine Grimasse. „Deshalb wollte ich mit Dir reden. Ich habe heute Vormittag mit einer jungen Frau aus Deutschland telefoniert. Sie hat Last-Minute für sich und ihre beste Freundin das komplette Paket gebucht. Zwei Wochen. Ab morgen. Inklusive Drei-Tages-Schlittenhund-Tour mit Übernachtung im Zelt.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu. „Sie hat mindestens so viel geredet, wie die Frau heute.“

Rune schluckte. „Waren sie schon mal in Lappland?“

Reidun schüttelte den Kopf. „Nein. - Könntest Du sie morgen Abend in Kiruna vom Flughafen abholen? Kalle muss Gäste in Narvik abholen und Erik hat frei.“ 

Rune nickte. Erik war eigentlich Reiduns Koch. Und sein bester Freund. Und bei Bedarf auch Barkeeper und Rezeptionist, gelegentlich auch Tourguide. In einem kleinen Hotel wie Reiduns musste jeder überall einspringen können. 

In dem Augenblick kam Erik mit einem vollbeladenen Teller die Treppe aus dem Restaurant im ersten Stock herunter. „Habe ich doch richtig gehört, der Restevertilger ist da!“ Er klopfte Rune freundschaftlich auf die Schulter. Dann zog er einen der weißen Beistelltische heran und stellte das Essen vor Rune.

Rune grinste. „Hat Dein Essen heute wieder nicht geschmeckt, dass soviel übrig geblieben ist?“

Sein Freund grinste zurück. „Für Dich habe ich extra eine Dose Hundefutter aufgemacht.“

Erik war ein Spitzenkoch. Er hatte in den besten Hotels Stockholms gearbeitet und hätte sicherlich eine Karriere als Sternekoch vor sich gehabt. Doch er schien zufrieden damit zu sein, wieder in Abisko zu wohnen, auch wenn er hier in einem kleinen Hotel als Koch und Mädchen für alles arbeiten musste.

Rune machte sich über das Rentiergeschnetzelte mit Kartoffelpüree und Preiselbeeren her,während Reidun einen weiteren Zettel vor ihn auf den Beistelltisch legte. „Hier habe ich Dir ihre vorläufige Urlaubsplanung ausgedruckt. Wetterbedingte Änderungen natürlich vorbehalten. So kurzfristig konnte ich nicht alle Aktivitäten bei Anders oder Torbjörn buchen. Könntest Du die Skitour und die Schneeschuhtour übernehmen? Es sind Anfänger.“ 

Rune stöhnte. Die beiden Frauen hatten annähernd alles gebucht, was man buchen konnte. Von Schneeschuh- bis Rentierschlittentour, von nächtlichem Dinner auf der Aurora Sky Station bis Mehrtages-Hundeschlittentour mit Übernachtung im Zelt. Sogar Eisangeln wollten sie. 

Eigentlich waren es exakt die Touristen, die seine Schwester und er benötigten, um überleben zu können. Selfie-geile Pseudo-Abenteurer, die alles buchten, was man buchen konnte und es anschließend in diversen sozialen Medien veröffentlichten. Aber es waren auch genau die Touristen, die ihren Job manchmal zur Hölle machten. Oberflächliche Selbstdarsteller, die einzig an der Erfüllung ihrer Wünsche und nicht an der großartigen Natur Lapplands interessiert waren. Sofort unzufrieden, wenn etwas nicht nach ihrem Willen lief. 

Und die unzähmbare Natur Lapplands hatte nun mal ihren eigenen Willen.

2. Kapitel

Irgendwo zwischen Stockholm und Kiruna

Laura versuchte ihre neuen klobigen Schneestiefel unter den Vordersitz des Flugzeuges zu schieben, um ihre steifen Knie ein bisschen zu strecken. Natürlich misslang auch dieser Versuch sich bequemer hinzusetzen. Genauso wie die mindestens hundert Versuche vorher. Die riesigen Stiefel passten einfach nicht unter den Sitz vor ihr. Bisher kannte sie derartige Stiefel nur aus Filmen. Niemals hätte sie gedacht, dass sie solche Stiefel irgendwann in ihrem Leben anziehen müsste. 

