Blutige Maiglöckchen zum Hochzeitstag - Manfred Eisner - E-Book

Blutige Maiglöckchen zum Hochzeitstag E-Book

Manfred Eisner

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Beschreibung

Der makabere Fund der in eine Plastikfolie gehüllten nackten Frauenleiche im Kieler Forst erweist sich als rätselhaft, wurde doch die vorweg arg misshandelte und vergewaltigte Unbekannte vom Täter sorgfältig gereinigt und desinfiziert, um sämtliche Spuren zu verwischen. Dank Nili Masals Spürsinn und Fachinspektor Csmarits’ akribischen Internetrecherchen gelingt es dennoch, die Tote zu identifizieren. Deren als verdächtig geltender Ehemann ist am Tage nach dem Delikt an der Chefsekretärin einer Versicherung in den fernen Urlaub verreist und kann vorerst nicht vernommen werden. Nachdem Nili wieder einmal in den Fällen bisher nicht verfolgte Spuren entdeckt, recherchiert das Team auf der Suche nach neuen Indizien. Während sie Erkenntnisse sammeln, wird eine Gelegenheitsprostituierte von ihrem Lebenspartner als vermisst gemeldet. Dadurch kann eine weitere, Tage zuvor in einem kleinen See aufgetauchte nackte Frauenleiche identifiziert werden. Die Suche nach dem Serienmörder - denn nun steht fest, dass es sich um einen solchen handelt - gestaltet sich als schwierig. Das »Operative Fallanalyse«-Team des LKA und die Gerichtsmediziner haben bereits einige Spuren des Täters gesammelt, aber man konnte sie bisher niemandem zuordnen. Erst ein beiläufiger Anruf der entfernten Verwandten eines früheren Opfers liefert Nili den alles entscheidenden Hinweis, der letztlich zur Entlarvung des Täters und zu dessen Festnahme führt. Diese verlangt allerdings der wackeren Kriminalkommissarin eine äußerst gewagte Aktion ab.

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Manfred Eisner

BLUTIGEMAIGLÖCKCHENZUM HOCHZEITSTAG

Roman

Nili Masal ermittelt (6)

Engelsdorfer VerlagLeipzig2019

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Das Titel-Originalfoto der Maiglöckchen ›Lilly of the Valleys‹ wurde von der Webseite von CCO Creative Commons ausgewählt und ist dort ausdrücklich zur kommerziellen Nutzung freigegeben. Dessen fototechnische Bearbeitung verdankt der Autor seiner langjährigen Freundin, Frau Rachel Hirsch, Fotografin aus Ramat Gan, Israel.

Copyright (2019) Engelsdorfer Verlag LeipzigAlle Rechte beim AutorHergestellt in Leipzig, Germany (EU)www.engelsdorfer-verlag.de

»Was du liebst, lass frei.

Kommt es zurück, gehört es dir – für immer!«

[Konfuzius (551–479 v. Chr.), chinesischer Philosoph]

»Wehe, wenn sie losgelassen!«

[Friedrich Schiller (1759–1805), deutscher Schriftsteller.

Zitat aus ›Das Lied von der Glocke‹ (1798)]

»Gewalt ist Analphabetentum der Seele.«

[Dr. Rita Süssmuth (1937), deutsche CDU-Politikerin,

Ex-Bundesfamilienministerin]

»Gewalt hört da auf, wo die Liebe beginnt.«

[Petra Kelly (1947–1992), deutsche Politikerin der Grünenund M. d. Bundestages: Rede vor der Generalversammlungder Jugend bei der UNO, New York (1985)]

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: »Wo rohe Kräfte sinnlos walten …«

Nili und Waldi

Tot aufgefunden

Rückblenden

Ränkespiele

Ermittlungen

Ertappt!

Spurensuche

Aus Nilis Tagebuch

Analogien

Nachforschung

Neuansätze

Wieder ein Fall

Überraschendes Ereignis

Makabrer Fund

Mosaiksteinchen

Entlarvung

Kehraus

Kulinarisches

Danksagung

Der Autor

Vorwort

»Wo rohe Kräfte sinnlos walten …«1

Besonders schwer tat sich der ›junge Wilde‹ in mir bei der Wiederkehr in die Bundesrepublik Deutschland Anfang der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts mit dem deutschen Rechtsbegriff ›Körperverletzung‹.

Nach mehr als siebzehn Jahren Exil im südamerikanischen Bolivien und zuletzt in Uruguay erschien mir hier vieles fremd, neu und ungewohnt. Überall mahnten unübersehbare Verbotsschilder – Betreten des Rasens, Anlehnen von Fahrrädern, Zutritt für Unbefugte, Spielen und Lärmen der Kinder –, kursierten tadelnde Winke wie »So etwas tut man nicht!« oder es fielen Bemerkungen wie »Wo steht denn das geschrieben?«, wenn auf eine bestimmte Verhaltensregel hingewiesen wurde.

Ziemlich unverständlich fand ich nicht zuletzt jenen Paragraphen 223 des StGB, der jemandem, der einem anderen – und sei es noch so berechtigt – eine aufs Maul haut, bis zu fünf Jahre Gefängnis oder eine saftige Geldstrafe androht. Dort, von wo ich gerade hergekommen war, gab es zwar ebenfalls bindende gesellschaftliche Anstandsregeln, sie waren allerdings nicht allgegenwärtig von den Wänden und Türen abzulesen oder in etwaigen Gesetzbüchern festgeschrieben; die Eltern lebten sie meistens ihren Kindern vor und man hielt sich einfach daran. Darüber hinaus aber herrschten ganz andere Sitten und Gebräuche; so hatte zum Beispiel jeder ehrbare Macho (was genau übersetzt im eigentlichen Wortsinn nichts anderes als ›männliches Wesen‹ bedeutet und mitnichten mit Machismo-Gebaren gleichzustellen ist!) stets selbige männliche Würde unter Beweis zu stellen: Wurde man selbst oder ein Nahestehender beleidigt, über die Maßen belästigt, genötigt oder gar angegriffen, wehrte man sich so kräftig, wie man nur konnte. Es fand ein überwiegend fairer Boxkampf statt, der zumeist nach den traditionellen Queensberry Rules ausgefochten wurde. Deswegen herrschte allgemein das eiserne Verhaltensgesetz, dass man sehr wohl mit den Fäusten deftig auf den Kontrahenten einprügeln durfte, solange er sich noch wacker auf den Beinen hielt. Sobald er aber gefallen war, wartete man ›gentlemanlike‹, bis er wieder aufstand oder die Aufgabe signalisierte. Keiner von beiden musste allerdings befürchten, deswegen vor den Kadi zitiert oder gar bestraft zu werden. Aber auch: Keineswegs würde – wie heute leider immer wieder zu beklagen ist – ein am Boden Liegender hemmungslos mit Füßen getreten. So etwas galt als infam, perfide und widerwärtig, eines Mannes absolut unwürdig. Eine solche Gewalt, von der uns tagtäglich anschaulich berichtet und die von geltungssüchtigen Individuen in den sogenannten ›Sozialen Medien‹ im Netz verbreitet wird – wie wir sie auch in beklagender Weise wiederholt in Fernsehproduktionen vorgeführt bekommen –, zeugt von einer schlimmen mentalen Gefühlsdegradation, die in unserer Gesellschaft grassiert.

