"numquam abrogata"? - Christian Binder - E-Book

"numquam abrogata"? E-Book

Christian Binder

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Beschreibung

Sowohl Papst Benedikt XVI. als auch Papst Franziskus haben sich zur Frage der Wiederzulassung der liturgischen Feiern nach dem Missale von 1962 geäußert. Ging es jenem dabei um eine Integration traditionalistischer Kreise in die lateinische Kirche und um eine - seiner Meinung nach - notwendige Verbesserung der liturgischen Ästhetik, so Letzterem um eine dem aggiornamento dienende Feier der Heilsgeheimnisse der Kirche. Seit dessen Enzyklika Evangelii gaudium ist etwas Ruhe eingekehrt. Die theologischen und rechtlichen Fragen bleiben freilich offen und verdienen eine vertiefte Untersuchung. Dem hat sich Christian Binder detailliert in seiner Quellenanalyse zugewandt und das Für und Wider in dieser Diskussion einander kritisch gegenübergestellt und in eine eigene Stellungnahme münden lassen. Die Arbeit bietet nicht nur eine auch für den fachlichen Laien gut verständliche Analyse der Quellen, sondern auch eine darauf basierende engagierte Positionsbestimmung, mit der die fachwissenschaftliche Diskussion bereichert wird.

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Christian Binder

„numquam abrogata“?

2 MAINZER BEITRÄGE

ZU KIRCHEN- UND RELIGIONSRECHT

Christian Binder

„numquam abrogata“?

Kirchenrechtliche Reflexionen über das Motu Proprio „Summorum Pontificum“ Papst Benedikts XVI.

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2017 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter-verlag.de

Umschlaggestaltung

Peter Hellmund, Würzburg

ISBN

978-3-429-03990-5

978-3-429-04884-6 (PDF)

978-3-429-06304-7  (ePub)

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1: Das Motu Proprio Summorum Pontificum

Kapitel 2: Überblick über den Forschungsstand

Kapitel 3: Interpretationslinien der numquam abrogata-Formulierung

3.1 Traditionsbasierte Theorien

3.1.1 Zeitlicher Abriss der Vorgeschichte bis zur ersten gesetzlichen Regelung im Jahr 1570

3.1.2 Die Bulle Quo primum

3.1.2.1 Unwiderruflichkeitstheorie

3.1.2.2 Privilegientheorie

3.1.3 Gewohnheitsrechttheorie

3.1.4 Zwischenfazit

3.2 Immunisierungstheorie – der Rückgriff auf das II. Vatikanum

3.2.1 Der Weg zur Liturgiekonstitution

3.2.1.2 Die Liturgische Bewegung – das Streben nach participatio actuosa

3.2.1.3 Die Enzyklika Mediator Dei

3.2.1.4 Auf dem Weg zum Missale 1962

3.2.2 Die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium

3.2.3 Vorläufiges Zwischenfazit

3.2.4 Die Umsetzung der Konzilsbeschlüsse

3.2.4.1 Die Reformschritte in der Liturgie in den Jahren nach dem Konzil

3.2.4.2 Die Umsetzung von Sacrosanctum Concilium im Missale Romanum von 1970

3.2.4.3 Die Umsetzung von Sacrosanctum Concilium im Codex Iuris Canonici von 1983

3.2.5 Ist ein Liturgieverständnis der vorkonzilialen Zeit mit der des Konzils ekklesiologisch zu vereinbaren?

3.2.6 Zwischenfazit

3.3 Theorie der fehlenden Rechtmäßigkeit der Liturgiereform

3.4 Theorien unter Rückgriff auf die Abänderungsklausel der Apostolischen Konstitution Missale Romanum

3.4.1 Versuch des Verschweigens der Existenz der Schlussklausel

3.4.2 Derogatio-Theorie

3.4.3 Theorie der Kardinalskommission im Jahr 1986

3.4.4 Zwischenfazit

3.5 Ausnahmeregelungen als Basis von Weitergeltungstheorien

3.5.1 Ausnahmen für alte und kranke Priester

3.5.2 Theorie der Gleichsetzung einer späteren Erlaubnis mit einer durchgängigen Erlaubnis

3.5.3 Ausschluss und Integration von Anhängern der alten Messe

3.5.4 Zwischenfazit

Kapitel 4: Mögliche Intentionen und Beweggründe Papst Benedikts XVI

4.1 Die Ekklesiologie und Standpunkte Joseph Ratzingers in der Zeit vor dem II. Vatikanum

4.2 Der Einfluss Joseph Ratzingers auf das II. Vatikanum

4.3 Das Wirken auf liturgischem Gebiet bis zum Beginn des Pontifikats

4.4 Das Motu Proprio Summorum Pontificum als Teil einer Tendenz, die potestas ordinaria propria des Ortsordinarius zu beschneiden

4.5 Numquam abrogata – eine verbindliche Neudeutung eines Gesetzgebungsaktes unter Rückgriff auf die primatiale Vollgewalt?

