Leise Musik aus der Ferne - Manfred Eisner - E-Book

Leise Musik aus der Ferne E-Book

Manfred Eisner

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Beschreibung

n einer Hamburger Kneipe treffen wir auf einen südamerikanischen Schriftsteller, der uns eines seiner Werke vorliest: einen ursprünglich Anfang der 30er Jahre in Brasilien spielenden Roman, den er zwischenzeitlich vom Portugiesischen in die deutsche Sprache übersetzt hatte. Als Ort der Handlung für seine nunmehr hiesigen Akteure wählte er eine imaginäre Kleinstadt in Schleswig-Holstein. Im humorvoll beschriebenen, typisch norddeutschen Kleinstadtmilieu jener Zeit und vor der geschichtlichen Zeitkulisse der schwindenden Weimarer Republik nebst den düsteren Vorboten derer üblen Nachfolger erlebt die junge Grundschullehrerin Clarissa von Steinberg den stetigen finanziellen und moralischen Verfall ihrer vormals so wohlhabenden und einflussreichen Familie, begleitet von besonderem Unbehagen über die sich zunehmend zuspitzende politische Lage. Missverstandene Tradition, Hochmut und Vorurteile versperren ihren Eltern und nahen Verwandten die Sicht für die trübe Realität und ihre desolate Lage. In der jungen Frau keimen Zweifel und Fragen auf, die sie gelegentlich - mangels eines dienlichen Gesprächspartners - ihrem Tagebuch anvertraut und im Dialog mit diesem zu beantworten sucht. Liebe, die noch keine genauen Formen angenommen hat, erklingt wie leise Musik aus der Ferne, hat sie im Gedichtsband ihres Lieblingsautors gelesen. Dieser Vers beschäftigt sie, weil sie ihn - noch nicht - zu begreifen vermag. Ihr Vetter Heiko, ein Sonderling, der zudem als schwarzes Schaf der Familie gilt, ist ihr anfänglich ein unbegreifliches Rätsel, dessen Lösung sich ihr erst erschließt, als es zu einer plötzlichen Begebenheit kommt, die alles auf den Kopf stellt. Der Autor: Manfred Eisner, Jahrgang 1935, geboren in München, erlebte Kindheit und Jugend als Emigrant in Südamerika und kehrte erst 1957 nach Deutschland zurück. Er studierte Lebensmitteltechnologie im damaligen West-Berlin und war in diesem Beruf bis 1988 als Angestellter und noch bis 2009 freiberuflich als Industrieberater tätig. Er hielt weltweit Vorträge und schrieb zahlreiche Artikel, die - ebenso wie sein bekanntes Fachbuch - in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Seit 1981 wohnt er mit Ehefrau Anke in einer denkmalgeschützten Kate am Elbdeich in Schleswig-Holstein.

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Manfred Eisner

Leise Musik aus der Ferne

Roman

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2013

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Copyright (2013) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Über den Autor

Danksagung

Wie der Zufall so spielt

1. Clarissa

2. Erinnerungen

3. Geisterstunde

4. Alltag

5. Sonntag

6. Gedanken

7. Eintönigkeit

8. Buß- und Bettag

9. Sonnabend

10. Der Ball

11. Tante Alexandra

12. Hausmusik

13. Familiendünkel

14. Aus Clarissas Tagebuch

15. Das Idol

16. Gildefest

17. Abstieg

18. Heiko

19. Aussprache

20. Onkel Suhl

21. Frühling

22. Elend

23. Das Testament

24. Neuanfang

25. Musik aus der Ferne

26. Epilog

Der Autor

Manfred Eisner, Jahrgang 1935, geboren in München, erlebte Kindheit und Jugend als Emigrant in Südamerika und kehrte erst 1957 nach Deutschland zurück. Er studierte Lebensmitteltechnologie im damaligen West-Berlin und war in diesem Beruf bis 1998 als Angestellter und noch bis 2009 freiberuflich als Industrieberater tätig. Er hielt weltweit Vorträge und schrieb zahlreiche Artikel, die– ebenso wie sein bekanntes Fachbuch– in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Seit 1981 wohnt er mit Ehefrau Anke in einer denkmalgeschützten Kate am Elbdeich in Schleswig-Holstein.

Lieber Leser,

es gibt, zweifelsohne, unzählige Liebesgeschichten. Diese hier möchte ich aber erzählen, weil mir sehr daran gelegen ist, dass deren Zeitkulisse noch mal in Erinnerung gebracht wird. Wir erleben leider eine Zeit, in der offensichtlicher Fremdenhass gegenüber unseren ausländischen Mitbürgern abermals ausbricht. Haben wir denn aus der Geschichte wirklich nichts gelernt?

Mein verbindlicher Dank an meine Familie sowie an alle gleichgesinnten Freunde.

Wie der Zufall so spielt

An jenem kaltfeuchten und nebligen, späten Herbstnachmittag war ich in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofes mit hochgeschlagenem Regenmantelkragen neugierig vor einem Plakat am Deutschen Schauspielhaus stehen geblieben, um mir die Übersicht des Spielplans anzusehen. Ganz plötzlich begann es heftig zu regnen und ich suchte rasch Unterschlupf in der ersten offenen Tür, die sich mir in der Nähe bot.

Die feuchte Kneipenwärme schlug sich augenblicklich auf meine Brillengläser nieder. Während ich die Brille mit dem Taschentuch reinigte, sah ich mich in dem von Rauch benebelten Lokal um. Sämtliche Tische waren besetzt und auch an der Theke herrschte reger Andrang. Lesend saß ein einsamer Gast an einem Ecktisch im Hintergrund vor einem halbvollen Bierglas. Ich trat an ihn heran und fragte, ob ich an seinem Tisch Platz nehmen dürfe. Er blickte von dem abgegriffenen, dicken Heft auf und nickte mir freundlich zu.

Ich hängte meinen nassen Regenmantel an einen Garderobenhaken und setzte mich an seinen Tisch. Bei dem schwitzenden Kellner, der gerade eilig vorbeihuschte, bestellte ich ein Alsterwasser. Danach wandte ich mich meinem Tischnachbarn zu, der sich inzwischen wieder seiner Lektüre widmete. Es war ein älterer, grauhaariger Mann. Seine leicht gebräunte Haut ließ den Südländer vermuten. Als ich ihn vorher angesprochen hatte, waren mir die dunklen Augen aufgefallen, die mich mit einem lebhaften Blick unter seinen buschigen, ebenfalls ergrauten Augenbrauen aufmerksam gemustert hatten. Er hatte ein von den Jahren gegerbtes, interessant wirkendes Gesicht und seine Stirn war von tiefen Falten zerfurcht. Diese verliefen so gleichmäßig wie mit einem Pflug auf dem Acker gezogene Gräben. Trotz der muffigen Wärme im Lokal trug er einen leger um den Hals geschlungenen roten Wollschal und einen ziemlich abgetragenen grünen Lodenjanker, unter dem ein dunkelgrüner Rollkragenpullover zum Vorschein kam.

Der Kellner brachte mir das Alsterwasser. Der Mann blickte von seiner Lektüre auf und ich prostete ihm zu. Freundlich lächelnd griff er nach seinem Bierglas und hob es mir entgegen. Hastig trank ich einen langen Schluck.

„Haben Sie großen Durst?“, fragte er mit verständnisvollem Schmunzeln. Seine Stimme war tief und männlich und klang sehr melodisch. Obwohl seine Aussprache durchaus korrekt war, hörte ich einen unverkennbar ausländischen Akzent heraus.

„Oh, ja, sogar einen riesigen!“, gab ich aufrichtig zu und stellte mein Glas auf dem Bierdeckel ab. „Leben Sie schon lange in Deutschland?“

„Schon seit fast fünf Jahren“, erwiderte er, indem er sein Heft zuklappte und es auf den Tisch legte, wohl als freundliches Zeichen dafür, dass er sich gern mit mir unterhalten wollte.

„Sie sprechen sehr gut deutsch“, stellte ich der Höflichkeit halber fest.

„Wissen Sie, ich komme aus Brasilien, aus dem Staate Rio Grande do Sul, wo es schon seit vielen Generationen eine Menge deutschstämmiger Brasilianer gibt. Ich bin dort in einer der kleineren Städte geboren und aufgewachsen, besuchte aber im Ort eine Schule, in der die deutsche Sprache als Wahlfach bis zum Abitur belegt werden konnte. Dafür hat mein Vater gesorgt, denn er hatte eine besondere Vorliebe für deutsche Komponisten und Schriftsteller. Er gab mir sogar einen deutschen, na ja, sagen wir eher, einen fast deutschen Vornamen. Da wir schon bei diesem Thema angelangt sind“, sagte er, indem er sich förmlich erhob und mir seine Hand entgegenhielt, „darf ich mich doch vorstellen: Érico Veríssimo.“

„Welch ein Zufall!“, entgegnete ich vergnügt und ergriff die dargebotene Hand. „Mein Vater hieß ebenfalls Erich.“ Ich stellte mich vor.

