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Was, wenn der Paranoide einfach nur besser informiert ist? Tom, 28, ist IT-Experte und professioneller Hacker, mit einem klaren Blick dafür, wie unsere digitalen Alltagsgeräte ihre Nutzer ausspähen. Für seine Eltern ist er ein Fall für die geschlossene Psychiatrie. Dort trifft Tom auf Dr. Klein, einen Psychiater mit großem Ego und kleinem Technikverständnis. In endlosen Sitzungen erklärt Tom, wie tief der digitale Kaninchenbau wirklich geht, während Dr. Klein fleißig 'Wahnvorstellungen' notiert. Doch dann beginnt der Arzt zu zweifeln. Und zu googeln. Inmitten von Gruppentherapien mit absurden Charakteren und denkwürdigen Maltherapien trifft Tom auf Miriam, eine gleichaltrige Patientin mit einer wahnhaften Vorliebe für Bäume, Äste und unsichtbare Schwingungen. Ihre Welt ist fremd und vertraut zugleich. Nachts auf dem Flur, tagsüber im Innenhof, zwischen Zeichnungen und Schweigen entsteht unerwartet eine Nähe, die genauso rätselhaft ist wie alles andere auf dieser Station. Wenn Wahnsinn plötzlich vernünftig klingt und Normalität immer absurder wirkt, stellt sich leise eine Frage: Wer ist hier paranoid? Und wer macht einfach nur die Augen zu? Ein schräger, vielschichtiger Roman über die digitale Realität, psychiatrische Diagnosen und die Frage, ob unsere 'Normalität' nur deshalb bestehen bleibt, weil alle wegsehen und keiner zu genau wissen will, wie es wirklich ist.
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Akutstation - Abgrund - Anfang
Botschaften - Bruchstellen - Begegnung
Code - Chaos - Connection
Dialoge - Dämonen - Dämmerlicht
Entgleisung - Empathie - Entfremdung
Flur - Flüstern - Fühlen
Gespräch - Gewissheit - Gigabit
Hoffnung - Harmonie - Herz
Information - Irritation - Inquisition
Jemand - Juwel - Jubel
Kollaps - Kirche - Krisen
Lebensdaten - Lauscher - Leichtsinn
Miriam - Misstrauen - Melancholie
Neugier - Nebel - Netzwerke
Observation - Ohnmacht - Ordnung
Platz - Pinsel - Paranoia
Quellenzugriff - Querdenken - Qual
Realitätsverlust - Rollen - Rückzug
Skizzen - Störung - Sehnsucht
Therapie - Tupperorbit - Totalkontrolle
Utopien - Unruhe - Unlogik
Vertrauen - Verfolgung - Verhängnis
Wind - Wanzen - Wirrsinn
X-Verwirrung - X-Ängste - X-Wahrheit
You - Ylang - Ypsilon
Zugriffsentzug - Zuschlag - Zukunft
Epilog
Einige Hintergründe und Tipps
Smartphones
‚Smarte‘ Überwachungsgeräte
Überwachter öffentlicher Raum
Bewegungseinschränkungen
Einschränkungen beim Bezahlen
Internet-Browser und Datenschutz
Danksagung
J etzt stand ich hier, vor der schweren Tür. Es sah aus wie ein Gefängnis. Wahrscheinlich war es das auch. Doch an der Tür stand „Akutstation“. Da war eine Klingel, und eine Kamera. Klar. Das musste hier so sein, hier wurde überwacht. Auf der Fahrt im Rettungswagen hatte ich noch schnell im Internet recherchiert. „Geschlossene Psychiatrie + Aufenthaltsdauer + schnell legal rauskommen“. Bevor ich die ersten Treffer ansehen konnte, war mein Smartphone auch schon weg. Wie mein bisheriges Leben. Es blieb einfach zurück.