4.6 Zwischenfazit

Kapitel 5: Entwicklungen und Tendenzen der letzten Jahre

5.1 Die receptio legis

5.2 Evangelii Gaudium

Kapitel 6: Fazit und Schlusswort

Quellen

Literatur

Internetdokumente

Vorwort

Die Liturgie stellt zweifelsohne den Mittelpunkt der Kirche dar. Somit liegt es auf der Hand, dass Reformen auf liturgischer Ebene enormen innerkirchlichen Sprengstoff bergen – wie dies auch bei der in der Folgezeit des Zweiten Vatikanischen Konzils durchgeführten Liturgiereform der Fall war. Vor allem die reformierte Form der Messe war – neben enormem Zuspruch – auch starker Kritik ausgesetzt und zog Fragen nach sich: darf überhaupt eine neue Form der Messe eingeführt werden? Was muss sie enthalten, beziehungsweise, darf sie nicht enthalten? Und natürlich: darf die alte Form der Messe weiterhin gefeiert werden? Dass besonders die letztgenannte Frage von starker Relevanz war, wird bereits aus der Stück für Stück erfolgten teilweisen Wiedererlaubnis der Messe von 1962 in den Jahrzehnten nach der Liturgiereform ersichtlich. Nun ist diese Thematik jedoch im Jahr 2007 wieder in den breiten Fokus der Öffentlichkeit gerückt, als Papst Benedikt XVI. durch das Motu Proprio Summorum Pontificum eine weitgehende Gleichstellung der alten mit der neuen Form der Messe vornahm1. Benedikt XVI. versuchte hier einen Brückenschlag, indem er bestrebt war, sowohl die Anhänger der neuen Messe, als auch der alten Messe zufrieden zu stellen. Um die Legitimität dieser Maßnahme zu steigern, erklärte er die alte Messe für „niemals abgeschafft“2 – numquam abrogata3. Auch in seinem anlässlich des Motu Proprio Summorum Pontificum an die Bischöfe gerichteten Begleitschreibens betonte Benedikt XVI., dass das Missale von 1962 „nie rechtlich abrogiert“ worden sei4. Diese numquam abrogata-Formulierung stellt zweifelsohne den strittigsten und rätselhaftesten Passus des gesamten MotuProprio dar. Der Papst lässt offen, was er damit meint und wie er zu dieser Feststellung kommt. Denn Erklärungen hierfür wären angesichts der Realität der vorhergehenden Jahrzehnte durchaus angebracht. Was könnte Benedikt XVI. mit dieser Formulierung meinen? Wie kommt er zu diesem Schluss? Und hat er bei Betrachtung der Fakten damit überhaupt Recht? Es soll folglich das Ziel dieser Arbeit sein, nach möglichen Lösungen für diese Fragestellungen zu suchen und Licht in die numquam abrogata-Formulierung Benedikts XVI. zu bringen. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass – wie noch deutlich werden wird – der Diskurs zwischen Anhängern der „alten“ und „neuen“ Form der Messe sich oftmals auf einer ideologischen Ebene abzuspielen scheint. Jene ideologischen Grabenkämpfe gilt es jedoch gerade nicht weiter fortzuführen, sondern die relevanten Sachverhalte vielmehr möglichst objektiv darzustellen, zu untersuchen und letztendlich zu bewerten. Tatsächlich existierten bereits vor Summorum Pontificum verschiedenste Theorien, die eine weitere Geltung der Messe von 1962 zu begründen versuchten und somit als mögliche Erklärungsansätze in Frage kommen. Um diese Theorien auf ihre Stichhaltigkeit untersuchen zu können, ist es im Rahmen dieser Arbeit nötig, den Bogen zwischen der Kirchengeschichte und der aktuellen kirchlichen Entwicklung zu spannen, die für die verschiedenen Thesen relevanten Teilbereiche des Kirchenrechts zu berücksichtigen und auch einen großen Fokus auf die Liturgiewissenschaft zu legen. Zu beachten ist, dass auf kirchenrechtlicher Ebene keine Konsultation der Fontes des Codex Iuris Canonici vorgenommen werden wird, sondern der Schwerpunkt auf den kodifizierten Gesetzen liegen wird, da diese für die nachkonziliare Zeit – und damit für die Frage einer etwaigen Weitergeltung der alten Messe – maßgeblich sind. Am Beginn dieser Arbeit steht eine genauere Vorstellung des Motu Proprio Summorum Pontificum, gefolgt von einem kurzen Überblick über den Forschungsstand bezüglich Benedikts XVI. strittiger Formulierung. Anschließend werden die unterschiedlichen Thesen der vergangenen Jahrzehnte, welche die numquam abrogata-Behauptung Benedikts XVI. erklären könnten, einer Überprüfung unterzogen werden. In einem ersten Schritt werden verschiedene traditionsbasierte Theorien im Mittelpunkt stehen, die ihren Gültigkeitsanspruch aus der ersten gesetzlichen Regelung der Messe im Jahr 1570 unter Papst Pius V. und aus der darauf folgenden Zeit – bis zur Reform der Messe in der Folgezeit des Zweiten Vatikanischen Konzils – herleiten. Zunächst wird hierbei ein zeitlicher Abriss der Vorgeschichte der Messe bis zum Jahr 1570 vorgenommen und anschließend die Promulgationsbulle Quo primum des Missale von 1570 untersucht werden. Darauf aufbauend sollen die unterschiedlichen traditionsbasierten Theorien einer Überprüfung ihrer Stichhaltigkeit unterzogen werden. Erstens wird die Unwiderruflichkeitstheorie des Missale von 1570 aufgrund der entsprechenden Wortwahl von Papst Pius V. in der Bulle Quo primum untersucht werden. Zweitens wird die Privilegientheorie, nach welcher Papst Pius V. in der Bulle Quo primum das Privileg verliehen habe, in alle Zeit die Eucharistie nach dem Missale aus dem Jahr 1570 zu feiern, einer Betrachtung unterzogen werden. Und drittens wird die Gewohnheitsrecht-Theorie, nach welcher die Feier der Eucharistie in der tridentinischen Form ein Gewohnheitsrecht darstelle, das nicht explizit widerrufen worden sei, analysiert werden. Im zweiten Schritt steht die Immunisierungstheorie im Mittelpunkt, welche unter Rückgriff auf den vierten Artikel der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium behauptet, dass das Zweite Vatikanische Konzil selbst das Missale von 1962 gegen eine ersetzende Reform immunisiert habe. Im Zuge der Überprüfung der Plausibilität dieses Erklärungsansatzes wird hierbei zunächst der Weg