„Sehr angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich weiß, hier sagt den Leuten mein Name nicht viel. Ich bin Schriftsteller, und in meiner Heimat sogar ein ziemlich bekannter“, sagte er, nicht ohne einen gewissen Stolz.

„Ach“, sagte ich, „das ist ja sehr interessant. Es ist doch für einen Schriftsteller sicherlich sehr beschwerlich, außerhalb seines heimatlichen Sprachgebietes zu wirken. In diesem Zusammenhang fällt mir gerade Stefan Zweig ein. Kurz nach der Machtergreifung durch die Nazis und dem Anschluss Österreichs zog er es vor, Deutschland zu verlassen und fand Zuflucht in Brasilien. Obwohl er dort sein wunderbares Werk ‚Brasil‘ schrieb, als Dank an Ihr Land, das ihm so gastfreundlich Asyl gewährte, konnte er die Trennung von seinem eigenen sprachlichen Umfeld nie verwinden, war voller Heimweh und nahm sich schließlich das Leben.“

„Ja, das war wirklich eine tragische Geschichte. Ich bin ihm leider nicht persönlich begegnet, weil er in Petropolis bei Rio wohnte, sehr weit weg von meiner Stadt. Allerdings war er mir als Autor schon damals bestens bekannt und ich hatte die meisten seiner Novellen und Biografien mit Begeisterung gelesen.“ Er machte eine Pause. „Da gibt es auch eine gewisse Parallelität der Ereignisse“, sagte er dann: „Sehen Sie, auch ich musste leider aus ähnlichen Gründen wie Stefan Zweig meine Heimat verlassen!“

„Wieso?“ Ich sah ihn verwundert an. „Wurden Sie etwa auch verfolgt? In Brasilien?“

„Bedauerlicherweise ja! Sicherlich wissen Sie es, mein Land leidet schon seit Jahren unter einer Militärdiktatur. Kaum jemand im Ausland kann es ahnen, wie gemein und brutal diese Schergen jeden verfolgen, der es wagt, gegen ihre Willkür aufzumucken und etwa ihre Schandtaten öffentlich beim Namen zu nennen. Wer nicht kuscht, muss hart darunter leiden! Als Schriftsteller ist man natürlich besonders gefährdet, außer man ist gewillt, sich denen unterzuordnen oder wenigstens folgsam zu schweigen. So musste ich wegen eines recht kritischen politischen Artikels fliehen, den ich in einer der wenigen damals noch erscheinenden, frei denkenden Zeitungen verfasst hatte.“

Mehrfach hatte ich bei seinen Worten zustimmend genickt. Auch mir war hinreichend bekannt, wie wenig zimperlich lateinamerikanische Diktatoren mit ihren Gegnern umzugehen pflegten.

„Glücklicherweise“, setzte er fort, „wurde ich von einem Vetter, einem Polizisten, noch gerade rechtzeitig vor meiner bevorstehenden Verhaftung gewarnt. In derselben Nacht verließ ich mein Haus und machte mich zu Fuß auf den Weg. Nach einer langen Woche, während der ich mich tagsüber versteckt hielt und nur bei Anbruch der Dunkelheit auf die Straße wagte, überschritt ich heimlich die Grenze zu Uruguay, das ja an den Staat Rio Grande do Sul angrenzt. Dort war ich in Sicherheit! Mir wäre es mit Bestimmtheit sehr übel ergangen, hätten mich diese bösen Buben erwischt!“

Wir schwiegen. Diese Schilderung hatte offensichtlich in ihm die ganze Tragödie seines Schicksals aufgewühlt, denn er schnaufte heftig und aufgeregt. Seine Augen verrieten die aufgestaute Wut und den Hass auf seine Verfolger. Als ob er einen bitteren Geschmack in seiner Kehle wegwaschen wollte, leerte er das Bierglas mit einem Schluck.

Ich tat es ihm gleich. Dann winkte ich den Ober heran und bestellte für uns beide nach.

„Und wie kamen Sie dann hierher?“, fragte ich neugierig. Sein ärgerlicher Blick wich ebenso rasch, wie er aufgekommen war.

„Für einige Monate lebte ich in Montevideo. Dort ergab sich jedoch für mich keine Möglichkeit, Fuß zu fassen. Die dortige Landessprache ist zwar Spanisch, die ich auch spreche und verstehe, da sie dem brasilianischen Portugiesisch ziemlich ähnlich ist.“ Er lächelte: „Wir nennen dort aus Spaß die bunte Mischung aus beiden Sprachen ‚Portuňol‘. Daher beherrsche ich das Kastilianische eben doch nicht gut genug, um in dem Stil, der mir eigen ist, Essays oder Romane zu schreiben. Ich schrieb also zunächst in meiner Muttersprache, fand aber in Brasilien keinen Verlag, der es nach meiner Flucht gewagt hätte, meine im Exil geschriebenen Werke zu publizieren. Anfänglich erhielt ich noch eine kleine finanzielle Unterstützung seitens meiner Familie, aber die hatte es auch ziemlich schwer und so konnte es einfach nicht weitergehen. Damals kam mir der Zufall zu Hilfe, in Form einer Begegnung mit dem Kulturattachée der Deutschen Botschaft. Dieser Herr freute sich sehr, mich kennenzulernen, denn ich war ihm als Autor bekannt. Als er mehrere Jahre an der Botschaft Ihres Landes in Brasilien gewesen war, hatte er einige meiner Bücher gelesen. Mit seiner freundlichen Unterstützung und mit Hilfe des Goethe-Instituts erhielt ich bald darauf ein Stipendium von einer privaten Stiftung für Fortbildung von Künstlern, um in Deutschland für zwei Jahre meine Sprachkenntnisse zu verbessern.“

Er machte eine kurze Pause und wir tranken aus den Gläsern, die uns der Kellner zwischenzeitlich gebracht hatte. Dann fuhr er fort: „So kam ich vor fünf Jahren nach Deutschland. Erst lebte ich in Bonn. Später, nach Beendigung des Studiums, zog ich nach Hamburg. Hier hatte man mir eine Stellung als Übersetzer für Portugiesisch angeboten. Ich kann davon eigentlich gut leben. Ganz bescheiden, keine großen Sprünge, verstehen Sie? Aber ich bin zufrieden. Ein alter Mann wie ich hat keine extravaganten Bedürfnisse mehr!“

„Schreiben Sie noch?“

„Oh, ja, leidenschaftlich gern. Und nicht nur auf Portugiesisch. Weil Sie mich gerade fragen: Sehen Sie, hier“, sagte er, indem er auf das dicke Heft auf dem Tisch deutete: „Ich habe mich sogar schon in der deutschen Sprache versucht!“

„Und was ist es, etwa ein Roman?“, fragte ich gespannt.

Veríssimo nickte lächelnd. „Ja, genau! Ein Roman. Und für mich sogar ein ganz besonderer. Aber ich weiß nicht, ob Sie das überhaupt interessieren wird.“

„Doch, doch, erzählen Sie, bitte!“, bedrängte ich ihn. Er hatte mich tatsächlich neugierig gemacht.

„Also gut. Die Originalfassung dieses Romans habe ich schon vor vielen Jahren, genauer gesagt im Jahre 1934, in Brasilien geschrieben, um an einem Literaturwettbewerb teilzunehmen. Er wurde prämiert und das Buch wurde sogar ein Erfolg.“ Er machte eine Pause und setzte nachdenklich fort: „Vielleicht wissen Sie, wie es in der Gedankenwelt des Autors einer von ihm verfassten Geschichte geht. Mit der Zeit identifiziert er sich dermaßen mit den Personen seines Werkes, dass diese für ihn an Realität gewinnen, so als ob sie in Wirklichkeit existierten. Er beschäftigt sich mit ihnen derart intensiv, bis sie seine Gedanken vollkommen beherrschen. Er kommuniziert und lebt sozusagen Tag für Tag mit ihnen. So ging es auch mir mit meiner ‚Musica ao Longe‘. Vor etwa einem Jahr kam mir zunächst die Idee, dieses Buch ins Deutsche zu übersetzen. Aber dann fand ich, dass es für den hiesigen Leser wohl kaum besonders interessant sein würde. Die damalige Zeit liegt weit zurück und der Ort und die Hintergründe der Handlung würden hierzulande kaum Anklang finden. Daher ließ ich diesen Gedanken fallen.