Kein Wunder dann auch, dass ein zweites, in meinen beiden früheren Heimatsländern geltendes Anstandsgesetz, namentlich, dass ein Mann NIEMALS seine Hand gegen eine Frau erheben dürfe, heute offensichtlich bei uns nur noch beschränkte oder auch gar keine Geltung mehr hat. Aus dem Bericht des Bundeskriminalamtes in Wiesbaden (BKA) für das Jahr 2015 geht hervor: »Mehr als 100.000 Frauen pro Jahr werden in Deutschland Opfer von Gewalt in der Partnerschaft!«Nicht weniger alarmierend klingt der einschlägige Bericht des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im selben Jahr:»Frauen sind von häuslicher Gewalt mehr bedroht als durch andere Gewaltdelikte – jede vierte Frau erlebt Gewalt durch ihren Lebenspartner.« Des Weiteren besagt die Statistik, dass rund 25 Prozent der Frauen im Alter von 16 bis 85 Jahren mindestens einmal Gewalt in der Ehe erlebt haben.

Körperliche Misshandlungen umfassen ein breites Spektrum unterschiedlich schwerwiegender Gewaltanwendung. Die Gemeinheiten reichen von wütendem Wegschubsen und Ohrfeigen bis hin zu Schlagen mit Gegenständen, Verprügeln und sogar Gewalttaten mit Waffen. Die Angaben zu sexuellen Übergriffen beziehen sich auf eine enge Definition erzwungener sexueller Handlungen, das heißt Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Zwei Drittel der von häuslicher Gewalt betroffenen Frauen haben schwere oder sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt erlitten. Immerhin gibt es aber desgleichen – allerdings meist aus Scham nur unter vorgehaltener Hand zugegeben – nicht wenige Fälle, in denen Frauen ihren männlichen Partner ebensolche psychische, bisweilen sogar minderschwere oder schwere physische Gewalt antun.

Hält sich der betroffene Mann an die oben zitierte Verhaltensregel, dass er sich nicht in gleicher Weise tatkräftig gegen eine aggressive Frau wehren darf, gerät er in die ebenso prekäre defensive Situation wie gleichgenötigte Frauen. Aus einer solchen misslichen Lage gibt es eigentlich nur einen konsequenten Ausweg: den Partner anzuzeigen und sich schleunigst von ihm zu trennen. In – viel zu – vielen Fällen tun es die Leidtragenden jedoch nicht. »Ich liebe ihn/sie doch, er/sie hat es nicht so gemeint, liebt mich doch auch, hat sich dafür entschuldigt und mir heilig versprochen, damit aufzuhören!«, sind die in den meisten Fällen angeführten Ausreden des betroffenen Partners und dessen fadenscheiniger Grund, von diesem einzig folgerichtigen Schritt zurückzuschrecken. Bis es dann – erfahrungsgemäß – dennoch wieder und immer wieder vorkommt. Zahlreiche Fallstudien über häusliche Gewalt in den Beziehungen zwischen hetero- sowie homosexuellen Lebenspartnern belegen, dass der Mensch im Grunde seine animalischen Instinkte nur durch eine angepasste Erziehungsweise zur Gewaltlosigkeit im Zaum zu halten vermag. Geraten solche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel Angst, Wut, Gier, ungebremstes Sexverlangen oder Eifersucht – nicht zuletzt verbunden mit Alkohol- oder sogar Drogenkonsum – außer Rand und Band, agieren er oder sie gemäß solchen ungebremsten Ur-Verhaltensweisen.

Die in diesem Roman geschilderten Geschehnisse sowie sämtliche darin vorkommende Namen und Positionen sind fiktiv und von mir frei erfunden. Eine etwaige Übereinstimmung mit real existierenden Personen oder Begebenheiten wäre rein zufällig. Ich greife dieses Thema auf Anregung einer lieben Schriftstellerkollegin auf, weil wir beide der Meinung sind, dass dieser schändliche Makel unserer Gesellschaft nicht oft genug angeprangert werden kann. Jedenfalls betrachte ich es heute deshalb als durchaus angebracht, dass wir den § 223 in unserem Strafgesetzbuch haben, um solche verachtungswürdigen Verhaltensabgründe zu ahnden.

Manfred Eisner, im Winter 2018

Nili und Waldi

»Mira! Komm!«

Doktor Knut Treibert, ein athletisch anmutender und hellblonder Mann Mitte dreißig, ruft seiner Jagdhündin hinterher, die plötzlich wie ein Blitz losgepirscht und im Walddickicht verschwunden ist, bevor der Jäger sie zurückhalten konnte. Zur Bekräftigung des Befehls bläst er einen kurzen Doppelpfiff auf der Signalpfeife, die an einer Kordel um seinen Hals hängt. Der tüchtige Zahnarzt mit der gut gehenden Praxis in der Kieler Innenstadt hat das eigene Jagdrevier des vor Kurzem verstorbenen Vaters geerbt beziehungsweise die dazugepachteten Flächen, die an seine eigene etwa einhundertzwanzig Hektar große Länderei angrenzen, mit übernommen. Dichter Mischwald alterniert hier und dort mit weiten Ackerflächen, auf denen bereits der erste knallgelbe Raps mit betörendem Duft blüht oder Winterweizen und Gerste für dieses Jahr kräftiges Wachstum andeuten. Der Doktor lauscht in den Wald hinein: Nur das Rauschen des Windes im hellgrünen Frühlingslaub ist zu vernehmen. Dann hört er in einiger Entfernung das vertraute, jedoch wütende Gebell seiner rotgoldenen Magyar-Vizla-Vorsteherhündin, die ihm damit signalisiert, eine Beute ausfindig gemacht zu haben. Der Jäger ist etwas verwundert, war er doch eigentlich auf dem Wege zu seinem Hochsitz, denn ab dem 1. Mai ist die Jagdsaison auf Rehböcke eröffnet. Lautes Rauschen unterbricht die Stille, zwei jüngere Bachen huschen, weil offensichtlich von Miras Erscheinen aufgescheucht, in wildem Galopp an ihm vorbei.

Während er in die Richtung eilt, aus der er Miras Bellen ausmacht, mutmaßt Treibert, ob es sich vielleicht um ein von benachbarten Jägern angeschossenes Tier handeln könne, das sich verwundet in sein Revier verkrochen hat.

»Halt, Mira! Und down!«, befiehlt er und pfeift einen längeren Triller hinterher. Als er zu der Stelle gelangt, an der die Hündin mit hechelnder Zunge brav dem Befehl folgend vor einer offensichtlich frisch gegrabenen leichten Erderhöhung im Waldboden liegt, lobt er sie mit wiederholten Streicheleinheiten und legt sie an die Leine, um sie einige Meter von der makabren Fundstelle zurückzuziehen. Längst hat er mit Schrecken die blutigen Überreste eines menschlichen Arms entdeckt, der seitlich aus dem Tumulus herausragt. Die Wildsauen hatten offensichtlich kurz zuvor die Stelle aufgespürt und sich bereits daran zu schaffen gemacht, als sie dabei von Mira gestört und verjagt wurden.

Der Zahnarzt zieht sein Smartphone aus der Tasche und geht einige Schritte weiter bis zu einer nahe gelegenen Lichtung, an der endlich ein Empfangssignalstrich auf dem Display erscheint. Er tippt auf die App, mit der er das GPS aktiviert, und stellt die genaue Ortung fest. Dann wählt er die 110.