In meiner linken Hand hielt ich die Lidl-Tüte, mit ein paar Unterhosen, Socken und meiner Zahnbürste. Das musste alles ein gewaltiger Irrtum sein. Ganz sicher! Schon bald würde sich das aufklären, und ich könnte wieder zurück nach Hause.
Die Tür fiel hinter mir zu. Ganz leise, mit einem Klack. Es war nicht laut, auch nicht dramatisch, aber nun war ich hier. Eingesperrt. Das Urteil schien bereits gesprochen. Meine beiden Begleiter, angeblich Rettungssanitäter, nahmen mich mit zu Schwester Ariane. Eine unheimliche Frau. Ihre an mich gerichteten Worte flogen mit Lichtgeschwindigkeit und geräuschlos durch meine Gehörgänge, es blieb nichts hängen. Jetzt stand ich zwischen diesen komischen Menschen. Sie hießen hier „Patienten“. Obwohl einige Mitarbeiter auch komisch auf mich wirkten. Nicht nur die Patienten. Es war surreal. Wer arbeitete freiwillig hier?
Und ich? Keinen Plan, nur eine Plastiktüte. Und ein wachsendes Gefühl der Realitätsverweigerung.
„Willkommen auf Station 7“, sagte die Stationsschwester Ariane. Eine Frau, glatt wie eine Trägerrakete. Mit einer Stimme, die so warmherzig und sympathisch klang, dass sie mir sofort verdächtig vorkam. Ich misstraute ihr auf Anhieb. Niemand ist freiwillig so nett, oder? Da stimmt doch was nicht.
Es roch nach Desinfektionsmitteln, den Resten der Gulaschsuppe vom Mittagessen und ungewaschenen Patienten im Deo-Streik. Der Gang war hell, die Wände pastellfarben, alles zu meiner Beruhigung. Und die der anderen Inhaftierten, klar.
Schwester Ariane brachte mich in mein Zimmer. Tristesse, wohin ich schaute. Die Möbel waren ein billiger IKEA-Abklatsch für Psychos wie mich: weißes Bett, weißer Tisch, weißer Stuhl. Hatte das Geld nicht einmal für Pastellfarben gereicht? Kein Fenster, das ich öffnen konnte. Aber ein Notknopf. Praktisch, denn ich hatte Not. Die Not, hier möglichst schnell wieder rauszukommen. Ich drückte den Knopf, testweise. Nichts passierte. Willkommen im Club der Unerwünschten und Ignorierten.
Und dann sah ich sie. Sie saß im Gruppenraum, den Rücken so gerade, als seien ihre Wirbel aus Stahl oder Beton. Vor ihr auf dem Schoß hatte sie ein Klemmbrett mit einem Blatt Papier. Ihre rotblonden Haare waren poetisch zerzaust, als hätte sie ein Seefahrer bei Windstärke 11 im Gegenwind frisiert. Ihre Augen? Irgendwo anders, weit weg. Nicht leer, nur… vorgereist. In eine Richtung, die ich nicht sehen konnte. Und von der ich nicht einmal sicher war, ob es sie wirklich gibt.
Ich setzte mich an ihren Tisch. Dann sah sie mich an. Die Zeit blieb kurz stehen. Wenige Sekunden. Ihr Blick war festgetackert. In diesem Moment fühlte ich mich wie der neue Schüler, der nicht ganz sicher ist, ob sein Käsebrot im Ranzen stinkt.
„Neu hier?“, fragte sie.
Ich nickte. Mehr ging nicht.
„Paranoia, Psychose oder nur ein schlechter Algorithmus?“
„Ich… äh…“
„Schon gut. Ich halluziniere keine Fragen für Neue. Ich will nur wissen, ob ich dich duzen darf oder ob du noch Stimmen hörst, die auf einer förmlichen Anrede bestehen.“
Ich lächelte. Oder grinste ich? Beides fühlte sich falsch an. Wie ein Lachanfall auf einer Trauerfeier.