Dann geschah plötzlich in meiner Gedankenwelt eine eigenartige Metamorphose: Meine Hauptfiguren, Clarissa und Vasco, spukten immer heftiger in meiner Fantasie herum, und siehe da, eines Tages verwandelten sie sich in Clarissa und Heiko! Und so entstand nach und nach diese ‚Leise Musik aus der Ferne‘.“ Er blätterte in dem abgegriffenen Heft. „Aus dem kleinen Städtchen Jacarecangá im Staate Rio Grande wurde Oldenmoor, irgendwo im Nordwesten Schleswig-Holsteins zwischen Marsch und Geest. Die stolze Sippe der Albuquerques wandelte sich in die herrschaftliche Familie von Steinberg; Seu Locadio Santarem, mein liebenswerter und schalkhafter Pseudoweise, schlüpfte in die Hülle von ‚Onkel‘ Harald Suhl. Aus dem italienischen Bäckersohn ‚Pé de Cachimbo‘ Gamba wurde sein polnisches Konterfei ‚Klumpfuß‘ Rembowski. Den anderen Romanfiguren erging es ebenso.“

Er trank einen Schluck und besann sich für einen Augenblick. Dann fuhr er fort: „Die geänderten Persönlichkeiten, der Umzug aus dem fernen Brasilien in die hiesige Umgebung, eine vollkommen anders geartete Welt, und, vor allem, der rundweg ungleiche zeitlichhistorische Hintergrund, der gerade in dem Deutschland der schicksalhaften neunzehnhundertdreißiger Jahre eine so bedeutende Rolle spielt, verliehen den Figuren und deren Rollen in meinem Roman eine besondere Eigendynamik, die allerdings, wie ich recht hoffen will, dem Charme meiner ursprünglichen Geschichte keineswegs geschadet hat.“

Ich hatte ihm aufmerksam zugehört und war tief beeindruckt. „Könnte ich mir vielleicht das Buch einmal ansehen?“, fragte ich darauf.

„Ich hätte eigentlich nichts dagegen“, antwortete er mit dem ihm so eigenen Schmunzeln. „Doch leider ist meine Handschrift ziemlich unleserlich und dieses Manuskript steckt voller Korrekturen. So ergibt es wirklich keinen Sinn!“

Während der folgenden Pause sah er mich an. Dabei musste er offensichtlich die Enttäuschung, die auf meinem Gesicht geschrieben stand, bemerkt haben, denn er fügte rasch hinzu: „Wenn Sie es aber wirklich möchten, kann ich Ihnen ein wenig daraus vorlesen.“

„Das finde ich sogar noch viel besser!“, sagte ich.

Der Schriftsteller klappte sein Manuskript auf und las mit melodischer Stimme vor.

1. Clarissa

Clarissa zeichnet mit Kreide jene Landschaft auf die Tafel, die ihre Schüler später nachzeichnen sollen. Ein Häuschen mit Tür und Fenstern auf einem Hügel, daneben eine mächtige Esche. Wie bei uns zu Hause, denkt sie im gleichen Augenblick, in dem sie den mächtigen Stamm und die Äste zeichnet. Dazu einen Weg, der sich durch die Landschaft schlängelt, um sich am Horizont zu verlieren. Kreidewölkchen auf dem schwarzen Tafelhimmel, eine runde und fette Sonne mit funkelnden Strahlen, ein kleiner Teich, in dem Enten schwimmen…

Clarissa geht einige Schritte zurück, um ihr Werk zu begutachten. Das Murmeln der Stimmen hinter ihr nimmt zu und ebbt wieder ab, wie Orgelmusik. Ein Stuhl fällt um. Explosives Lachen.

„Ruhe!“, ruft die Lehrerin, indem sie sich den Schülern zuwendet. „Passt jetzt gut auf und seht euch das Bild, das ich auf die Tafel gezeichnet habe, genau an.“

Alle Augen richten sich auf das schwarze Rechteck. Ein kleiner Finger zeigt zur Decke.

„Fräulein von Steinberg!“

„Was willst du, Hannes?“

„Wie kommt es, dass das Dach von dem Haus bis in die Wolken hineingeht?“

Gelächter. Clarissa unterdrückt ein Lächeln. „Pst! Ruhe!“, ruft sie streng. Und dann fährt sie mit einer weichen Stimme fort: „Nein, Hannes. Das Dach ragt nicht in die Wolken hinein. Wenn man ein Haus von Weitem ansieht, bekommt man zwar diesen Eindruck, und auch auf Bildern und Fotografien ist es immer auf diese Weise zu sehen. Es kann ja auch gar nicht anders sein.“

Hannes gibt nicht auf. „Warum nicht?“

„Weil es nicht anders geht.“

Eine andere Hand schnellt hoch.

„Was ist, Gisela?“

„Hat das Haus nicht auch einen Schornstein?“

Clarissa lächelt. „Möchtest du, dass ich einen Schornstein hinzufüge?“

Gisela nickt eifrig mit dem Kopf.

„Also zeichnen wir eben einen Schornstein hinzu.“ Sie baut einen Schornstein aus Kreidestrichen auf das Dach.

Noch ein piepsiges Stimmchen: „Es feh’t noch was, Fräu’ein ’ehrerin!“

„Also sag schon!“

„Der Rauch.“

„Ach so. Ja, du hast recht!“ Und bald steigt Rauch aus dem Kamin in die Wolken empor. „Fehlt noch irgendetwas?“

„Es fehlt!“

„Was denn?“

„Eine Kuh.“

Lachen.

Die Lehrerin wirft einen hilflosen Blick auf ihre Schüler.

„Um Gottes willen, Wiebke! Warum willst du denn ausgerechnet eine Kuh auf diesem Bild haben?“

„Weil mir Kühe so gut gefallen.“

„Na gut. Wir zeichnen also noch deine Kuh hinein…“

Sie wendet sich wieder der Tafel zu und fängt an, die Kuh zu skizzieren. Die Schnauze, die Hörner, den Nacken, den Körper, den Schwanz…

„Da fehlt noch etwas, Fräulein von Steinberg!“

„Sag, Jochen, was fehlt?“

„Der Titt!“

Lautes Lachen, Aufruhr.

Clarissa schreit: „Ruuuhe! Jochen, benimm dich!“

Jochen senkt die Augen.

Clarissa bittet um Aufmerksamkeit. „Jetzt schaut euch bitte alle diese Landschaft genau an. Danach werde ich das Bild löschen und jeder von euch wird es in seinem Heft aus dem Gedächtnis nachzeichnen.“ Sie lässt einige Minuten verstreichen. „Achtung, ich lösche jetzt.“

Sie nimmt den Schwamm und die Landschaft aus Kreidestrichen verschwindet in einem weißen Nebel.

„So, und jetzt los, alles zeichnet!“

Sie geht an ihr Pult zurück. Vom Podium aus sieht sie auf ihre Schüler herab, und als sich die kleinen Köpfe über die Hefte beugen, hat sie den Eindruck, als ob eine Vielfalt farbiger Früchte– blond, braun, rötlich und hier und da dunkel– auf den Wellen eines Stromes schwimmen würde.

Welch eigenartiger Vergleich! Früchte! Wer weiß wohl, was einmal aus diesen Kindern wird? Wie viele große Männer und Frauen der Zukunft sitzen hier auf ihrer Schulbank, mit der Bleistiftspitze an der Zunge, eifrig bemüht, die Landschaft aufs Papier zu zaubern, die ihnen das „Fräu’ein ’ehrerin“ auf der Tafel vorgezeichnet hat?

Clarissa versinkt in ihren Gedanken. Helles Licht scheint durch die Fenster. Der Vormittag altert dahin. Ein Kalenderblatt an der Wand verkündet, dass wir heute den 20. September 1931 haben. Eine Weltkarte behauptet, dass die Erde eine Kugel mit abgeflachten Polen sei. Von den anderen Klassen dringen markante Stimmen herüber: Lehrer, die laut sprechen. Die dunkle Stimme von Herrn Möller aus der Fünften, Heikes schrille Stimmlage aus der Zweiten.