*

Ein langer Abend steht an diesem Freitag Kriminalhauptkommissarin Nili Masal, ihres Zeichens Leiterin des vierköpfigen Teams für Sonderermittlungen im Kieler LKA, und ihrem direkten Vorgesetzten und Lebensgefährten, dem Ersten Kriminalhauptkommissar Walter Mohr, bevor: der festliche Empfang, mit dem Nilis Freundin Dr. jur. Kathja Harmsen, Tochter des Oberstaatsanwalts Hinrich Harmsen, ihren frisch erworbenen Doktorhut in den urigen Räumen der ›Hafenwirtschaft‹ in der Kieler Kanalstraße feiert. Die geräumige Gastwirtschaft bietet just genügend Raum für die zahlreichen geladenen Gäste. Kitt, wie sie im vertrauten Umfeld genannt wird, ist die einzige Tochter des prominenten Juristen und stolzen Vaters, der zusammen mit seiner Ehefrau Hannelore und ihr selbst die nach und nach eintreffenden Ankommenden begrüßt. Dabei handelt es sich neben Familienmitgliedern und engen Freunden naturgemäß um zahlreiche VIPs sowie namhafte Persönlichkeiten aus juristischen, polizeilichen und gesellschaftlichen Kreisen. Nach dem Empfangscocktail nehmen alle Anwesenden an ihren Tischen Platz und Kitts ebenso ehrsinniger Doktorvater, Prof. Dr. Joachim Traube – neben seiner Professur an der juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel auch Erster Vorsitzender der von ihm ins Leben gerufenen ›No-to-Drugs e.V.‹ Drogenbekämpfungsvereinigung – hält die Laudatio auf seine Doktorandin.

Es folgt eine Rede des Zweiten Vorsitzenden des Vereins, Diplom-Betriebswirt und Steuerberater Heinz Westphal, der die besondere Bedeutung von Dr. jur. Kathja Harmsens Erkenntnissen für die Bekämpfung der illegalen Einfuhr und Einschleusung der Kokaindroge in Europa würdigt und erklärt, dass sein Verein sehr stolz sei, Kitts Forschungsreise maßgeblich mitfinanziert zu haben.

Nili hatte vor mehr als einem Jahr die angehende Juristin als beschützende Weggefährtin auf ihre Forschungsreisen begleitet. Ziel war es zu recherchieren, auf welchen verschlungenen Wegen die Droge Kokain von ihren Ursprungsländern Kolumbien, Peru und Bolivien bis zu uns nach Europa gelangt. Aufgrund der ihnen gemeinsam widerfahrenen und teilweise risikoreichen Erlebnisse war zwischen den beiden jungen Frauen eine wahre Freundschaft entstanden. Nili wurde zudem zur maßgeblichen Mitakteurin an der daraus entstandenen Doktorarbeit2 und deswegen in Kitts Dankesrede als Ehrengast begrüßt und gebührend gewürdigt.

Nachdem der als Vorspeise gereichte schmackhafte Büsumer Krabbencocktail von den Gästen genüsslich konsumiert worden ist, ergreift Nili das Wort und bedankt sich für die nette Eloge ihrer Freundin. Dann kündigt sie eine kleine Überraschung an. Die Lichter im Salon werden gedimmt, eine große Leinwand fährt von der Decke herab und ein starker Beamer projiziert die Grüße und Glückwünsche der damaligen Unterstützer aus den nahen und fernen Ländern, die diese Kitt zum besonderen Anlass gesendet haben. Die Gratulationen, die neben Deutsch teilweise auch auf Flämisch, Französisch, Englisch und Spanisch formuliert sind, hat Nili übersetzt und mit der Hilfe ihres ehemaligen Oldenmoorer Vorgesetzten und begabten Videohobbyisten Boie Hansen als Lauftexte eingebracht. So erscheinen jetzt nacheinander in Wort und Bild auf der Leinwand jene wackeren Polizeibeamten und Helfer aus Antwerpen, Rotterdam, Las Palmas de Gran Canaria, Bogotá, Lima und La Paz, mit denen sie teilweise sehr spannende Episoden durchlebt haben. Sie übermitteln ihre allerherzlichsten Grüße sowie beste Wünsche für Kitts bevorstehende Juristenkarriere. Sehr geschickt hat der routinierte Polizeihauptkommissar zwischen den Texten einige der Clips mit den markantesten Episoden des Abenteuers eingeblendet, und so erhalten die Gäste einen guten Einblick in die teilweise sehr risikoreiche Expedition der beiden jungen Frauen. Besonders aufschlussreich sind die Aufnahmen von den ideenreichen Verstecken, mit denen die Drogenschmuggler ihr schändliches Gewerbe betreiben, zumal sie stets bestrebt sind, das verhängnisvolle Kokaingift in Europa einzuschleusen. Spannend ebenso die nimmer enden wollende Jagd auf illegale Plantagen des Cocastrauchs und die primitiven Labors im undurchdringlichen Dschungel, in denen der Blättersaft in eine todbringende Droge verwandelt wird. Nicht zuletzt werden kurze Szenen von ihrer Geiselnahme durch die FARC-Rebellen eingeblendet, ebenso Ansichten, die sie während der Gefangenschaft in dem in der kolumbianischen Wildnis gut getarnten Guerillacamp zeigen. Trotz der Gefahr, in der sie sich befanden, konnten sie diese Szenen mit ihrer verdeckten Minikamera drehen. Die etwa zwanzigminütige Vorführung wird mit großem Interesse verfolgt und viel Applaus belohnt. Die Lichter gehen wieder an.

Zutiefst gerührt und mit Tränen in den Augen geht Kitt zu Nili und umarmt sie. »Was für eine tolle Idee, Nili! Du hast uns allen damit eine unheimlich große Freude gemacht. Vielen Dank an dich und ebenso an Boie Hansen für dieses wunderbare Video.«

»Es war auch für uns ein Riesenspaß, liebe Kitt! Aber das war ja noch nicht alles! Siehst du dort die markante Figur mit dem Camcorder im Hintergrund?« Nili deutet mit einem breiten Lächeln in Richtung der Theke.

Als Kitt sich suchend umdreht, richtet der Kameramann sein Objektiv auf die beiden und winkt ihnen freundlich zu.

»Ich habe Boie Hansen – natürlich mit Erlaubnis deines Vaters – hier hereingeschmuggelt, damit er einige Aufnahmen von deiner prachtvollen Feier macht. Daraus schneidet er für dich ein Erinnerungsvideo, das du dann auch an all die Freunde versenden kannst, die dir so herzlich gratuliert haben. Du müsstest nur noch ein paar Dankesworte hinzufügen.«

Als Nächstes folgt ein erlesenes Fünf-Gänge-Menü, mit dem die Gastgeber die Anwesenden verwöhnen. Den Anfang macht eine edle Steinpilz-Consommé, gefolgt von frittierten pikanten Rind- und Hühnerfleisch-Blätterteigtäschchen als Tramezzini. Nach dem Intermezzo mit Flieder-Champagner-Sorbet reicht man den Gästen zartrosa gebratene Rehmedaillons mit Spargelröllchen im Schinkenteig und Käsespätzle als Hauptgang. Bereits während der Vollendung des Diners mit einem ausgefallenen Erdbeertiramisu spielt im Hintergrund eine Fünfmann-Combo leise Unterhaltungsmusik. Zu den standesgemäßen Klängen des Blaue-Donau-Walzers eröffnet Kitts Vater Hinrich Harmsen den Tanz mit Ehefrau Hannelore. Nach einigen Takten trennen sich die beiden und holen Professor Traube und Kitt auf die Tanzfläche; der Professor wechselt kurz danach wiederum zu Nili, während sich Kitt deren Waldi schnappt – denn so wird Doktor Walter Mohr allgemein von Kollegen und Freunden genannt. Nach und nach kommen weitere Paare hinzu und bald kreisen sie alle im beschwingten Dreivierteltakt umher.