Der Fußteil der Stiefel sah aus wie ein schwarzer Gummistiefel und der dick gefütterte Lederschaft reichte ihr bis zur Mitte der Unterschenkel. Angeblich sollten sie auch noch bei minus siebzig Grad Celsius warmhalten. Das hatte zumindest der Verkäufer heute Morgen im Outdoor-Laden versprochen. In den Stiefen wirkten ihre Füße riesig und beim Gehen konnte man die Füße nicht abrollen. Stattdessen musste man seine Beine bei jedem Schritt unnatürlich hochheben. Dazu noch das ungewohnte Gewicht, als hätte man Zementklötze an den Beinen. Bestimmt hatte sie nach dem Urlaub so dicke Muskeln an den Oberschenkeln, dass ihr keine Hose mehr passen würde. 

Normale Menschen würden bei minus siebzig Grad einfach das Haus nicht mehr verlassen, anstatt derartig unförmige Stiefel zu tragen. Nach dem Urlaub würden die Stiefel sofort in die Altkleidersammlung wandern. 

Nicky saß wenigstens nicht am Fenster sondern am Gang und konnte ihre Beine problemlos ausstrecken. Dabei hätte sie den zusätzlichen Platz bei ihrer Körpergröße gar nicht benötigt. Sowieso war Nicky so aufgeregt und fröhlich, dass es ihr vermutlich nicht einmal etwas ausgemacht hätte, wenn sie im Frachtraum bei den Koffern mitgeflogen wäre. Und natürlich flirtete sie bereits wieder mit dem Mann auf der anderen Gangseite. Das war auch der Grund, weshalb Nicky Laura gebeten hatte am Gang sitzen zu dürfen. 

Am liebsten wäre Laura dem Beispiel der meisten anderen Passagiere gefolgt und hätte ihre Stiefel ausgezogen, doch das traute sie sich nicht. Sie hatten die Stiefel bereits vor dem Abflug in Deutschland angezogen, damit sie bei ihrer Ankunft in Lappland auf keinen Fall froren. Doch für die Temperaturen am Flughafen und in den Flugzeugen waren die Schuhe einfach nicht geeignet. Die Stiefel fühlten sich an wie ein Hochofen und ihre Füße würden vermutlich genauso dampfen, wenn sie die Stiefel auszog. Riechen würde es allerdings nach Käsefondue statt nach glühendem Stahl. 

Andererseits war es durchaus fraglich, ob dieser Geruch wirklich auffallen würde. Die Kleidung der Mitreisenden vor ihnen roch so intensiv nach Holzfeuer, dass Laura sich beim Einsteigen umgeschaut hatte, ob es irgendwo brannte.

Wenigstens fielen sie, seitdem sie in Stockholm das Gate für ihren Weiterflug nach Kiruna erreicht hatten, mit ihren Schneestiefeln und gefütterten Gore-Tex-Parkas, deren Kapuzenränder mit Kunstpelz besetzt waren, nicht mehr auf. Mindestens die Hälfte der Passagiere im Flugzeug trug ähnlich winterlicheKleidung. In Düsseldorf am Flughafen waren sie angestarrt worden wie ein Gebäude von Hundertwasser zwischen grauen Bürotürmen. 

Warum hatte sie sich vor dem Urlaub nicht einfach einen Augenblick Zeit genommen, um die Reise mit Nicky gemeinsam zu planen?

Dann trüge sie jetzt Sandaletten statt Winterstiefel.

Oder sie hätte gestern Abend darauf bestehen sollen, die Reise zu stornieren und die Stornokosten komplett zu übernehmen. Aber Nicky war so begeistert von der Reise nach Lappland, dass Laura es nicht übers Herz gebracht hatte, ihre beste Freundin zu enttäuschen. Stattdessen hatte sie nach dem ersten Schreck Begeisterung geheuchelt. Gut dass Nicky sich so sehr über die Reise freute, dass sie Laura nicht durchschaut hatte. 

„Wir beginnen in wenigen Augenblicken mit dem Landeanflug auf Kiruna“, ertönte die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher und die Anschnallzeichen unter der Decke des Flugzeuges leuchteten auf. „Wir hoffen Sie haben den Flug mit uns genossen und wünschen ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Kiruna. Dort erwartet Sie heute Abend ein sternklarer Himmel bei angenehm milden Minus zehn Grad Celsius.“ 

Minus zehn Grad Celsius mild? Konnte das Flugzeug nicht aus irgendeinem Grund umdrehen und nach Stockholm zurückfliegen? Selbst wenn ihre Füße anschließend geschmolzen und ihre Knie für immer versteift waren? 

