November Ragtime Blues - Manfred Eisner - E-Book

November Ragtime Blues E-Book

Manfred Eisner

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Beschreibung

Auch in den Elbmarschen häufen sich kriminelle Sprengungen von Geldautomaten in Bankfilialen. Dabei nehmen die Täter kollaterale Schäden an Gebäuden und die Verletzung und sogar den Tod von unbeteiligten Anwohnern billigend in Kauf. Nach einem solchen Anschlag in Oldenmoor bilden die Kieler Behörden eine SoKo unter Leitung von LKA-Kriminalrat Dr. Walter Mohr und seiner Sonderermittlerin Nili Masal, die das Verbrechen aufklären sollen. Gleichzeitig erfährt Nili bittere Schicksalsschläge in ihrer Privatsphäre. Zwei Shisha-Morde beschäftigen die Itzehoer MoKo-II-Beamten und konvergieren im Laufe der Ermittlungen mit dem Bankraub, dessen Urheber schlussendlich entlarvt werden.

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Manfred Eisner

NOVEMBER RAGTIME BLUES

Roman

Nili Masal ermittelt (12)

Engelsdorfer Verlag Leipzig 2024

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Das Gemälde auf der Titelseite (Eigentum und Fotoreproduktion des Autors) und die Grafikcollage auf dem Rückumschlag sind Werke des Künstlers Jens Rusch aus Brunsbüttel.

Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

www.engelsdorfer-verlag.de

»Und es hat ›Boom!‹ gemacht. Kriminelle sprengen derzeit […] reihenweise Geldautomaten. Die Täter leiten Gas in die Geräte und lassen es dann krachen.«

(Leonidas Exuzidis – Handelsblatt, 04.01.2023)

»Wieder ein Gebot ist: Du sollst nicht stehlen.

Ja, das befolgt ihr nach dem Wort; denn ihr tragt alles offen fort.

Vor euren Klauen und Geiers Griffen, vor euren Praktiken und bösen Kniffen ist das Geld nicht geborgen in der Truh, das Kalb nicht sicher in der Kuh; ihr nehmt das Ei und das Huhn dazu.«

(Friedrich Schiller [1759–1805] Dichter, Schriftsteller, Historiker und Dramatiker).

Inhalt

Vorwort

1. Rocco

2. Da machte es plötzlich ›Boom!‹

3. SoKo Automatenraub

4. Wochenende

5. Baltic Jazz 4 U

6. Aus Nilis Tagebuch

7. Codewort: Yueadu

8. Mordduett und Jazzterzett

9. Verhängnisvolles Wochenende

10. Stürmische Spuren

11. Vendetta

12. Die beiden Gesichter des Janus

13. Nili María

14. Finale

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Vorwort

Quo vadis, Germania?

Die Dreistigkeit der Gesetzesbrecher und die Krux des schlechten Gewissens

Mit Erstaunen erfahren wir Bundesbürger tagtäglich in den Nachrichten, mit welch wachsender Unverfrorenheit und zuletzt zunehmender Frequenz Untäter ihre hochkriminellen Handlungen vollbringen. Da werden unverblümt gestohlene Autos mit hoher Gewalt in die Türen und Fenster von Juwelier- und Luxusartikelgeschäften gerammt und diese in Sekundenschnelle ausgeraubt sowie Geldautomaten an Banken und öffentlichen Orten hemmungs- und rücksichtslos in die Luft gesprengt, ohne auch nur eine Sekunde an die Gefahr für Be- und Anwohner der betroffenen Gebäude zu denken. Zumeist ungehindert können die Untäter danach mit ihrer Beute unerkannt entkommen. Dank der bodenlosen Naivität unserer höchst engagierten Schützer der Privatsphäre, die aufs Eifrigste jede Möglichkeit der Video- sowie Abhörüberwachung potenzieller Täter als Tabu propagieren (und leider auch erfolgreich verhindern), sind unsere Ordnungshüter danach lediglich auf eventuelle Zeugenaussagen angewiesen (im besten Falle auf nützliche Hinweise von befreundeten Geheimdiensten). Ansonsten fallen Beobachtungen naturgemäß äußerst mager aus, werden doch die Überfälle zumeist in den dunkelsten Nacht- und/oder Morgenstunden verübt. Schnell und laut werden dann die Kritik und der Sarkasmus wegen angeblicher Unfähigkeit und Unvermögen unserer Behörden vor allem in den unsäglichen Social Media verbreitet. Am verwerflichsten sind der Mangel an Respekt und die zunehmende Brutalität, die gewisse irregeführte Elemente gegenüber Polizei, Feuerwehr und Sanitäter manifestieren. Aber auch so manche Bank macht es sich viel zu leicht und vernachlässigt die gebotenen Sicherheitsmaßnahmen. So konnten findige Gewalttäter in Rififi-Manier mittels eines potenten Kernbohrers durch die Betondecke zweier Sparkassenfilialen in deren Tresorräume einbrechen, um dort in aller Ruhe und ungestört die Sicherheitsdepots aufzubrechen und zu entleeren. Das Geldinstitut bekam seitens der Gerichte nicht einmal die gehörige Quittung für seine nachlässigen und notorisch defizienten Sicherheits- und Alarmeinrichtungen. Anstelle gerechtfertigte Entschädigungszahlungen an die geprellte Kundschaft zahlen zu müssen, wurde es hiervon freigesprochen.