zur Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium – angefangen von der Liturgie nach dem Trienter Konzil bis in das 19. Jahrhundert, weiter gehend über die Liturgische Bewegung und ihrem Streben nach participatio actuosa, über die Enzyklika Mediator Dei aus dem Jahr 1947, bis hin zum Missale Romanum von 1962 – betrachtet werden. Anschließend wird die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium selbst in den Mittelpunkt rücken, um zu ergründen, ob sich die Immunisierungstheorie tatsächlich aus der Konstitution herleiten lässt. In der Folge sollen zur Ermöglichung einer abschließenden Bewertung der Theorie noch die Umsetzung der Konzilsbeschlüsse einer genaueren Betrachtung unterzogen werden. Zunächst werden hierbei die Reformschritte in der Liturgie in den Jahren nach dem Konzil im Mittelpunkt stehen, um anschließend die Umsetzung von Sacrosanctum Concilium im Missale Romanum von 1970 und im Codex Iuris Canonici von 1983 zu untersuchen. Abschließend wird die Frage zu klären sein, ob ein Liturgieverständnis der vorkonziliaren Zeit mit der des Konzils ekklesiologisch überhaupt zu vereinbaren ist. In einem dritten Schritt wird die Theorie der fehlenden Rechtmäßigkeit der Liturgiereform untersucht werden, die hauptsächlich von Georg May vertreten wurde und nach welcher der Ordo Missae Papst Pauls VI. ein ungerechtes Gesetz darstelle, dem man keine Folge leisten müsse, da die neue Form der Messe dem Gemeinwohl abträglich sei. Zu untersuchen wird hier sein, ob und inwieweit die – zumindest in Westeuropa – in den letzten Jahrzehnten hervorgetretenen Krisenerscheinungen der Katholischen Kirche tatsächlich auf die liturgischen Reformen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil bis zur Etablierung der neuen Messe zurückgeführt werden können. Im vierten Schritt werden Theorien im Mittelpunkt stehen, die unter Rückgriff auf die Abänderungsklausel der Apostolischen Konstitution Missale Romanum aus dem Jahr 1969 versuchen, eine vermeintlich weiter bestehende Gültigkeit der Messe von 1962 zu begründen. Zunächst werden hierbei Argumentationen untersucht werden, welche versuchen, die Existenz der Schlussklausel der Apostolischen Konstitution Missale Romanum zu verschweigen. Anschließend wird die Derogatio-Theorie, welche aufgrund der Verwendung von derogatio in der Abänderungsklausel mutmaßt, dass Papst Paul VI. gar nicht die Abschaffung der alten Messe intendiert habe, sondern lediglich ein Zusatzangebot zum Missale Papst Pius’ V. habe schaffen wollen, sowie die Theorie einer Kardinalskommission im Jahr 1986, nach welcher liturgische Normen keine Gesetze im eigentlichen Sinne seien und man sie daher auch nicht wirklich abschaffen könne, einer Überprüfung unterzogen werden. In einem fünften Schritt sollen dann Theorien einer Weitergeltung der alten Messe analysiert werden, welche die nach der Einführung der neuen Messe bestehenden Ausnahmeregelungen für die Messe von 1962 als Beleg für ihre weitere Gültigkeit anführen. Einerseits wird hier nur das als verboten angesehen, was niemals auch nur im Rahmen einer Ausnahmeregelung weiterhin erlaubt war – die Ausnahmen von der Verpflichtung zur Feier der neuen Messe, die für alte und kranke Priester gemacht wurden, dienen hier als Ausgangspunkt der Argumentation. Andererseits ist auf Grundlage der im Jahr 1984 durch Papst Johannes Paul II. erteilten Vollmacht an die Diözesanbischöfe zum Gebrauch des Indults – welches die Feier der Messe nach dem Missale Romanum von 1962 unter bestimmten Umständen wieder ermöglichte – die theoretische Möglichkeit zu berücksichtigen, dass eine spätere Erlaubnis mit einer durchgängigen Erlaubnis gleichgesetzt werden könnte. Letztendlich soll in diesem Zusammenhang noch der Ausschluss und die Integration von Anhängern der alten Messe am Beispiel der Pius- und Petrusbruderschaft beleuchtet werden. In einem letzten großen Schritt ist schließlich noch nach den Intentionen Papst Benedikts XVI. zu suchen, welche ihn zur Herausgabe des Motu Proprio Summorum Pontificum, mitsamt der numquam abrogata-These in Bezug auf die alte Form der Messe, veranlasst haben könnten. Am Anfang steht hier das Wirken Joseph Ratzingers bis zur Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils. Anschließend soll das Zweite Vatikanische Konzil in den Mittelpunkt rücken, um zu klären, welchen Einfluss Joseph Ratzinger möglicherweise selbst, oder in indirekter Form durch Josef Kardinal Frings, auf das Konzil gehabt haben könnte. Im Anschluss werden die für die Liturgie relevanten Äußerungen Ratzingers, welche er in seinen Werken in der nachkonziliaren Zeit bis zum Beginn seines Pontifikats getätigt hat, einer Untersuchung unterzogen werden. Auch sollen mögliche Tendenzen untersucht werden, die auf eine zunehmende Beschneidung der postestas ordinaria propria der Ortsordinarien auf liturgischer Ebene hinweisen könnten – denn nichts anderes hat ja Benedikt XVI. getan, als er nun primär nur noch den Willen der jeweiligen Gläubigen als Entscheidungskriterium für die Feier der Messe von 1962 festgemacht hat. Abschließend bleibt in diesem Kontext die Frage zu beantworten, ob Papst Benedikt XVI. mit seiner numquam abrogata-These möglicherweise eine verbindliche Neudeutung des Gesetzgebungsaktes Papst Pauls VI. unter Rückgriff auf die primatiale Vollgewalt vornehmen wollte. Im Anschluss an die verschiedenen Erklärungsansätze für die numquam abrogata-Theorie Papst Benedikts XVI. wird noch ein kurzer Abriss der Entwicklungen der letzten Jahre vorgenommen werden, der einerseits die Untersuchung der receptio legis beinhalten wird, andererseits die Haltung von Papst Franziskus zur alten Messe anhand seines Apostolischen Schreibens Evangelii Gaudium beleuchten soll. Am Ende der Arbeit soll ein Gesamtfazit der zuvor behandelten Aspekte und Theorien gezogen werden.