Kiruna

Wie immer war der Raum, der für den Begriff Ankunftshalle eigentlich viel zu klein war, dicht gefüllt mit sich umarmenden und begrüßenden Menschen. Trotzdem entdeckte Rune die beiden Frauen sofort. Sie standen circa fünf Meter entfernt am Kofferband. Ihre Parkas und Stiefel glänzten so neu, dass es ihn nicht gewundert hätte, irgendwo noch ein Preisschild daran zu entdecken. Außerdem trugen aus unerfindlichen Gründen annähernd alle deutschen Touristen Jacken der Firma, dessen Logo aussah wie ein Hufabdruck. 

Obwohl er sicher war, dass es sich bei den beiden Frauen um die Gäste seiner Schwester handelte, blieb er am Rand der Ankunftshalle neben den anderen Taxi- und Shuttlefahrern stehen, den laminierten Zettel mit Northern Light Lodge, Abiskolocker vor sich haltend. 

Die beiden Frauenhätten unterschiedlicher nicht sein können. Die kleinere, zierlichere Frau mit dem neongrünen Igelhaarschnittsah ganz nett aus, ein bisschen wie ein fröhlicher Kobold.Es war jedoch die große Schlanke, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Trotz Parka und wadenhoher Schneestiefel war zu erkennen, dass sie wunderschöne lange Beine haben musste. In ihren karamellfarbenen Haaren, die ihr in weichen Wellen bis auf die Schultern fielen, tanzten goldene Reflexe, sobald sie den Kopf bewegte. 

Sie rollte mit den Schultern. Vermutlich waren sie steif nach dem langen Flug. Rune verspürte unwillkürlich den Wunschihre Schultern zu massieren, bis die Muskeln sich lockerten.

Doch sie war ein Gast. Derartige Wünsche Gästen gegenüber waren vollkommen unangemessen. 

Das hatte er schon gewusst, bevor er Olivia kennengelernt und den größten Fehler seines Lebens begangen hatte. 

In dem Moment drehte die unbekannte Frau sich um. Sie schien gefühlt zu haben, dass er sie beobachtete, denn ihr herausfordernder Blick traf seinen sofort.

Er wollte ertappt wegschauen, doch er konnte den Blick nicht abwenden und sein Herz fing an zu rasen. 

Das Kofferband setzte sich quietschend in Bewegung und jemand schob sich zwischen sie. 

Zum Glück.

Rune drehte sich seitlich und lehnte sich mit der Schulter an die Wand. So stand die Frau nicht mehr in seinem direkten Blickfeld. 

Hoffentlich hatte er sich doch geirrt und die beiden Frauen waren nicht die Gäste seiner Schwester.

Laura spürte einen Blick im Rücken.Reflexartig drehte sie sich um.Ihre Augen trafen die eines Mannes, der fast direkt neben dem Ausgang an der Wand der Ankunftshalle stand. 

Sie erwartete, dass der Mann wegschauen würde. Verlegen, weil sie ihn beim Starren ertappt hatte. Oder lächelnd, um aus den Augenwinkeln mit ihr zu flirten.  

Doch der Mann schaute ihr direkt in die Augen.

Genauso hatte Tom sie angesehen, als sie sich zum ersten Mal im Büro begegnet waren. Siegessicher, dass sie seinem Charme erliegen würde.

Herausfordernd erwiderte sie den Blick des unbekannten Mannes, um ihn dazu zu bringen, seinen Blick zu senken. Seine hellen Augen, die genaue Farbe konnte sie auf die Entfernung nicht erkennen, standen in markantem Kontrast zu seinen schwarzen, verstrubbelten Haaren, die wirr vom Kopf abstanden, als hätte er eben noch eine Mütze getragen. 

Laura spürte, dass ihre Knie weich wurden. Umso mehr, je länger sie ihm in die Augen schaute.

Das Kofferband setzte sich quietschend in Bewegung und jemand schob sich zwischen sie. 

3. Kapitel

Laura drehte sich zurück zum Kofferband. Der Mann litt eindeutig an ebenso übersteigertem Selbstbewusstsein wie Tom! Glaubte er wirklich, jede Frau würde seinem unverhohlenen Blick erliegen und sich ihm an den Hals werfen? 

