Crescendo bis Fortissimo - Manfred Eisner - E-Book

Crescendo bis Fortissimo E-Book

Manfred Eisner

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Beschreibung

Diese Fortsetzung von »Leise Musik aus der Ferne« erzählt, wie es unserem damalig verliebten Paar, Heiko und Clarissa, samt deren inzwischen hinzugeborenen Sprösslingen Oliver und Lissy drei Jahre später ergeht. Auch in der Marsch-Kleinstadt Schleswig-Holsteins machen sich die zunehmenden Missgeschicke und Ärgernisse durch die stets wachsende Willkürherrschaft der unmenschlichen Machthaber nachdrücklich bemerkbar. So bedeutet für Heiko der schon in dessen Kindheit spurlos fortgegangene Vater ein schier unüberwindbares Hindernis, denn die Nazis nötigen alle deutschen Volksgenossen per Gesetz, ihre rein arische Herkunft unter Beweis zu stellen. Der Zufall spielt Heiko lose Fäden in die Hände, die ihn allmählich zur Aufklärung seiner Herkunft leiten, was ihn jedoch in ein noch schlimmeres Dilemma stürzt. Ständig spitzen sich Plage und Quälerei derer zu, die zu den rassisch und politisch Ausgegrenzten zählen. Auch Oldenmoor bleibt von der »Reichskristallnacht« nicht verschont, und dies, verbunden mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, gipfelt schließlich in einer Folge von weitreichenden Ereignissen, die für die sympathische Keller-Familie aufgrund ihrer Emigration in der mit verblüffenden Hindernissen gepflasterten geglückten Rettung endet.

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Manfred Eisner

Crescendo bis Fortissimo

Zweiter Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Wenn man hier im Lande mit der Verfolgung

einer gewissen Gruppe unserer Landsleute anfängt,

nur um ihrer Abstammung willen, dann ist es

christliche Pflicht zu rufen: „Das ist gegen das

Grundgesetz im Reiche Christi, die Barmherzigkeit“,

und das ist verabscheuungswürdig für jedes nordische Denken ...

Ein christliches Volk, das tatenlos zusieht,

wenn seine Ideale mit Füßen getreten werden,

gibt dem tödlichen Keim der Verwesung Einlass

in seinen Sinn, und Gottes Zorn wird es treffen!

Kaj Munk, dänischer Pastor und Schriftsteller, * 13.01.1898 in Maribo, Lølland, † 05.01.1944 in Vedersø, auf Anordnung Hitlers und Himmlers ermordet von SS-Schergen.

Diesen Roman widme ich mit höchster Anerkennung und in tiefer Dankbarkeit all jenen Mutigen, Aufrichtigen und Anständigen, die sich während des nationalsozialistischen Terrors selbst unter eigener Gefährdung nicht scheuten, den Verfemten, Verfolgten und in Lebensnot Geratenen tatkräftige Unterstützung, Hilfe und Schutz zu gewähren.

Manfred Eisner

Brokdorf, im Frühjahr 2014.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Vorwort

1. Gottesdämmerung

2. Rückblende

3. Crescendo

4. Lieber Besuch

5. Hans-Peters Bekehrung

6. Bedrängnis

7. Josefs Bekümmernisse

8. Aus Clarissas Tagebuch

9. Üble Machenschaften

10. Weihnachtsbeichte

11. Prost Neujahr 1936!

12. Silkes Gewissen

13. Verlobung

14. Heikle Recherchen

15. Des Oskars Rätsel

16. Das fehlende Glied

17. Stammbaum

18. Schlupfwinkel

19. Magerer Bescheid

20. Haschende Profiteure

21. Unheilvolle Enthüllung

22. SOS

23. Heiligabend

24. „Muss i’ denn ...“

25. Geschichte an zwei Orten

26. Fortissimo

27. Clarissas Reisebericht

Nachwort

Der Autor

Danksagung

Vorwort

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

es sind einige Jahre über Oldenmoor, die imaginäre, irgendwo in der holsteinischen Marsch gelegene Kleinstadt, hinweggezogen, seit unsere liebenswerten Hauptpersonen aus „Leise Musik aus der Ferne“ endlich ihrer Liebe gewahr wurden.

Sie, als Eingeweihter, pflichten dem Autor hoffentlich bei, dass es doch eigentlich bedauerlich gewesen wäre, es dabei bewenden zu lassen und diese Szenerie samt ihren imaginären Darstellern so mir nichts, dir nichts aus den Augen und aus dem Sinn zu verlieren.

Deshalb setzen wir nun die Geschichte fort und begleiten Clarissa und Heiko bei ihrem alltäglichen Bemühen, den sich ausbreitenden Widrigkeiten und Verfolgungen inmitten Deutschlands während der neunzehnhundertdreißiger Jahre mit mutiger Aufrichtigkeit und menschlichem Anstand zu begegnen und letztendlich zu entkommen.

Die harsche politische Realität dieser Zeit stellt dabei wiederholt gefährliche Klippen ins Fahrwasser, die es geschickt zu umschiffen gilt.

Dazu weht ihnen ein anschwellend eisiger Gegenwind ins Gesicht, denn die zeitlichen Wirren spitzen sich rasant zu– bis zum unausweichlichen Orkan.

1. Gottesdämmerung

Heiko sitzt in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und liest mit ernstem Gesichtsausdruck den Courier, das Lokalblatt Oldenmoors. Auf der ersten Seite dominiert die Überschrift in großen Lettern:

Deutschland ist wieder gesund! Der Führer schafft klare Verhältnisse.

Darunter ein Bericht über die Sitzung des Deutschen Reichstages anlässlich des Parteitages der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei. Es folgt eine Zusammenfassung der in Nürnberg am Vortage verkündeten neuen Gesetze: das „Reichsbürgergesetz“ sowie das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“.

Mit jeder gelesenen Zeile steigert sich Heikos Betroffenheit. Sein besorgter Blick wendet sich von der Zeitung ab und fixiert das sich von Wand zu Wand erstreckende Bücherregal, vollgestopft mit zahlreichen antiquarischen und modernen Büchern, die in Leder, Leinen und Karton eingebunden sind.

Ein kalter Schauer fährt Heiko den Rücken hinab. Er ist dreiundzwanzig, ein maskuliner Typ, groß und schlank gewachsen und in den vergangenen Jahren vom rebellischen Jüngling zu einem gestandenen jungen Mann herangereift. Nicht wissend, ob er wegen des soeben Gelesenen oder der Kälte seines Arbeitszimmers fröstelt, erhebt er sich, geht an die Tür und öffnet sie.

„Silke!“, ruft er mit heiserer Stimme hinunter.

Unten sind Schritte zu hören, danach das Öffnen einer Tür. „Jawohl, Herr Keller?“

„Seien Sie so gut, bringen Sie den Kohleneimer und machen Sie den Ofen in meinem Zimmer an. Es ist ziemlich kalt hier oben.“

„Komme sofort!“ Die Tür schließt sich wieder.

Heiko geht zurück an den Schreibtisch und setzt sich in den Drehsessel. Verloren in ernsten Gedanken, spielen seine Hände unbewusst mit dem Totenschädel (eine von Harald Suhls Hinterlassenschaften), den er mit seiner Rechten vom Schreibtisch gegriffen hat. Die Finger der linken Hand gleiten auf der elfenbeinfarbenen Schädeldecke langsam hin und her.

Als „Onkel“ Harald Suhl vor einigen Jahren starb und ihm sein gesamtes Vermögen vererbte, zog Heiko von seinem Kellerzimmer im Herrenhaus der von Steinbergs in dieses Haus um. Während inzwischen in den anderen Wohnräumen des Hauses zahlreiche Umbauten durchgeführt wurden, blieb dieses Zimmer unberührt. Mit Ausnahme der neuen Tapeten befand es sich noch im selben Zustand wie beim Ableben des kauzigen Alten. Heiko liebte dieses Arbeitszimmer, da es mit zahlreichen Erinnerungen an seine Kindheit verbunden war.

Onkel Suhl, ein langjähriger Freund der Familie und unerwidert gebliebener Jugendliebhaber von Heikos Großmutter Alexandra, war sozusagen „Oldenmoors Institution des Wissens“ gewesen. Trotz seines exzentrischen Verhaltens und seiner für seine Gesprächspartner oft unverständlichen Ausdrucksweise hielt man ihn für eine Kapazität. In der Tat war er sehr belesen und hinterließ eine ansehnliche Bibliothek. Heiko hatte einige Mühe, seine eigenen, ebenfalls zahlreichen Bücher in dem bereits ziemlich vollen Bücherregal unterzubringen.