Als ein Zugehöriger der ›Generation der Uralten‹ stelle ich mir wahrhaftig die Frage, wieso und warum sich unsere Gesellschaft mit einer derartigen Verrohung der Sitten, verbunden mit stets zunehmender Gewalt und Brutalität, abfinden muss. Zwar wird von unseren zuständigen Regierenden (ich weigere mich strikt, diese mit der falschen Generalisierung ›die Politik‹ zu benennen, denn es ist nicht diese, sondern es sind jene, die sie falsch ausüben und verwässern, dafür verantwortlich!) stets gebetsmühlenartig öffentlich lamentiert und debattiert, man ›müsse doch‹ oder ›sollte unbedingt‹ diese oder jene Maßnahme ergreifen, um Abhilfe zu schaffen. Herrscht dann aber totale Hilflosigkeit mangels einer zutreffenden Argumentation, schiebt man es eben auf Corona oder es wird gleich nach einem neuen Gesetz gerufen, obwohl wahrscheinlich kaum ein anderes Land auf diesem Globus mit einer so hohen Anzahl an gesetzlichen Regelungen ›gesegnet‹ ist.

Und ja, unsere erhabenen Staatsanwaltschaften und Gerichtsbarkeiten sind ja derart überlastet, dass fast jeden Monat überführte Gesetzesbrecher aus der U-Haft entlassen werden müssen, weil ihnen – eben wegen unsinniger Verjährungsvorschriften – nicht rechtzeitig die Anklageschrift vor die Nase gehalten werden könne. Die sogenannten Familienclans agieren indessen ungeniert und erledigen sogar ihre blutigen Streitigkeiten wegen regionaler ›Anspruchsgebiete‹ untereinander nach eigenen Regeln, ohne Rücksichtnahme auf unsere Gesetzgebung und unter zumeist tatenloser ›Beobachtung‹ von Verfassungsschutz und verantwortlichen Innenministerien. Kommt es eventuell zu einer Festnahme und sogar zur Gerichtsverhandlung, stehen dem Beobachter nicht selten wegen der gesprochenen milden Urteile oder gar einer Aussetzung zur Bewährung die Haare zu Berge. Es ist schier unglaublich, mit welcher Naivität (?) so mancher Richter unsere Gesetze gummibandartig auslegt, um ja nicht in den Verruf zu gelangen, ein sozialfeindliches oder rassistisch motiviertes Ungetüm zu sein! Leider ist dies ein böses Legat, welches uns die unsägliche Legion der NS-Richter während des Dritten Reichs hinterließ, aber deswegen aufgrund eines schlechten Gewissens den heutigen ›sozialen‹ Kuschelkurs einzuschlagen, ist erwiesenermaßen ebenso untauglich. Unsere heutige Generation ist wahrhaftig nicht schuld an den Verbrechen der Nazis, es sei denn, sie macht sich deren dämonisches Gedankengut zu eigen, indem sie sich wiederum von jenen ewig gestrigen völkischen Verführern und deren Parteien für deren niedere politische Machenschaften einspannen lässt. Und bedauerlicherweise geschieht gerade dies zurzeit in zunehmendem Maße, weil zahlreich gewordene Verirrte offensichtlich den rechten Populisten mit ihren markigen Parolen mehr Glauben schenken als den stets hin und her lavierenden ›Weichmachern‹.

Ähnlich arg erscheint mir das beklagenswert gespaltene Empfinden vieler Deutscher gegenüber Israel und dessen Erzfeinden. Leider muss ich zugeben, dass auch ich überhaupt nichts von dem gut finde und scharf verurteile, was da radikalorthodoxe rechtsgerichtete jüdische Parteien, die (mangels Einheit der mehrheitlich rechtschaffenen Bevölkerung und zu meinem tiefen Bedauern) in Überzahl an der gegenwärtigen israelischen Regierung beteiligt sind, im Westjordanland aber auch im eigenen Land anrichten. Ich konnte mich bei meinem Israelbesuch im vergangenen Jahr von der desolaten Lage der Bevölkerung jenseitig der den Terroranschlägen verschuldeten Schutzmauer – aber ebenso von deren tiefen Hassgefühlen gegen die Juden auf der anderen Mauerseite – selbst überzeugen. Durch ihren tiefen Frust und perfide Tatsachenverdrehung geprägt, führte eine junge Christin unsere Reisegruppe durch Bethlehem und belehrte uns mit ihren haarsträubenden Aussagen. Mangels jeglicher Hoffnung auf eine lebenswerte Zukunft und zudem bedingt durch das jämmerliche Versagen der Regierung der Autonomiegebiete, die außer lauten Lamentos aus eigener Kraft nichts wirklich Nutzbares für ihre Bevölkerung zu vollbringen vermag, ließen diese Eindrücke nicht gerade Gutes erwarten und ich kehrte von diesem Besuch mit sehr gemischten Gefühlen zurück.