Ich stand auf. Einfach so. Warum sollte ich sitzen bleiben? Um länger mit einer Teilzeitwahnsinnigen zu reden? Nein, ich gehörte hier nicht her. Also kein Wort zu ihr. Ich verließ den Raum. Meine Haltung: selbstbewusst geisteskrank.
Auf dem Flur kam mir ein Weißkittel entgegen. Männlich, Vollbart, Ende dreißig, ein bisschen viel Bart für eine Anstalt. Ich hatte mir einen Seelenklempner immer anders vorgestellt. Und dann dieser Name: Dr. Wolfram Klein. Wie kann man nur Wolfram heißen? Obwohl, eigentlich passte es.
„Herr Schuster, ich bin Dr. Klein. Kommen Sie bitte mit in mein Büro.“
Er ging los, ich blieb stehen. Regungslos. Leise atmend. Er drehte sich um, sah mich an.
„Kommen Sie?“
„Warum sollte ich?“
„Weil ich es wünsche. So einfach.“
Ich rollte mit meinen Augen. „Ich habe auch Wünsche.“
„Ja? Welche denn?“
„Raus hier, was sonst.“
Er kam auf mich zu. Stand direkt vor mir. Der Blick auf Anschlag. „Dann kommen Sie besser mit. ‚Raus hier‘ gibt es nur mit meiner Zustimmung. Also?“
Definitiv eine Falle, diese Einrichtung. Diese sachliche Freundlichkeit: war sie überhaupt echt? Oder Teil eines diabolischen Spiels, bei dem der Gegner unterworfen werden musste? Ich traute diesem Dr. Klein etwa so weit, wie ich eine Gänsefeder werfen kann.
„Okay, ich komme mit.“
Ich folgte ihm. Widerwillig, aber auch freiwillig, es war ein paradoxes Gefühl. „Arztzimmer“ stand auf dem Türschild. Ob der Begriff wohl gegendert wird, wenn eine Ärztin Dienst hat? Bestimmt nicht. Es war viel zu altbacken hier.
„Bitte, nehmen Sie Platz.“
Er zeigte auf den Stuhl. Einfach, abgenutzt, mit einigen Kerben. Hatte den Stuhl jemand als Waffe im Nahkampf genutzt? War das hier eine Kampfarena? Und Dr. Klein der Torero mit dem roten Tuch, der den Stier besiegen soll? Also mich?
Ich strich mir flüchtig über die Stirn. Keine Hörner. Ein Glück! Aber, Moment mal. Was war das denn? Kaum war ich hier, kam mir der Gedanke, ich könnte ein Stier mit Hörnern sein. Dieser Laden hier hat definitiv eine ganz miese Aura. Kein Wunder, bei dem Personal. Also besser schnell raus hier.
„Herr Schuster, wissen Sie, warum Sie hier sind?“
Schweigen. Es war eine dieser Fragen, die zu dumm sind, um beantwortet zu werden. Aber auch zu wichtig sind, um ignoriert zu werden.
Die Erinnerung kam zurück. Meine Eltern waren zu Besuch, dann ihr Notruf. Der verdammte 5G-Überwachungswahnsinn. Kameras, Biometrie, Pico-Satelliten. Alles war eindeutig. Ich hatte den Durchblick. Meine Eltern nicht. Das war mein Fehler.
„Noch einmal. Wissen Sie, warum Sie hier sind?“
„Vielleicht. Sagen Sie es mir.“
„Ich wollte, dass Sie es mir sagen.“
„Und wenn ich das tue, kann ich dann gehen?“
„Vielleicht.“
Mein Blick wanderte ins Leere, durch das geschlossene Fenster. Vielleicht saß sie noch im Gruppenraum, die Frau mit den zerzausten Haaren und der poetischen Wirbelsäule. Vielleicht wusste sie, wie man hier rauskommt. Doch wenn sie es wusste, warum war sie dann noch hier? Ein Puzzle. Mit zu vielen Lücken.