An der gegenüberliegenden Wand hängt ein in dezenten Pastelltönen gemaltes Bild: ein sehr hübsches, etwa sechzehn Jahre altes Mädchen mit himmelblauen Augen, langlockigem, kastanienbraunem Haar und wohlgeformten Lippen, das den Betrachter mit einem leicht angedeuteten Lächeln ansieht. Unter dem Signum „Heiko Keller“ und der Jahreszahl 1930 am unteren Bildrand steht in kleinerer Schrift: „Bildnis der Prinzessin von der madigen Erbse, die in einem verzauberten Schloss an der alten Esche gefangen gehalten wurde“.

Heiko hört Schritte auf der Treppe. Die Tür öffnet sich und eine robuste, etwa siebzehnjährige stämmige Deern mit blauen Augen und langen, blonden Zöpfen betritt freundlich lächelnd das Zimmer. Sie trägt den Kohleneimer in der einen und einige alte Zeitungen in der anderen Hand.

„Ich mache Ihnen sofort das Feuer an, Herr Keller“, sagt sie eifrig und geht vor dem kleinen Kachelofen in die Knie.

Durch das Eintreten des Hausmädchens aus seinen tiefen Gedanken herausgeholt, nickt Heiko stumm. Beklommen blickt er auf den Totenschädel in seiner Hand und deponiert diesen schließlich auf dem Zeitungsartikel über das Blutschutzgesetz. Er steht auf und geht langsam im Zimmer umher. Plötzlich bleibt er vor dem Bücherregal stehen, greift nach einem Band und blättert suchend darin. Nachdem er die gewünschte Stelle gefunden hat, liest er ein paar Seiten, schüttelt den Kopf und schiebt das Buch in seine Lücke zurück.

Sein Blick bleibt an einem Wandkalender haften, der anzeigt, dass heute der 16. September 1935 ist.

„Die gnädige Frau ... lässt Ihnen ausrichten, dass ... es bald Abendbrot ... geben wird“, sagt Silke, wobei sie ihren Satz mehrmals zum Tief-Luft-Holen und In-das-Feuer-Blasen unterbricht. In der Feuerstelle des Kachelofens lecken bereits einige rötliche Flammenzungen gierig an den fetten, schwarzen Kohlen.

„Danke, Silke. Haben die Kinder schon gegessen?“

„Sie waren gerade dabei, als ich hochgekommen bin.“

„Gut, dann gehe ich schon mal runter.“

Heiko steigt die Treppe hinab und schleicht auf Zehenspitzen durch die Diele bis hin zur Küche. Leise öffnet er die Tür, bleibt im Türrahmen stehen und betrachtet mit einem stummen Lächeln das lebendige Bild, das sich vor ihm auftut. Am Küchentisch sitzt eine auffallend hübsche, junge Frau, die eine große Ähnlichkeit mit dem Portrait in seinem Arbeitszimmer hat. Aus der damals mädchenhaften Clarissa ist inzwischen eine besonders aparte Erscheinung geworden. Mit fürsorglichem Mutterblick wacht sie über das Abendessen ihrer beiden Kinder. Ein etwa zweijähriger, strohblonder Bube sitzt auf einem Kinderstuhl und rührt eifrig mit dem Löffel in seinem Schüsselchen herum, wobei der Brei darin überzuschwappen droht. Währenddessen gibt Clarissa dem Baby auf ihrem Schoß die Milchflasche.

„Oliver! Hör bitte auf, in deinem Brei herumzustochern. Mit dem Essen darf man nicht spielen.“ Clarissa spricht ihren Verweis in einer ruhigen, versöhnlichen Stimme aus.

Oliver hebt seinen Blick von der Schüssel und sieht Heiko in der Tür stehen. Seine blauen Äugelein strahlen vor Freude und er fuchtelt wild mit dem Löffel in der Luft herum, während er gleichzeitig in seiner Kleinkindersprache in hohen Tönen quiekt.

Verwundert blickt sich Clarissa um. Mit einem warmen Lächeln begrüßt sie ihren Mann, der auf das Trio zueilt und jeden von ihnen zärtlich umarmt und küsst. Heiko nimmt Oliver den Löffel aus der Hand und füttert ihn geduldig, bis er seinen Brei aufgegessen hat.

Unterdessen berichten sich die jungen Eltern gegenseitig von ihrem Tagesablauf. Während er Clarissa zuhört, denkt Heiko, dass sie sich seit jenem Frühlingsabend vor vier Jahren, an dem ihr endlich ihre Liebe zu ihm bewusst wurde, äußerlich kaum verändert habe. Sicherlich, sie ist inzwischen reifer geworden, aber die zweimalige Mutterschaft hat weder ihrem Gesicht noch ihrer Figur nachteilige Veränderungen zugefügt. Sie ist noch genau so erfrischendnaiv-aufrichtig-bildhübsch wie damals, gesteht sich Heiko mit Bewunderung ein.

„Ich war heute mit den Kindern zu Besuch im Herrenhaus“, erzählt Clarissa. „Der Papa und die Mama haben sich sehr gefreut. Tante Therese kam später auch noch dazu. Sie alle lassen dich grüßen.“

„Danke für die Grüße. Ich habe euch aus dem Fenster meines Arbeitszimmers gesehen. Der beeindruckende Konvoi zweier Kinderwagen unter Führung eines bezaubernden Kommodores entging nicht meiner Aufmerksamkeit.“

Von Heikos Bürofenster in der Backwarenfabrik blickt man direkt auf das Herrenhaus der Familie von Steinberg. Dieses gehört allerdings schon seit einigen Jahren Heiko. Er löste damals mit einem Teil des von Onkel Suhl geerbten Geldes eine fällige Hypothek ab und konnte somit seinen zu der Zeit noch zukünftigen Schwiegereltern– gleichzeitig Großonkel und Großtante– ihr Heim erhalten.

Clarissa nimmt das Kompliment ihres Mannes mit einem Lächeln an. Während sie das Baby halb über ihre Schulter hält, klopft sie rhythmisch und zart auf dessen Rücken. Elisabeths wiederholtes, lautes Aufstoßen bestätigt der Mutter die Wirksamkeit dieser Methode, die ihr Sanitätsrat Dr. Schmitthofer zur Entfernung der lästigen Luft aus dem Babybäuchlein empfohlen hat. „Und wie war dein Arbeitstag, mein Liebling?“

„Nichts Ungewöhnliches, alles Routine.– Hast du heute schon die Zeitung gelesen?“

„Ja, aber nur oberflächlich. Ich ...“ Abrupt unterbricht Clarissa den angefangenen Satz, als Silke in der Tür erscheint. Sie steht auf und hebt spielerisch ihr Baby in die Luft. „... bringe jetzt die Kinder ins Badezimmer und danach geht’s ab in die Heia! Silke, bringen Sie bitte Oliver mit?“ Im Vorbeigehen küsst Clarissa ihren Mann rasch auf den Mund und ist danach auch schon aus der Küche verschwunden. Silke folgt ihr mit Oliver auf dem Arm. Der Bub protestiert laut und wirbelt mit seinen Ärmchen wild in der Luft herum.

Nach einem kurzen Augenblick erlischt Heikos Lächeln, das sich durch Clarissas überraschende Liebkosung auf seine Lippen geschlichen hatte. Seufzend setzt er sich wieder an den Küchentisch und rührt gedankenverloren mit dem Kinderlöffel in Olivers leerer Breischüssel. So weit sind wir also schon gekommen, gesteht er sich verbittert ein. Man kann seine Gedanken nicht einmal mehr im eigenen Heim offen zum Ausdruck bringen. Jeder hat– ja, jeder muss vor jedem Angst haben. Man redet zwar nicht offen darüber, aber man weiß, was mit jenen passiert ist, die es gewagt hatten, das zu sagen, was sie dachten. Sie verschwanden plötzlich und man hat die meisten von ihnen nicht wieder gesehen. Und die wenigen, die zurückgekommen sind, schweigen sich aus.

* * *

Heiko und Clarissa sitzen im Esszimmer. Silke hat soeben den Tisch abgeräumt und verlässt, vollbeladen mit Tellern und Besteck, den Raum. Während des Abendessens ist keine richtige Unterhaltung zwischen den beiden zustande gekommen, sie haben die meiste Zeit nur schweigend gegessen.

Besorgt sieht Clarissa ihren Ehemann an. „Was hast du, Heiko? Du siehst so bedrückt aus. Ist etwas passiert?“

Heiko blickt vielsagend in Richtung Tür. „Jetzt nicht– später!“ Er nimmt sich zusammen und versucht, seine Frau mit einem Lächeln zu beruhigen. Er greift nach ihrer Hand, und nachdem Clarissa ihm diese überlassen hat, streichelt er sie liebevoll, versinkt aber schon nach einigen Sekunden abermals in seinen Gedanken.