Dennoch: Gerade in diesen Tagen demonstrieren jene von Hass Getriebenen, die alle Juden samt Israel vom Globus ausradieren wollen, wieder in aller Deutlichkeit, welches Geistes Kinder sie sind. Vor nichts scheuen die ungeheuerlichen Kriminellen der Hamas zurück, nicht einmal davor, unschuldige Kinder und Frauen zu entführen und sie bestialisch zu vergewaltigen, um sie dann auch noch zu enthaupten und wie Vieh zu schlachten. Es ist schrecklich passend, wie kürzlich vom israelischen Verteidigungsminister geäußert, sie als unmenschliche Tiere zu bezeichnen. Ich meine, sie sind eher noch schlimmer als diese, denn kein Raubtier tötet mit derartiger Häme. Die seit den erschütternden und abscheulichen Geschehnissen dieser Tage von Politikern fast aller Couleur erneut gebetsmühlenartige Wiederholung der »uneingeschränkten Solidarität« und »Verankerung des Existenzrechts Israels als Staatsraison der Bundesrepublik Deutschland« täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass sämtliche bisherige deutsche Regierungen und Behörden über drei Jahrzehnte blinde Augen gegenüber dem wachsenden Juden- und antiisraelischen Hass seitens eindeutiger oder verkappter islamistischer Gruppierungen und Organisationen duldeten und diese fast tatenlos gewähren ließen. Es ist keine Frage, dass man der durch deren unfähige Herrscher verschuldeten armen und hilflosen Bevölkerung im Westjordanland und Gaza aus humanitären Gründen helfen und sie unterstützen muss, aber erwiesenermaßen verfehlen unsere wohlgemeinten Spenden auf fatale Weise dieses Ziel. Auch die EU kann sich hier nicht reinwaschen, denn aus ihren Kassen (die auch wir Deutsche maßgeblich füllen!) flossen in den letzten Jahren Milliarden Euros in die Klingelbeutel der Hamas, die anstatt für Schulen und Spitäler eher für den Bau kilometerlanger Tunnel verwendet wurden, in denen Geiseln misshandelt und festgehalten, tonnenweise Waffen gehortet und Raketen gebaut werden – jene, die gerade jetzt wieder zu Tausenden Tod und Zerstörung über Israel und ihre Bevölkerung bringen! Wenigstens hat nun der Kanzler vor dem Bundestag für das Verbot und gegen die Betätigung dieser Organisationen einen Vorstoß angekündigt und die stets zögernde Innenministerin diese immerhin zu Papier gebracht. Hoffen wir, dass dem auch Tacheles folgt.

Es ist endlich an der Zeit, nicht mehr die Täter zu schützen und sie zu pampern, sondern den Opfern die ihnen gebotene Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Damit hier kein Irrtum entsteht: Ich bin hundertprozentig für unseren demokratischen Rechtsstaat und werde auch stets für diesen mit allen mir gebotenen Mitteln eintreten.

An anderer Stelle äußerte ich es bereits: Unsere Bundesrepublik ist trotz aller Mängel das beste Deutschland, das es je gegeben hat! Jedoch, wie allseitig stets betont wird: »Demokratie ist kein Selbstläufer!« Wir dürfen deshalb diesen unseren Staat aus wie auch immer geartetem Frust oder Politikverdrossenheit weder passiv noch aktiv jenen überlassen, die nichts Weiteres im Sinne haben und danach trachten, das Rad der Geschichte in den Rückwärtsgang zu schalten. Wir, die verantwortlichen mündigen Bürger, müssen deswegen unbedingt unser Allermöglichstes tun, damit unser Land weiterhin im vollen Sinne und im Geiste jener besteht, die uns das Grundgesetz als Verfassung gaben.

Manfred Eisner, im Winter 2023

1. Rocco

Den etwa eine Woche alten und gesunden Knaben, der vor einundzwanzig Jahren den Nonnen des Klosters Nostra Signora della Carità von einer verzweifelten, weil mittellosen und verwahrlosten Mutter in die Klappe ihres Waisenhauses in der Umgebung von Bologna gelegt worden war, taufte der Benediktinerpater Ambrosio einige Tage später auf den Namen ›Benvenuto Cordiale‹. Mit diesem Namen wurde er ins Geburtenregister des Standesamtes von Castenaso eingetragen. Gemeinsam mit seinen ebenfalls elternlosen Mitbewohnern wuchs er unter der sehr strengen und oft lieblosen Aufsicht und Ägide der asketischen Kirchenfrauen auf. Im Gegenzug zur täglichen viermaligen Gebetspflicht waren die Unterkunft und die Verpflegung, die man den glücklosen kleinen Erdbewohnern zuerkannte, spärlich und karg. Wenn nicht gerade im Schulunterricht – dieser begann bereits im vierten Lebensjahr –, wurden die Waisen zu Arbeiten in den Obst- und Gemüsegarten sowie auf die Weinfelder und in die Klosterkelterei zum Abfüllen der Weinflaschen abkommandiert.

Etwaiger Ungehorsam oder gar Sünde – wobei bereits die kleinste Verfehlung unter diese Benennung fiel – wurden drakonisch mit ein- oder mehrtägigem Eingesperrtsein bei Wasser und trocken Brot in der dunklen und nasskalten Zelle im Kellergewölbe des Klosters geahndet. Bei größeren Vergehen wurden die Täter von besagtem Benediktinerpater sogar mit heftigen Schlägen des Zingulums seiner Mönchskutte gezüchtigt, bevor sie im Verlies landeten. Sehnsüchtig blickte Benvenuto stundenlang durch die kleine vergitterte Luke hinaus auf den Klostergarten und beobachtete die gelegentlich im Gras nach Nahrung pickenden Vögel. »Ach, wenn man nur fliegen könnte, dann wäre man frei, frei, frei …«, träumte er vor sich hin und steigerte sich in diese Utopie, war doch diese für ihn der einzige Ausweg, dem beißenden Hunger und dem miserablen Dasein wenigstens gedanklich zu entfliehen.