„Ich bin hier, weil meine Eltern es so wollten. Gegen meinen Willen. Nur damit das klar ist.“
„Und warum wollten sie das?“
„Fragen Sie sie.“
Dr. Klein runzelte die Stirn. Das erste Gespräch, es war so oft ein Minenfeld, und ich hatte verdammt große Füße.
„Das habe ich.“
„Warum fragen Sie mich dann?“
„Weil ich Ihre Sicht der Dinge verstehen will.“
Aha, die „Sicht der Dinge“ eines Patienten. Bestimmt seine Lieblingsphrase. Fehlt nur noch der Mini-Bonsai auf dem Schreibtisch. Und das Achtsamkeitsposter an der Wand, mit ganz viel Natur und so. Ich versuchte mich wieder zu konzentrieren. Jetzt bloß nicht an Hörner denken. Hörner sind schlecht.
„Meine Sicht? Ich gehöre hier nicht hin.“
„Verstehe.“
Zum ersten Mal sah ich ihn genauer an. Seine kleine Knollennase. Ohne Popel, mit einem dünnen Haarbüschel, aber nur aus dem linken Nasenloch. Schielte er ein wenig? Oder drehte ich jetzt langsam durch?
„Sie sagten, Telefone würden abgehört. Von Geheimdiensten. Stimmt das?“
Jetzt verstand ich. Die Paranoia-Nummer. Der Klassiker.
„Edward Snowden hat das schon vor Jahren gesagt. Wohnt der eigentlich auch hier?“
„Ihre Eltern erwähnten auch 5G, Echtzeitüberwachung, Kameras…“
„Wenn sie mal wieder an einer Ampel stehen, schauen Sie einfach noch oben. Kameras. Kurze Sendemasten. Und?“
„Sehen Sie darin eine vollständige Echtzeitüberwachung der Menschen?“
„Ich sehe Kameras und Sendemasten. Was Sie damit machen, interessiert mich nicht.“
Dr. Klein lehnte sich lässig zurück. „Sie sind IT-Fachmann, oder?“
„Ja.“ Jetzt war es amtlich, ich hatte für diese Anstalt den falschen Beruf. Aber wahrscheinlich nur hier.
„Sie kennen sich also aus.“
„Womit?“
„Na, mit der Überwachung.“
Dieser Typ nervte. „Ja, klar. Ich habe den Durchblick. Ich überwache die Menschen, das kann ich. Ich spioniere sie aus. Und bald auch Sie. Weil Sie mir auf die Nerven gehen. Kann ich jetzt endlich gehen?“
„Warum sollte ich das tun?“
„Ich dachte, Sie sind studiert. Mit ziemlich viel Grips zwischen den Ohren. Dann sollten Sie doch verstanden haben, dass ich nur Dinge gesagt habe, die nachweislich stimmen.“
„Auch die Komplettüberwachung?“
„Das haben Sie mir untergeschoben. Ich habe das nicht gesagt. Klar?“
Wut stieg in mir auf. Das war hier schlimmer als bei der Polizei, wenn man angetrunken viel zu schnell gefahren ist.
„Haben Sie nicht eben gesagt, dass Sie die Menschen überwachen?“
„Das war ein Scherz, Mann. Oder bin ich hier in der humorfreien Zone?“
„Das sagen Sie. Wollten Sie nicht auch mich ausspionieren?“
Definitiv humorfreie Zone. „Kann ich jetzt gehen?“
„Ja, auf Ihr Zimmer. Sie bleiben hier. Bis auf Weiteres. Wahrscheinlich leiden Sie an einer paranoiden Schizophrenie. Bei diesen Wahnvorstellungen. Das werden wir in den nächsten Wochen abklären. Und behandeln.“
„In den nächsten Wochen? Sind Sie wahnsinnig?“
„Nein. Ich nicht. Noch ein Tipp: Je kooperativer Sie sind, desto besser sind die Chancen, hier raus zu kommen.“
Natürlich. Sie wollen mich brechen. Mit Malen, rosa Pillen und Yoga. Ich sah ihn an. „Möge die Macht mit dir sein.“ Ob ich diesen flapsigen Spruch lieber hätte lassen sollen? Doch ich hatte so viel Wut im Bauch.