Und ihre eigenen Hormone litten eindeutig an Geschmacksverirrung. Oder wieso bekam sie bei diesem anmaßenden Blickkontakt weiche Knie? Seit Tom sollten doch auch ihre Hormone wissen, dass Männer mit einer derartigen Lebenseinstellung keine geeigneten Partner waren. Männer wie Tom und dieser dunkelhaarige Typ, glaubten nicht nur, dass sie jede Frau haben konnten, die sie wollten. Sondern für solche Männer hatten Frauen nur einen einzigen Zweck: die Erfüllung männlicher Bedürfnisse. Unter ihren Kollegen wimmelte es von derartigen Männern. Eigentlich war Laura gegen die Blicke solche Männer immun, spätestens seit Tom. Umso schlimmer, dass der Blick dieses Mannes ihre Knie weich werden ließ. 

Sie widerstand dem Drang, sich erneut nach dem Mann umzusehen.

Nicky stieß ihr einen Ellenbogen in die Taille. „Dein Koffer!“

Erschrocken hechtete Laura hinter ihrem Koffer her, der schon fast an ihr vorbeigefahren war, und zog ihn vom Transportband.

Sie zwang sich dazu, den Blick auch jetzt nicht durch die Halle schweifen zu lassen, als sie sich wieder neben Nicky stellte. Der Mann würde keine weitere positive Reaktion von ihr bekommen. Keine Reaktion überhaupt. 

Hoffentlich kam Nickys Koffer bald, damit sie die Ankunftshalle endlich verlassen konnten! Am liebsten wäre sie genauso ungeduldig auf und ab gehüpft wie ihre Freundin.

Endlich kam Nickys Koffer in Sicht.

Diese drängte sich ungeduldig an den anderen Wartenden vorbei, statt stehen zu bleiben, bis der Koffer auf dem Transportband an ihr vorbeiglitt. Umso besser. Desto schneller konnten sie die Halle und somit das Blickfeld des Mannes verlassen.„Komm! Ich kann es kaum erwarten im Taxi zu sitzen!“ Laura stürmte in Richtung Ausgang. 

Blöd war nur, dass sie fast direkt an dem Typen vorbei mussten, der an der Wand neben dem Ausgang lehnte. Laura fokussierte ihren Blick auf die Tür und beschleunigte ihren Schritt, während sie versuchte den Mann unauffällig aus den Augenwinkeln zu mustern. 

Lässig mit der Schulter an der Wand lehnend wirkte er mehr wie ein Junge, als wie ein Mann. Er trug graue Turnschuhe. Soviel dazu, dass man in Lappland unbedingt klobige Schneestiefel benötigte, zumindest die Tortur im Flugzeug hätten sie sich sparen können.Der Mann trug auch keinen dicken Parka, so wie sie. Nicht einmal eine Jacke. Nur ein Flanellhemd zu abgetragenen Jeans. Kein anderes Kleidungsstück konnte einen Männerhintern so sexy aussehen lassen, wie eine abgetragene Jeans.

Was tat Nicky denn da?

Sie steuerte direkt auf den Mann zu!

Entsetzt schaute Laura zwischen Nicky und dem Mann hin und her. Musste Nicky denn wirklich jeden Mann anbaggern?! 

Dann entdeckte Laura das Schild in der Hand des Mannes. Northern Light Lodge, Abisko.

Sie schluckte. Also war der Mann ihr Fahrer. Gab es keine andere Möglichkeit, nach Abisko zu kommen?

Nicky sprach den Mann bereits an, schüttelte seine Hand und zeigte ihm einen Zettel. „Hello! Laura Seidel and Nicky Braun. This is our booking confirmation for the ‚Northern Light Lodge‘.“ 

Laura blieb stehen und versuchte gelangweilt an dem Mann vorbei zu schauen.

Was ihr auch gelang.

Bis sie seine Stimme hörte.

Wie hypnotisiert wurde ihr Blick angezogen. Seine Stimme war tief. Selbstsicher, aber nicht hart. Sondern wunderbar weich, mit der für Skandinavier typischen melodischen Betonung. 

„Hej, hjärtelig välkommen!“ Anschließend fuhr er auf deutsch fort. „Mein Name ist Rune und ich bin heute Abend Euer Fahrer.“ Wie konnte ein so profaner Satz nur so sexy klingen, wenn er von einem Schweden ausgesprochen wurde?  

Aber ganz egal wie sexy seine Stimme klang, wie gut sein Hintern in der abgetragenen Jeans aussah und wie weich ihre Knie bei seinem Blick wurden, sie würde nicht noch einmal auf einen Mann wie ihn reinfallen. 