Die Summe dieser Misshandlungen führte bei dem zwölfjährigen Benvenuto dann irgendwann dazu, dass er seinem Nachnamen Cordiale 1 nicht mehr alle Ehre machen konnte und sich das Gefühl in seinem Bauch zu einer kaum noch zu bändigenden Wut steigerte. Und so kam es, dass er, weil ihm die wiederholten Prügel und das ewige Beten zum Halse herauswuchsen, an jenem Tage in den Weinkeller einbrach und sich reichlich von einem Barrique-Rotwein bediente, anstatt am Nachmittagsgebet teilzunehmen. Als das Fehlen des Sünders auffiel und man ihn schließlich, weil sichtlich angetrunken, schlafend im Keller entdeckte, wurde Benvenuto flugs in die Strafzelle verbracht, wo er am nächsten Morgen mit einem gehörigen Kater, einem arg geschundenen Rücken und einem unbändigen Rochus erwachte. Er randalierte mit lautem Geschrei, zertrümmerte die Holzpritsche und schlug heftig mit einem von deren Beinen so lange auf die Eisentür ein, bis ein erzürnter Pater Ambrosio in dieser erschien und mit erhobenem Zingulum auf ihn zuging. Bereits beim ersten Schlag mit der Kordel bückte sich Benvenuto, hielt diese mit seiner Linken fest, zog den Kleriker zu sich heran und verpasste ihm einen gehörigen Schlag auf den Kopf. Der Pater sank wie vom Blitz getroffen zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Schließlich schritt der Wüterich mit drohend erhobenem Holzklotz an den verängstigten Nonnen vorbei, verließ das Kloster und verschwand auf Nimmerwiedersehen.

Obwohl noch keine vierzehn Jahre alt und deswegen strafunmündig, wurde er wegen Totschlags im Affekt zur Fahndung ausgeschrieben. Es gelang ihm jedoch zunächst, einem polizeilichen Zugriff zu entgehen. Während der darauffolgenden Jahre hielt er sich mit Betteleien, Diebstählen und kleinen Gaunereien über Wasser. Immer wieder von der Polizei aufgegriffen und in Heimen und später bei unterschiedlichen Pflegeeltern untergebracht, endete dies stets nach kürzeren Aufenthalten unweigerlich damit, dass er diese bestahl und sich erneut auf die Flucht machte. Schließlich landete er im geschlossenen Jugendarrest im Gefängnis San Giovanni del Monte, wo er eine sechsmonatige Haft verbüßte. Trotz seiner ständigen Umtriebe gelang es dem gescheiten Jugendlichen, sich Kenntnisse in Schreiben, Lesen und Rechnen anzueignen. Nach einer kurzen Liebelei mit einem schönen, aber bedauernswert kokainabhängigen Mädchen musste er schmerzlich dessen plötzlichen Tod aufgrund einer Überdosis an gepanschtem Stoff miterleben und schwor sich deshalb, ein solches Teufelszeug niemals anzurühren.

Nach seiner Entlassung sprang er eines Nachts auf einen Güterzug und gelangte derart über Chiasso illegal in die angrenzende Schweiz. Er fand zunächst Asyl und Arbeit bei einem Pizzabäcker in einer kleinen Gasse in Locarno am Lago Maggiore. Sein stämmiger Patrone stammte ebenfalls aus Bologna und hatte deshalb seine Pizzeria nach dessen Heimatstadt benannt. Don Giovanni Petrosi hielt seine schützende Hand über Benvenuto, der sich mangels Papieren inzwischen – sinnigerweise in Anlehnung an den Hauptakteur und halbseidenen Polizei-Vicequestore in einer italienischen Fernsehreihe – selbst in ›Rocco Schiavone‹ umgetauft hatte und unter dieser neuen Identität lebte und arbeitete. Er war besonders fleißig, erlernte rasch das neue Metier, blieb wohl erstmalig in seinem bisherigen Erdendasein ehrsam und ließ sich nichts mehr zuschulden kommen. Als Rocco im Laufe von zwei Jahren genügend Geld gespart hatte, gelang es ihm, durch einen Kontakt im Darknet an italienische Personalpapiere und einen Reisepass heranzukommen, in denen er mit seinem neuen Namen figurierte. Dank der Fürsprache seines Arbeitgebers erhielt er in der Folge eine Daueraufenthaltsgenehmigung im Kanton Tessin und absolvierte die Prüfung für die Fahrerlaubnis eines Motorrades, das er sich zusammensparte. Ein weiteres Jahr ging ins Schweizer Land und Rocco lernte die deutsche Sprache, wohl nicht zuletzt wegen der vielen deutschen Touristen, die Locarno besuchten oder hier ihren dauerhaften Wohnsitz hatten, mit denen er Kontakt pflegte.