Ich stand auf. Und ging. Am Gruppenraum vorbei. Da saß sie. Noch immer. Ihr Blick: irgendwo im Paralleluniversum.
Nach dem Abendessen: Kofferübergabe. Mitgebracht von meinen Eltern. Durchleuchtet, desinfiziert, ohne Stichwaffen oder Schraubenzieher. War ja klar.
Später saß ich neben der mysteriösen Frau im „Ruheraum“. Ironisch, denn Ruhe war das Letzte, was dort existierte. Ich schwieg, sie sprach, mit Gesten und einem schrägen süßen Lächeln, das mehr sagt als jede Diagnose.
„Glaubst du, das hier ist alles Teil eines größeren Plans?“
„Ist es das nicht?“
Sie nickte, fast feierlich. „Willkommen im Club.“
Aus dem Nebenraum brüllte ein Mann: „Ich bin kein Versuchskaninchen. Weg mit den Pillen!“
Sie seufzte. „Das sagt er jeden Abend, wenn die Tagesschau vorbei ist. Punkt 20:15 Uhr. Als wäre er so programmiert. Vielleicht ist er das.“
Ich sagte nichts. Nicht, weil mir die Worte fehlten. Sondern weil sie vielleicht Recht hatte.
Um 22 Uhr ging das Licht aus. Pfleger Udo machte seine späte Stationsrunde. Sie stand auf, drehte sich um. „Ich heiße übrigens Miriam. Oder 38. Meine Zimmernummer.“
„Ich bin Tom.“
„Klingt zu echt. Ich nenne dich 42.“
„Warum?“
„Weil alle Neuen denken, dass sie den Durchblick haben. Doch den haben wir. Wir sind schon länger hier.“
Sie zwinkerte. Dann war sie weg.
Ich wusste nicht, ob ich mich gerade ein wenig verliebt hatte. Oder ob das nur der erste, wenn auch durchaus angenehme Schritt in den Wahnsinn war. Dann war auch ich weg. Zurück in meinem Zimmer.
Heute war meine erste Gruppentherapiesitzung. Was sollte das eigentlich sein? Therapie in einer Gruppe? Werden Blinddärme neuerdings erst operiert, wenn genug Patienten für eine Gruppe da sind? Und dann bei allen „Gruppenmitgliedern“ gleichzeitig entfernt? Ich gehe hin, widerwillig. Vielleicht kann ich danach raus.
Es war im Raum 12. Die Stühle standen im Kreis. Einige Inhaftierte saßen schon da. Schweigend. Alle starrten mich an. Den Neuen. Hatte ich eine Nudel auf der Nase?
Miriam saß auch schon da. Die Stühle neben ihr waren belegt. Heute trug sie einen hellgrünen Kapuzenpulli. „Mich nicht“, stand vorne drauf. Die Rückseite konnte ich nicht sehen. Sie starrte in die Ferne. Dorthin, wo sie gestern schon war? Vielleicht nimmt sie mich mal mit dorthin.
„Tach.“
Niemand reagiert. Naja, warum soll man im Knast auch höflich sein.
Ich nahm Platz. Rechts neben mir saß Gretchen, mit einer Lupe in der Hand. Sie drehte sich zu mir, ganz sachte, ohne mir die Lupe vor die Augen zu halten. Und tat sehr geheimnisvoll dabei. Dann sprach sie leise, hinter ihrer Hand. „Ich habe es schon wieder bemerkt“, flüsterte sie. „Es ist der Kaffee. Immer der gleiche Becher. Aber es ist nie der gleiche Kaffee. Sie verändern den Geschmack, um uns zu testen. Es gibt eine Nachricht in jeder Bohne. Psst. Nicht verraten.“
Oh Gott, wo bin ich hier nur gelandet. Wenn das so weitergeht, trinke ich demnächst mit jedem Schluck Kaffee konspirative Botschaften. Dann bleibe ich freiwillig, ganz bestimmt.