Clarissa steigt vom Podium herab und wandert mit den Händen auf dem Rücken durch die Reihen der Schulbänke. Sie gewöhnt sich jetzt langsam an die Kleinen. In den ersten Tagen war es ihr sehr mulmig zumute: Sie stand zum ersten Mal allein vor einer Schulklasse und sie hatte sogar Hemmungen, laut zu sprechen. Sie wurde rot, wenn sie sprach. Diese kleinen Gesichter– einige ernst, andere boshaft oder gehässig, andere wieder anscheinend gleichgültig oder frech und alle insgesamt irgendwie geheimnisvoll– hielten sie stets in Alarmbereitschaft. Sie befürchtete, dass irgend so ein kleiner Lümmel sie beschimpfen würde oder dass sie sich alle weigern würden, ihre Anordnungen zu befolgen.

Ihre Ängste schwanden jedoch nach und nach. Jetzt ist sie Herr der Lage– natürlich nicht immer…! Die Namen der meisten ihrer Schüler kennt sie bereits auswendig. Sie mag sie schon sehr, als ob sie ihr gehörten, ihre Brüder und Schwestern, ihre Kinder wären…

Eine schwache Stimme ist zu hören: „Fräulein von Steinberg!“

„Was ist, Beate?“

„Wenn man nicht zeichnen können…“

„Kann, Beate, kann…“

„Wenn ich nicht eine Kuh zeichnen kann, darf ich dafür eine Katze zeichnen?“

„Du darfst.“

Clarissa wandert weiter durch die Klasse. Sie verweilt vor einem Fenster. Wie verschieden ist doch eine wirkliche Landschaft von der, die man mit Kreide auf eine schwarze Tafel malen kann! Unmöglich, den ungewöhnlich blauen Septemberhimmel, die überwiegend noch grünen, aber schon leicht gelblich schimmernden Blätter der Bäume, die dunkle Marscherde, die grünen Wiesen und die Häuser aus roten Backsteinen nur schwarz-weiß wiederzugeben… Aber um bei der Wahrheit zu bleiben: Die von Malern erzeugten Bilder sind manchmal doch sehr viel schöner als die echte Natur, ist es nicht so?

Es vergehen einige Minuten. Clarissa fühlt eine Leere im Magen. Hunger? Ihr Blick wendet sich zur Uhr: halb zwölf.

In ihren Gedanken läuft ein Kurzfilm ab: die Diele im Herrenhaus, der Papa, die Mama, Tante Therese, das Esszimmer, der gedeckte Tisch, die schmackhafte frische Suppe, die das Lenchen in ihrer Küche zubereitet hat.

„Fräulein von Steinberg! Ich kann die Sonne nicht malen… sie wird nicht rund!“

Clarissa setzt sich neben Petra auf die Bank, nimmt ihr den Bleistift aus der Hand und zeichnet in deren Heft eine schöne, runde Sonne auf den Himmel aus kariertem Papier.

Der Unterricht ist für heute zu Ende. Die Schule, denkt Clarissa, gleicht einem riesigen Drachen, der durch das Maul des Hauptportals die Kinder ausspeit, die schreiend in einem Reigen aus farbigen Kleidern herausströmen. Genau wie die Tiere in den Märchen…

Der Drachen aus rotem Backstein mit den zwanzig Augen seiner Fenster wohnt auf einem Hügel. Zu seinen Füßen liegt Oldenmoor in der strahlenden Mittagssonne: Die vielen dunklen Reetdächer, vermischt mit hell- und dunkelroten Dachpfannen, kontrastieren mit dem bereits herbstgefärbten Laub der Bäume, mit den abgeernteten und längst wieder gepflügten Feldern, mit dem Grün der Tannen und Fichten. Die mit Katzenköpfen gepflasterten Straßen sehen aus wie dunkle Narben im Körper der Kleinstadt. Hoch über den Dächern ragt der mit Grünspan überzogene Kirchturm auf dem Marktplatz hervor.

Clarissa wartet auf Heike. Während des Wartens denkt sie nach. Wenn die Felder ein Meer wären– die durch die Entwässerungsfleete durchzogene Marsch besteht eher mehr aus Wasser als aus Land–, dann wäre Oldenmoor eine Insel. Eine verlorene Insel. Ein kleines Eiland mit eigenartigen, komischen Bewohnern. „Onkel“ Suhl, Hein Piepenbrink, Herrn Johansens Tanzkapelle, das Colosseum, der „Bildpalast“– Herrn Ehlers’ Kino, das Café Petersen am Marktplatz…

Heike unterbricht Clarissas Gedankenausflug: „Wollen wir, Clarissa?“

„Ja, lass uns gehen!“

Gemeinsam gehen sie den Weg von der Schule hinunter in die Stadt. Heike, mit ihrer verbogenen Brille auf der roten, glänzenden Nase, beschwert sich unaufhörlich über ihre Klasse. Diese unruhigen, geschwätzigen, schlecht erzogenen Gören! Nicht zum Aushalten! Sie hat eine metallische Stimme, die sich anhört wie energische, rhythmische Hammerschläge. Sie spricht mit einem autoritären, belehrenden Gehabe, das manchen von denen, die immer unterrichten, so eigen ist. Stets sitzen ihre Strümpfe schief– Wollstrümpfe, dünne Beine, ausgetretene Schuhe. Trotzdem, Clarissa mag sie. Sie ist ihr die liebste ihrer Kollegen. Nicht eingebildet, gerade heraus, einfach. Und außerdem verlangt sie nicht einmal, dass man viel spricht: Sie sprudelt einfach los, und es stört sie nicht im Geringsten, wenn man ihr weder zuhört noch antwortet.

„Das Pensum ist ein Wahnsinn! Das Schuljahr ist viel zu kurz, um das alles zu schaffen!“ Sie spricht mit übertriebenem Staccato, als ob sie unsichtbare Nägel in die Luft einschlagen wolle. „Ich möchte gern denjenigen sehen, der das alles schaffen kann!“

Heike spricht weiter, ohne nach rechts oder nach links zu sehen, so als ob sie sich bei den Wolken beschweren wolle. Clarissas Gedanken wandern auf eigenen Wegen.

Die beiden Freundinnen biegen in die Deichstraße ein. Mit lautem Geratter fährt ein Automobil an ihnen vorbei. Ein Hund hebt das Bein und hinterlässt flüssige Arabesken an einem Lichtmast. Die Sonne wird von einer dicken Wolke verschluckt. Sie gehen weiter. Die blitzblanken Glasfenster der Häuser glitzern in der Sonne, die jetzt wieder vom blauen Himmel herunterscheint.

„Hast du die neuen Hüte im Modehaus Suhr gesehen?“

Clarissa schüttelt den Kopf: Sie hat nicht. Sollte etwa Heike diese komische neue Mode mögen, mit dem winzigen Kopfteil und den riesigen, weit herabhängenden Krempen, diese Hüte, die man so ganz hoch oben auf dem Scheitel trägt? Nein, nicht möglich! Heike trägt immer nur Baskenmützen. Einfach und billig.

Sie gehen jetzt schweigend nebeneinander her. In der Rathausstraße begegnen sie mehreren Passanten, die man gewohnheitsmäßig grüßt und die ebenso automatisch zurückgrüßen. Gegenüber dem Colosseum steht Frisör Johansen, der auch die Tanzkapelle leitet, vor seiner Tür und blättert in der Lokalzeitung. Sie sind an Heikes Wohnhaus angelangt.

„Tschüss!“

„Tschüss!“

Sie geben sich einen Kuss. Heike hat diese ekelige Angewohnheit, auf den Mund zu küssen. Clarissa muss sich zusammennehmen, um ihren Widerwillen zu verbergen.

In der Kaiserstraße kommt sie am Haus von Harald Suhl– „Onkel Suhl“– vorbei, das hellbraun getünchte Gebäude mit dem spitzen Giebel, an dessen Obergeschoss der kunstvoll aus Eisen geschmiedete, grün gestrichene Balkon mit den schönen weißen Schwänen hervorragt. Und oben auf dem Dachfirst die Windfahne mit dem dürren, schwarzen Wetterhahn. Wie viele Erinnerungen sind mit diesem Hause verbunden! Als sie noch ein kleines Mädchen war, kam Clarissa eines Abends dort hin, um mit ihren Spielkameraden durch das Teleskop von Onkel Suhl zu schauen, eine von Grünspan überzogene Metallröhre. Der Alte mit seiner brüchigen Stimme gab seltsame Sprüche von sich, die niemand so recht verstand, lutschte ständig Pfefferminz-Pastillen und trug eine kleine Wollmütze auf dem kahlen Kopf.

„Kommt her, ihr dürft durch das Teleskop gucken“, lud er die Bande ein und knurrte wie ein misstrauischer, junger Hund.