Professor Traube zeigt sich besonders begeistert von dem gezeigten Video. »Wäre es möglich, sehr geehrte Frau Masal, von diesen Aufnahmen eine lehrreiche Reportage für unseren ›No-to-Drugs‹-Verein anzufertigen? Ich denke, eine solche würde zur Untermauerung unserer Arbeit zur Drogenbekämpfung besonders hilfreich sein.«

»Selbstverständlich, Herr Professor, sehr gern! Ich glaube auch, Sie haben da eine sehr gute Idee. Am besten, ich mache Sie gleich mit meinem früheren Vorgesetzten, dem Polizeihauptkommissar Boie Hansen, bekannt, der das Video für uns produziert hat und gerade einige Aufnahmen von dieser Feier macht. Sie könnten alles mit ihm direkt besprechen.«

Nachdem sie die beiden Herren zusammengeführt hat, lässt sie ihren Blick durch das Lokal schweifen, um ihren Waldi in der Menge ausfindig zu machen. Dieser begleitet soeben Nilis langjährige Intimfreundin Melanie Westphal nach dem Tanz zu ihrem Tisch. Da an diesem zwei Plätze frei werden, setzen sich die drei zusammen und unterhalten sich so lange, bis das Paar, das gerade aufgestanden ist, wieder vom Tanz zurückkehrt. Waldi fordert Nili auf und beide gehen auf die Tanzfläche. Nilis Liebster ist nicht gerade das, was man einen begnadeten Tänzer nennen würde, aber er gibt sein Bestes, um beim Cha-Cha-Cha im Takt zu bleiben und Nili nicht allzu oft auf die Füße zu treten. Als jedoch anschließend eine noch flottere Salsa ertönt, streicht er mit leidender Miene die Segel und Nili hilft ihm galant aus der Bredouille, indem sie sich bei ihm einhakt, damit er sie zurück an ihren Tisch führen kann.

Des Öfteren wird Nili zum Tanz aufgefordert. In der Zwischenzeit unterhält sich Waldi der Höflichkeit halber mit den beiden etwas trocken wirkenden Tischnachbarn – ein emeritierter Richter und seine mindestens zehn Jahre jüngere, noch praktizierende Arztehefrau – und beobachtet dabei mit sichtlichem Behagen die grazilen rhythmischen Tanzbewegungen seiner besonders attraktiven Gefährtin. Wie so oft bewundert er die groß gewachsene hübsche Frau mit den kurz gestylten, brünetten Haaren. Das immer noch betont jugendlich wirkende Gesicht, in dem zwei alert und zumeist lustig blickende braune Augen über der perfekt geformten Nase und den vollen roten Lippen auffallen, harmoniert bestens mit dem grünschwarzen, eng taillierten Kleid, das den Busen und ihre weiblichen Rundungen betont. Derart in seine anhimmelnde Betrachtung vertieft, vernimmt er nur am Rande die abschätzigen Äußerungen seines Gegenübers, der sich mit Bedauern über die schleppende Arbeitsleistung seiner gegenwärtig amtierenden Kollegen und Staatsanwälte auslässt.

»… so etwas wie gerade in der letzten Woche geschehen«, donnert der frustrierte Kadi a. D., »dass zwei in Untersuchungshaft sitzende Täter unverrichteter Dinge erzwungenermaßen laufen gelassen wurden, weil man nicht imstande war, innerhalb der vorgeschriebenen Frist die Klageschrift vorzulegen. Ist doch unhaltbar, oder? So etwas hat es während meiner Amtszeit niemals gegeben!«

Als Waldi ihm zustimmt und ebenfalls bedauert, dass es aufgrund des strikten Sparkurses der Bundes- und Landesregierungen auch bei der Polizei zu einem eklatanten Personalmangel gekommen sei, erntet er allerdings ein »Papperlapapp, mein geschätzter Herr Erster Kriminalhauptkommissar! Dann müssen sich die werten Herren eben etwas länger auf den Hosenboden setzen und sich mit ihrer Arbeit an den Riemen reißen! Uns hat damals auch niemand gefragt, ob wir mehr Personal brauchen, wir haben eben unsere Aufgaben gewissenhaft und effizient erledigt und haben erst danach Feierabend gemacht oder sind in den Urlaub gefahren, wenn überhaupt! Kein Wunder, dass sich die Aktenstöße der unerledigten Fälle türmen! Da hätte man uns von oben ganz schön die Leviten gelesen, das kann ich Ihnen versichern!«.

Zu Waldis Glück kommen Nili und ihr Tanzpartner in diesem Augenblick an den Tisch zurück, sodass er aufsteht, um ihr den Stuhl anzubieten, und dadurch den hohlen Law-and-Order-Sermon des aufgebrachten Emeriten beenden kann. Er wendet sich Nilis Begleiter zu, dem Kriminalrat Dr. Ronald Lindner vom BKA, mit dem er damals Kitts und Nilis ›Operation Coca-Trail‹ koordiniert und geleitet hatte, den er aber ebenso von verschiedenen Treffen und Seminaren in Wiesbaden gut kennt.

»Endlich hatte ich Gelegenheit, Ihre charmante Kriminalhauptkommissarin persönlich kennenzulernen und sogar mit ihr tanzen zu dürfen, mein geschätzter Doktor Mohr. Ich danke Ihnen sehr, geehrte Frau Masal! Es war mir ein besonderes Vergnügen!« Der Kriminalrat verbeugt sich förmlich vor Nili. Selbstverständlich kommt im anschließenden Small Talk das hochaktuelle Umzugsthema des BKA nach Berlin zur Sprache; sehr ungern wolle der Kriminologe in die Bundeshauptstadt umziehen, er hoffe doch inständig, mit seinem Dienstsitz in Wiesbaden bleiben zu dürfen. Keineswegs wolle er mit der Familie in diesem Moloch wohnen, er nehme dann doch eher das beschwerliche wöchentliche Hin- und Herpendeln in Kauf.

Es ist schon nach Mitternacht, als Nili und Waldi sich von den Gastgebern verabschieden und in das Taxi steigen, das sie zu Waldis Wohnung in der Niebuhrstraße im ehemaligen Kieler Marineviertel Ravensberg bringt. Eng aneinandergeschmiegt sitzen sie im Wagenfond und lassen noch einmal die Erlebnisse des Abends Revue passieren. Dann allmählich geht die Konversation in ein stummes Wohlbehagen über, sie legt ihren Kopf an seine Schulter. Während der Weiterfahrt schwelgt jeder von ihnen in seinen eigenen Gedanken. Waldi sinniert, welch Glück er hat, diese geliebte und bewundernswerte junge Frau als Kollegin, aber noch viel mehr als seine Lebensgefährtin an seiner Seite zu wissen, er muss aber auch daran denken, was für ein vertracktes Schicksal hinter ihrem Lebenslauf steckt.

Nili Masal wurde in einem israelischen Kibutz am Fuße der Golanhöhen sehr nah an der damaligen Grenze zu Syrien geboren. Ihr jüdischer Vater Rubén Glickmann stammte aus Polen und fand, ebenso wie ihre in Schleswig-Holstein geborene Mutter Elisabeth Keller, von allen Lissy genannt, samt Kindern Asyl vor der Naziverfolgung in Bolivien. Rubén machte in La Paz seine Lehre und arbeitete anschließend in der Bäckerei von Lissys Vater Heiko Keller. Kaum war Israel 1948 zum jüdischen Staat im eigens dafür geteilten Palästina ausgerufen worden, überfielen es feindlich gesinnte Araber, sowohl jene im eigenen Territorium als auch die aus den umliegenden Nachbarländern. Weil wohl die Vernichtung Israels durch die gewaltige Überzahl sowie die übermächtige militärische Ausrüstung der Angreifer drohte, wanderte Rubén ebenso wie Tausende jüdische Männer und Frauen aus aller Herren Länder herbei, um ihr zurückerworbenes Heimatland zu verteidigen. Nach dem Ersten Weltkrieg, der nach blutigen und verzweifelten Kämpfen mit einem Waffenstillstandsabkommen endete, trat Rubén in den Kibutz Halonim ein. Dort nahm er, wie viele andere auch, einen sinngemäß übersetzten hebräischen Nachnamen an: aus dem jiddischen Glickmann wurde Masal, was gleichwohl ›Glück‹ bedeutet.