„Möchtest du noch etwas, Heiko?“

„Nein, Prinzessin, vielen Dank. Wollen wir nicht hinübergehen?“

In ihrer Kindheit spielten sie mit ihren Spielkameraden oft „Entführung der Prinzessin“. Heiko, Anführer der Bande und damals ein ziemlich rüder und eigensinniger Einzelgänger, verlieh Clarissa den wenig schmeichelhaften Namen „Prinzessin der madigen Erbse“, worüber sie verständlicherweise sehr enttäuscht war, hatte sie sich doch einen viel wohlklingenderen Namen erhofft. Noch in den Jahren danach sprach Heiko Clarissa immer dann mit „Prinzessin“ an, wenn er sie bewusst ärgern wollte. Nach ihrer Verlobung und der Hochzeit wurde daraus jedoch ein Kosename.

Beide stehen auf und gehen Hand in Hand ins Wohnzimmer, in dem ein loderndes Kaminfeuer dazu einlädt, sich gemütlich niederzulassen. Der geräumige Salon ist mit dunkel gebeizten Möbeln im neuen Renaissancestil ausgestattet. Vor dem Kamin stehen rund um einen passenden Sofatisch ein bequemes Sofa und drei große Sessel mit gewaltigen Löwentatzen als Füße. Genüsslich lässt sich Clarissa auf dem Sofa nieder und zieht ihren Mann an ihre Seite. Heiko legt seinen Arm um ihre Schulter und sie schmiegt sich an ihn.

Als Heiko in das hellbraun getünchte Haus mit dem markanten Balkon umgezogen war, plante und verwirklichte er sehr sorgfältig und weitsichtig dessen Umbau. Boie Sötje, ein ehemaliger Schulfreund vom Gymnasium und Sohn des Inhabers des größten Baugeschäftes in Oldenmoor, stand damals kurz vor der Beendigung seines Architekturstudiums und unterstützte ihn mit Rat und Tat. Die Bauarbeiten führte die Firma Sötje aus.

Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Aus dem alten und ziemlich heruntergekommenen Gebäude, das Onkel Suhl in seinem Einsiedlerleben sehr vernachlässigte, ist ein wohnliches, einladendes und komodiges Heim geworden, mit allen Raffinessen, welche die moderne Technik zu bieten hat: Spülklosett, Badezimmer, fließend kaltes und warmes Wasser– ja sogar ein elektrischer Herd mit Backröhre und ein Kühlschrank schmücken die Küche. Auch ein Fernsprecher ist nunmehr im Haus vorhanden. Das obere Geschoss, das vormals mit Ausnahme von Onkel Suhls Arbeitszimmer ungenutzt war, wurde ausgebaut. Neben den beiden Kinderzimmern befinden sich dort jetzt ein Gästezimmer, ein Zimmer für das Hausmädchen und ein kleines Badezimmer mit Dusche und Spülklosett.

Heikos größte Freude an dem gelungenen Umbau ist die Tatsache, dass man dem Haus von außen nichts von den inneren Veränderungen ansieht. Das kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün lackierte Geländer des Balkons mit seinen wohlgeformten, weißen Schwänen thront an der Fassade und gibt dem Haus sein ganz besonderes Gepräge.

Obwohl schon vier Jahre seit Heikos Einzug vergangen sind, wird dieses Haus in Oldenmoor immer noch „Harald Suhls Hus“ genannt. Darüber freut sich Heiko ganz besonders, weil die Menschen auf diese Weise seinem Gönner, dem lieben alten Spaßvogel, der so viele Oldenmoorer Bürger (natürlich ohne deren Wissen) mit seinen Pseudoweisheiten hinters Licht führte, so etwas wie ein Denkmal gesetzt haben.

Alle diese und noch viele andere Erinnerungen wandern gerade durch Heikos Gedanken.

„Was bedrückt dich, Deichkater?“, flüstert Clarissa in Heikos Ohr. „Du machst mir ernsthafte Sorgen.“ Jedes Mal, wenn sie Heiko mit seinem Spitznamen anspricht, muss sie unwillkürlich an den rebellischen Spielgefährten ihrer Kindheit denken, der diesen Namen wegen seines zeitweisen Untertauchens in einer aus Weiden selbst gebastelten Hütte am Elbdeich trägt.

„Ach, mein Schatz, es ist die augenblickliche Lage, die mir so sehr an die Nieren geht.“ Auch Heiko spricht ganz leise. „Wir rasen immer schneller dem Abgrund entgegen und es sieht so aus, als ob es niemand merkt. Und von denjenigen, die es zumindest ahnen, will es sich keiner eingestehen. Alle schreien vor Begeisterung Hurra und ich vermute, das Denken dieser Menschen ist wohl ausgerastet. Was ich da heute wieder gelesen habe ...“

„Ja, ich weiß. Und auch, wie du darüber denkst, wir haben uns ja schon öfter über dieses Thema unterhalten. Ich finde es ebenfalls sehr schlimm und all diese armen Menschen tun mir furchtbar leid. Aber unserer Familie droht doch keine Gefahr, oder?“

„Doch, Clarissa, aber ja!“

Clarissa legt ihre Hand vor Heikos Mund, weil sein Ausruf heftig und laut war. Er hält einen Moment inne und küsst ihre Finger. Clarissa lächelt und nickt ihm zu– eine stumme Aufforderung, seine Behauptung zu erläutern.

Heiko fährt in leisem, jedoch markantem Ton fort: „Begreifst du denn nicht, dass es hier um die elementarsten Menschenrechte geht? Ist dir nicht bewusst, dass das, was hier heute geschieht, ein gellend schreiendes Unrecht gegen alle Völker der Erde ist, für das wir Deutschen eines Tages, ob wir es gewollt haben oder nicht, ob wir aktiv mitgemacht oder es nur tatenlos geduldet haben, vor der Welt Rechenschaft werden ablegen müssen?“

„Ich fühle genau wie du, Heiko. Auch ich empfinde ein großes Unbehagen. Was ist nur in all diese Menschen gefahren? Nicht mal mehr ein freundliches ‚Guten Morgen‘ oder ein lächelndes ‚Guten Tag‘ beim Treffen mit Freunden und Bekannten ist noch drin. Nein! Bis heute kriege ich dieses primitive ‚Heil Hitler!‘ nicht über meine Lippen.“

„Wenn es nur das wäre!“, seufzt Heiko. „Das Ganze geht noch weiter, es kommt noch viel schlimmer. Jeder Deutsche muss jetzt den Beweis erbringen, dass er Arier ist! Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man über diesen Humbug schallend lachen!“

„Na, wenn uns nichts Schlimmeres passiert!“, witzelt Clarissa und versucht Heiko auf diese Weise aufzumuntern. Das Lächeln, das Heiko darauf erwidert, ist ein trauriges. „Ja, ja, für dich, Clarissa von Steinberg, du Prinzessin der madigen Erbse, ist das kein Problem. Da gibt es ja auch nicht den geringsten Zweifel an deiner Herkunft und dass in deinen Adern rein arisches Blut fließt! Außerdem ist all dies einfach zu belegen. Aber wie sieht es für mich, den Heiko Keller, aus?“

Pause.

Mit ernstem Blick sieht Clarissa ihren Mann an. Auch Heikos Mutter war eine von Steinberg, eine Cousine des Papas. Trotz des Widerstands der Familie heiratete Elisabeth aus Liebe den Kunstmaler Oskar Keller, über den man nichts Genaues wusste– weder über seine Herkunft noch über seinen späteren Verbleib, hatte er doch Frau und Kind kurz nach Heikos Geburt genauso unauffällig verlassen, wie er einst auf der Bildfläche erschienen war. Elisabeth konnte diesen Kummer nicht bewältigen und nahm sich kurz darauf das Leben. Heiko wurde daraufhin von seiner Großmama, Tante Alexandra, aufgezogen.

„Ich verstehe, Deichkater. Du sorgst dich, weil du glaubst, dass es schwierig sein könnte, die Herkunft deines Vaters zu erforschen.“

„Ja, oder besser gesagt: nein! Es ist ekelhaft, so etwas überhaupt tun zu müssen, verstehst du? Wäre ich denn ein anderer, ein schlechterer Mensch, wenn sich herausstellen sollte, dass mein Vater kein reiner Arier gewesen ist?“

„Natürlich nicht ...“ Clarissa hält inne, als Silke mit dem Teeservice hereinkommt.

„Ist die gnädige Frau damit einverstanden, wenn ich schon jetzt den Tee serviere? Weil ich doch heute noch ausgehen müsste, das heißt, wenn Sie nichts dagegen hätten.“

„Ist schon gut, Silke, servieren Sie jetzt den Tee und danach können Sie sich gern den Rest des Abends freinehmen.“ Clarissa hilft ihr beim Verteilen des Geschirrs.