1 Vgl. Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Motu Proprio Summorum Pontificum vom 7. Juli 2007, in: AfkKR 176 (2007), 519-525.

2 Vgl. ebd., 521.

3 Benedikt XVI., Litterae apostolicae. «Motu proprio» datae. De usu extraordinario antiquae formae Ritus Romani, in: AAS 99 (2007), 779.

4 Benedikt XVI., Brief des Heiligen Vaters Papst Benedikt XVI. an die Bischöfe anlässlich der Publikation des Apostolischen Schreibens Motu Proprio Summorum Pontificum über die römische Liturgie in ihrer Gestalt vor der 1970 durchgeführten Reform vom 7. Juli 2007, in: AfkKR 176 (2007), 526.

Kapitel 1: Das Motu Proprio Summorum Pontificum

Das Motu Proprio beginnt mit der grundlegenden Feststellung, dass

„die Sorge der Päpste […] es bis zur heutigen Zeit stets gewesen [sei], dass die Kirche Christi der Göttlichen Majestät einen würdigen Kult darbringt, „zum Lob und Ruhm Seines Namens“ und „zum Segen für Seine ganze heilige Kirche.““5

Es sei also der Grundsatz zu wahren, dass von jeder Teilkirche die gemäß der Überlieferung empfangenen Gebräuche eingehalten werden, um eine unversehrte Weitergabe des Glaubens zu ermöglichen – das Gesetz des Betens (lex orandi) der Kirche entspreche ihrem Gesetz des Glaubens (lex credendi)6. Es folgt ein geschichtlicher Abriss mitsamt der Erwähnung der Päpste, die nach Ansicht Papst Benedikts XVI. eine derartige Sorge walten ließen. Dieser beginnt bei Gregor dem Großen, der die in Rom gefeierte Form der heiligen Liturgie festgelegt und bewahrt habe, führt weiter über Pius V., der „den ganzen Kult der Kirche erneuerte“ und die Päpste der folgenden Jahrhunderte, die sich um eine „Erneuerung oder […] Festlegung der liturgischen Riten und Bücher bemühten“. Das Zweite Vatikanische Konzil habe schließlich „den Wunsch zum Ausdruck [gebracht], dass die gebotene Achtsamkeit und Ehrfurcht gegenüber dem Gottesdienst wiederhergestellt und den Erfordernissen unserer Zeit angepasst werden sollte.“7 Papst Paul VI. habe dann – von diesem Wunsch des Konzils geleitet – „die reformierten und zum Teil erneuerten liturgischen Bücher im Jahr 1970 für die lateinische Kirche approbiert.“8 In der Folge sei jedoch der Umstand in den Vordergrund gerückt, dass „in manchen Gegenden nicht wenige Gläubige den früheren liturgischen Formen [anhingen]“. „Geleitet von der Hirtensorge für diese Gläubigen“ habe Papst Johannes Paul II. im Jahr 1984 mit dem Indult Quattuor abhinc annos bereits eine Vollmacht zum Gebrauch des Römischen Messbuchs von 1962 erteilt und seine dementsprechenden Absichten mittels des Motu Proprio Ecclesia Dei im Jahr 1988 nochmals betont9. „Die inständigen Bitten dieser Gläubigen“, die den früheren liturgischen Formen weiterhin anhängen, seien nun auch der Auslöser für die folgenden Bestimmungen dieses Apostolischen Schreibens. Papst Benedikt XVI. legt nun zuallererst fest, dass das „von Paul VI. promulgierte Römische Messbuch […] die ordentliche Ausdrucksform der Lex orandi der katholischen Kirche des lateinischen Ritus“ sein soll, während „das vom heiligen Pius V. promulgierte und vom seligen Johannes XXIII. neu herausgegebene Römische Messbuch [… ] außerordentliche Ausdrucksform derselben Lex orandi der Kirche“ sein soll. Es soll nun also zwei Anwendungsformen des „einen Römischen Ritus“ geben, ohne eine Spaltung der Lex credendi der Kirche herbeizuführen10.