Clarissa schaute durch das Okular des Rohres. Onkel Suhl erklärte alles: „Der Mond ist ein Satellit der Erde. Was du da gerade siehst, sind die Krater der erloschenen Vulkane auf der Mondoberfläche…“

Was Clarissa in Wirklichkeit sah, war irgendetwas Weißliches, Undeutliches und Undefinierbares.

„Hast du auch die Berge bemerkt?“, fragte er mit eigenartiger Stimme. „Und auch die Seleniten, die Mondmenschen?“

Clarissa hatte Angst vor Onkel Suhl. Sie bejahte, nur damit er nicht ärgerlich wurde. Aber Vetter Heiko lachte frech in das Gesicht des Alten: „Ach was! Nix ist da zu bemerken! Dein Periskop taugt nix, Onkel Suhl!“

„Du Lump!“, fuhr ihn der Alte an, in einem Ton zwischen Entrüstung und Belustigung.

Sie zuckte zusammen. Was für ein furchtloser Knabe war doch der Heiko. Er hatte tatsächlich den Mut, dem Onkel Suhl zu widersprechen…

Danach stieg die ganze Bande die dunkle Stiege hinab. Aufgescheuchte Mäuse huschten an ihnen vorbei. Auf dem Schreibtisch dieses seltsamen Alten lag ein furchterregender Totenkopf. Clarissa schloss fest ihre Augen und eilte an diesem vorbei. Ach! Dieses obere Stockwerk war doch sehr geheimnisvoll!

Während Clarissa weitergeht, wandern auch ihre Gedanken. Junge Menschen lernen, durch Studium und Bücherlesen vieles besser zu verstehen. Eigenartigerweise fühlen sie später trotzdem oft noch genau dasselbe, was sie schon als Kinder einmal empfanden. Manche Eindrücke sind auch durch den gereiften Verstand nicht zu verdrängen… So behaupten wir zum Beispiel, dass wir nicht an Geister glauben. Aber die Wahrheit ist doch, dass wir nicht ohne eine gewisse Angst ein dunkles Zimmer betreten oder an Spukhäusern oder am Kirchhof rasch vorbeieilen, ohne hinzusehen…

Das Lenchen serviert das Mittagsmahl. Sie bringt die Suppenterrine auf einem Tablett herein. Mit ihrem ergrauten Haar und ihrer weißen Küchenschürze um die volle Taille erinnert sie Clarissa an eine Reklame für Scheuermittel, die sie in einer Zeitschrift gesehen hat: „Ich putze meine Töpfe nur mit Blitzblank!“

Der Papa sitzt an seinem angestammten Platz. Er bindet sich eine Serviette um den Hals, nachdem er damit– unausbleiblich!– sorgfältig seinen Löffel geputzt hat, und hüstelt.

Die Mama hebt den Deckel der Terrine an. Dampf steigt in die Luft und verbreitet einen appetitlichen Duft. Frau Annette taucht die silberne Suppenkelle in die Schüssel. „Suppe, Hans-Peter?“

Der Gatte nickt.

„Auch du, meine Kleine?“

„Ja, bitte.“

Tante Therese mit ihren großen, rehbraunen Augen in dem gelblichen Gesicht versichert, dass sie keinen Hunger habe und lehnt dankend ab.

„Vergiss deine Lebertropfen nicht, Schwester.“

Tante Therese ist die Schwester der Mama. Seit zwölf Jahren ist sie mit Hein Piepenbrink verlobt. Die ganze Familie fragt sich: „Also, wann wird nun endlich geheiratet?“ Der Bräutigam beteuert immer wieder, dass er sofort heiraten werde, wenn man ihm endlich die versprochene Gehaltsaufbesserung auszahle; diese jedoch lässt schon sehr lange auf sich warten. Und so vergeht ein Tag nach dem anderen.

„Heute habe ich wieder mit der Bank verhandelt“, klagt Hans-Peter. „Ich kriege schon graue Haare wegen dieser verwünschten Wechsel…“

Frau Annette seufzt. Hans-Peters Gesicht verfinstert sich. Und Clarissa ahnt, dass das, was jetzt kommen wird, ja kommen muss, das, was die Frauen so fürchten: Geschäftliches!

In den Wirren der Inflation verlor der Papa das gesamte Gut mit all seinen Gebäuden, Wäldern, Ländereien und dem Vieh. Es verblieb ihnen fast gar nichts. Jetzt besitzt man nur noch dieses riesige Stadthaus, aus dem aber die Freude ausgezogen ist. In früheren Zeiten lachten alle und unterhielten sich angeregt bei den Mahlzeiten. Jetzt herrschen nur noch Mutlosigkeit und Traurigkeit und es wird lediglich vom Sparen gesprochen: weniger Fleisch, keine Butter, nicht so viel Strom zu verbrauchen, nicht so viele Kohlen zu verheizen… Gelegentlich scheint es, als ob man die Sorgen vergessen hat und es belebt sich die Unterhaltung. Wenn aber jemand das leidige Wort „Geld“ ausspricht– dann passiert es: Alle verharren mit betrübten Gesichtern.

Geld, Geld! Gibt es denn auf dieser Welt nichts Wichtigeres als Geld? Beklommen stellt sich Clarissa selbst diese Frage.

Der Papa erwähnte soeben die Bankwechsel. Niemand hat jetzt noch Appetit.

Clarissa versucht die Situation zu retten, das Gespräch in andere Bahnen zu leiten: „Heute gab ich meinen Schülern die Aufgabe, eine Landschaft mit einem Haus…“

Niemand hört ihr zu. Anscheinend hat der Papa lediglich das Wort „Haus“ wahrgenommen, weil er sofort die Tochter unterbricht, indem er bemerkt: „Wenn ich schließlich und endlich wenigstens dieses Haus retten kann, dann wäre ich schon sehr zufrieden…“

Er schiebt den Suppenteller von sich. Tante Therese zählt zwanzig Lebertropfen auf einen Suppenlöffel.

„Lene, servieren Sie jetzt bitte den Hauptgang“, sagt Frau Annette.

An der Wand hängt in einem versilberten Rahmen eine Kopie des „Letzten Abendmahls“ von Leonardo da Vinci. Brot und Wein. Clarissa wirft ihren Blick auf das Bild und vertieft sich in ihre Gedanken

2. Erinnerungen

Clarissa betritt den geräumigen Salon, die gute Stube, die den bedeutenden Besuchern des Hauses vorbehalten ist. An der Wand hängt oberhalb des breiten Kamins das riesige Portrait des Urgroßvaters: In voller Größe steht der Held des Deutsch-Französischen Krieges von 1870 bis 1871 da, gekleidet in seine Galauniform mit goldenen Achselklappen, die Brust mit Orden behängt, die Hände in weiße Handschuhe gehüllt. Eine davon umfasst den Griff des mächtigen Kavallerie-Säbels. Das strenge Gesicht des Generals ist von buschigen, schneeweißen Koteletten umrahmt.

In der Stube herrscht Dunkelheit. Seit ihren Kinderjahren hat Clarissa dieses Bild immer wieder betrachtet. Der Papa erzählt viele Geschichten über den General, der ein sehr gerechter und sparsamer Mensch, Wohltäter der Armen, guter Herr seiner Knechte und Tagelöhner war. Er dichtete Sonette, spielte die Geige, hielt jeglichen Verdruss von seinem Hause und den Seinen fern; er war Seiner Majestät, dem Kaiser, wohlbekannt, kämpfte wie ein Löwe unter General von Moltke bei der Belagerung von Metz und fiel ehrenhaft für das Vaterland auf dem Schlachtfeld von Sedan.

Clarissa kennt diese Geschichten auswendig. Aber als sie noch klein war, ging sie nie allein in diese Stube, vor allem nicht, wenn es dunkel war. Dieses verschlossene Gesicht und die riesige, von Gold bedeckte Gestalt flößten ihr ungeheure Furcht ein. Und wenn plötzlich der General aus dem Rahmen spränge, mit dem blanken Säbel in der rechten Hand durch das Haus liefe, Stühle umwerfend, Porzellan zertrümmernd, Menschen tötend? Clarissa betrachtet das Ölgemälde des Urgroßvaters. Obwohl sie jetzt eine erwachsene junge Dame ist, kann sie das Quäntchen Angst nicht unterdrücken, das sie noch empfindet: Ihr ist bange vor diesem brummigen Riesen mit der mächtigen Gestalt…

Die Stube hat einen ganz besonderen Duft. Als Clarissa noch klein war, dachte sie, dass der merkwürdige Geruch von diesem Gemälde ausginge. Auch heute besteht bei ihr noch dieser Eindruck, wenn auch in abgeschwächter Form. So sehr sie sich auch darum bemüht, gelingt es ihr nicht ganz, diese Empfindung loszuwerden.