Sie streckte sich und straffte ihre Schultern. Bewusst fest auftretend, so dass man jeden ihre Schritte deutlich hörte, ging sie auf Rune zu. Was auf deutschen Baustellen funktionierte, um sich bei Machos und Chauvis Respekt zu verschaffen, würde sicherlich auch im schwedischen Outback funktionieren. Diese klobigen Schneestiefel waren dafür bestimmt hilfreich, ähnlich wie Stahlkappenschuhe auf einer Baustelle, darin konnte man gar nicht typisch weiblich wirken. Höchstens lächerlich. 

„Hallo, ich bin Laura.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. 

Rune reagierte nicht sofort auf ihre Begrüßung. Genervt wollte sie ihreHand schon wegziehen. Nur unendlich langsam drehte er sich zu ihr herum. Ihre Hände berührten sich in dem Moment, in dem sich ihre Augen trafen. 

Seine Augen waren himmelblau.

Kein Wunder, dass er glaubte, alle Frauen müssten ihm zu Füßen liegen. Bei der Kombination aus strahlend blauen Augen und schwarzen Haaren lagen ihm alle Frauen zu Füßen.

Außer ihr!

Wenn ihre Knie nur nicht wieder so verdammt weich geworden wären.

Hätte sein Händedruck nicht wenigstens schlaff und schwitzig sein können? Aber nein, sein Händedruck war angenehm fest und zupackend. Als könnte man sich auf ihn verlassen. Wärme breitete sich in ihr aus und erreichte ihren Magen, in dem prompt ein paar Schmetterlinge begannen ihre Flügel zu recken, als würden sie gerade aus dem Winterschlaf erwachen. 

Rune beobachtete aus den Augenwinkeln, dass die Größere vor sich hinstarrte und beinahe ihren Koffer verpasst hätte. Also war der Blickkontakt auch an ihr nicht spurlos vorbeigegangen.

Als auch die Kleine ihren Koffer hatte, gingen die beiden in Richtung Ausgang, also fast direkt auf ihn zu. Er starrte auf die Uhr, die an der Seitenwand hing, ohne die Zeit zu registrieren. Hoffentlich gingen die beiden an ihm vorbei nach draußen. Er wollte keine wie auch immer geartete Anziehung zu einem Gast seiner Schwester empfinden. 

Nie wieder.

Doch die Kleinere hielt vor ihm an, streckte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen und zeigte ihm die Buchungsbestätigung. „Hello! Laura Seidel and Nicky Braun.“ Dabei wies sie zuerst auf ihre Freundin und dann auf sich.  

Rune schluckte und schüttelte der Kleineren die Hand. Allein bei dem Gedanken, dass er der Größeren gleich wieder in die Augen schauen würde, begann das Blut in seinen Ohren so zu rauschen, dass er ihre Stimme hinter sich nur gedämpft hörte. Er zögerte, bevor er sich zu ihr umdrehte, um sich gegen Wirkung ihres Blickes zu wappnen. Fest nahm er sich vor, bei ihrem Anblick nicht mehr als professionelle Freundlichkeit zu empfinden. Genauso wie er es für jeden von Reiduns Hotelgästen und für seine Tourteilnehmer tat. Er würde den gleichen Fehler kein zweites Mal begehen! Er würde sich nie wieder in eine Frau verlieben, die nicht aus Lappland stammte! 

In Zeitlupentempo drehte er sich um.

Ihre Augen hatte die gleiche Farbe wie ihre Haare.Karamellfarben mit goldenen Punkten darin. Sogar ihr Parfum roch nach Karamell. Sahnekaramell und Vanille. 

Seine guten Vorsätze schmolzen wie der Schnee in der Sonne und sein Puls begann zu rasen. 

Keine Chance, für diese Frau nur professionelle Freundlichkeit zu empfinden.

4. Kapitel

Die Welt begann zu schwanken.

Nein, Laura vor ihm schwankte, weil die Koboldin sie leicht schüttelte. 

Der Augenkontakt mit Laura brach. 

Erleichtert entriss Rune ihr auch seine Hand. „Gebt mir Eure Koffer!“ Er zerrte den beiden ihre Gepäckstücke aus den Händen und wollte durch den Ausgang nach draußen stürmen. Es war ihm egal, ob die beiden Frauen ihm folgen konnten oder nicht. Er brauchte dringend einen Augenblick für sich allein. Und frische Luft. Kalte frische Luft. 

Dummerweise hatte sich vor dem Ausgang eine Schlange gebildet und er musste warten.