„Danke, gnädige Frau.“

„Wo soll’s denn hingehen, Silke?“, fragt Heiko, während sie seine Tasse mit dem bernsteinfarbenen Aufguss füllt.

„Zum Heimabend beim BDM.“

„Ach so, natürlich, da dürfen Sie keineswegs fehlen!“, entfährt es Heiko wie aus einer Pistole geschossen. Häme schwingt in seiner Stimme mit. Bund Deutscher Mädchen! Diese dämonischen Verführer machen auch vor der noch unschuldigen Jugend keinen Halt.

Nachdem Clarissa zunächst Heiko einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen hat, sieht sie besorgt auf Silkes Gesicht, um zu erspähen, wie das Hausmädchen seine unvorsichtige Bemerkung aufgenommen haben könnte. Silkes klarer, aufrichtiger Blick jedoch beruhigt sie.

„Na ja, dann wünsche ich ’ne gute Nacht. Heil Hitler!“, sagt das Mädchen, während es das Wohnzimmer verlässt.

„Gute Nacht, Silke.“

Das Ehepaar bleibt in der Stille sitzen, bis ein Geräusch verrät, dass gerade die Haustür ins Schloss fällt. Endlich sind sie allein.

„Heiko, du darfst nicht ...“

„Ich weiß, Clarissa, du hast recht, aber manchmal überfährt es mich und ich kann einfach nicht an mich halten!“

„Mein lieber Herr Gemahl, du wirst lernen müssen, dich zu beherrschen, oder du bringst dich und deine Familie in größte Gefahr. Denk doch an die Kinder!“

„Natürlich hast du recht, Prinzessin! Es bleibt mir leider keine andere Wahl, als mich zukünftig im Kuschen und Duckmäusern zu üben. Denn trotz meiner Überzeugung und meiner Verachtung für diese germanischen Götter des Unheils kannst du mir das eine glauben: Überleben will ich– koste es, was es wolle! Und dass ich jegliches Unheil von meiner geliebten Familie fernhalten möchte und werde, brauche ich dir wohl nicht zu versichern, oder?“ Zärtlich nimmt Heiko seine Clarissa in die Arme und küsst sie liebevoll auf Augen, Nasenspitze und Mund.

2. Rückblende

Clarissa betritt den kleineren Raum im Erdgeschoss– ihr eigenes Zimmer und Privatsphäre in diesem Hause. An den Wänden hängen die Bilder, die sie am meisten liebt. Bis auf eines sind sie alle von Heiko gemalt worden, lange bevor sie sich in ihn verliebt hat. Ein Bildnis zeigt Onkel Suhl, genauso portraitiert, wie ihn ihre Erinnerung festhält: ein verschmitztes Lächeln mit ironischem Blick, schneeweißes Haar, ein spitzes Bärtchen.

An der Wand gegenüber ein kleineres Bild mit schwarzem Rahmen. Es zeigt einen schönen, rötlichen Vogel, der in den blauen Himmel fliegt. Unten, auf der Erde, sitzt ein kleiner Junge im Schatten eines Baumes und beobachtet den Flug des Vogels. Am unteren Bildrand steht in schwarzer Schrift: „Neid“. Es war damals Heikos größte Sehnsucht, in die weite, weite Welt hinauszuziehen. Jedes Mal, wenn Clarissa dieses Bild betrachtet, muss sie vergnügt an jenen Tag denken, an dem der Deichkater ihr erklärt hat, dass ihn nur ein ganz bestimmtes Ereignis von diesem Entschluss abbringen könne. Ach, wie war sie doch damals noch naiv, nicht gleich zu verstehen, was er damit ausdrücken wollte!

Eine Miniatur, die in einem verkupferten Rahmen hängt, ist das einzige Andenken, das Heiko von seinem Vater besitzt: Clarissas heißgeliebte Sommerwiese vor ihrem Elternhaus, voller bunter Blumen, die von einer strahlenden Sonne am tiefblauen Himmel beschienen werden. Es heißt, dass Heikos Vater und Mutter sich kennenlernten, während dieses Bild entstand.

Nach ihrer Hochzeit mit Heiko zog Clarissa hierher. Kurz darauf schlug ihr Mann vor, ihr diesen Raum als Arbeitszimmer einzurichten. Damals war sie noch Lehrerin in der Schule in Oldenmoor und benötigte einen eigenen Platz, um ihren Unterricht vorzubereiten. Clarissa nahm beim Umzug außer dem Bett sämtliche Möbel aus ihrem Mädchenzimmer mit. Sie hing vor allem an ihrem kleinen Schreibtisch und genoss es, sich in ihr Reich zurückzuziehen, um in Ruhe zu schreiben oder zu lesen.

Als Sohn Oliver geboren wurde, gab Clarissa das Lehramt auf. Neben der liebenden Ehefrau entwickelte sie sich zu einer fürsorglichen Mutter und sehr gewissenhaften Hausfrau. Minutiös wurden sämtliche Ausgaben für den Haushalt in ihrem Rechnungsbuch festgehalten. Obwohl Clarissa, anders als vormals ihre Frau Mama, nach ihrer Heirat keineswegs dazu genötigt war, jeden Pfennig mehrmals umzudrehen, hatte sich die durch mancherlei widrige Umstände erzwungene Sparsamkeit der Frau Annette von Steinberg als eine Selbstverständlichkeit auf ihre Tochter übertragen.

Clarissa pflegte nach wie vor eine Gewohnheit, die sie schon in ihrer Jugendzeit lieb gewonnen hatte: Mit steter Regelmäßigkeit hielt sie mit ihrer schönen und ausgeprägten Handschrift wichtige Ereignisse in einem Tagebuch fest. Seit jenem unvergesslichen Tage vor vier Jahren, an dem sie, eilig dem Ruf ihrer Mutter folgend, unvorsichtigerweise das offene Tagebuch auf dem Schreibtisch liegen gelassen und damit Heiko Einsicht in ihre intimsten Empfindungen ermöglicht hatte, ging sie damit besonders sorgfältig um und hielt behutsam diesen Spiegel ihres Inneren stets unter Verschluss. Zudem blieb die Sammlung ihrer Tagebücher, bereits fünf an der Zahl, in einem geheimen Fach ihres Schreibtisches versteckt. Der französische Tischler, der vor mehr als hundertfünfzig Jahren dieses besondere Möbelstück konzipiert und gebaut hatte, musste ein wahrer Meister seines Metiers gewesen sein. Es war dem Tisch von keiner Seite her anzusehen, dass dieser ein verborgenes Fach enthielt.

Jedes Mal, wenn Clarissa nach einer Eintragung ihr Tagebuch verschloss und es in seinem Versteck wieder in Sicherheit brachte, erinnerte sie sich mit Freude an Heikos freche Neugier, hatte doch diese eine entscheidende Wende in ihrer gegenseitigen Beziehung ausgelöst: Die anfängliche tiefe Abneigung, die sie seit ihren Kinderjahren füreinander empfunden hatten, begann nach einer ersten Aussprache zu schwinden. Allmählich näherten sie sich einander an, bis schließlich Liebe daraus wurde.

Durch Betätigung eines in der mittleren Schublade verborgenen Hebels öffnet Clarissa das Geheimversteck im Schreibtisch und entnimmt daraus eines ihrer früheren Tagebücher. Sie setzt sich und beginnt in der Vergangenheit zu blättern.

Ich kann es immer noch nicht fassen! Wie kann eine junge Frau in meinem Alter (man kann doch von einer Lehrerin wirklich nicht mehr als „Mädchen“ sprechen!) noch so unbedarft und naiv sein! Ich habe lang, allzu lang, dazu gebraucht, um mir einzugestehen, dass ich in Heiko verliebt bin. Eigentlich, liebes Tagebuch, habe ich dies schon seit längerer Zeit geahnt. Ich konnte es Dir aber nicht einfach so anvertrauen, dazu fehlte mir der Mut. Ich hoffe, Du kannst es verstehen und nimmst mir diesen Mangel an Ehrlichkeit nicht allzu übel. Aber jetzt will ich alles nachholen: Ich liebe Heiko mit der ganzen Kraft meines Herzens!

Einige Tage (genauer gesagt: vier!) sind seit jenem wunderbaren Abend verstrichen, an dem ich endlich die innere Kraft aufbrachte, meine Hemmungen zu überwinden und meinen Empfindungen freien Lauf zu lassen. Als ich Heiko entgegenlief, er mich in seine Arme nahm und seine Lippen die meinen zärtlich berührten, brannte es auf meinem Mund wie Feuer und mein Herz pochte so wild, dass ich dachte, es würde mir aus der Brust springen.