Eines Tages holte ihn jedoch völlig unerwartet seine schändliche Vergangenheit in der Gestalt eines ehemaligen von ihm geprellten Kaufmanns aus Bologna ein, der ihn zufällig bei seinem Urlaub am Lago Maggiore in der Pizzeria erkannte. Er bemerkte Rocco hinter dem Tresen, als dieser mit bewundernswerter Fingerfertigkeit einen Pizzateig über dem Kopf kreisen ließ, um ihn in Form zu bekommen, und diesen anschließend auf einem gemehlten Brett mit den bestellten Zutaten garnierte, bevor er ihn in den holzbefeuerten Backofen schob. Rocco hatte den Mann, nachdem dieser das Lokal betreten hatte, sofort erkannt, behielt aber zunächst die Nerven und ließ sich nichts anmerken. Hinter dem Backofen kauernd, beobachtete er mit zunehmender Besorgnis, dass der Mann auch ihn erkannt haben musste, gestikulierte dieser doch aufgeregt, während er zu seiner ihm gegenübersitzenden Ehefrau sprach und deren Blicke daraufhin das Lokal absuchten. Rasch zog Rocco Mütze und Kittel aus und überließ seine Aufgaben einem Kollegen, der ihn sowieso in Kürze ablösen sollte. Dann schlüpfte er in seine Ledermontur, setzte den Motorradhelm auf und entschwand durch die rückseitige Tür der Pizzeria auf den Hinterhof und von dort auf die Straße. Unauffällig trat er an eines der Außenfenster der Pizzeria, von wo aus er den Tisch des Kaufmanns unauffällig beobachten konnte. Mit einem breiten Grinsen bemerkte er die Verblüffung im Gesicht des Gastes, als nunmehr sein Kollege in Erscheinung trat und die Pizza aus dem Ofen holte. Rocco bestieg seine ältere dunkelgraue Ducati Scrambler und fuhr möglichst geräuscharm davon.

Auf einer Bank am Seeufer sitzend, entfernte er zunächst die SIM-Karte aus seinem Handy und zerschnitt diese in kleine Stücke. Danach überlegte er, wie es mit ihm weitergehen sollte. Den Verbleib an diesem Ort meinte er nun nicht mehr wagen zu können, stand doch zu befürchten, dass man bereits in Kürze aufgrund einer Anzeige des von ihm geschädigten Mannes nach ihm fahnden werde. Die Ermittler würden dann auch sehr wahrscheinlich auf seine gefälschte Identität stoßen, und dies wollte er keineswegs riskieren. Also was tun? Eine Stunde später hatte er sich entschieden. Er fuhr zu seiner Bankfiliale, hob seine gesamten Ersparnisse ab, tauschte die Hälfte des Betrages in Euro um und schloss sein Konto. Dann fuhr er zu dem Haus, in dem er in einem möblierten Zimmer logierte. Hier schrieb er einen langen Brief an Don Giovanni, in dem er ihm von ganzem Herzen für alles dankte, was er für ihn getan hatte. Er teilte ihm mit, dass er es bedaure, aber dummerweise habe ihn seine Vergangenheit eingeholt, weswegen er weiterziehen müsse. Anschließend verfasste er eine kurze Kündigungsnachricht für seine Vermieterin, die er glücklicherweise nicht angetroffen hatte. Er fügte das Geld für die ausbleibende Mietzeit hinzu. Dann verteilte er seine Habseligkeiten in eine größere Tasche und einen Rucksack, vertäute alles auf dem Gepäckträger seines Motorrades und machte sich auf den Weg zur deutschen Grenze, die er kurz hinter Basel bei Kandern ungehindert passierte. Als italienischer und damit EU-Staatsbürger brauchte er sich hierüber keine Gedanken zu machen. Beim ersten Tankaufenthalt in Rockeskyll, einem gediegenen Dorf in der Eifel, erwarb er eine Deutschlandkarte und eine neue SIM-Karte für sein Handy. Zu einem moderaten Preis mietete er sich in einem gemütlichen Gasthaus ein. In seinem Zimmer sah er sich die Karte genauer an. »Wo soll’s denn für mich nun hingehen?«, fragte er sich. Dann holte er sein iPad hervor und scrollte darauf einige der Ziele an. Italienische Pizzerie gab es in Massen in vielen Orten der Bundesrepublik, also wäre es nicht schwer, einen Job zu finden. »Vielleicht ist es besser, wenn ich mich in den Norden begebe, um so weit wie möglich von Italien und der Schweiz entfernt zu sein«, räsonierte er. »Außerdem wäre es sicherlich attraktiv, das Meer in der Nähe zu haben. Guck mal, da oben liegt doch nördlich von Hamburg Schleswig-Holstein, direkt unterhalb von Dänemark. Mmm, mal sehen: Da ist Kiel, die Landeshauptstadt; dann sind da noch die größeren Orte Lübeck, Flensburg, alle am Mare Baltico, hier nennen sie dieses Meer die Ostsee; an der anderen, der westlichen Seite, da steht … Nordsee, ja, da gibt’s auch viele Inseln, aber anscheinend keine so großen Städte wie an der Ostküste.« Dann wählte er die Webseite mit den Jobanzeigen für die Region. In der Schweiz stand ihm zuletzt ein monatliches Salär von 3.200 Schweizer Franken plus volle Verpflegung zur Verfügung. Die hier gezahlten Gehälter in Euro lagen um einiges niedriger, allerdings auch bei erheblich niedrigeren Lebenshaltungskosten als im gehobenen Locarno. Er wurde auf die Anzeige des Ristorante e Pizzeria Emilia-Romagna in Itzehoe aufmerksam, weil diese ihn am ehesten ansprach: »Ti cerquiamo, carissimo collega! 2 Wir wünschen uns, dich, einen gestandenen Pizzaiolo, zum nächstmöglichen Zeitpunkt an unserem traditionellen holzbeheizten Backofen willkommen zu heißen. Wir bieten gute Arbeitsbedingungen, und je besser du bist, desto höher fällt deine Bezahlung aus. Melde dich bald, wir freuen uns auf deinen Anruf!«