Nachdem Nilis Großeltern, Heiko und Clarissa Keller, Anfang der fünfziger Jahre aus dem langjährigen Exil in Bolivien nach Oldenmoor zurückgekehrt waren, verbrachte ihre Mutter Lissy, damals noch ein Teenager, ihre beiden letzten Jahre bis zum Abitur in Hamburg. Danach machte sie ihren bereits in Bolivien gefassten Entschluss wahr, nach Israel auszuwandern. Da ihr Großvater Oskar Keller Jude gewesen war, meinte Lissy, sie sei zwar ja nur ›eine vierteljüdische Deutsche‹, jedoch hatten sie die gravierenden Begleiterscheinungen der argen nationalsozialistischen Ära, die sie, ihren Bruder Oliver und ihre Eltern zur Auswanderung genötigt hatten, derart geprägt, dass sie sich innerlich uneingeschränkt dem Judentum verbunden fühlte. Dies allerdings in einer absolut konfessionslosen Manier, denn ebenso wie ihr Vater und auch ihr Bruder hielt sie absolut nichts von irgendeinem rituellen Glauben oder dessen Religionsausübung. In Israel eingetroffen, trat Lissy ebenfalls in den Kibutz Halonim in Galiläa ein und gesellte sich dort zu den vielen Vereinskameraden ihrer vormaligen Lapazer jüdischen Jugendbewegung. Bereits während der Kindheit war sie betont naturverbunden gewesen. In den zumeist auf der Hacienda ihrer Nennonkel und -tante verbrachten Schulferien3 hatte sie sich immer schon besonders für die Aufzucht und die Hege von Federvieh interessiert. Diese Vorliebe brachte sie auch bald dazu, im großen Hühnerstall des Kibutz, dem Lul, zu arbeiten.

Es dauerte dann auch nicht lange, bis sie bei der Kibutzleitung den Antrag stellte, Geflügelzucht wissenschaftlich studieren zu dürfen. Nun war Halonim erst zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels von den aus mehreren südamerikanischen Ländern eingewanderten jungen Chalutzim4 gegründet worden und deshalb auch noch lange nicht wohlhabend. Trotzdem wurde ihr und einem Kollegen gestattet, an einer spezialisierten Ausbildungsstelle zu studieren, und man sagte ihr die Übernahme der dadurch entstehenden Kosten zu.

Wegen ihrer riskanten Grenzlage wurde die Siedlung des Öfteren von marodierenden Eindringlingen aus dem syrischen Golan heimgesucht und die Bewohner standen deswegen stets in angespannter Wachsamkeit in Bereitschaft. Lissy war nach einiger Zeit eine engere Beziehung mit Rubén Masal eingegangen. Liliths – Lissys neuer israelischer Name – Liebesbeziehung zu dem ehemaligen Kameraden aus La Paz blieb nicht lange ohne Folgen, und so brachte sie ihren Sohn fast gleichzeitig mit dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums zur Welt. Beide hatten im Kibutz geheiratet und konnten nun von ihren bisherigen Junggesellen-Schlafgemächern zusammen mit dem Neugeborenen in ihren bescheidenen Shikun – eine kleine Behausung für Ehepaare – einziehen. In Erinnerung an Lissys Großvater, Hans-Peter von Steinberg, gaben sie ihrem Nachwuchs den Namen Hanan-Peres, sodass die Anfangsbuchstaben übereinstimmten. Kurz danach konnten sich beide wieder ihren Aufgaben – Rubén in der Bäckerei, Lilith bei ihren Hühnern – voll widmen. Wie in allen Kibutzim üblich, umsorgten tagsüber Kleinkinderbetreuerinnen alle neugeborenen Babys im gemeinsamen Hort. Lilith machte den Lul-Ausbau zu ihrer Lebensaufgabe. Die Stallungen wurden erweitert und den neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst. Allerdings entschied man sich schon seit den Anfängen für eine artgerechte Bodenhaltung der Tiere, anstatt sie in jene engen Legebatterien zu pferchen, die gerade damals überall grassierten, weil als ›state of the art‹ gefeiert. Lilith sah ihre Schützlinge eher als Geschöpfe und eben nicht als nackte Brathändelspießkost oder Eierlegemaschinen an.

Das friedliche Schaffen in der kommunalen Landwirtschaftsgemeinschaft wurde immerfort durch grausame Kriegsausbrüche jäh unterbrochen. Israel war seit der Staatsgründung ständig der Bedrohung der umliegenden feindlichen Nachbarn ausgesetzt, zu der sich nun auch der blutige Terror der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO unter Jassir Arafat summierte. Die während der ersten Befreiungskämpfe teils aus dem Territorium Israels geflüchteten, teils verjagten Araber hatten zwar in den angrenzenden Ländern ungeliebte Zuflucht, aber keinerlei Integration erfahren oder gar eine neue Heimat gefunden. Sie wurden von den Regierenden in Ägypten, Syrien, Libanon und Jordanien absichtlich in elenden Flüchtlingslagern unter sehr prekären Bedingungen zusammengedrängt und lebten dort wie ein wucherndes Geschwür. Es war in der Tat eine probate Methode, um ihren Hass auf Israel zu wahren und noch weiter zu schüren. Neben den immer wieder vorkommenden militärischen Kriegsscharmützel, die meist von der israelischen Armee erfolgreich abgewehrt werden konnten, waren es die oft vorkommenden Kommandoaktionen der PLO-Attentäter, die alle Grenz-Kibutzim und -städte zur kontinuierlichen und erhöhten Wachsamkeit zwangen. Auch Halonim befand sich in einer dieser unmittelbaren Gefahrenzonen und blieb nicht von solch hinterhältigen Attacken verschont. Da die mordlüsternen Täter meist im Schutz der Dunkelheit heranschlichen, waren an den strategisch relevanten Stellen Wachposten aufgestellt, die aufmerksam das umliegende Gelände observierten. Und dennoch geschah es eines Tages, dass es einem dieser Meuchelmörder gelang, sich während der sengenden Mittagshitze unbemerkt bis an den Kinderhort heranzurobben und durch ein offenes Fenster zwei Handgranaten auf die wehrlosen Kleinen zu werfen. Eine der Betreuerinnen schaffte es gerade noch, sich zu opfern, indem sie versuchte, mit ihrem Körper die Granatenexplosion vor den Kindern abzuschirmen. Die andere Granate explodierte jedoch ungehindert im Raum und verursachte ein Massaker: Sieben Kinder, darunter auch der gerade einjährige Hanan-Peres Masal, waren auf der Stelle tot, vierzehn andere teils schwer verwundet. Leider eine halbe Minute zu spät entdeckte man den Attentäter vom Wachturm aus und tötete ihn mit gezielten Schüssen.

Der gewaltige Schock traf die Gemeinschaft zutiefst. Mit einem Schlag hatte der Mörder fast zwei Drittel der Kibutz-Nachkommenschaft vernichtet oder schwer verletzt. Untröstlich die Eltern der Getöteten, schwer traumatisiert jene der Verletzten. Verständliche Rachegefühle wurden geweckt, und während eines nächtlichen bewaffneten Überfalls auf ein unweit gelegenes syrisches Dorf auf dem Golan, in dem sich auch ein PLO-Stützpunkt versteckte, gelang es, fünf weitere dieser Terroristen unschädlich zu machen. Aber auch dies konnte das junge verblutete Leben nicht zurückbringen. Lilith musste drei Monate in einem Nervensanatorium verbringen, um über ihre schwere Depression hinwegzukommen. Als begleitende Therapie begann sie wieder die Flöte zu spielen, was ihr schon als Kind in Bolivien und danach während ihrer Hamburger Gymnasialzeit so viel Freude bereitet hatte. Das vom längst verstorbenen Familienfreund Onkel Suhl stammende Instrument hatte sie während ihrer Auswanderung nach Israel begleitet, ohne dass sie bisher hier dazu gekommen war, ihr vormals so geschätztes Hobby weiter zu betreiben.