Warum hatte diese Frau diese Wirkung auf ihn? Er hatte dagestanden wie ein Idiot und ihre Hand festgehalten, ohne sich zu rühren.Keine Frau in den letzten zwei Jahren hatte auch nur ansatzweise eine ähnliche Wirkung auf ihn gehabt.Und ausgerechnet die erste Frau nach Olivia, die sein Herz wieder zum rasen brachte, war wieder ein Gast. Diesmal nicht nur aus dem Süden Schwedens, nein, sondern gleich aus dem Ausland.

Irgendwo auf seinen Hundeschlittentouren musste sein Gehirn eingefroren sein! 

Er wusste doch haargenau, wohin es führte, wenn man für eine Touristin mehr empfand, als man benötigte, um ihr mit professionell distanzierter Freundlichkeit zu begegnen. 

Das führte unweigelich zu einem gebrochenen Herzen.

Die Tür der Ankunftshalle ging nach außen auf und fiel langsam hinter dem Mann zu, der vor ihm hindurchgegangen war.

Endlich konnte er an die frische Luft! Schwungvoll stieß Rune mit beiden Koffern die Tür wieder auf, so dass sie gegen die Wand knallte.

Er stürmte ins Freie.

Die Tür schnellte hinter ihm zurück.

Kalte Luft traf ihn. Er atmete tief ein und aus und genoss die beruhigende Wirkung auf seinen Puls. 

Hatte jemand hinter ihm ‚Aua‘ geschrien?

„Du stehst auf ihn!“ Nicky grinste breit.

Laura spürte, dass sie rot anlief. „Ach, Quatsch!“

Nickys Grinsen wurde noch breiter. „Warum hast Du dann eben gesabbert?“

„Ich habe nicht gesabbert!“, zischte Laura zwischen zusammengebissenen Zähnen, damit Rune sie nicht verstehen konnte, und stellte sich hinter ihm am Ausgang an.  

„Doch! Hast Du! Der ist aber auch wirklich lecker!“ Nicky schien egal zu sein, dass Rune Deutsch konnte und jedes Wort verstand. Sie stellte sich neben Laura und ließ ihren Blick bewundernd zu seinem Gesäß gleiten. 

„Du kannst ihn haben, wenn Du ihn so attraktiv findest!“ 

„Das hätte keinen Sinn. Dein Anblick hat ihn so hypnotisiert, dass er zur Salzsäule erstarrt ist.“ 

Die Schlange vor dem Ausgang bewegte sich und Rune stürmte durch die Tür nach draußen. Laura wollte ihm schnell folgen, damit Nicky ihr knallrotes Gesicht nicht sehen konnte. 

Die Tür schnellte zurück.

„Aua!“

Zum Glück nur ihr Knie, nicht ihr Kopf.

Laura humpelte durch die Tür, um den hinter ihr Wartenden Platz zu machen. Draußen blieb sie seitlich der Tür stehen und rieb sich ihr Knie. Ihr war schwindlig vor Schmerz. Bewusst atmete sie tief ein und aus.  

Ungehobelter Klotz! Der Typ war einfach weiter gegangen, ohne sich umzudrehen und sich zu entschuldigen. Das übertraf selbst Toms Rücksichtslosigkeit.

Der Schmerz in ihrem Knie ließ nach, doch ihr war immer noch schwindelig. Die eiskalte Luft schnitt bei jedem Atemzug in ihre Lungen und trieb ihr Tränen in die Augen.

Beim Aussteigen aus dem Flugzeug und den paar Metern zur Ankunftshalle hatte sie die Kälte trotz der Warnung des Piloten gar nicht so wahrgenommen. Vielleicht hatten die Menschen um sie herum sie abgeschirmt. Oder der Boden des Flugfeldes war beheizt gewesen. Oder beides. 

Sie bemühte sich flacher zu atmen und richtete sich auf.Der Himmel war schwarz. Kohlrabenschwarz. Noch nie hatte sie einen derartig schwarzen Himmel gesehen. Gut dass der Parkplatz vor dem Flughafen von Straßenlaternen fast taghell erleuchtet wurde. Und überall lag Schnee. Auf dem Parkplatz. Auf den Hinweisschildern. Auf den parkenden Autos. Weißer Schnee, der das Licht der Straßenlaternen so stark reflektierte, dass es den Augen fast weh tat. Kein grauer Schneematsch. Selbst auf der Fahrbahn lag eine dicke Schicht aus zusammengefahrenem reinweißen Schnee. 