Zwei Tage später traf Rocco in Itzehoe ein und stellte sich bei seinem Patrone in spe vor. Nachdem er diesem seine Fähigkeiten zur vollen Zufriedenheit vorgeführt und mit ihm vorzughafte Arbeitsbedingungen verhandelt hatte, durfte er seine neue Stellung antreten. Bereits am selben Abend stand er hinter der Vitrine am Pizzazubereitungstisch und führte den Gästen seine Kunstfertigkeit vor. Kurz darauf bezog Rocco eine günstige kleine Zweizimmerwohnung in der Altstadt und tauschte seine Ducati gegen einen Fiat Punto ein. Schon bald gewann er die Gunst des Inhabers Don Renzo Piazzola und arbeitete sich fleißig zum zweiten Mann im Betrieb empor. Er wurde zur allabendlichen Attraktion der Gäste, die ihm bei der Zubereitung ihrer Lieblingsversion gern zuschauten.

Mit der Zeit machte er sich eine kleine Runde von Bekannten, unter denen auch ein älterer Herr namens Günther Nordmann war. Durch einen Arbeitsunfall frühzeitig in Rente gegangen, steckte er Rocco mit seiner Begeisterung für sein Hobby, den Drohnenflug, an, dem er reichlich frönte. Dies weckte dann auch bald jene Sehnsüchte nach dem Fliegen, die in Rocco schon als Kind in der Dunkelheit des Klosterkellers aufgekeimt waren. Die beiden freundeten sich an und fuhren öfter in Roccos Punto hinaus ins Grüne, wo sie Günthers leistungsfähigen Quadrokopter mit der HD-Kamera in die Lüfte steigen ließen und deren scharfe Videoaufnahmen, die in etwa einem Kilometer Höhe entstanden, auf dem Monitor bis ins kleinste Detail betrachten konnten. Dabei verfiel Rocco ins Träumen. Ihm war, als säße er selbst im Flieger und besähe sich diese Landschaft aus dem Cockpit. Gelegentlich half die reizvolle Marcella, eine Nichte Don Renzos, beim Servieren im Lokal aus. Sie hatte von Anfang an ein verliebtes Auge auf ihn geworfen. Es dauerte allerdings einige Zeit, bis ihn die Köchin Maria darauf aufmerksam und ihm auch Mut machte, denn er hatte zwar gleichwohl Gefallen an Marcella gefunden, sich aber wegen ihrer Verwandtschaft zum Patrone bisher nicht gewagt, sie direkt darauf anzusprechen. Während der letzten Weihnachtsfeier des Personals war es dann endlich zur Annäherung der beiden gekommen und sie trafen sich von da an immer öfter, um ins Kino oder in die Disco zu gehen. Rocco Schiavone hatte es mit Glück und Fleiß geschafft, seine traurige Vergangenheit hinter sich zu lassen. Zu guter Letzt war es ihm gelungen, im normalen Leben anzukommen.

2. Da machte es plötzlich ›Boom!‹

Der heftige Knall reißt Steffi aus dem tiefen Schlaf. Als sie erwacht, bemerkt sie den lästigen Druck in ihren Ohren sowie das noch deutlich hin und her schwankende Bett, in dem sie liegt, während von draußen ein mächtiger Krach direkt vor ihrer Wohnungstür dröhnt. Einzelne Rigipsplatten haben sich von der Decke des Raumes gelöst, Bruchstücke davon rieseln herab, kleinere Brocken landen auch auf ihrer Federbettdecke; dicker Staub schwängert die Luft und erschwert ihr das Atmen. Die Glocken der gegenüberliegenden Kirche läuten wirr in die Nacht hinaus, wohl durch die Druckwelle der Explosion angetrieben. Kalte Novemberluft dringt plötzlich durch die zerborstenen Fensterscheiben des Schlafzimmers, deren Splitter sich auf dem Parkettboden verbreitet haben und das nun ungehindert hereinscheinende Mondlicht fahl reflektieren. Dann wird es schlagartig still. Ein Blick auf das dunkle Uhrendisplay ihres Radioweckers verrät ihr, dass auch der Strom ausgefallen sein muss. Behutsam schlägt sie die Decke zurück und harrt zunächst sitzend auf der Bettkante. Während sie im Dunkeln nach ihren Hausschuhen tastet, vernimmt sie das gequälte Aufheulen einer nahen Sirene, die Polizei und Feuerwehr in Alarm versetzen soll. Bevor sie in die Pantoffeln schlüpft, schüttelt sie diese kräftig aus, um sich zu versichern, dass keine Glassplitter darin verblieben sind. Dann erhebt sie sich, schleicht vorsichtig an eines der Fenster und riskiert einen Blick hinaus auf den Marktplatz. Ein gewaltiger Schock befällt sie, als ihr das Maß der Verwüstung bewusst wird: Unzählige Mauerbrocken und -ziegel, die gesamte Tür ihres Wohnhauses samt Rahmen sowie verbogene Metallteile und ein See voller Glassplitter liegen verstreut herum. Die Zeiger der Turmuhr an der Kirche stehen auf zwei Uhr und vierzehn Minuten. Einige der Fenster des Kirchturmes, ebenso wie die der anliegenden Gebäude, so auch des angrenzenden Herrenausstatters Wiese, sind zertrümmert. Mehrere dunkle, in Kapuzen gehüllte Gestalten rennen hinüber zum Café Petersen und steigen in den davor abgestellten schwarzen Transporter ein. Nur einen kurzen Blick auf das gelbe Kennzeichen des Wagens mag Steffi noch erhaschen, ohne allerdings die darauf abgedruckten Zeichen zu erfassen. Der Motor heult auf und das Fahrzeug entfernt sich in Windeseile vom Tatort. Einige Anwohner strömen erschrocken aus ihren Häusern, um nach der Ursache der gewaltigen Detonation zu sehen. Aus der Ferne sind bereits die Martinshörner der Hilfskräfte zu vernehmen, die sich auf dem Weg zum Ort des Geschehens befinden.