Sie öffnet ein Fenster: Die Nachmittagssonne strömt herein und erleuchtet das Portrait des Generals. Die brüchigen Stellen am bemalten Gewebe werden sichtbar, die güldenen Achselklappen, Litzen, Knöpfe und Orden glänzen jetzt besonders. Der gesamte Salon offenbart dem starken Licht mit einem Mal seine Geheimnisse: die alten Möbel aus dicker Eiche, der gepolsterte Diwan, die hübsche Obstschale aus bemaltem Ton in der Mitte des mit rotem Samt bedeckten, ovalen Tisches. An der Wand das Bild der Großmutter Henriette; der ovale Spiegel in dem dicken, mit schwungvollen Ornamenten übersäten Rahmen.

Der Papa wiederholt immer: „In diesem Salon war einmal der Kaiser zu Gast, als er noch König von Preußen war.“ Kater Moritz jedoch ignoriert dies gänzlich und zollt der Erinnerung an den hohen Besuch keineswegs den gebührenden Respekt. Clarissa blickt erstaunt auf den Boden, auf den kleinen, dunklen See, in dem die Sonne kleine Feuersterne malt. Dieser Schurke! „Kathrein“, ruft sie, „komm schnell und sieh dir an, was der ungezogene Moritz in der Stube hinterlassen hat!“

Clarissa öffnet den grünen Deckel ihres Tagebuches und schreibt: Ich möchte Dir, liebes Tagebuch, alles anvertrauen, alles, was ich fühle, alles, was ich denke. Obwohl man ja eigentlich nie alles niederschreibt, was man wirklich denkt. Warum ist es so, dass wir nur im tiefsten unserer Gedanken absolut ehrlich sind?

Ich muss mich mit Dir unterhalten, ich habe sonst niemanden, dem ich meine Gedanken anvertrauen kann. Meine Lehrer-Kollegen an der Schule mögen mich nicht sehr (ich weiß nicht wieso!). Die Einzige, mit der ich mich unterhalte und die mich gelegentlich aufsucht, ist Heike.

Mit dem Tagebuch ist es so, als ob ich mich mit mir selbst unterhalte. So gewinne ich eben den Eindruck, dass ich nicht so allein bin.

Was kann ich sonst noch erzählen? Heute ist ein wunderschöner Herbsttag, richtiger Altweibersommer. Im Garten vorm Haus blühen die Astern. Schande! Eine Lehrerin, die „vorm“ sagt! Es heißt doch richtig auf Hochdeutsch „vor dem Hause“. Das hört sich ganz besonders pedantisch an… Warum schreiben die Leute nie so, wie sie wirklich sprechen? Na, macht ja sowieso nichts, niemand wird je mein Tagebuch lesen. Und wenn ich sterben sollte? Wenn ich sterbe, dann wird die Mama nach der Beerdigung, ganz in Schwarz gekleidet, hier hereinkommen, um meine Sachen zu ordnen. Stell dir vor, sie findet dieses Tagebuch, öffnet es, liest darin und erfährt so alle meine Geheimnisse!

Nein, nur das nicht! Ich muss dieses Tagebuch vernichten, bevor ich sterbe. Das Schlimme ist, dass man nie genau weiß, wann einem die Stunde schlägt.

Wie ich schon sagte, blühen in unserem Garten vor dem Hause die Astern neben dem Fliederbaum. In der Frühe zwitschern die Vögel und machen einen Heidenradau. Wenn ich richtig malen könnte, würde ich gern unseren Garten malen.

Heute war ich in der Stube. Ich habe wieder das Gleiche gefühlt wie früher, als ich noch klein war. Als ich das riesige Bild meines Urgroßvaters ansah, hatte ich den Eindruck, dass er plötzlich aus dem Rahmen springen und hinter mir herrennen würde. So ein Blödsinn! Ein Bild ist ja nur ein Bild. Wenn die anderen von meinen Ängsten wüssten, würden sie mich ganz schön auslachen! Aber das ist eben, was ich fühle. Ich darf nicht lügen, wenigstens darf ich mich nicht selbst belügen.

Gestern Abend war ich unten, mit den Verlobten. Tante Therese und ihr Hein sagen sich immer dasselbe. Als ich sechs Jahre alt war, versprach Hein ihr die Ehe, kam fast jeden Abend zu uns, um sich mit ihr zu unterhalten, und ich saß oft auf seinem Schoß. Er brachte mir immer Bontjes mit– und ab und zu ein Malbuch. Damals sollte nach einem Jahr die Hochzeit stattfinden. Heute, viele Jahre später, sind Tante Therese und Hein immer noch Verlobte, sitzen stets am gleichen Ort in der Stube und aus der Hochzeit ist bis jetzt nichts geworden. Hein Piepenbrink ist ein sehr witziger Mensch. Er kann das „r“ nicht richtig aussprechen, meistens verschluckt er die Worte mir „r“, damit man es nicht so „meakt“. Sein Gesicht ähnelt einem Kürbis (ich weiß nicht wieso, ich habe mir immer ein Kürbisgesicht so vorgestellt). Hein Piepenbrink– sogar sein Name ist ulkig. Er passt so ganz und gar zu ihm. Als er damals zu uns kam, wurde mir sein Name beigebracht, ich musste ihn immer wieder aufsagen und sollte ihn mit vornehmer Stimme aussprechen. Am Abend, als er dann kam, kriegte ich dabei einen solchen Lachanfall, dass ich trotz aller Bemühungen um Beherrschung nichts weiter als „Hein Piep-pieppiep-piep“ herausbrachte. Er wurde vor Verlegenheit ganz rot und Tante Therese zog mich an einem Ohr aus der Stube. Draußen kriegte ich noch einen Klaps auf den Hintern.

Wie sich doch die Welt verändert! Heute spricht mich Hein Piepenbrink mit „Fräulein Clarissa“ an, er gibt sich mir gegenüber sehr höflich. Während sie sich unterhalten, sehe ich die Hefte meiner Schüler nach oder lese einen Roman. Gelegentlich tue ich so, als ob ich ganz in meine Arbeit vertieft sei, und lausche ihrer Konversation. Tante Therese und Hein Piepenbrink streiten sich ständig um Nichtigkeiten. Stets sind sie am Diskutieren, meistens über etwas Blödsinniges. Sie sagt: „Der letzte Film hat mir sehr gefallen.“ Er antwortet: „Mir überhaupt nicht.“ Und sie: „Aber mir hat er gefallen.“ Er: „Ich fand ihn ausgesprochen langweilig.“ Sie: „Das ist mir egal, du Ekel!“ Er: „Therese, ich habe dir schon oft gesagt, du sollst mich nicht ‚Ekel‘ nennen.“ Sie: „Das ist mir trotzdem egal.“ Hein: „Du bist albern.“ Sie: „Und du bist widerlich!“

Und all dies flüstern sie sich ganz leise zu. Dann schaltet Tante Therese mit einem Mal auf stur und die Unterhaltung verstummt für eine Weile. Hein Piepenbrink spielt unterdessen mit seiner Uhrenkette, um sich die Zeit zu vertreiben (Uahenkette, wie er sagt), so lange, bis Tante Therese seufzt. Danach gibt sich Hein einen Ruck und sagt mit einer sehr süßen Stimme: „Therese, Liebling, wollen wir uns nicht wieder vertragen?“ Sie zuckt nur mit den Schultern. Da er ihre sture Haltung nicht länger ertragen kann, beschließt er, auch böse zu sein und geht nach Hause.

Die Mama betet täglich dafür, dass diese Heirat endlich stattfinden möge. Alle Welt spricht davon, dass sie auf den Sankt-Nimmerleinstag festgelegt worden sei. Hein Piepenbrink ist Kontor-Angestellter bei den Lederwerken Gebr. Christiansen. Er behauptet, erst dann heiraten zu können, wenn man ihm dort die versprochene Gehaltserhöhung gibt.