Nun folgt die für diese Arbeit grundlegende Formulierung: Benedikt XVI. erlaubt es, „das Messopfer nach der vom seligen Johannes XXIII. promulgierten und niemals abgeschafften Editio typica des Römischen Messbuchs als außerordentliche Form der Liturgie der Kirche zu feiern“. Die Messe von 1962 wird an dieser Stelle also als „niemals abgeschafft“11 – im Lateinischen: numquam abrogata12 – bezeichnet. Im darauf folgenden Teil des Motu Proprio verweist Benedikt XVI. darauf, dass die durch die vorangegangenen Dokumente Quattuor abhinc annos und Ecclesia Dei aufgestellten Bedingungen für den Gebrauch des Missale von 1962 folgendermaßen ersetzt werden13: Jeder katholische Priester des lateinischen Ritus hat nun das Recht selbst zu entscheiden, ob er in Messen ohne Volk das alte oder das neue Missale gebraucht – eine diesbezügliche Erlaubnis vom Apostolischen Stuhl oder vom jeweiligen Ordinarius ist nicht mehr erforderlich14. Ebenso erhalten nun die Gemeinschaften der Institute des geweihten Lebens und der Gesellschaften des apostolischen Lebens das Recht, zwischen den beiden Formen der Messe frei zu wählen15. Die relevanteste Neuregelung bezieht sich jedoch auf die Feier der Messe mit Gemeinde:

„In Pfarreien, wo eine Gruppe von Gläubigen, die der früheren liturgischen Tradition anhängen, dauerhaft existiert, hat der Pfarrer deren Bitten, die heilige Messe nach dem im Jahr 1962 herausgegebenen Römischen Messbuch zu feiern, bereitwillig aufzunehmen.“16

Die Feier der alten Messe kann hierbei sowohl an den Werktagen, als auch an Sonntagen und Festen stattfinden – ebenso zu besonderen Gelegenheiten, wie etwa Trauungen und Begräbnisfeiern. Priester, die die alte Form der Messe feiern, müssen dazu jedoch geeignet sein. Sollte ein Pfarrer der Bitte von Laien nach der Feier der Messe von 1962 nicht entsprechen, soll der Diözesanbischof in Kenntnis gesetzt werden und – falls auch dieser dem Wunsch der Laien nicht entsprechen sollte – soll dies der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei mitgeteilt werden17. Pfarrer können nun – aber müssen nicht – „die Erlaubnis geben, dass bei der Spendung der Sakramente der Taufe, der Ehe, der Buße und der Krankensalbung das ältere Rituale verwendet wird, wenn das Heil der Seelen dies nahelegt“. Die gleiche Regelung gilt für Bischöfe bei dem Sakrament der Firmung. Nicht zuletzt erhalten Priester und Diakone das Recht, das Römische Brevier des Jahres 1962 zu gebrauchen18.

Die Päpstliche Kommission Ecclesia Dei erhält die Aufgabe, über die Beachtung und Anwendungen dieses Motu Proprio zu wachen. In Kraft treten sollen diese Bestimmungen zum 14. September 200719. Kurz zusammengefasst stellt Papst Benedikt XVI. mittels der Bestimmungen des Motu Proprio Summorum Pontificum die im Jahr 1962 bestehenden liturgischen Formen der Riten – insbesondere auch die Form der Messe von 1962 – mit den nachfolgenden weitestgehend gleich.

5 Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Motu Proprio Summorum Pontificum, 519.

6 Vgl. ebd., 519f.

7 Ebd., 520.

8 Ebd., 520f.

9 Vgl. ebd.

10 Vgl. ebd., 521.

11 Ebd.

12 Benedikt XVI., Litterae apostolicae. «Motu proprio» datae. De usu extraordinario antiquae formae Ritus Romani, in: AAS 99 (2007), 779.