Steffi Meiners arbeitet an der Kasse bei der Holsteinischen Bank in deren Filiale Oldenmoor und bewohnt, ebenso wie ihr Nachbar, Heiner Wolff, der stellvertretende Leiter der Kreditabteilung, eine Zweieinhalbzimmer-Dienstwohnung im zweiten Stock des unter Denkmalschutz stehenden, fast dreihundert Jahre alten Bankgebäudes. Sie durchquert das Zimmer und bleibt vor einer Kommode stehen. Aus einer der Schubladen entnimmt sie eine LED-Stablampe und schaltet sie ein. Dann folgt sie dem Lichtstrahl hinüber zur Wohnungstür und will diese öffnen, was ihr aber erst nach mehreren Versuchen und starkem Rütteln gelingt, denn die Tür hat sich offensichtlich stark verkeilt. Sie leuchtet in die Dunkelheit hinaus und bemerkt mit Schrecken, dass das gesamte Treppenhaus abgestürzt ist. Vor ihrer Tür klafft stattdessen ein tiefes Loch. Bestürzt tritt sie zurück; dann überlegt sie kurz und ruft mit lauter Stimme: »Herr Wolff! Sind Sie da? Wie geht es Ihnen? Können Sie mich hören? Herr Wolff!« Dicke Tränen schießen ihr in die Augen, als sie vorsichtig um die Ecke leuchtet und erst jetzt bemerkt, dass ein Teil der Decke genau über Wolffs Wohnung niedergebrochen ist und ein dicker Holzbalken aus der Stelle hervorragt, wo sich einst dessen Wohnungstür befand.

Noch immer benommen angesichts ihrer traurigen Entdeckung, kehrt Steffi zurück in ihre Wohnung, tritt ans Fenster und ruft zu den inzwischen eingetroffenen Feuerwehrleuten hinaus: »Hilfe, Hilfe! Bitte, helfen Sie mir hier heraus, das Treppenhaus ist eingestürzt!«

Oberbrandmeister Markus Kühne, der den Einsatz leitet, blickt überrascht empor, dann nähert er sich dem Fenster und ruft zurück: »Prima, dass Sie sich melden, junge Frau! Ziehen Sie sich schon mal etwas Warmes an, hier draußen ist es saukalt. Wir holen Sie raus, sobald wir das Hubrettungsfahrzeug in Position gebracht haben. Ist außer Ihnen noch jemand im Haus?«

»Ja, nebenan wohnt Herr Wolff, aber er hat auf mein Rufen nicht geantwortet und ich befürchte …« Resigniert schüttelt sie den Kopf und bricht erneut in Tränen aus.

Ein Polizist hat sich inzwischen zum Oberbrandmeister gesellt; er erkennt Steffi, denn er ist Kunde bei der Bank. »Hallo, Frau Meiners, freut mich sehr, dass es Ihnen gut geht! Tun Sie bitte das, was der Kollege Kühne gesagt hat, ziehen Sie sich warm an. Und haben Sie bitte etwas Geduld. Sie sollten inzwischen auch das Nötigste zusammenpacken, denn so, wie sich das hier darstellt, ist das gesamte Gebäude stark beschädigt und sehr wahrscheinlich für längere Zeit nicht bewohnbar.«

»Danke, Herr Seifert!«, erwidert Steffi und zieht sich vom Fenster zurück.

Polizeihauptmeister Willi Seifert, erst vor einer Woche neu ernannter Dienststellenleiter in Oldenmoor, nickt betroffen und wendet sich dem Brandmeister zu. »Sieht also verdammt nach einem Opfer aus, Markus.« Der stimmt ihm ebenso betreten zu: »Ja, wenn’s denn der Ricki ist, den kenne ich auch. Der hat mir vor zwei Wochen den Kredit für meinen neuen Skoda bewilligt. Habt ihr die Kripo in Itzehoe bereits informiert?«

»Na logo, Kumpel, die gesamte Kavallerie ist im Anmarsch! Und ich habe auch unseren Doc aus dem Bett getrommelt, nachdem ich seiner angetrauten Cerberusse3 schließlich klarmachen konnte, dass es hier um einen ernsten Notfall geht. Und gemäß dem, was uns Steffi soeben andeutete, ist zu befürchten, dass wir seinen Einsatz so oder so benötigen werden!«