Als ich gestern Abend zu Bett ging, war die klare Nacht herrlich, ganz hell vom Vollmond erleuchtet. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich diese Schönheit nicht in Worten beschreiben. Das schaffen die Menschen eben nicht. In den Büchern und Schriften ist immer alles anders. Ich erinnere mich eines Aufsatzes, den ich damals aufhatte, als ich am Lehrerseminar in Flensburg studierte. Er handelte von einem Ausflug. Ich beschrieb eine Reise auf die Insel Ærø, die ich zusammen mit den Mitbewohnern des Studentenpensionats unternahm. Ich begann mit der Schilderung der Schiffsfahrt durch die Flensburger Förde und über die durch den Sturm aufgewühlten Ostseewellen. Ich beschrieb den dunklen, mit grauen Wolken verhangenen Himmel, den kleinen Hafen, den malerischen Ort Ærøskøbing. Beim späteren Lesen des Aufsatzes konnte ich den wirklichen Ablauf dieser Reise eigentlich nicht mehr erkennen. Es war ja alles ganz anders gewesen. Wenn man schreibt, ist die Wahrheit nicht mehr so ganz wahrhaftig. Es werden unwahre Worte eingefügt, beschönigende Fantasien, und am Ende ist alles Lug und Trug. Ich erinnere mich besonders an einen Satz aus meiner Erzählung: „Peter schüttelte einen Apfelbaum, und wir alle rannten, um die fallenden Äpfel aufzufangen.“ Da haben wir’s. Das mit dem Auffangen war glatt gelogen. Keiner schaffte es, die fallenden Äpfel in der Luft zu greifen. Wir konnten sie schließlich nur noch vom Boden aufsammeln. Aber es hörte sich eben besser an und ich schrieb es nieder, um eine gute Note zu bekommen; es war aber nicht die reine Wahrheit! Und es ist eben leider immer so. Für heute habe ich schon zu viel geschrieben.

Wir haben den 1. Oktober. Ich weiß nicht genau warum, aber heute kamen mir Erinnerungen aus meiner Kindheit in den Sinn. Wir waren eine Bande von sieben Kindern: der Vetter Heiko, der Josef, Sohn des polnischen Bäckers, die Zwillinge Gesche und Gesine, der Rollo und die Heide. Josef hatte von Geburt an einen missgebildeten Fuß und Rollo gab ihm den Spitznamen „Klumpfuß“. Josef lief jedes Mal vor Wut rot an und fluchte mit furchtbaren Schimpfwörtern, wenn man ihm „Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“ nachrief. Aber irgendwie hat er sich nach und nach mit diesem Spitznamen abfinden müssen. Gesche und Gesine sahen sich wie zwei Wassertropfen ähnlich. Ich konnte sie nie auseinanderhalten; beide waren sehr wehleidig und weinten beim geringsten Anlass laut los. Sie waren stets gleich gekleidet, und das einzige Merkmal, an dem ich sie unterscheiden konnte, war, dass Gesine Lakritze mochte, Gesche dagegen überhaupt nicht. Rollo war ein durchtriebener Gauner, der insgeheim das Apfelgelee aus Mamas Speisekammer klaute. Sein eigentlicher Name war Roland. Meistens spielten wir alle auf dem Hof unseres Hauses. Rollo und Heide machten sich einen Spaß daraus, in den Wasserbrunnen zu spucken. Wir lehnten uns über den Brunnenrand und unsere Gesichter spiegelten sich auf der weit unten gelegenen Wasseroberfläche. Wenn die Spucke auf dem Wasser aufschlug, verzerrten sich unsere Gesichter.

Da Klumpfuß nicht recht laufen konnte, hatten wir uns mehrere Spiele ausgedacht, bei denen er leichter mitmachen konnte. Wenn wir ihn aber ärgern wollten, dann spielten wir Kriegen oder Hinkefuß. Ich weiß, dass alles, was ich hier niederschreibe, schrecklich albern klingen muss, aber ich habe eine solche Sehnsucht nach meiner Kindheit und der damaligen, so schönen Zeit. Wenn ich das hier schreibe, dann wird diese Sehnsucht etwas gemildert.

Josef war äußerst misstrauisch. Wenn wir anderen uns etwas leise zuflüsterten, drehte er sich rasch um und wurde wütend: „Ihr redet schon wieder über meinen Fuß, ihr Schamlosen!“ Eines Tages fuhr Heide auf und sie rief ihm ins Gesicht: „Dein Vater ist ein Polacke!“ Josef schaute sie mit vor Zorn funkelnden Augen an und schrie voller Wut zurück: „Du schmutziger Bastard!“ Er spuckte sie an und entfernte sich humpelnd in Richtung der Bäckerei seines Vaters. Heide weinte bitterlich. Sie war ein lediges Kind und hatte ihren Vater nie gesehen.

Heiko war der Tunichtgut unserer Clique. Er behandelte uns nie wie seinesgleichen. Mit mir sprach er kaum, und wenn er überhaupt etwas sagte, war es stets in einem anmaßenden Ton, als sei er der Herrscher, der Vorgesetzte. Eines Tages verschwand er von zu Hause. Tante Alexandra, seine Großmama, kam weinend zum Papa, um zu berichten, dass ihr Enkel vermisst werde. Die Polizei wurde alarmiert, viele Leute in Oldenmoor begaben sich auf die Suche, auch im Courier wurde darüber berichtet. Nach zwei Tagen fand man den Ausreißer frisch und munter an der Elbe; er hatte sich in einem Wäldchen am Außendeich eine rustikale Unterkunft gebastelt und saß an einem Lagerfeuer. Tante Alexandra weinte vor Glück. Da Heiko keinen Vater mehr hatte, dachte der Papa, dass er ihm ins Gewissen reden müsse. Heiko wurde frech und antwortete ihm, dass er uns alle satt habe, lieber hinter dem Deich bleiben und dort allein leben wolle.

Nach diesem Abenteuer wurde er nur noch „Deichkater“ genannt. Heiko gab sich nie viel mit uns ab, er war ein verschlossener, stolzer Bursche, ja sogar manchmal boshaft. Eines Tages schloss er mich im dunklen Keller ein und rief dann von draußen: „Da drin bleibst du jetzt, bis dich die Ratten und die Spinnen aufgefressen haben. Ich hasse dich, weil du ein Weib bist!“ Noch heute erinnere ich mich an die Angst, die ich ausgestanden habe.

Man erzählte sich, dass es in unserem Keller spukte. Ich fühlte die Gespenster, die Schlangen, die Ratten und die Spinnen, die über mich herfielen, über meine Arme und den Hals krochen und zwischen meine Beine schlüpften. Ich schrie laut und heulte vor Angst, und als das Lenchen mich endlich befreit hatte, zitterte ich am ganzen Körper und musste mit hohem Fieber ins Bett. Der Papa zog dem Deichkater den Hosenboden stramm und versohlte ihn mit dem Weidenstock. Am nächsten Tag verschwand Heiko wieder von zu Hause.

Ich konnte Heiko nie richtig leiden und ihm nicht direkt in die Augen sehen. Jetzt geht er so seines Weges, ist einundzwanzig Jahre alt und hat immer noch seine arrogante Haltung. Onkel Johann sagt, dass Heiko das schwarze Schaf der Familie ist. Der Deichkater hat sein Abitur bestanden. Danach wollten sie ihn nach Hamburg an die Universität schicken, damit er Medizin studiert. Der Deichkater weigerte sich und meinte, es gäbe bereits genügend irrende Doktoren auf dieser Welt. Er hat obskure und verrückte Gedanken in seinem Kopf. Er trägt keinen Hut, wechselt häufig seine Arbeitsstelle und lebt allein, ziellos, so einfach drauflos wie eine verlorene Seele.

Lieber Gott, warum gibt es solche Menschen auf dieser Welt?

Und warum verschwende ich eigentlich so viele Worte über den Heiko? Gestern ging er an mir vorbei und tat so, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte.

Der Josef ist auch ganz anders geworden. Er leitet das Schreibkontor in der Bäckerei seines Vaters. Er ist sehr unnahbar und misstrauisch; wenn er kann, weicht er mir immer aus. Er befürchtet wohl, dass ich ihm „Hoppla, hoppla, Klumpfuß!“ nachrufe. Das Schlimme ist, dass er tatsächlich für mich noch derselbe Klumpfuß ist. Ich muss mich immer sehr zusammennehmen, wenn ich ihn anspreche, um ihn nicht bei seinem Spitznamen zu nennen. Dieser krumme Fuß ist der hauptsächliche seelische Kummer, den der arme Josef mit sich herumschleppt.

Ich habe noch nie ein so albernes Tagebuch gelesen wie dieses!

3. Geisterstunde

Langsam bricht der Abend herein. Das Licht im Esszimmer des Herrenhauses wurde noch nicht angezündet und es ist düster.

Die Fenster lassen das Zwielicht fahl durchscheinen; es verleiht den Gegenständen im Raum den Anschein eines Friedhofes im Mondschein. Alles ist still. Die schweren Möbel werfen dunkle Schatten auf den Boden. Die verstorbenen Ahnen auf den großen Gemälden mit den vergoldeten Rahmen sehen noch viel verblichener aus. Der riesige Kristalllüster, der von der Decke herunterhängt, strahlt einen eiskalten Glanz aus, als ob er aus weißen Gerippen bestünde.