13 Vgl. Benedikt XVI., Apostolisches Schreiben Motu Proprio Summorum Pontificum, 521f.

14 Vgl. ebd., 522.

15 Vgl. ebd., 522.

16 Ebd.

17 Vgl. ebd., 523.

18 Vgl. ebd., 524.

19 Vgl. ebd.

Kapitel 2: Überblick über den Forschungsstand

Trotz der enormen innerkirchlichen Wichtigkeit der Thematik und der Aktualität von Summorum Pontificum ist die Anzahl der Publikationen, die sich um eine genauere Beleuchtung der numquam abrogata-Formulierung Benedikts XVI. bemühen, äußerst übersichtlich. Selbst eine Publikation wie Anselm J. Gribbins Buch „Pope Benedict XVI and the liturgy“ aus dem Jahr 2010, die sich explizit den liturgischen Entwicklungen unter Papst Benedikt XVI. – darunter auch Summorum Pontificum – widmet, erwähnt jene strittige Formulierung eher am Rande und versucht erst gar nicht, diese zu erklären20. Auch das im Jahr 2008 von Albert Gerhards herausgegebene Buch „Ein Ritus – zwei Formen“, das die Bestimmungen des Motu Proprio Summorum Pontificum beleuchtet, bietet keine Lösungsansätze für die Behauptung einer niemals abgeschafften alten Messe an21. Auf mögliche Erklärungsversuche für die numquam abrogata-These richten nur wenige Veröffentlichungen tatsächlich ein Augenmerk. Zunächst ist hier Martin Rehak zu nennen, der im Jahr 2009 in seinem Buch „Der außerordentliche Gebrauch der alten Form des Römischen Ritus“ das Motu Proprio Summorum Pontificum eingehend untersucht hat und hierbei auch auf verschiedene Erklärungsmöglichkeiten der numquam abrogata-These eingegangen ist22. Rehaks Darstellung der in Frage kommenden Erklärungsmöglichkeiten stellt die detaillierteste bis zum heutigen Tag erschienene dar. Die Mehrzahl der theoretischen Erklärungsansätze für jene strittige Formulierung Benedikts XVI. werden von Rehak – jedoch wohlgemerkt in kurzer und oft wenig detaillierter Form – behandelt. Insgesamt hält Rehak keinen dieser Ansätze für zufriedenstellend23. Bereits ein Jahr zuvor hatte Norbert Lüdecke in einem Beitrag im Liturgischen Jahrbuch eine kirchenrechtliche und ekklesiologische Analyse von Summorum Pontificum vorgenommen, die auch auf diverse Theorien eingeht, welche das alte Missale als „niemals abgeschafft“ ansehen24. Lüdecke verweist in diesem Zusammenhang auf die – seiner Meinung nach nicht haltbaren – Theorien der Gleichsetzung einer späteren Erlaubnis mit einer früheren Erlaubnis, einer Immunisierung des Missale von 1962 gegen eine ersetzende Reform auf Grundlage des vierten Artikels der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium und einer verbindlichen Neudeutung des Gesetzgebungsaktes Papst Pauls VI. durch Papst Benedikt XVI. unter Berufung auf die primatiale Vollgewalt25. Auch Matthias Pulte widmete sich jenem Motu Proprio Papst Benedikts XVI. im Jahr 2010 in einer Abhandlung im Archiv für katholisches Kirchenrecht, in welcher er auch auf die numquam abrogata-These eingeht26. Pulte verweist zur Erklärung dieser These einerseits auf die Indultpraxis der Jahrzehnte vor dem Motu Proprio, andererseits auf die Verwendung des Begriffs derogatio – das wörtlich lediglich eine teilweise Abschaffung oder Aufhebung bezeichnet – im Zuge der Abschaffung des Missale von 1962, wobei er dem letztgenannten Ansatz wohl noch die größere Plausibilität zubilligt27. Nicht zuletzt geht Wolfgang F. Rothe in seinem Buch „Liturgische Versöhnung“ kurz auf die numquam abrogata-Formulierung ein: er verweist als Begründung auf die nach dem Inkrafttreten des neuen Missale weiterhin bestehende Möglichkeit der Feier der Messe von 1962 für Priester im fortgeschrittenen Alter aufgrund der dementsprechenden Ausnahmeregelung – trotz dieser theoretischen Möglichkeit geht Rothe von einem faktischen Verbot des alten Missale aus28. Aus der Knappheit der Forschungen, die sich in der Folgezeit des Motu Proprio Summorum Pontificum der numquam abrogata-Thematik widmen, folgt zwangsläufig, dass der größte Literaturschwerpunkt dieser Arbeit breit gestreut, sowie bereits vor der Veröffentlichung von Summorum Pontificum erschienen ist und auch jeweils lediglich kleinere Teilaspekte behandelt, die in dieser Arbeit zu einem großen Ganzen zusammengebracht werden sollen.

20 Vgl. Gribbin, Anselm J., Pope Benedict XVI and the liturgy. Understanding recent liturgical developments, Leominster 2011, 144.

21 Vgl. Gerhards, Albert (Hrsg.), Ein Ritus – zwei Formen. Die Richtlinie Papst Benedikts XVI. zur Liturgie, Freiburg im Breisgau 2008.

22 Vgl. Rehak, Martin, Der außerordentliche Gebrauch der alten Form des Römischen Ritus. Kirchenrechtliche Skizzen zum Motu Proprio Summorum Pontificum vom 07.07.2007, Sankt Ottilien 2009.

23 Vgl. ebd., 46-55.

24 Vgl. Lüdecke, Norbert, Kanonistische Anmerkungen zum Motu Proprio Summorum Pontificum, in: LJ 58 (2008), 3-34.

25 Vgl. ebd., 11ff.

26 Vgl. Pulte, Matthias, Von Summorum Pontificum bis Anglicanorum Coetibus. Gesetzgebungstendenzen im Pontifikat Benedikts XVI., in: AfkKR 179 (2010), 3-19.

27 Vgl. ebd., 6ff.

28 Vgl. Rothe, Wolfgang F., Liturgische Versöhnung. Ein kirchenrechtlicher Kommentar zum Motu proprio „Summorum Pontificum“ für Studium und Praxis, Augsburg 2009, 59ff.