Wenn es nicht so eiskalt gewesen wäre und sie sich nicht nach Sonne, Strand und Meer sehnen würde, hätte sie den Anblick genossen.

Und das Flughafengebäude hinter sich fotografiert. Ein funktionales Flachdachgebäude, das mit seiner rot glänzenden Fassade und seiner übersichtlichen Größe mehr wie das schneebedeckte Haus des Weihnachtsmannes wirkte, als wie ein Flughafen. Das Gebäude konnte nicht viel größer als die Turnhalle ihrer ehemaligen Grundschule sein. Ok, vielleicht ein bisschen größer. Und auf der Turnhalle ihrer Grundschule hatte es kein Kontrolltürmchen gegeben.

Aber sie wollte den Anblick des Schnees und des Flughafens nicht genießen.

Sie wollte weg.

Ganz weit weg.

Weg von dieser Kälte und dem Grobian, der sie an Tom erinnerte und trotzdem die Schmetterlinge in ihrem Bauch aus dem Winterschalf aufgeweckt hatte.

„Laura, wo bleibst Du denn?“. Nicky musste unbemerkt an ihr vorbeigegangen sein. Sie stand neben einem schwarzen verdreckten Pick-up und winkte Laura zu. 

Vorsichtig setzte Laura einen Fuß vor den anderen. Bestimmt war es unter dem Schnee eisglatt.

Rune zog die Autotür hinter sich zu.

War das nicht Lauras Stimme gewesen, die ‚Aua‘ gerufen hatte? Hatte die zurückschnellende Tür sie getroffen?

So unaufmerksam war er sonst nicht.Schon gar nicht gegenüber Gästen.Normalerweise passte er sich ihrem Tempo an, hielt ihnen die Türen auf und stieg nach ihnen ins Auto.Diese Frau schien wirklich das Schlimmste in ihm hervorzurufen. 

Laura hieß sie. Ein schöner Name. Aber das war Olivias Name auch gewesen. Ein schöner Name sagte nichts über den Charakter seiner Trägerin aus. 

Mist, dass er Reidun versprochen hatte mehrfach als Guide für die beiden Frauen zu arbeiten. Besonders die Dreitagestour mit dem Hundeschlitten würde eine Tortur werden. Aber Mehrtagestouren konnte er nicht an seine Angestellte Tuva delegieren. Tuva hatte einen zweijährigen Sohn und wollte verständlicherweise abends zu Hause sein.

Er würde einfach in Zukunft Lauras Blick meiden. So lange er ihr nicht in die Augen sah, oder sie gar berührte, konnte es nicht so schwer sein, professionelle Distanz zu wahren. Außerdem würde sich spätestens, wenn Laura in seinem Auto saß, jegliches, eventuell vorhandenes Interesse ihrerseits in Verachtung wandeln. 

Städterinnen standen nicht auf Pick-ups deren Inneres und Äußeres darauf schließen ließen, dass sie für den Zweck genutzt wurden, für den sie gebaut waren. Transporte im unwegsamen Gelände.

Außerdem roch es in seinem Auto immer nach nassem Hund.

Er mochte den Geruch.

Olivia hatte es Gestank genannt und einen Duftbaum im Pick-up aufgehängt. Beziehungsweise mehrere. Nacheinander. Nasser Hund hatte sowohl über Erdbeere, als auch über Vanille und Pina Colada gesiegt.

Frauen aus dem Süden waren einfach nicht für das Leben in Lappland gemacht. Dafür musste man hier geboren sein. 

Im Rückspiegel sah er, dass die Koboldin sich dem Auto näherte. Er musste sich angewöhnen, sie in seinen Gedanken als Nicky zu bezeichnen, sonst würde er sie irgendwann noch mit Koboldin ansprechen.

Nicky wartete neben dem Pick-up und hielt Laura die Tür auf. Die stieg jedoch nicht ein, als sie das Auto erreichte. „Besser Du sitzt in der Mitte. Du hast die kürzeren Beine.“

Rune sah, dass Nicky widersprechen wollte, doch dem Argument musste sie sich beugen.