Mit der Zeit schwand allmählich der tiefe Elternschmerz über den grausamen Verlust und es stellte sich mit dem Lauf der Jahre wieder ein gewissermaßen normaler Alltag ein. Als dann 1972 Lilith schon fast achtunddreißig Jahre alt war, schenkte sie Rubén eine Tochter, die sie Nili nannten. Bald danach schlug abermals das grausame Schicksal zu: Israel war nach den vergangenen für sie erfolgreich beendeten Kriegen fatalerweise gegenüber den unterlegenen Feinden zu hochmütig geworden und wog sich in einer unheilvollen, falschen Sicherheit. Während des Jom-Kippur-Krieges im Herbst 1973, der den Staat für einen Moment an den Rand des Untergangs brachte, fiel Rubén bei einem schweren Artillerieangriff der Syrer, die danach trachteten, ihre im Sechstagekrieg von 1967 eingebüßten Golanhöhen zurückzuerobern. Der simultan ausgeführte ägyptischsyrische Überfall, der gerade am heiligsten jüdischen Feiertag begann, wurde nach tagelangen Kämpfen im Sinai und am Golan mit äußerst hohem und bitterem Blutzoll zurückgeschlagen und endete abermals mit der militärischen Niederlage der heimtückischen Angreifer. Der Kibutz Halonim wurde dabei schwer getroffen, Liliths langjähriges Aufbauwerk, ihre Hühnerstallungen im Lul, wurden Opfer der feindlichen Granateneinschläge. Oliver holte kurz danach seine abermals traumatisierte und nun verwitwete Schwester samt der gerade einjährigen Nili zu sich nach Oldenmoor, wo sie von da an verblieben.

*

Das Bremsen des Taxis unterbricht abrupt Waldis Gedankenfluss. Nachdem er bezahlt hat, steigen er und Nili aus und gehen ins Haus. Es ist eher selten, dass das Paar ein Wochenende hier verbringt, denn wann immer es ihnen möglich ist, genießen sie ihre Freizeit im Onkel Suhls Haus – Nilis Familiensitz – in der Elbmarschenkleinstadt Oldenmoor. Es ist nach jenem lieben Familienfreund benannt, der es ihren Großeltern zur Hochzeit vererbte und in dem nun Nilis Omi, Abuelita Clarissa, und ihre Mutter, Ima Lissy, wohnen.

Das Marineviertel in Kiel-Ravensberg ist ein Wohngebiet, das in den Zwanziger- und Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts vor allem für Angehörige der Reichsmarine und ihre Familien entstand. Es besteht aus einigen Reihen sehr ansehnlicher und mit schönen Ornamenten verzierter, offensichtlich immer noch mit Liebe erhaltener Häuser. Waldis Großvater, Leutnant zur See Rudolf Mohr, zog dort mit seiner frischgebackenen Ehefrau Waltraut kurz vor der NS-Machtergreifung ein. Er verstarb im Dezember 1939 auf dem Panzerkreuzer Graf Spee bei der Seeschlacht am Rio de la Plata vor der Küste Montevideos durch einen Kanonentreffer des britischen Gegners. In diesem Hause wurden Walters Vater sowie dessen beide Schwestern geboren, die nach ihrer Heirat wegzogen. Waldi, einziger Sohn des Ehepaars Reiner und Irmi Mohr, wuchs hier auf und besuchte sowohl die Grundschule als auch das Gymnasium bis zum Abitur. Nach dem Studium erwarb er seinen Doktortitel in Politikwissenschaften an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, bevor er beim Landeskriminalamt in den gehobenen Polizeidienst eintrat. Er verdiente sich die ersten Sporen bei der Drogenfahndung und avancierte zu deren Leiter.

Der meist in einen edlen Anzug aus Harris-Tweed gekleidete, gut aussehende und gerade zweiundvierzig Jahre alt gewordene stattliche Herr mit seiner leicht grau melierten lockigen Haarmähne, der altmodisch wirkenden vernickelten Brille und seinem gepflegtes Kinnbärtchen, mutet wohl eher wie ein Gelehrter als wie ein gehobener Beamter des Landeskriminalamtes an. Wegen nachgewiesener guter Führungseigenschaften wurde Waldi Ende des vorigen Jahres zum Ersten Kriminalhauptkommissar befördert, amtiert zudem als stellvertretender Leiter und ist somit Nilis direkter Vorgesetzter im Dezernat SG212 – Organisierte und Rauschgiftkriminalität –, in dem sie ihr Team von drei Mitarbeitern für besondere Sonderermittlungen befehligt.

Nachdem sein Vater und nur wenig später vor vier Jahren seine Mutter gestorben war, wurde das geräumige Elternhaus zweigeteilt. Für sich selbst beansprucht Waldi das Erdgeschoss, in dem es neben dem gemütlichen, noch aus Opas Zeiten eingerichteten Salon mit Kamin und dem Schlafzimmer nur noch einen weiteren Raum gibt, in dem er sein Arbeitszimmer eingerichtet hat. Die altehrwürdige Küche sowie das Badezimmer stammen räumlich noch aus der ursprünglichen Bauzeit und wurden anlässlich des stattgefundenen Umbaus zeitgemäß umgestaltet. Das neu entstandene Apartment im Obergeschoss ist – nach entsprechendem Um- und Einbau von Küche und Badezimmer – an den Kollegen Lutz Krause vermietet, seit Kurzem zum Ersten Kriminaltechniker im jüngst gegründeten Kriminaltechnischen Institut im LKA avanciert, der es mit seiner Frau Marion und den Teenagern Jan und Tim bewohnt.

Nili, ehemalige Oberkommissarin von der Polizeidienststelle in Oldenmoor, und Waldi, der damalige Leiter der Drogenfahndung, lernten sich anlässlich eines brisanten Falles kennen, bei dem sie dank ihrer fließenden englischen, spanischen und Iwrith-Sprachkenntnisse von Oberstaatsanwalt und LKA um Unterstützung bei der Befragung der festgenommenen Täter gebeten worden war. An einigen weiteren Ermittlungsfällen arbeiteten die beiden gelegentlich sehr gut zusammen und kamen sich dabei allmählich nahe; vor einigen Monaten gingen sie eine innige und äußerst harmonische Beziehung ein. Von einem gemeinsamen Heim oder gar von Heirat war bis heute allerdings noch nicht die Rede, wohl weil sie neben der täglichen Zusammenarbeit stets ihre Freizeit gemeinsam gestalten, sobald sich hierfür eine Gelegenheit bietet.

Nach einer eiligen Dusche vereinigt sich das Paar im zärtlichen Liebesspiel, das sie bald bis zur wonnigen Sinnesekstase bringt. Völlig ermattet sinkt Nili danach in die Arme des Geliebten und sie fallen in enger Umarmung bald danach in tiefen Schlaf.