Wenn ich das soeben Geschriebene lese, finde ich es ganz schön albern. Aber es fallen mir einfach keine schöneren Worte ein, um es zu beschreiben. Jetzt, wo ich dieser Seite das größte und wichtigste Geheimnis meines Lebens anvertraut habe, muss ich mehr denn je darauf achten, dieses Tagebuch immer gut unter Verschluss zu halten. Am sichersten, ich verstecke es im Geheimfach meines Schreibtisches. Dort wird es mit Bestimmtheit niemand finden!

Ich habe jetzt ziemliche Angst vor der Zukunft. Mit Sicherheit wird meine Familie sehr erbost sein, sollte sie von unserer Liebe erfahren. Der Papa wird vor Wut schäumen: Seine Tochter und der Tunichtgut von Heiko? Undenkbar! Der ist doch keine Partie für ein Fräulein von Steinberg. Dass diese Welt immer Wermutstropfen in das Glück einträufeln muss!

Bewegt blättert Clarissa weiter.

Heute herrscht bei uns wieder eine bedrückte Stimmung. Die Hypothek für das Herrenhaus ist in zwei Wochen fällig und der Papa teilte uns beim Mittagessen mit, dass er kein Geld habe, um sie abzulösen. Als er damals das Geld aufnahm, um Onkel Ewalds Kur im Sanatorium in Schleswig zu bezahlen, hatte er sich vorgenommen, mit dem Rest des Betrages ein Geschäft zu eröffnen. Auch diesmal blieb es leider beim Vorsatz, ohne dass er etwas unternahm. So zerrannen Zeit und Geld. Nachdem Heiko in Onkel Suhls Haus umgezogen ist und uns keine Miete mehr bezahlt, ist mein kleines Gehalt als Lehrerin die einzige Einkommensquelle, die dazu beiträgt, wenigstens einen Teil des Haushalts zu bestreiten. Es ist so deprimierend, dass weder der Papa noch Onkel Johann bereit sind, etwas für den Unterhalt der Familie zu tun. Auch Tante Therese, Mamas Schwester, lebt immer noch bei uns, da ihr Verlobter, Hein Piepenbrink, nicht genügend Geld verdient, um sie zu heiraten. Wie soll das nur weitergehen? Ich weiß es wirklich nicht! Wenn es dem Papa nicht gelingen sollte, irgendwie doch noch das Geld zu beschaffen, dann werden wir wohl ausziehen müssen. Wie auch bei den anderen Häusern werden die Rembowskis, von denen wir das Geld geliehen haben, darauf bestehen, dass wir das Herrenhaus räumen. Sie wollen es sicher für die Erweiterung ihrer Backwarenfabrik verwenden. Ich mache mir große Sorgen um unsere Zukunft.

Es ist etwas Unglaubliches passiert. Als heute der Papa zu den Rembowskis ging, um wegen einer Verlängerung der Hypothek vorzusprechen, sagten sie ihm, dass sie diese Forderung an jemand anderen abgetreten hätten. Der Papa konnte aber den Namen des neuen Gläubigers nicht erfahren, da dieser ausdrücklich zur Bedingung gemacht habe, dass sein Name nicht genannt werde. Niemand kann sich dies erklären. Wer und was steckt dahinter?

Heiko und ich treffen uns jetzt fast täglich im Café Petersen am Markt. Als ich ihm heute Abend davon erzählte, sah er mich sehr amüsiert an und sagte, ich solle mir nur keine Sorgen machen, es werde mit Sicherheit eine gute Lösung für dieses Problem geben. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie wir aus dieser Klemme herauskommen sollen und woher der Deichkater seinen Optimismus nimmt. Er hat sich inzwischen bei der Bäckerei Rembowski sehr rasch hochgearbeitet. Der alte Herr Rembowski hat ihn in der letzten Woche neben seinem Sohn Josef (ich muss mich jetzt immer zusammennehmen, damit ich Josef nicht mehr „Klumpfuß“ nenne, wie früher, in meiner Kindheit) zum gleichberechtigten Geschäftsführer ernannt und ihm eine entsprechende Gehaltsaufbesserung gegeben.

Nach unserem heutigen Treffen begleitete mich Heiko nach Hause. Als wir an der Haustür standen, nahm er mich zärtlich in seine Arme und küsste mich. Danach sah er mir tief in die Augen und fragte mich, ob ich seine Frau werden wolle. Ich empfand ein solch großes Glück, dass ich augenblicklich alle diese Sorgen vergaß. Ja, auch ich möchte so sehr den Deichkater heiraten. Aber jetzt, wo mein Herz noch vor lauter Aufregung bis zum Hals hinauf wild schlägt, überlege ich, wie schwierig doch alles für uns sein wird. Trotz der wiederholten Versuche, die ich bisher unternommen habe, um die Familie umzustimmen, meinen vor allem der Papa und Onkel Johann, dass der Deichkater das schwarze Schaf der Familie ist und bleibt. Als die Mama neulich versuchte, den Papa davon zu überzeugen, dass Heiko sich grundlegend geändert und jetzt eine sehr gute Stellung habe, wo er viel verdiene, brach zwischen den beiden ein großer Streit aus. Der Papa wurde sehr wütend und ging laut schimpfend aus dem Esszimmer. Werden Heiko und ich je seine Einwilligung zu unserer Hochzeit bekommen? So sehr ich mir dies wünsche, kann ich es kaum glauben.

Clarissa schließt dieses Tagebuch und greift zum nächsten Band. Langsam blättert sie darin. Schließlich findet sie die gesuchte Stelle:

Ich glaube, dass mein Leben sich zurzeit wie in einem Roman abspielt. Anders kann ich alles, was heute passiert ist, nicht beschreiben. Heute gab es eine riesige Aufregung in unserem Hause. Es war der Fälligkeitstag der Hypothek. Der Papa war äußerst gereizt und nervös. Niemand wusste, was auf uns zukommen würde. Als die Türklingel läutete, während wir bei der Nachspeise waren, horchten alle auf und richteten automatisch ihre Blicke auf den Papa. Kathrein, unser einziges Hausmädchen, seit das Lenchen vor drei Monaten verstarb, öffnete die Tür und kam mit eigenartig verkniffenem Gesicht ins Esszimmer, um zu melden, dass ein Herr, der seinen Namen nicht genannt haben wolle, um ein persönliches und vertrauliches Gespräch mit Herrn Hans-Peter von Steinberg ersuche.

Der Papa sprang erregt auf, befahl Kathrein, die Tür zwischen Esszimmer und Salon zu schließen und den Herrn in Letzteren zu führen. Danach strich er nervös mit seiner Hand durch die Haare und ging ein paar Schritte auf und ab. Schließlich sah er jeden von uns an, zuckte mit den Schultern und eilte hinüber in den Salon. Wegen der verschlossenen Tür konnten wir den Besucher nicht erspähen.

Schweigend saßen wir alle wie auf Kohlen am Esstisch, bemüht, irgendein Geräusch aus dem Nebenzimmer zu hören. Mit einem Mal konnten wir die laute Stimme des Papas ausmachen, allerdings ohne seine Worte zu verstehen. Danach wurde es wieder ruhig und wir konnten nichts mehr vernehmen, bis plötzlich die Tür aufging und der Papa mit blassem Gesicht hereintrat. Mit einem eigenartigen Blick musterte er zunächst mich, dann die Mama. „Annette und auch Du, Clarissa, kommt bitte herein!“, bat er mit heiserer Stimme.

Liebes Tagebuch, mit welchen Worten soll ich meine Empfindungen niederschreiben? Als ich sah, wer der Besucher war, blieb ich wie angewurzelt stehen und mein ganzes Blut muss augenblicklich in mein Gesicht geschossen sein, denn ich empfand darin eine brennende Hitze! Vor mir stand niemand anderer als Heiko, in einen sehr eleganten, schwarzen Anzug gekleidet, der mich breit lächelnd anstrahlte und mir mit einem Auge zuzwinkerte.