Auf der linken Seite saß Heinrich. Ein Bodybuilder mit einem Bizeps wie eine Melone. Eine kleine Melone, versteht sich. Er hatte dunkle Augen unter seinem kahl rasierten Schädel. Und dicke Ohrringe in beiden Ohrläppchen. Wenn er dein Freund ist, bist du sicher. Doch wenn er dich nicht mag? Ob es hier einen guten Chirurgen gibt, falls er ausrastet? Das sollte ich schnell prüfen. Oder Schwester Ariane fragen.
Auf einmal sprach er. „Ich weiß, was ihr denkt“, sagte er mit einem grimmigen Lächeln. Gruselig, der Typ. „Jeder hier ist ein Feind, der nur darauf wartet, mich zu besiegen. Aber ich bin bereit. Und ich werde immer stärker.“
Jetzt hatte ich doch etwas Angst. Kein Wunder, dass beide Plätze neben ihm noch frei gewesen waren.
Und direkt gegenüber saß die zerzauste Miriam. Ihre flauschigen Haare strahlten eine betörende Aura aus.
„Ich höre die Stimmen der Bäume“, flüsterte sie. Kaum hörbar. „Die Bäume, sie singen für mich. Und ich bin der Dirigent ihrer Melodie.“
War ihre Frisur ein Baumwipfel? Wie würde sie wohl im Winter aussehen, wenn alle Blätter gefallen sind? Wie Heinrich?
Dr. Klein trat ein. Mit einem frischen rosafarbenen Hemd und einer hellgrünen gepunkteten Krawatte. Man mochte nicht hinsehen, es war Folter für die Augen. Und immer noch ein Büschel Nasenhaare auf der linken Seite. Hat er keine Schere zuhause? Oder hat er nur eine für sein rechtes Nasenloch?
Er nahm Platz. Es war still. Jetzt begann sie, die Gruppentherapie. Auch bekannt als Kaffeekränzchen mit Realitätsverlust. Nur ohne Kaffee. Für Gretchen war es wahrscheinlich ohne Kaffee besser.
Ich ahnte, was jetzt kam. „Wer möchte anfangen?“, fragte Dr. Klein.
Blöde Frage, Heinrich natürlich. Er saß da wie ein General im Kurzurlaub. Das Kinn raus, die Schultern stramm, die Muskeln immer leicht angespannt.
„Die Nachtwache ist jetzt auf meiner Seite“, sagte er. „Er hat dreimal mit dem linken Auge geblinzelt. Das heißt, der Angriff ist vertagt.“
Ich nickte. Sehr gut, dachte ich. Heute sollte es also keinen Guerilla-Krieg im Flur geben. Beruhigend.
Miriam lächelte wie eine Fee auf Beruhigungsmitteln. Ihre Haare standen jetzt in alle Richtungen, als würden sie Satellitensignale empfangen.
„Ich glaube, Heinrich ist eigentlich eine Schrankwand, die träumt, ein Mensch zu sein“, sagte sie.
Warum nicht? In diesem Irrenhaus ist die Realität sowieso im Dauerurlaub.
Dann meldete sich Gretchen zu Wort, ihr Notizbuch in der Hand. Verschwörung schwarz auf weiß. Oder blau auf weiß? Wer weiß.