Tot aufgefunden

»Weibliche Leiche, Körpergröße einhundertachtundsechzig Zentimeter, geschätztes lebendes Körpergewicht etwa achtundsechzig Kilo, vermutliches Alter zwischen dreißig und fünfunddreißig Jahre, dunkelblondes Haar, blaue Augen. Zahngebiss bis auf zwei fehlende Weisheitszähne vollständig; massive prämortale Hämatome im Gesicht sowie an Oberkörper und Extremitäten. Sie muss des Öfteren heftig geschlagen worden sein. Auch das Nasenbein scheint gebrochen. Außerdem zeigen die Hämatome an den Handgelenken, dass sie gefesselt gewesen sein muss. Daran ist sie aber nicht gestorben. Nach einem massiven Schädel-Hirn-Trauma, das entweder von einem stumpfen Gegenstand am Hinterkopf oder vielleicht von einem heftigen Sturz herrührt, verstarb sie an der anschließenden epiduralen Blutung – so bezeichnet man medizinisch eine innere Verblutung im Hirn – etwa ein bis zwei Stunden nachdem man ihr diese Verletzung zugefügt hat. Die Frau wurde schätzungsweise ungefähr sechs Stunden nach dem Todeseintritt an diesen Ort gebracht und unbekleidet in einer Mulde im Waldboden abgelegt, dann notdürftig mit etwas Erde, Laub und Reisig abgedeckt, sodass der Leichnam sehr rasch von den herumstöbernden Wildschweinen aufgespürt und vier Finger von dessen rechter Hand fast vollständig abgebissen wurden. Auch der Unterarm wurde teilweise angefressen.«

Der jüngere Arzt, der von den Polizeibeamten zur Leichenschau angefordert wurde und den Bericht diktiert, richtet sich auf: »Ich darf mich vorstellen: Assistenzarzt Finn Engelmann, zurzeit Doktorand bei Professor Christoff Klamm, Leiter des Gerichtsmedizinischen Instituts an der Kieler Universitätsklinik, der mich an seiner Stelle zu diesem Leichenfundort beordert hat.«

»Vielen Dank, Herr Engelmann, das war recht umfangreich und reicht uns für den Augenblick.« Kriminalrat Harald Sierck, Leiter der Mordkommissionen von der Kieler Bezirkskriminalinspektion Blumenstraße, nickt anerkennend angesichts der umfassenden Angaben.

»Was meinen Sie, Breiholz, noch Fragen an den Herrn Doktor?«, erkundigt er sich bei seinem Begleiter.

»Nett gemeint, aber bitte keine vorzeitige Promotionsverleihung, Herr Kriminalrat«, interveniert der Assistenzarzt. »Die Doktorsporen muss ich mir erst noch erarbeiten, und ich befürchte, das wird noch ein Weilchen dauern«, scherzt er.

Kriminaloberkommissar Sascha Breiholz grinst. »Nur keine falsche Bescheidenheit, Doc. Das, was wir soeben von Ihnen zu hören bekamen, hätte Ihr verehrter Herr Professor auch nicht besser vortragen können. Aber eine Frage hätte ich noch: Können Sie schon jetzt abschätzen, wie lange die Leiche hier liegt?«

»Die letzte Nacht war sehr kalt und die Leiche unbekleidet. Beides macht es mir nicht unbedingt leicht, Ihre Frage genau zu beantworten. Dennoch, da die Totenstarre vollständig ausgeprägt ist, trat der Exitus schätzungsweise vor etwa vierundzwanzig bis dreißig Stunden ein. Wie gesagt, die livores mortis – also die Leichenflecken«, ergänzt er beflissen auf den plötzlichen stirnrunzelnden Ausdruck des Fragenden, »deuten auf etwa sechs Stunden danach, da die Leiche offensichtlich für den Hertransport vollkommen umgelagert wurde. Demnach schätze ich grob, circa achtzehn bis vierundzwanzig Stunden. Einen genaueren Todeszeitpunkt erfahren Sie dann im Obduktionsbericht.«

Steffi Hink, die gerade hinzugekommene Kollegin der Moko, rechnet zurück.

»Das würde bedeuten, dass die Tat in der Nacht vom letzten Mittwoch zum Donnerstag begangen und die Leiche gestern am sehr frühen Morgen hier deponiert worden sein muss.«

Der Leiter der Mordkommission nickt zustimmend.

»Danke, Herr Engelmann, das hilft uns erst einmal. Grüßen Sie den Herrn Professor von uns.«

»Ich darf mich dann verabschieden, wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, murmelt der Arzt im Gehen.

Harald Sierck ruft hinüber zu den Kollegen der SpuSi: »Wie weit seid ihr vom KTI? Kann die Leiche in die Gerichtsmedizin?« Er deutet auf die beiden Männer in grauen Anzügen, die in der Nähe mit ihrem geöffneten Metallsarg in Wartestellung sind.

»Kann sie abtransportiert werden?« Der angesprochene erste Kriminaltechniker Lutz Krause wendet sich ihnen zu und zeigt mit dem Daumen nach unten. Er ruft etwas Unverständliches zu einer weiteren, in einen weißen Schutzanzug gekleideten schlanken Figur, die sich daraufhin in ihre Richtung in Bewegung setzt.

»Guten Morgen, Herr Kriminalrat, Kollegen! Annegret Prinz. Ich bin die Fallanalytikerin vom KTI. Wir müssen noch ein wenig den Boden um die Leiche herum untersuchen, bevor wir sie abheben. Überlassen Sie bitte alles Weitere uns, wir geben dann den Leuten für die Überführung in die Gerichtsmedizin Bescheid, wenn es so weit ist!«

Die drei Kripobeamten beäugen ein wenig verwundert den nahezu asketischen Gesichtsausdruck der erst kürzlich ins Team gekommenen Spezialistin der Spurensicherung.

»In Ordnung, Frau Prinz, dann machen wir uns hier vom Acker. Kommt, Leute, es gibt Arbeit!«, fordert der Kriminalrat seine beiden Kriminaloberkommissare auf, die der Kriminologin, die neuerdings als zuständige Teamkoordinatorin für Operative Fallanalyse am Kriminaltechnischen Institut amtiert, kurz zunicken, um sogleich ihrem Chef zum Dienstwagen zu folgen.

*

Sein mehrfaches Klingeln bringt keinen wahrnehmbaren Erfolg, deshalb trommelt Lutz Krause so laut er kann an Waldis massiver Wohnungstür. Dann versucht er es abermals mit wiederholten, kurz unterbrochenen Klingelzeichen. Endlich scheint sich in der Wohnung etwas zu bewegen. Ein verschlafenes weibliches Gesicht erscheint an der nur einen Spaltbreit geöffneten Eichentür. Lutz kann sich ein breites Lächeln nicht verkneifen.

»Wohl spät geworden gestern, ihr Schlafmützen?«

»Ist ja unmenschlich, Leute so ungestüm mitten in der Nacht zu wecken, du Unhold!«, vermag ihm Nili mit einem Gähnen entgegenzuhalten.

»Was heißt hier Mitternacht? Es ist bereits halb elf am Vormittag und dazu noch ein Scheißwetter draußen, aber ihr sollt trotzdem zu uns zum Brunch heraufkommen! Marion wartet schon sehnsüchtig auf dich, Nili, sie hat bereits alle Zutaten für die Katiuschka parat – oder wie das Zeug heißt, für das sie dein Rezept bekommen hat. Die soll gleich ausprobiert und zusammen mit dir gebrutzelt werden. Also, was ist? Schafft ihr es heute noch aus den Federn?«

»Lieb von euch! Klar, Lutz, wir kommen gern. Aber eine schnelle Dusche müsst ihr uns noch zubilligen. Das Gericht heißt übrigens Shakshouka und ist sehr lecker, wirst schon sehen! Gib uns bitte zwanzig Minuten, ja?« »Okay, aber keine Minute länger, damit das klar ist – ich sterbe nämlich vor Hunger!«

Etwa eine halbe Stunde danach stehen die beiden Frauen am Herd. Nachdem das Tomaten- und Paprikagemüse, vermischt mit Chilischoten, Zwiebel- und Knoblauchscheiben, die halbierten Oliven und Kabanossiwürfel in den beiden Pfannen in heißem Olivenöl gut durchgeschmort sind, macht Nili darin die Mulden für die sechs Setzeier frei, und nachdem diese darin vorsichtig deponiert wurden, erhält jede Pfanne einen Deckel und die Herdplatten werden ausgeschaltet.