Kapitel 3: Interpretationslinien der numquam abrogata-Formulierung

3.1 Traditionsbasierte Theorien

Unter traditionsbasierte Theorien lassen sich Theorien einer Weitergeltung der alten Messe zusammenfassen, die ihren Geltungsanspruch aus dem geschichtlichen Werdegang der Messe – hauptsächlich dem Trienter Konzil und dessen Folgewirkungen – ableiten. Um diese traditionsbasierten Theorien auf ihre Stichhaltigkeit untersuchen zu können, wird im Folgenden zunächst ein kurzer historischer Abriss der Entwicklung der Messe seit der Antike bis zur ersten gesetzlichen Regelung im Jahre 1570 vorgenommen werden. Anschließend wird eine inhaltliche Darstellung der Promulgationsbulle Quo primum des Missale Romanum aus dem Jahre 1570 erfolgen und die möglichen Intentionen des Gesetzgebers, Papst Pius V., beleuchtet werden. Danach werden die unterschiedlichen traditionsbasierten Theorien vorgestellt und auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden. Diese reichen von der Unwiderruflichkeits- und der Privilegientheorie, die beide auf Quo primum basieren, bis hin zur Gewohnheitsrechttheorie, welche die angeblich weiterhin bestehende Legitimität der tridentinischen Messe durch das Gewohnheitsrecht gewährleistet sieht. Abschließend soll dann noch ein kurzes Zwischenfazit gezogen werden.

3.1.1 Zeitlicher Abriss der Vorgeschichte bis zur ersten gesetzlichen Regelung im Jahr 1570

In seinen Anfängen war das Christentum noch stark an das jüdische Leben rückgebunden. So beteiligte sich etwa die judenchristliche Urgemeinde in Jerusalem einerseits nach wie vor am Tempelkult und Synagogengottesdienst, andererseits feierte sie die urchristliche Eucharistie in Form eines gemeinsamen Mahls29. Da im Laufe der Zeit die Größe der Gemeinden immer mehr anwuchs, gewann die Eucharistie festere Strukturen: die Vielzahl der Tische reduzierte sich auf einen Tisch – der den Ursprung des christlichen Altars darstellt. An diesem sprach der Vorsteher das Preisgebet über Brot und Wein. Des Weiteren wurde der Wortgottesdienst aus dem Synagogengottesdienst herausgelöst und mit dem Herrenmahl verbunden. Diese Verbindung aus Wortgottesdienst und Herrenmahl zu einer einzigen Feier des Gottesdienstes hatte sich bis zur Mitte des ersten Jahrhunderts etabliert und wurde nun auch mit dem Begriff der „Eucharistie“ bezeichnet30.

Die erste genauere Beschreibung der frühen Liturgie stellt die „Apostolische Überlieferung“ des Hippolyt von Rom31, die um das Jahr 215 entstanden sein dürfte, dar. Jedoch war zu dieser Zeit noch eine Freiheit zur spontanen Erstellung liturgischer Texte grundsätzlich gegeben. Es handelte sich allerdings trotz der damaligen Differenzierungen aufgrund der verschiedenen kulturellen Ausprägungen bei der Eucharistiefeier immer um eine Danksagung an den Vater für die in Christus geschehene Erlösung32. Im vierten Jahrhundert bedingte schließlich der Wandel der Kirche von einer bedrängten Minderheit zur Reichskirche, der eine starke quantitative Zunahme der Gläubigen mit sich brachte, zwangsläufig einen höheren Grad an festen Strukturen in der Eucharistiefeier. Zu beachten ist, dass allerdings zu dieser Zeit noch eine große Anzahl an verschiedenen gleichberechtigten Formen der Liturgie nebeneinander existierte: der Mittelmeerraum war im Wesentlichen geprägt von seinen verschiedenen Zentren der antiken Hochkultur, die jeweils eine selbst ausdifferenzierte Form der Liturgie hatten33. Für den Zeitraum des vierten bis sechsten Jahrhunderts lassen sich in Bezug auf die abendländische Liturgie zwei Grundtypen unterscheiden, nämlich die nordafrikanisch-römische und die gallische Liturgie. Während davon ausgegangen werden kann, dass in der nordafrikanischen Liturgie von Anfang an Latein die Sprache der Liturgie war34, fand in Rom erst im Laufe der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts ein Wechsel von der griechischen zur lateinischen Sprache statt35. Einheitliche Texte für die Liturgie gab es zu dieser Zeit weder in Nordafrika, noch in Rom, wo schließlich erst im Laufe der Zeit eine Ordnung der Liturgie stattfinden sollte36 – selbst im Frühmittelalter wurden dort im päpstlichen Gottesdienst noch andere Messbücher verwendet, als in den Titelkirchen37. Die Anfänge des Missale Romanum lassen sich vermutlich in das Ende des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts einordnen, als Papst Gregor der Große zu Beginn seines Pontifikats – wahrscheinlich im Jahre 592 – ein Sakramentar zusammengestellt hat. Dabei ging es ihm jedoch sicherlich nicht um eine lange Gültigkeit dieses Dokuments über sein Pontifikat hinaus, sondern lediglich um eine Neuordnung des damaligen päpstlichen Stationsgottesdienstes38. Im sechsten Jahrhundert hatte auch mit der Kirche von Ravenna die erste Diözese Norditaliens den Messritus aus Rom übernommen39. Im Laufe des siebten Jahrhunderts stagnierten diese ersten leichten Vereinheitlichungsversuche jedoch, da dann lediglich noch ältere Messbücher mit dem Gregorianum vermischt wurden40. Erst im achten Jahrhundert bildete sich ein „Reichsmessbuch“ der Langobarden heraus41, das aufgrund der lebhaften gegenseitigen Beziehungen zwischen der gallofränkischen und der römischen Liturgie42 schließlich gegen Ende des Jahrhunderts an den Königshof in Aachen gelangte und in der Folge im westlichen Frankenreich und zum Teil auch in den von Karl dem Großen eroberten Gebieten eingeführt wurde43. Das Sakramentar Gregors des Großen hatte sich also zwei Jahrhunderte später bis in das Frankenreich vorgearbeitet44. Gegen Ende des achten Jahrhunderts begann außerdem die Sitte, dass das Eucharistische Hochgebet nur noch leise gesprochen wurde45. Nicht zuletzt bemühte sich Karl der Große stark um eine Vereinheitlichung auf liturgischer Ebene: Gott wolle keine „Fehler“ hören46. Im zehnten Jahrhundert sind im Metropolitan-Gebiet Roms eine Vielzahl von Messbüchern verwendet worden47. Zu dieser Zeit entstanden die Ordines, die Regieanweisungen enthielten – heute würde man sie als Rubriken bezeichnen. Davor beinhalteten die alten römischen Liturgiebücher fast ausschließlich Texte48. Unter Papst Gregor VII. begann schließlich Ende des elften Jahrhunderts in Rom eine liturgische Konsolidierungsphase. Von nun an verlangten die Päpste von den Bischöfen die Umsetzung des Gottesdienstes der römischen Kurie. Bis in das 13. Jahrhundert sollte es dauern, bis diese Bemühungen weitreichende Früchte trugen. In diese Zeit fällt auch die immer stärkere Tendenz der Individualisierung und Subjektivierung der Liturgie, da nun nicht mehr für die einzelnen Mitwirkenden je eigene liturgische Rollenbücher vorgesehen waren, sondern Vollmissalien an ihre Stelle rückten, die auch dem Priester allein eine Feier der Messe ermöglichten49. Durch neue Herren-, Marien- und Heiligenfeste wurde das Kirchenjahr in dieser Zeit außerdem immer stärker ausgeweitet. Die Heiligen- und Reliquienverehrung, sowie das Wallfahrtswesen nahmen stetig zu50. Ein großes Schauverlangen für das Heilig-Göttliche war entstanden, das in der Betonung auf der Schau der Hostie seinen Höhepunkt fand51. Gleichzeitig ging der Kommunionempfang immer weiter zurück52. Im späten Mittelalter trat dazu noch ein stark quantitatives Denken auch in religiösen Dimensionen hinzu. Die Häufigkeit der Messe wurde beinahe bis ins Absurde gesteigert: die Menge von Altären, die heute noch in den Kirchen jener Epoche zu bestaunen ist, spricht dabei für sich. Immer neue Votivmessen und immer zahlreichere Messreihen gingen mit einer schlechten Ausbildung der meisten Priester einher. Eine „Reform an Haupt und Gliedern“ war unausweichlich53.