Eine rege Aktivität der auf dem Marktplatz eingesetzten Helfer stellt sich ein. Der Rettungskorb des schweren Einsatzwagens der Feuerwehr wird inzwischen vorsichtig in Richtung des Fensters hinaufpositioniert, an dem Steffi Meiners erschienen war. Ein Feuerwehrmann nähert sich der Öffnung, hängt die beiden Fensterflügel ab, fegt vorsichtig alle sichtbaren Glassplitter von Rahmen und Fensterbank und ruft danach in das Zimmer: »Wir sind bereit, Frau Meiners, wenn Sie wollen!« Steffi erscheint, in Jogginganzug und Parka gekleidet, und reicht ihm einen Koffer und eine Tasche hinaus, bevor sie sich gemäß seinen Anordnungen zunächst auf den Fensterrand setzt. Mit festem Griff hilft ihr Oberlöschmeister Thomas Bergmann hinüber auf die Bühne und betätigt dann deren Steuerung, sodass sich diese zunächst ein wenig von der Wand entfernt und sich anschließend langsam abwärts bewegt. Unten angelangt, helfen zwei Feuerwehrkameradinnen Steffi von der Bühne. Eine von ihnen legt ihr eine Wärmedecke über die Schultern und begleitet sie hinüber zur nahe gelegenen Imbissstube. Berta Slawinski, die Inhaberin des Market Square Bistro, bewohnt ebenfalls das obere Geschoss über ihrem Laden und hat sofort geöffnet, um die Rettungskräfte zu unterstützen und ihnen warme Getränke anzubieten. »Moin, Gitta. Verdammt, das ist schon das zweite Mal, dass diese Scheißkerle hier den Geldautomaten gesprengt haben!«, kolportiert sie verbittert. »Ich hatte noch bis spät nach Mitternacht gelesen und war gerade eingeschlafen, da machte es plötzlich Boom und das ganze Haus hat gewackelt.«

»Stimmt, Berta, aber diesmal haben die Verbrecher ganze Arbeit geleistet!«, bemerkt Oberfeuerwehrfrau Gitta Wehling verbittert. »Das schöne alte Haus der Holsteiner ist wohl hin und es scheint, als ob da oben jemand elendig dran glauben musste.«

Steffi fängt erneut an zu weinen: »Der arme Herr Wolff! Er hat nicht geantwortet, als ich nach ihm gerufen habe.«

PHM Seifert und OBM Kühne lassen sich von Feuerwehrmann Bergmann im Rettungskorb an das Fenster der Nebenwohnung hieven und schauen tief betroffen in den Raum hinein, der durch einen starken, an der Hebebühne angebrachten LED-Strahler erhellt wird. Ein Teil der Decke ist direkt auf das in dem Zimmer befindliche Bett gestürzt, die zerbrochene Hälfte einer mächtigen Dachpfette liegt quer darüber und hat mit einem Ende die Wohnungstür hinauskatapultiert. Zwei nackte Füße ragen aus dem Federbett hervor. Ergriffen blickt sich das Trio an, Willi schüttelt traurig den Kopf. »Da lag wohl Steffi mit ihrer bösen Ahnung richtig: Für diesen Herrn Wolff kommt offensichtlich jede Hilfe zu spät. Frage: Wie kriegen wir den Mann jetzt da raus?«

Kühne erhebt seine Hand, denn er hat bereits eine Nummer auf seinem iPhone gewählt. »Moin, Thorsten, hier Markus. Tut mir leid, ja, ja! Ich weiß, wie spät es ist, aber wir haben hier …« Er lauscht, bevor er weiterspricht. »Ach, gar nichts mitbekommen? Hast du aber einen gesegneten Schlaf! Na, hier am Markt hat mal wieder jemand den Geldautomaten bei der Holsteiner in die Luft gesprengt. Diesmal sieht es recht arg aus, das Gebäude ist teilweise im Innern zusammengekracht und wir haben im Obergeschoss einen Bewohner ausgemacht, der aus den Trümmern geborgen werden muss. Wie es aussieht, hat der Mann die Detonation nicht überlebt. Wir brauchen dringend eure Unterstützung, also beweg deinen fetten Hintern aus den Federn, trommle deinen THW-Haufen zusammen und macht euch auf den Weg. Danke und over!« Er seufzt und wendet sich an seine beiden Mitstreiter. »Thorsten Ewers war nicht immer so träge, aber seit vor einigen Monaten seine Frau gestorben ist, ertränkt er wohl seinen Kummer in reichlich viel Köm. Und ohne die Spezialausrüstung und die Expertise des Technischen Hilfswerks kann ich meine freiwilligen Helfer da nicht guten Gewissens hineinschicken!«

»Hast recht, Markus, mehr Geschädigte können wir wirklich nicht gebrauchen«, bestätigt ihm Willi Seifert, während sie der Rettungskorb wieder auf Straßenniveau bringt.

Inzwischen haben die Kollegen seiner Dienststelle den Tatort weitläufig abgesperrt, auch Doktor med. Günther Vollmert ist eingetroffen. Willi bedankt sich für sein Erscheinen und informiert ihn, dass sich die Bergung der vorgefundenen Leiche aus technischen Gründen sehr wahrscheinlich noch um mehrere Stunden hinauszögern werde. Er werde sofort benachrichtigt, sobald sie für die Leichenschau bereitliege.

»Moin, moin, Kollegen! Hallo, Herr Doktor! Was für ein Chaos!«, begrüßen sie in diesem Augenblick die hinzukommenden Kriminaloberkommissare Dörte Westermann und Hauke Steffens der MoKo I in Itzehoe. Willi Seifert nickt dem SpuSi-Trio der KTU zu, das soeben einem Transporter entsteigt, und deutet auf die Vorhalle der Bank, in der sich der zerstörte Geldautomat befindet. Lilo Papst, Uwe Wildemann und Henrick Suhr machen