„Ich habe es herausgefunden“, sagte sie. „Wenn es mittwochs Linsensuppe gibt, kommt jemand Neues. Letzte Woche war es die mit dem Schal. Und der Himbeerjoghurt hat Sensoren. Ich habe es gerochen.“
Ich schaute sie an, etwas perplex. „Dann hoffe ich, dass du nicht auch die Heizung analysiert hast. Die klickt auffällig.“
Miriam flüsterte: „Joghurt ist ein Übergang. Zwischen Angst und Hoffnung.“
„Ich dachte, zwischen Milch und Schimmel“, sagte ich. „Aber vielleicht fehlt mir einfach nur das Spirituelle.“
Silvia, die Neue, jetzt ohne Schal, sprach plötzlich. Leise, fast wie ein defektes Radio.
„Die Fenster haben heute gesprochen. Über mich. Ich glaube, eins mag mich.“ Sie lächelte, fast etwas verlegen.
Dr. Klein fragte: „Wie klang es?“
„Etwas metallisch, oder technisch, fast wie ein Außerirdischer“, sagte Silvia. „Aber freundlich.“
Miriam nickte. „Fenster wissen Dinge. Sie sehen alles. Aber sie schweigen. Meistens.“
„Deshalb rede ich“, murmelte ich. „Damit ich mich noch mehr von diesem Heizkörper oder dem Fenster unterscheide.“
Dann starren sie mich an. Mein Einsatz. „Bitte“, sagt Dr. Klein.
„Ich glaube, ich gehöre nicht hierher“, sagte ich. „Aber ich bin zu höflich, um einfach zu gehen. Vielleicht habe ich auch nur eine einfache Ironie-Störung. Wenn ich wenigstens zurecht hier wäre, würde ich doch mindestens mal glauben, dass die NSA meinen Duschkopf abhören, oder? Aber nein. Das glaube ich nicht. Oder doch? Wisst ihr, ich halte mich für normal. Was hier offenbar das Hauptkriterium für Wahnsinn ist.“
„So sehen Sie sich?“, entgegnete Dr. Klein.
Heinrich knurrte: „Spione reden so. Erst reden sie harmlos, und dann sind sie doch nur Feinde.“
Gretchen flüsterte: „Ich habe vier Joghurts umgedreht. Zwei haben gezuckt. Einer hat geflackert.“
„Vielleicht waren es epileptische Joghurts“, sagte ich.
Silvia starrte zur Decke. „Die weiß zu viel. Heute früh hat sie geknistert. Eine Botschaft.“
„Alles knistert hier,“ sagte ich. „Vor allem meine Geduld.“
Dr. Klein machte sich Notizen. Wahrscheinlich vor allem zu mir. Bestimmt unter der Rubrik „Humor als Abwehrmechanismus“.
Dann wandte er sich direkt zu mir. „Tom, wie waren Ihre ersten zwei Tage hier?“
„Kalkhaltig“, sagte ich. „Die Kaffeemaschine ist mein Seismograph. Gibt sie mir lauwarmes Wasser, ist mein Karma schlecht. Gibt sie echten Kaffee, ist das Karma meiner Umgebung schlecht. Bisher gab es nur echten Kaffee.“
Miriam lächelte. Ob sie auch echten Kaffee bekommt und mich versteht?
Gretchen flüsterte: „Der Fernseher hat geflackert. Ich habe laut gedacht. Er wusste es.“
Ich nickte. „Du warst zu laut im Kopf. Stell ihn doch das nächste Mal einfach auf Zimmerlautstärke.“
Dr. Klein wurde etwas unruhig und schaute auf die Uhr. „Wir schließen für heute. Danke für Ihre Offenheit. Wir sehen uns in zwei Tagen wieder.“
Fast alle standen auf und gingen. Leise. Ich blieb noch einen Moment sitzen. Miriam auch. Ihre Hände lagen im Schoß wie zwei schlafende Welpen.
„Alles ist ein Zeichen“, sagte sie. „Nichts ist Zufall. Außer Heinrichs Stirnfalte.“
Ich grinste, stand auf und ging in mein Zimmer. Ein Albtraum mit Wänden.
Die Tür stand einen kleinen Spalt weit auf. Es klopfte. Schwester Ariane trat ein.
„Ihre Tablette, Herr Schuster.“