3.1.2 Die Bulle Quo primum

In den Jahren von 1545 bis 1563 fand schließlich – mit großen zeitlichen Unterbrechungen – das Trienter Konzil statt54. Die letzte Sitzungsperiode in den Jahren 1562/63 widmete sich hierbei der Erneuerung der Liturgie. Jedoch wurde angesichts der Zeitknappheit lediglich eine Zusammenstellung der Missstände und eine Darstellung der Reformideen vorgenommen und in der letzten Sitzung des Konzils – statt eine Lösung im Rahmen des Konzils anzustreben – der Entschluss gefasst, die Vorarbeiten dem Papst zu übergeben und ihm die Erneuerung des Missale und Breviers, sowie die Veröffentlichung eines Index der verbotenen Bücher und eines Katechismus zu überlassen. Unter Papst Pius V. erschien dann im Jahr 1566 zunächst der Katechismus, zwei Jahre später das Brevier und im Jahre 1570 schließlich das Missale – jeweils begleitet von Bullen, deren Zweck im Wesentlichen darin bestand, diese Bücher für unbedingt verpflichtend zu erklären, mit der Ausnahme eines mindestens 200-jährigen Sonderbrauchs55. Die Bulle Quo primum wurde ab 1570 bis 1962 in identischer Fassung allen Ausgaben des Missale Romanum vorangestellt56 und soll im Folgenden einer genaueren Betrachtung ihrer Bestimmungen unterzogen werden, da diese Bulle als eines der Hauptargumente für eine etwaige Weitergeltung des alten Missale über das II. Vatikanum hinaus benutzt wird57. Zunächst wird darin betont, dass es darum gehe, „das Messbuch nach der ursprünglichen Norm und dem Ritus der heiligen Väter wieder her[zustellen]“ (Nr. 4)58. Hierzu wurden zwar die Handschriftenbestände der damals erreichbaren Bibliotheken herangezogen, jedoch war dies bei dem damaligen Stand der Liturgiegeschichte und den zur Verfügung stehenden Mitteln sicherlich ein unrealistisches Ziel59. Außerdem wären damit nachfolgenden Generationen die ja zwangsläufig stattfindenden weiteren Erkenntnisfortschritte verwehrt worden60. Stattdessen stellte die Reform vielmehr eine Einheitsgestaltung der gewordenen Liturgie der römischen Kirche dar61. Der Zweck des Messbuches wird darin gesehen, dass „die Priester […] erkennen [sollen], welche Riten und welche Zeremonien sie zukünftig bei der Feier der Messe einhalten müssen“ (Nr. 5)62. Somit wurde die Klerusliturgie festgeschrieben63, die sich seit der Karolingerzeit entwickelt hatte und der Gemeinde nur noch eine Zuschauerrolle zugestand64