Der Papa legte mir beide Arme auf die Schultern und drehte mich zu sich herüber. Er hob langsam mein auf den Boden gesenktes Gesicht mit einem Finger hoch, bis ich ihm in die Augen sehen musste. Danach sagte er mit bewegter Stimme: „Dieser Herr hier hat behauptet, dass Ihr beide Euch liebt, und er hat auch noch um Deine Hand angehalten. Was hast Du mir dazu zu sagen?“

Ich musste meinen gesamten Mut aufbringen, um dem Papa meine volle Erwiderung von Heikos Gefühlen zu beichten und ihm zu gestehen, dass für mich eine Heirat mit Heiko das größte Glück auf Erden bedeuten würde. Als dann der Papa die Mama ansah und sie um ihre Meinung bat, fing sie an zu weinen, nahm mich in ihre Arme (zum ersten Mal, seit ich denken kann!) und wünschte uns von ganzem Herzen, dass wir miteinander sehr glücklich werden sollten. Dann sah der Papa den Deichkater an und sagte: „Nun gut, in Gottes Namen, mir bleibt sowieso keine andere Wahl! Meinen Segen hast Du, Du Halunke, aber pass mir bloß gut auf meine Clarissa auf. Du bist mir ab heute für sie verantwortlich!“ Dann machte er bewegt kehrt und ging Hand in Hand mit der Mama ins Esszimmer hinüber. Galant reichte mir Heiko seinen Arm und wir folgten ihnen. Trotz der Tränen, die inzwischen reichlich aus meinen Augen flossen, blickte ich mit großer Genugtuung in die erstaunten Gesichter der restlichen Familienmitglieder, als der Papa ihnen eröffnete, dass Heiko und ich uns soeben verlobt hätten! Nur Tante Alexandra, Heikos Oma, weinte, allerdings vor Glück. Aus ihrem Schaukelstuhl hielt sie mir ihre dünnen Arme entgegen, damit ich sie umarme, und sprach mir dann ihren Segen aus. Leider ist sie wegen ihres hohen Alters nicht mehr ganz zurechnungsfähig und spricht oft nur wirres Zeug. Trotzdem, ich weiß von früher, dass sie Heiko sehr liebt und ihm immer die Stange hielt, als die ganze Familie gegen ihn war.

Als nach all diesen aufregenden Ereignissen Heiko und ich endlich allein gelassen wurden und wir uns einen langen, innigen Verlobungskuss gegeben hatten, fragte ich ihn trotz meiner Atemnot, wie er es denn geschafft hätte, den Papa so rasch herumzukriegen. Darauf hat er nur gelacht und gesagt, ich würde es später schon noch erfahren. Das Wichtigste sei doch, dass dieser letztendlich zugestimmt habe. Ich gab ihm recht und fragte nicht weiter.

Wieder blättert Clarissa einige Seiten weiter.

Heute zeigte mir Heiko Onkel Suhls letzten Brief an ihn, den ihm Notar Dr. Looft nach der Testamentseröffnung überreichte. Wahrscheinlich war es auch der einzige Brief, den er je von Onkel Suhl empfangen hat. Durch diesen ist mir alles klar geworden. Ich erfuhr die wahren Gründe, die Onkel Suhl zu seinem Entschluss bewogen haben, sein Haus und Vermögen Heiko zu hinterlassen.

Trotz meines früheren Widerstrebens erkenne auch ich heute leider die Tatsache an, dass die Familie, aber vor allem der Papa und Onkel Johann, nur in den grandiosen Träumen ihrer Vergangenheit schwelgt. Sie sind deswegen absolut unfähig, sich den Tatsachen ihrer hoffnungslosen finanziellen Lage zu stellen. Sie rühren keinen Finger und sind auch nicht bereit zu arbeiten. Sie glauben immer noch, ihnen stünde es einfach zu, dass andere für sie zu sorgen hätten. Auch Onkel Suhl sprach dies voller Bedauern sehr deutlich in seinem Brief aus und begründete damit seine Entscheidung zugunsten Heikos.

Da er selbst keine Familie und somit auch keine Nachkommen hatte, machten sich die Mitglieder unserer Familie ziemliche Hoffnungen, ihn nach seinem Tode zu beerben. Da aber Onkel Suhl sehr klar voraussehen konnte, dass das Erbe früher oder später den gleichen Weg wie das bereits zerronnene Habe der von Steinbergs gehen würde, ersann der listige Alte einen Umweg, um uns wenigstens in einen Teilgenuss seines Besitzes kommen zu lassen, ohne dass der Familie ein direkter Zugriff auf dessen Substanz ermöglicht werde.

Der an Heiko gerichtete Brief enthielt neben allgemeinen Ratschlägen für die Anlage der Güter einige Bitten. Die vordringlichste war, er möge die Hypothek auf das Herrenhaus ablösen, um dessen Verlust abzuwenden, da sonst die gesamte Familie von Steinberg auf der Straße stünde.

Als ich Heiko fragte, ob er derjenige gewesen sei, der den Rembowskis die Hypothek abgekauft hätte, bejahte er mit einem frechen Grinsen. Auch ich musste darüber lachen, konnte ich mir doch jetzt Papas Entsetzen vorstellen, als er es an jenem Tage erfuhr, als Heiko uns besuchte und um meine Hand anhielt. Lächelnd sagte ich zum Deichkater: „Du mieser Schuft, so hast Du also den Papa um die Herausgabe der Tochter erpresst, nicht wahr?“ Heiko umarmte mich laut lachend und erwiderte, ich solle ihm dies nicht allzu sehr übel nehmen, es sei doch nur eine winzig kleine, süße Rache gewesen für all jene Erniedrigungen und Bosheiten, die er in seiner Kindheit und auch noch später von dem Papa und dem Rest der Familie über sich hätte ergehen lassen müssen. Zudem könne nunmehr die Familie von Steinberg auch weiterhin im Herrenhaus frei wohnen. Hätte er dies nicht getan, wäre unser Heim mit Sicherheit für immer verloren gegangen. Gern und auch mit tiefem Dank gab ich dem Deichkater hierfür recht.

Des Weiteren empfahl Onkel Suhl in seinem Brief, dass Heiko in seinem Haus wohnen und es in seinem Besitz erhalten möge. Ich musste sehr stutzen, als ich den Satz las: „Du wirst sicherlich bald ein Heim benötigen, um jemanden (den wir beide sehr gut kennen und der uns teuer ist) dorthin zu führen. Ich spreche Euch beiden meinen innigsten Segen aus.“ Hatte etwa Onkel Suhl bereits alles geahnt, bevor wir uns selbst darüber im Klaren waren? Seltsam! Als ich Heiko darauf ansprach, nickte er nur. Danach sagte er mir, er wolle das Haus umbauen und modernisieren lassen. Sein letzter Satz gefiel mir am besten: „Sobald alles fertig ist, heiraten wir!“

Besonders schmunzeln musste ich über eine weitere, eindringliche Bitte, die Onkel Suhl an Heiko gerichtet hatte:

Sollte dieser nämlich irgendwelche „Besonderheiten“ an seinem Teleskop oder an anderen Gegenständen der Hinterlassenschaft entdecken, möge er diese Entdeckungen unbedingt für sich behalten und niemandem verraten. Natürlich konnte Onkel Suhl nicht ahnen, dass Heiko und ich bereits kurz nach seinem Tode im Arbeitszimmer herumstöbern würden. Dabei hatten wir sein falsches Teleskop mit den von ihm speziell präparierten Abbildungen von Mond, Sonne und Sternen entlarvt. Damit hatte er uns schon als Kinder genauso hereingelegt, wie er die Bürger von Oldenmoor hinters Licht führte. Er hatte sich dadurch einen Ruf als bedeutender Astronom und Gelehrter geschaffen und wollte nun (auch nach seinem Tode) nicht bloßgestellt werden.

Nur Heiko hatte damals instinktiv den Alten durchschaut. In seinem Abschiedsbrief zollte daher Onkel Suhl Heiko seinen Respekt und Dank dafür, dass dieser es zwar gewusst, aber nie darüber gesprochen habe. Armer Onkel Suhl! Du brauchst Dich nicht zu fürchten. Weder der Deichkater noch ich werden davon jemals ein Sterbenswörtchen verraten. Dieses Geheimnis bleibt zwischen uns dreien!

Ein Lächeln auf Clarissas Lippen verrät, dass sie auch heute noch über die Schelmereien Onkel Suhls amüsiert ist. In der Stadt hält man ihn immer noch in ehrenvollem Andenken. Der Papa hat vor Kurzem bemerkt, dass es sehr schade sei, dass es unter der heutigen Jugend Oldenmoors anscheinend keinen würdigen Nachfolger mit dem Wissen und der Weisheit Onkel Suhls gäbe.

Elf dumpfe Schläge der Standuhr im Wohnzimmer bringen Clarissa abrupt in die Gegenwart zurück. Sie steht auf, legt die Tagebücher in das sichere Versteck und eilt in die Küche, um für das Mittagessen zu sorgen.

3. Crescendo1

„Heil Hitler!“

Der mittelgroße, schlanke Mann mit blassem Gesicht und traurigem Ausdruck in den braunen Augen fährt mit einer knochigen Hand durch das schüttere Haar. Von seinem Schreibtisch aus blickt er mit Sorge und verunsichert auf die hünenhafte, in der braunen Parteiuniform gekleidete Gestalt, die sich am Türrahmen seines Arbeitszimmers zeigt und deren rechter Arm stramm in die Höhe ragt.