»Nun sollen die Eier etwa fünf Minuten lang poschieren, dann ist die Shakshouka5 fertig!«, verkündet Marion verheißungsvoll.

»Wird auch wirklich Zeit, Mama, mein Magen knurrt schon ziemlich laut!«, raunt Tim, der jüngste Sohn der Krauses, scherzend. Tims Bruder Jan, ihr Vater Lutz und Waldi sitzen ebenso ungeduldig harrend am Tisch in der Wohnküche.

Lutz greift nach dem Korb mit den Brötchen und reicht ihn herum. »Du könntest uns schon mal den Kaffee einschenken, junger Mann!«

Tim, der nach seinem Fachabitur vor einigen Monaten eine Lehre als Mechatroniker bei den Lübecker Drägerwerken angetreten hat und bisweilen nur das Wochenende ›bei Muttern‹ genießt, steht grienend auf und folgt der Aufforderung. »Bist ja ebenso schlimm wie mein Meister, Vadder! Für den muss ich auch dauernd was holen!«, beklagt er.

»Mach dir nicht ins Hemd, Kleiner!«, witzelt Jan. »Jammern gilt nicht! Lehrjahre sind eben keine Herrenjahre, das is ’ne alte Weisheit, nicht wahr, Vater?«

»Und du mach dich nicht so wichtig, mein Großer«, ermahnt ihn die Mutter. »Noch bist du kein Herr Professor!« Grinsend droht sie ihm mit dem Pfannenheber. »Holt man schon die Teller heran, damit wir Nilis leckerere Kreation auf den Tisch bringen können!«

Jan macht eine duale Ausbildung: Weil er in die Fußstapfen des Vaters treten möchte, belegt er neben seiner bereits fast abgeschlossenen Lehre als chemischer Labortechniker in Kiel ein Fernstudium am Institut für Kriminologie an einer privaten Hochschule in Berlin. Sein Ziel ist der Bachelor-Abschluss.

»Wie auch immer, Nili, das Warten hat sich wirklich gelohnt, deine Katiuschka schmeckt wirklich hervorragend!«, lobt Lars und schmatzt bewusst laut.

Alle lachen und stimmen ihm zu.

»Ich will mich ja nicht mit fremden Federn zieren«, klärt Nili auf, »aber das Rezept für die Shakshouka habe ich von unserer Habiba bekommen und sie hat uns damit schon des Öfteren verwöhnt.«

»Hat keinen Sinn, Lars zu korrigieren«, stellt Waldi grinsend fest. »Du musst dich damit abfinden, Nili, dass dein famoses Gericht soeben unwiderruflich umgetauft wurde!«

Als sie sich alle satt gegessen und ausreichend Kaffee dazu getrunken haben, der Tisch abgeräumt und Geschirr samt Besteck in die Reinigungsobhut der Spülmaschine übergeben wurden, gehen die Erwachsenen hinüber ins Wohnzimmer, um ein gemütliches Plauderstündchen als Ausklang zu genießen. Die beiden jungen Leute ziehen sich in ihre Zimmer zurück, der Ältere, um zu lernen, sein Bruder, um am PC zu spielen.

Nachdem Waldi und Nili abwechselnd von der gestrigen Feier berichtet haben, bemerkt Lutz: »Wir hatten’s nicht so behaglich wie ihr beiden!«, und erzählt von dem Leichenfund im Forst. »Das war ganz schön hübsch hässlich, würde unser seliger Father Brown alias Heinz Rühmann bei einem solch grausigen Anblick bemerkt haben. Mit der düsteren Erscheinung von durch Gewaltverbrechen Getöteten musste ich mich ja inzwischen wohl oder übel abfinden, aber diese da, die hat mich total schockiert. Nicht nur, weil sie schon von Wildschweinen angefressen war, sondern vielmehr weil Gesicht und Oberkörper des Opfers total verunstaltet waren. Wer auch immer der armen Frau all das angetan hat, muss eine bestialische Wut in sich gehabt haben. Unglaublich!« Offensichtlich wirkt der furchtbare Eindruck noch nach, denn der sonst kühl und nüchtern daherkommende Kriminaltechniker scheint zutiefst bestürzt.

Nach einer Pause meldet sich Nili zu Wort: »Ich kann dir das absolut nachfühlen, lieber Lutz! Jedes Mal, wenn ich einen Tat- oder Fundort betreten muss, befällt mich tiefe Beklemmung, und wenn ich mit einer so tristen Aufgabe konfrontiert werde, ergreift mich große Trauer. Nie werde ich mich ganz daran gewöhnen können. Auch wird es mir kaum gelingen, die gebotene mentale Distanz zum Opfer zu halten, die unsere psychologischen Betreuer uns abverlangen. Es passiert mir immer wieder, an jedem Ort eines Gewaltverbrechens, dagegen kann ich nichts tun.«

Waldi nimmt sie in den Arm. »Lass es gut sein, Nili, ich halte es für durchaus normal, dass sich bei derart erschütternden Anlässen derart starke Gefühle melden.«

Um das Thema zu wechseln, fragt Nili plötzlich: »Habt ihr irgendwelche Spuren gefunden, die auf die Identität der Frau hinweisen?«

»Siehste, Waldi, da erwacht die sprichwörtliche Witterungslust in unserer lieben Frau Kriminalhauptkommissarin! Gut, dass du fragst, Nili, denn da war in der Tat etwas, was ich beinahe vergessen hätte!« Rasch schwingt sich Lutz aus dem Sessel und eilt hinaus in den Flur. Kurz danach kommt er mit einem Plastikbeutelchen in der Hand zurück. »Ich will euch keineswegs den Verdauungsplaisier der soeben genossenen ›Katiuschka‹ vermiesen – die hat übrigens tatsächlich wunderbar geschmeckt, ehrlich! –, aber da Nili so direkt fragt, kriegt sie auch ’ne direkte Antwort.« Er legt das Tütchen auf den Couchtisch.

Waldi und Nili schauen ihn fragend an.

»Na ja, ihr wundert euch vielleicht, dass dieses Beweisstück noch in meinem Besitz ist. Lasst es euch erklären: Ich hatte eigentlich gestern einen freien Tag, um Überstunden abzubummeln, aber Kollege Andresen rief mich im Auftrag unserer Fallanalytikerin Frau Prinz an. Die bat mich, zum Tatort zu kommen. Ich fand dies zufällig, nachdem man längst die Spurensuche beendet hatte und die Kollegen bereits abgefahren waren. Als ich mich gerade meiner Schutzkleidung entledigte, fiel mir der Kuli aus der Tasche, und während ich ihn aufhob, bemerkte ich einen Blutfleck und in dessen Mitte lag das da.« Er zeigte auf das Tütchen. »Die Bache, die dem armen Opfer die Finger abgebissen hat, muss ihn wieder ausgespuckt haben! War wohl nicht ganz ihr Geschmack!«

Nili greift nach dem Tütchen. »Sieh mal, Waldi, ein Ehering!« Sie blickt auf die Innenseite: »In ewiger Liebe – Berti und 07.05.2009 sind da eingraviert«, liest sie vor.

»Nicht gerade erleuchtend, um die Frau anhand dessen zu identifizieren, nicht wahr?«, meint Lutz trocken. »Und bevor ihr die Frage stellt: Ja, die Liste der eingegangenen Vermisstenanzeigen wird bereits geprüft.«