Die bequemen, mit rotem Samt bezogenen Sessel stehen um den gewaltigen Eichentisch herum, auf dem die ebenfalls rote Samtdecke mit der goldenen Borte liegt. In der Mitte der langgezogenen Anrichte thront eine marmorweiße Büste von Kaiser Wilhelm I. An der gegenüberliegenden Wand hängt der überdimensionale ovale Spiegel– ähnlich einem leblosen See, auf dem sich eine vor langer Zeit versunkene Landschaft widerspiegelt.

Minuten verstreichen. Das Licht schwindet zusehends. Stille kehrt ein. Sie wird nur durch das monotone Ticken der Standuhr unterbrochen, die unaufhörlich am Zeitvergehen strickt. Plötzlich ertönt ein dumpfes Schlagen, noch eins, ein weiteres, drei, fünf. Es ist so, als ob diese Laute aus weiter Ferne kämen, aus längst vergangenen Zeiten, und durch sie die Geister der Vergangenheit geweckt würden.

Könnten nur die Holzdecke und die dicken Balken die Stimmen der Vergangenheit hervorbringen, die einst zu ihnen emporstiegen… Vermochte der Spiegel allein die erloschenen Bilder aus jener Zeit widerzuspiegeln…

* * *

Ein Märzabend im Jahre 1910.

Der alte Oliver von Steinberg betritt das Esszimmer, hüstelt trocken, streicht über seinen mächtigen weißen Schnurrbart, der dicht über dem Mund durch das Rauchen vergilbt ist. Er kommt gerade vom Rasieren und verbreitet den leisen Duft seines Gesichtswassers. An seiner schwarzen Fliege schimmert matt eine kleine runde Perle. Er geht ein wenig gebückt, aber man merkt es ihm an, dass er sich eisern um eine gerade Haltung bemüht.

Die Söhne– Hans-Peter, Johann, Ewald und Christian– stehen rasch auf und begrüßen ihn voller Respekt.

Der mit brennenden Kerzen bestückte Lüster erhellt festlich den Raum. Auf der Anrichte leuchten neben der kaiserlichen Büste weitere Kerzen in einem silbernen Kandelaber. Der Spiegel vervielfältigt den Schein der Lichter.

Der Tisch ist für den späten Abendtee gedeckt. Der Hausherr liebt Blumen auf dem Tisch: In dessen Mitte steht eine hohe Kristallvase voller Osterglocken.

Oliver setzt sich und gibt seiner Schwester ein Handzeichen: „Nun, liebe Schwester, lass bitte den Tee auftragen.“

Tante Alexandra läutet mit der kleinen Silberglocke. Als das Lenchen mit dem Teeservice den Raum betritt, schlägt die große Uhr. Lenchen schenkt den Tee in die schönen Porzellantassen mit dem Goldrand ein. Am Kopf des Tisches blickt der Alte auf Christian und lächelt. Er ist sein Jüngster, dichtet Sonette; er hat die gleichen Augen wie seine geliebte, selige Frau.

„Na, mein Sohn, was machen denn deine Balladen?“ Für Oliver sind Balladen und Sonette das Gleiche.

Christian erwidert mit weicher Stimme: „Lieber Papa, ich dichte Sonette, keine Balladen.“

Der Alte gibt sein kurzatmiges Lachen von sich und streicht sich mit einer ihm eigenen Bewegung über den Schnurrbart. „Wer sagt es denn: ein wahrhaftiger Poet in unserer Familie.“

Die anderen lächeln.

Christian senkt verlegen die Augen. Tante Alexandra blickt liebevoll auf die jungen Neffen.

„Meine Selige dichtete ebenfalls Sonette, als sie noch ein junges Mädchen war…“ Der alte Oliver wendet seinen Blick auf das Bildnis an der Wand, auf seine geliebte Henriette, schon vierzigjährig heimgegangen. Der Maler besaß eine besonders glückliche Hand, hatte er doch den Ausdruck dieser blauen Augen, die wunderschön geformten Lippen und die gerade, noble Nase vorzüglich festgehalten.

Oliver blickt zurück auf die Söhne und fühlt sich von einer tiefen Traurigkeit ergriffen. Wenn nur seine Henriette die erwachsenen Söhne hätte erleben können… Ach, was soll’s, auch ich werde bald sterben, und wenn es einen Himmel gibt, dann werde ich sie dort wiedertreffen und zu ihr sagen: „Mein Liebling, unsere Söhne sind herangewachsen und wohlgeraten. Hans-Peter wird bald heiraten, Johann hat seine kaufmännische Lehre fast beendet. Ewald wird Wald- und Forstwirtschaft studieren, und stell dir vor, der Christian dichtet Sonette…“

Tante Alexandra ist erstaunt über das Schweigen des Bruders: „Fehlt dir etwas, lieber Bruder? Ist es etwa deine Leber?“

„Ach was, Leber!“ Hand an den Schnurrbart, Hüsteln. „Nichts, ich habe nur nachgedacht…“

Das Gespräch flackert wieder auf: die Schweinepreise, die Lokalpolitik, das zunehmende Wachstum der Gewerkschaften, die schon zwei Millionen Mitglieder zählen sollen. Draußen jagt ein Frühlingssturm die schwarzen Wolkenfetzen über das Firmament, die Fenster klirren ab und zu, wenn die heftigen Windböen dagegenprallen.

Während seine Hand über den Schnurrbart streicht und ab und zu von seinem Hüsteln unterbrochen wird, erzählt der alte Oliver von Steinberg wieder einmal die Geschichte des Kaiserbesuches in Oldenmoor.

„In diesem Raum speiste Kaiser Wilhelm I., Gott sei seiner Seele gnädig. Ich erinnere mich daran noch ganz genau, so als ob es gestern gewesen wäre. Ich war damals ein sehr kleiner Junge und habe die Bedeutung nicht begriffen… Der Papa zog seine Generalsuniform an, um den Kaiser zu empfangen. Als Seine Majestät dort durch diese Tür schritt, hatte ich ein unbeschreiblich schönes Gefühl. Die Begrüßungsworte, die ich aufsagen sollte und so oft geübt hatte, blieben mir einfach im Halse stecken. Ich kniete vor dem Kaiser nieder und küsste seine Hand. Er sah mich nur an und lächelte mir nickend zu.“

Alle schmunzeln schweigend.

* * *

Ein Sommernachmittag im Jahre 1911.

Tadeusz Rembowski, der Pole, der eine kleine Bäckerei im angrenzenden Haus betreibt, klopft an die Haustür der Familie von Steinberg und bittet um Einlass, um den „hohen Herrn“ zu sprechen.

Man führt ihn ins Esszimmer. Da steht er, unbeholfen und unruhig, blickt mit angsterfüllten Augen auf sein Spiegelbild. Er hat einen verzweifelten Ausdruck in seinen braunen Augen. Schweißperlen glänzen auf Nase und Stirn. Das gerötete Gesicht ist eine Maske voller Beklommenheit. Er wartet voller Ungeduld und mit krampfhaft verschlungenen Händen.

Schritte nähern sich. Der Bäcker dreht sich um: Der Hausherr betritt den Raum.

„Wie geht es Ihnen, Herr Rembowski?“

„Danke, Herr Oberst, danke…“

Sie geben sich die Hände.

„Nehmen Sie doch Platz.“

Tadeusz setzt sich. Unbeholfen wagt er sich kaum auf den Sessel. Er sitzt gerade, knapp auf der Vorderkante des Polsters. Oliver von Steinberg lehnt sich gemütlich in den gegenüberstehenden Sessel zurück und fragt mit gönnerhaften Stimme: „Und wie geht es Ihrer Frau Gemahlin?“

Anfänglich scheint Tadeusz Rembowski die Frage nicht verstanden zu haben. Danach, plötzlich, als ob er von einem Traum erwacht, gibt er ein „gut“ von sich, das in seinem Weinen erstickt.

Oliver von Steinberg blickt ihn verwundert an: „Aber, um Gottes willen, was haben Sie denn, Herr Rembowski?“

Der Bäcker zieht ein zerknülltes Taschentuch hervor und wischt sich die Tränen aus den Augen.

„Ist jemand gestorben?“

Tadeusz schüttelt den Kopf. Oliver steht auf und legt seine Hand auf die Schulter des Nachbarn. „Verdammt noch mal, Mann, erzählen Sie schon, was Sie derart bedrückt!“

Hüsteln, Hand an den Schnurrbart.

„Was hat man denn Ihnen angetan?“