Mit der schwachen Andeutung eines „deutschen Gegengrußes“ und ein hastig heruntergemurmeltes „...tler!“ steht er rasch auf und geht auf den Besucher zu. „Treten Sie doch näher, Herr Ortsgruppenleiter. Was verschafft mir die Ehre?“

„Na ja, Herr Dr. Struwe, da ist etwas von besonderer Wichtigkeit, über das ich meine, mit Ihnen sprechen zu müssen.“

Dr. Struwe schluckt. Er ist nach dieser Eröffnung nicht gerade beruhigt. Unsicher blickt er in das großflächige Gesicht mit der hohen Stirn und den eiskalten, glasig blauen Augen, die ihn durch die runden Gläser, die von einer sehr dünnen, schwarzen Brillenfassung gehalten werden, höhnisch ansehen.

„Ist es etwas Privates oder bin ich in meiner Eigenschaft als Amtsrichter gefragt?“

„Nun, lieber Struwe, kein Grund zur Besorgnis“, versichert ihm der Besucher mit einem schwach angedeuteten Lächeln. „Gewissermaßen trifft wohl beides zu. Können wir uns nicht setzen?“

„Aber selbstverständlich, Herr Straßner. Entschuldigen Sie, dass ich Ihnen nicht schon gleich einen Stuhl angeboten habe. Ich ...“

„Aber warum denn so förmlich, lieber Struwe. Wir sind doch Freunde und Parteigenossen. Nun machen Sie sich bloß keine Sorgen, ich meine wegen meines unangemeldeten Erscheinens. Ich wollte nur mit Ihnen einige Gedanken austauschen, das ist alles.“

Die beiden Männer sind hinüber zum Schreibtisch gegangen und sitzen sich jetzt gegenüber.

„Nun gut. Worum handelt es sich?“

„Sie müssen mich über einige Einzelheiten aufklären, mein lieber Struwe, bevor ich Ihnen alles erzähle. Sie kennen doch– oder besser, so habe ich mir sagen lassen, Sie kannten– eine gewisse Frau Clarissa Keller, damals ein Fräulein von Steinberg, nicht wahr?“

Das blasse Gesicht des Amtsrichters wird noch blasser. Seine Haut wirkt fast durchsichtig und es bilden sich Schweißperlen an seinem Haaransatz.

„Ja, Herr Straßner, gewissermaßen stimmt es. Aber was ...?“ „Nur Geduld, mein Lieber, haben Sie doch noch etwas Geduld. Wie gut kannten Sie diese Dame?“

Willibald Struwe schluckt abermals. Gute Frage. Wie gut kannte er Clarissa von Steinberg wirklich? Er war in dieses bildhübsche junge Mädchen sehr verliebt gewesen. Er hatte Clarissa den Hof gemacht, hatte mit allen Mitteln versucht, ihr seine Liebe zu erklären. Aber nie war er so richtig an sie herangekommen. Immer wieder war in ihm das Gefühl aufgekommen, dass sie ihn nicht für voll nahm und sich sogar über ihn lustig machte. Sicher, sie hatten bei den Tanzvergnügen im Colosseum öfter miteinander getanzt und sich angeregt unterhalten. Einmal, daran kann er sich noch genau erinnern, hatte er bei einer dieser Gelegenheiten sogar das sichere Gefühl verspürt, dass er nun endlich fast am Ziel seiner Wünsche angelangt sei. Und kurz darauf, als er erfuhr, dass Clarissa und ihr ungehobelter Vetter sich verlobt hatten, traf ihn diese Nachricht, als ob man ihm mit einem riesigen Holzprügel auf den Schädel geschlagen hätte. Wie konnte sich nur seine edle Clarissa in diesen wilden und unkultivierten Mann verliebt haben? Wie war es möglich, dass sie diesem Nichts von Heiko ihm, dem Amtsrichter von Oldenmoor, vorgezogen hatte? Ihre Entscheidung war ihm völlig unerklärlich. Er hatte sogar versucht, sich mit ihr zu treffen, um eine Begründung für ihr Verhalten zu erbitten. Einmal hatte er sie am Markt gesehen, als sie im Begriff war, das Café Petersen zu betreten. Er folgte ihr, schlich sich aber eilends davon, als er sah, dass sie sich an den Tisch zu Heiko Keller setzte. Da gab er endlich auf. Er wurde sogar krank und ließ sich für einige Wochen vom Dienst beurlauben. Er hatte diesen Verlust und die Verletzung seiner Gefühle bis zum heutigen Tage nicht überwinden können. So manches Mal befielen ihn wilde Träume, in denen er seinen Nebenbuhler im wütenden Kampf besiegte und die untreue Geliebte aus seinen Fängen befreite.

Die kalte Stimme des Ortsgruppenleiters holt Dr. Struwe in die Gegenwart zurück: „Ich hatte Sie gefragt, wie gut Sie diese Dame kannten!“

„Nun ja ... Ich habe ihr vor einigen Jahren den Hof gemacht und sie gelegentlich getroffen. Wir tanzten, unterhielten uns ... Eben wie das so ist, wenn man einer jungen Dame den Hof macht.“

„Aber, um es klar und deutlich zu sagen, sie hat Ihnen einen Korb gegeben und diesen Keller, Heiko Keller, geheiratet, nicht wahr?“

Durch die brutale Offenbarung dieser Wahrheit gedemütigt, blickt Dr. Struwe betroffen auf den großen Tintenfleck auf seiner Schreibunterlage. Er bleibt stumm und nickt.

„Dieser Keller ist doch ein Vetter von ihr, oder?“

„Tja, ein Großvetter. Soweit ich mich erinnere, war seine Mutter eine Cousine von Clarissas Vater, Hans-Peter von Steinberg.“

„Und Kellers Vater? Wissen Sie irgendetwas über dessen Vater?“

„Ich habe einmal munkeln gehört, dass er ein Bohemien war, so ein dahergelaufener Kunstmaler. Ich glaube kaum, dass es bekannt sein dürfte, woher er kam. Er hat damals jenes Fräulein von Aulendorf gegen den Willen der Familie geheiratet.“

„Elisabeth, wenn ich richtig informiert bin?“

„Ihr Name war mir nicht geläufig, sie kann durchaus Elisabeth geheißen haben. Nun gut, er heiratete sie und nach einiger Zeit zogen sie fort aus Oldenmoor, ich glaube nach Kiel. Später erzählte man sich, dass Frau Kellers Mutter sie und ihren Sohn zurück nach Oldenmoor holte, als der Maler seine Familie verlassen hatte. Nach einigen Jahren nahm sich ... ach ja, Elisabeth ... Elisabeth nahm sich das Leben. Der Junge wuchs bei den von Steinbergs auf.“

„Ja, ja, so ähnlich habe ich diese Geschichte auch schon gehört. Aber mich interessiert vor allem der Vater dieses Heiko Keller. Wissen Sie, was aus ihm geworden ist?“

Dr. Struwe denkt angestrengt nach. „Nein. Aber man könnte ja mal in seinen Heiratsakten nachsehen, woher er stammt, vielleicht würde das helfen.“

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, das ist keine schlechte Idee.“

„Darf ich fragen, warum Sie sich so sehr für diesen Mann interessieren?“

„Also gut. Ich hatte Ihnen ja versprochen, diese Angelegenheit zu erläutern. Sie kennen doch die Großbäckerei dieses widerlichen Polacken Rembowski. Heiko Keller ist dort anscheinend leitender Angestellter oder sogar Geschäftsführer.“

Dr. Struwe stimmt nickend zu.

„Die neuen Gesetze, die der Führer zum Schutze des deutschen Volkes erlassen hat, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erläutern. Sie sind sicher mit mir einer Meinung, dass demzufolge ein für Oldenmoor so wichtiges Unternehmen wie diese Bäckerei unmittelbar in reine, deutsche Hände zu überführen ist und nicht weiter von einem dieser Untermenschen geführt werden darf. Da die Bäckerei andererseits voll funktionsfähig gehalten werden muss– das Stopfen vieler Münder hängt davon ab–, dachte ich daran, das Ganze in die Hände dieses Heiko Keller zu legen, der ein recht tüchtiges Bürschlein zu sein scheint. Jedoch ...“

Dr. Struwe fühlt in seinem Inneren das Aufkommen einer heimlichen Schadenfreude. „Ach so, Herr Ortsgruppenleiter, ich glaube zu verstehen. Sie hegen ernsthafte Zweifel an der rein arischen Herkunft dieses Heiko Keller?“

„Wohl, wohl, lieber Struwe. Auch das. Außerdem fällt unangenehm auf, dass er bisher nicht in die Partei eingetreten ist, obwohl ich ihn persönlich mehrmals dazu aufgefordert habe. Eine derart wichtige Funktion könnte selbstverständlich nur einer vollends vertrauenswürdigen Person übertragen werden.“

„Gut, Herr Ortsgruppenleiter. Ich werde meine Nachforschungen anstellen und Ihnen alsbald berichten.“

Nach erneutem Austausch der üblichen Grußformeln trennen sich die beiden Männer.