„Entschuldigt bitte, dass ich Euch mit dem Pick-up abholen muss. Unser VW-Bus, den wir sonst für Shuttle-Fahrten nutzen, holt gerade weitere Gäste in Narvik ab.“

Nicky versuchte in die Fahrerkabine zu klettern und lachte, als ihr Schwung nicht ausreichte und sie mit dem Fuß wieder auf dem Boden landete. Beim zweiten Mal krallte sie sich am Sitz fest und zog sich hoch. Immer noch lachend hüpfte sie auf der Sitzbank neben ihn. „Das macht doch nichts. Ich wollte schon immer mal Pick-up fahren.“

Rune grinste nachsichtig. „Nach der Fahrt wirst Du es von Deiner Bucket-List streichen. Mit dem Vermerk ‚Nicht noch einmal!‘. Das hier ist ein Nutzfahrzeug. Weder sind die Sitze bequem, noch ist es gut gefedert.“

„Wenn wir auf bequem und gut gefedert aus wären, hätten wir Strandurlaub auf den Kanaren gebucht. Aber in diesem Urlaub wollen wir Unbequemlichkeit und Abenteuer.“ 

Laura war inzwischen auch eingestiegen und hatte die Autotür hinter sich zugezogen. Rune startete den Motor und legte den Rückwärtsgang ein.Aus den Augenwinkeln beobachtete er Laura. Sie hatte nicht mitgelacht. Ganz im Gegenteil. Sie sah sehr ernst aus.Fast unglücklich.

Nicky dagegen sprühte vor Begeisterung und redete ununterbrochen. Um genau zu sein fragte sie ihn aus. Wenigstens lenkte ihn das Gespräch davon ab, seinen Blick ständig zu Laura gleiten zu lassen.

„Stimmt es, dass es im Winter jeden Tag ein paar Stunden hell ist, obwohl die Sonne den Horizont nicht übersteigt?“ 

„Ja, das stimmt. In Abisko erreicht die Sonne zwar vom fünften Dezember bis zum sechsten Januar nicht den Horizont, aber trotzdem ist es selbst am 21. Dezember, dem Tag der Wintersonnenwende, circa von neun bis vierzehn Uhr so hell, dass man draußen Zeitung lesen kann. Also ungefähr so hell, wie es sonst zwei bis drei Stunden vor Sonnenauf- und nach Sonnenuntergang ist, weil die Sonne noch knapp unter dem Horizont steht.“ 

Er konnte nicht verhindern, dass sein Blick von der Straße doch wieder zu Laura wanderte. Wenn möglich, wirkte sie noch trauriger als zuvor.

Noch niemals hatte Laura in einem so dreckigen Auto gesessen. Der Pick-up war außen so mit Matsch bespritzt, dass man seine ursprüngliche schwarze Farbe nur mit Mühe erkennen konnte. Selbst auf den Seitenfenstern befanden sich getrocknete Schlammspritzer.  

Ihr Gepäck schien Rune einfach auf die offene Ladefläche geworfen und lose mit einer Plane zugedeckt zu haben. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie ihr Koffer nach der Fahrt aussehen würde.

Und das Innere des Autos erst. Das Armaturenbrett war so dick eingestaubt, dass man ohne Probleme mit dem Finger einen Bauplan darauf hätte zeichnen können. Und um den verkrusteten Matsch im Fußraum zu beseitigen, würde man vermutlich Spitzhacke und Schaufel benötigen. Sie hatte gedacht, dass Baustellenfahrzeuge dreckig waren. Aber dieser Pick-up stellte alle Fahrzeuge in den Schatten, die sie jemals gesehen hatte. Außerdem war er total unbequem. Die Sitzbank war kaum gepolstert und bei jedem Schlagloch wurde sie in die Luft geworfen. Obwohl sowohl Nicky als auch sie schmal waren, mussten sie sich auf der Bank eng aneinander quetschen. 

Das einzig Positive an diesem Auto war sein Geruch.

Es roch nach nassem Hund.

Genauso hatten die beiden Kleinen Münsterländer ihres Opas auch gerochen, wenn sie von der Jagd nach Hause kamen. Laura hatte sich zu den Hunden ins Körbchen gelegt und ihre Nase tief in ihrem Fell vergraben. Die Hunde hatten sie liebevoll abgeschleckt und sich an sie gekuschelt.

Wie immer trieben die Erinnerungen an ihren Opa und seine Hunde Laura Tränen in die Augen. Sie biss sich auf die Lippen, bis sie schmerzten, um sich abzulenken.

Dieser Urlaub war wirklich eine Scheiß-Idee von Nicky gewesen.

Laura schloss die Augen und lehnte ihren Kopf an die kalte Scheibe des Seitenfensters.

---ENDE DER LESEPROBE---