Als der Besucher fort ist, eilt Dr. Willibald Struwe mit beschwingtem Gang an ein Wandschränkchen und entnimmt ihm einen größeren Schlüssel. Mit diesem in der Hand geht er hämisch grinsend in Richtung Aktenkeller.

* * *

Silke kniet vor dem großen Regal in Heikos Arbeitszimmer und staubt die zahlreichen Bücher ab. Sie entnimmt jeweils einen Band und stellt ihn nach der Reinigung sorgfältig an seinen Platz zurück, bevor sie den nächsten reinigt. Ab und zu öffnet sie das eine oder andere Buch, blättert darin und legt es kopfschüttelnd zurück. Die verschiedenen Werke Tucholskys, Erich Mühsams, Remarques, Kellermanns und vor allem „Das Kapital“ von Karl Marx entgehen neben den zahlreichen Büchern in verschiedenen Fremdsprachen nicht ihrer Aufmerksamkeit.

Als das Hausmädchen seine Arbeit nach eineinhalb Stunden beendet hat, bleibt es für einige Augenblicke unentschlossen vor dem Regal stehen. Es geht an den Schreibtisch, entnimmt ein Blatt Papier aus einer Schreibmappe und einen Bleistift aus einem runden Topf. Danach geht Silke an das Regal zurück und beginnt jene Bücher aufzulisten, die ihr besonders aufgefallen sind.

Sie ist derart in ihre Arbeit vertieft, dass sie nicht bemerkt, wie sich hinter ihr die Tür öffnet und Clarissa im Türrahmen erscheint. Clarissa verharrt wie versteinert, als sie diese Szene wahrnimmt. Nach einigen Sekunden schließt sie sehr behutsam und leise die Tür. Sie ist unbemerkt geblieben.

Nachdem Silke die Auflistung vervollständigt hat, faltet sie das beschriebene Blatt Papier sorgfältig zusammen und versteckt es unter dem Kittel in ihrer Bluse. Sie legt den Bleistift an seinen Platz zurück und verlässt eilig das Arbeitszimmer.

* * *

„Ich mache mir große Sorgen, Annette.“

Während er diese Worte zu seiner Frau spricht, geht Hans-Peter von Steinberg im Esszimmer des Herrenhauses unruhig auf und ab, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Der gut gekleidete, grau melierte Mittfünfziger mit den buschigen Augenbrauen macht ein sorgenvolles Gesicht.

„Weshalb, Hans-Peter? Was hast du?“

„Man hat heute in aller Herrgottsfrühe Friedrich Winkler, den Redakteur des Couriers, verhaftet.“

„Wieso, Hans-Peter, was hat er denn verbrochen?“

„Man weiß nichts Genaues. Alles nur Mutmaßungen. Ich habe es heute Vormittag von Detlef Bartels, dem Referendar in der Anwaltskanzlei von Dr. Looft, erfahren. Winklers Frau rief gegen neun Uhr sehr aufgeregt in der Kanzlei an. Zwei Männer der Geheimen Staatspolizei seien extra aus Berlin eingetroffen und hätten ihren Mann um sechs Uhr morgens geradewegs aus dem Bett verhaftet und mit unbekanntem Ziel mitgenommen. Bartels rief daraufhin Dr. Looft zu Hause an. Dieser machte sich sofort auf den Weg zu Frau Winkler, um Näheres zu erfahren. Viel soll dabei nicht herausgekommen sein. Nur dass man seine Papiere durchwühlt und verschiedene Bücher aus seiner Bibliothek konfisziert habe– mit der Bemerkung, es handele sich bei diesen um staatsfeindliche Werke. Als Winkler von den beiden Männern Aufklärung über den Grund seiner Verhaftung erbat, schlugen sie ihn brutal zusammen. Der eine brüllte: ‚Das wirst du noch früh genug erfahren, du verräterische Sau!‘ Und der Frau riet man, unbedingt zu schweigen, wenn ihr daran gelegen sei, ihren Mann wiederzusehen. Was sind das bloß für Zeiten, mein Gott!“

„Und was ist danach geschehen?“, murmelt Frau Annette sehr leise, ergriffen von der Schilderung ihres Gatten. Sie ist eine gutmütig anmutende, vollschlanke Frauengestalt und mit jener klassischen Schönheit gesegnet, der das wahre Alter kaum anzusehen ist.

Hans-Peter setzt sich in den Sessel am großen Eichentisch und erzählt: „Dr. Looft rief bei der hiesigen Polizei an. Zunächst tat man so, als ob man von der ganzen Angelegenheit nichts wisse. Als er später mit einem der Polizisten unter vier Augen sprach, gab dieser zu, etwas gehört zu haben– ganz inoffiziell, versteht sich. Ortsgruppenleiter Straßner hatte sich an einem Kommentar Winklers zu den Rassengesetzen im Courier gestoßen und sich daraufhin schriftlich an das Reichspropagandaministerium gerichtet, um bei Dr. Goebbels persönlich Beschwerde gegen Winkler einzulegen. Wahrscheinlich haben sie ihn deswegen abgeholt. Der Courier musste vorübergehend sein Erscheinen einstellen.“

Hans-Peter macht eine Pause. Er sieht seine Frau mit feuchten Augen an.

„Annette, ich beginne zu ahnen, dass ich– nein, wir alle– einen schwerwiegenden Denkfehler begangen habe, für den wir noch bitter bezahlen werden. Ich gebe zu, ich habe damals den Tag herbeigesehnt, an dem hier jemand an die Regierung kommt, der endlich wieder einmal für Recht und Ordnung sorgt, der jenem widerlichen und sinnlosen politischen Hin-und-her-Gerangel der Weimarer Republik ein Ende setzt. Ja, ich gebe auch zu, dass ich damals in Adolf Hitler jenen Mann sah, der dies schaffen könnte, und dass ich deswegen bei jeder Wahl meine Stimme für ihn abgegeben habe.“

Nach einer kurzen Denkpause fährt Hans-Peter fort: „Ich erinnere mich an die wütende Diskussion, die Heiko und ich am Tage der Machtergreifung führten, weil er mein Handeln wahnsinnig und verantwortungslos nannte. Heute muss ich kleinlaut zugeben, dass Heiko wahrscheinlich recht hatte. Er hat damals so ziemlich genau das vorausgesagt, was wir alle heute erdulden müssen: die totale und gnadenlose Unterwerfung eines jeden Menschen. Der Preis, der uns für solch eine Friedhofsordnung und für dieses Unrecht einmal in Rechnung gestellt werden wird, wird ungeheuerlich sein. Und das Schlimmste ist– und auch da muss ich Heiko heute recht geben–, dass kaum jemand gemerkt hat, wie ahnungslos das deutsche Volk in sein düsteres Schicksal hineingeschlittert ist. Da stehen sie bei jeder Gelegenheit und jubeln fanatisch jenen zu, die sie ins Verderben führen. Am Anfang habe auch ich mitgejubelt. Heute ist mir das Jubeln gründlich vergangen und mir wird jedes Mal schlecht, wenn diese Massenhysterie ausbricht. Die Wenigen, die noch klar denken und die bittere Wahrheit durchschauen und noch dazu den Mut aufbringen, laut zu warnen, werden als Volksschädlinge erbarmungslos beseitigt. Nach der damaligen Auseinandersetzung mit Heiko habe ich mir die Mühe gemacht, Hitlers ‚Mein Kampf‘ sehr aufmerksam zu lesen. Wenn der das alles in die Tat umsetzt, was er sich vorgenommen und darin niedergeschrieben hat, dann gnade uns Gott!“

„Konnte denn Dr. Looft nichts ausrichten?“, fragt Frau Annette ihren Mann.

„Detlef Bartels sagte mir, er habe gehört, wie Dr. Looft zunächst mit der Reichsanwaltskammer in Berlin telefoniert habe, um sich beraten zu lassen. Annette, begreif doch, hier hat jeder Angst, es herrscht der reinste Terror! Wenn irgendjemand etwas Falsches tut oder sagt, blüht ihm das Gleiche. Auch wir müssen jetzt verdammt vorsichtig sein!“

Pause.