Nur dabei zu sein reicht nicht - Brita Schirmer - E-Book

Nur dabei zu sein reicht nicht E-Book

Brita Schirmer

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Beschreibung

Inklusion ist das zentrale Wort der aktuellen Pädagogik. Der Begriff birgt jedoch Probleme: Man glaubt zu wissen, worum es geht und ist sich dennoch unsicher. Dabei geht es nicht darum, die Sinnhaftigkeit einer inklusiven Gesellschaft in Frage zu stellen. In vielen Schulen wird jedoch mit großem Enthusiasmus inklusiver Unterricht begonnen, obwohl es an entsprechenden pädagogischen Konzepten mangelt. Kurz: Eigentlich weiß kaum eine Lehrkraft, wie Inklusion in der Schule so umgesetzt werden kann, dass sie für alle Beteiligten Gewinn bringt. Auf Grundlage nationaler und internationaler Modelle sowie basierend auf Erfahrungen der Autorin liefert das Buch konkrete Ideen für ein Vorgehen bei Schülern und Schülerinnen im Autismus-Spektrum. Welche Voraussetzungen sind nötig oder müssen geschaffen werden, was ist möglich und wo liegen, bedingt durch aktuelle Rahmenbedingungen, die Grenzen?

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Die Autorin

Dr. Brita Schirmer ist Dipl.-Pädagogin, Dozentin und Fachbuchautorin. Seit 1992 ist sie schwerpunktmäßig mit dem Thema Autismus befasst. Sie leitet seit 1997 eine Elterngruppe und hat Lehraufträge an verschiedenen Pädagogischen Hochschulen und Universitäten inne.

Brita Schirmer

Nur dabei zu sein reicht nicht

Lernen im inklusiven schulischen Setting

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-031270-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-031271-5

epub:   ISBN 978-3-17-031272-2

mobi:   ISBN 978-3-17-031273-9

Geleitwort zur Reihe »Autismus Konkret«

Das afrikanische Sprichwort »It takes a village to raise a child«/Deutsch: »Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen« gilt sicherlich auch für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS). Und vielleicht braucht es sogar mehr als ein Dorf: nämlich das Wissen von Spezialisten in verschiedenen Ländern, die sich Autismus-Spektrum-Störungen auf ihre Fahnen geschrieben haben. Ziel unserer Reihe »Autismus Konkret« ist es daher, das Wissen internationaler Experten zu relevanten Themen zu bündeln und Eltern, Therapeuten, Lehrer und anderen Fachkräften dieses Wissen in leicht verständlicher Form und so konkret wie möglich zur Verfügung zu stellen.

Oft ist es nicht einfach, Betroffenen mit ASS zu helfen. Eltern und Fachkräfte wissen, dass Zeit besonders kostbar ist, wenn es darum geht, effektiv Veränderungen zu bewirken. Daher sollten Erklärungsmodelle und Hilfen bewährt und wissenschaftlich anerkannt sein. Wir haben daher Kollegen in Deutschland, Österreich, England und den USA gebeten, ihr Spezialwissen über bestimmte evidenzbasierte und praxiserprobte Therapiemethoden in kurzer, konkreter Form mit unseren Lesern zu teilen.

Hierbei wird ein Einblick in folgende Themen gegeben: Lernen durch ABA und AVT (Applied Behavior Analysis und Autismusspezifische Verhaltenstherapie), Anders denken lernen – Kognitive Verhaltenstherapie zum Abbau von Frustration und Ängsten und zum Aufbau von sozialen Fähigkeiten, Lernen von positiven Alternativen zu Verhaltensproblemen, Lernen im Alltag – Natürliches Lernen, Lernen im Sekundentakt – Präzisionslernen, Lernen durch Apps, Lernen durch visuelle Hilfen, Lernen durch Videomodellierung, Lernen von Spiel und Beziehungen zu Gleichaltrigen: Integrierte Spielgruppen, Lernen im inklusiven schulischen Setting, medikamentöse Hilfe und die Suche nach den Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen.

Wir hoffen, dass die Bände unserer Reihe »Autismus Konkret« Eltern und Kollegen helfen, Ursachen besser zu verstehen und wissenschaftlich anerkannte Therapiemethoden kennenzulernen. Hierbei wünschen wir, dass jeder Praxisband der Serie einen Beitrag leistet, therapeutische Hilfen für Betroffene mit ASS konkreter zu machen und Kindern und Jugendlichen mit ASS eine echte Chance zu geben, sich so zu entwickeln, dass eine Teilhabe am Leben der Gemeinschaft auch tatsächlich möglich wird. Und dazu braucht es sicher »mehr als ein Dorf«.

Dr. Vera Bernard-Opitz, Herausgeberin der Reihe,

Irvine, Frühjahr 2019

Geleitwort zu diesem Band

Seit der UN Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung 2016 gibt es zum Teil heftige Diskussionen über Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen der Inklusion. Während manche Politiker, Fachleute und Eltern die Chancen gemeinsamen Unterrichtens betonen, weist die Gegenseite auf den individuellen Förder- und Therapiebedarf der Betroffenen, die aktuelle schulische Realität sowie den Aufwand im Hinblick auf Kosten und Personal hin.

Die folgenden Ausführungen von Brita Schirmer sehen Inklusion als Chance, die gut vorbereitet gelingen kann. Hierzu müssen u. a. personelle, räumliche und strukturelle Voraussetzungen geschaffen werden. Darüber hinaus ist es zentral, dass die Beteiligten sowohl Verständnis und Toleranz gegenüber der Andersartigkeit von Schülern mit Autismus entwickeln als auch offen sind, eingefahrene pädagogische Strategien zu verlassen.

Das Buch gibt eine Vielzahl von konkreten Beispielen zur Vorbereitung der Betroffenen, der Mitschüler ebenso wie der Pädagogen. Daneben werden visuelle Hilfen sowie intrinsische und extrinsische Motivationsanreize aufgezeigt. Auch wenn das Buch im Wesentlichen die Sicht des Pädagogen betont, wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, mit Eltern und anderen Fachkräften zusammenzuarbeiten. Hierbei werden Verhaltenstherapeuten und Sprachtherapeuten zwar leider nicht explizit erwähnt, entsprechende Strategien wie das Bildaustauschprogramm PECS, ABA/AVT-Methoden (Applied Behavior Analysis/Autismusspezifische Verhaltenstherapie) wie Münzverstärkungs-Systeme, Sozialtrainings-Programme, Verhaltensanalysen und positive Alternativen aber als wichtige Interventionen dargestellt. Hiermit wird ein wesentlicher Beitrag geleistet, evidenz-basierte Methoden in der Arbeit mit Schülern, die von Autismus betroffen sind, in die Sprache der Schule zu übersetzen. Gleichzeitig kann damit das verzerrte Bild von Skeptikern verhaltenstherapeutischer Strategien zurechtgerückt werden.

Das Buch macht deutlich, dass Inklusion eine Vision ist, die eine rechtliche Basis hat und sowohl Regelschülern als auch betroffenen Schülern neue Möglichkeiten eröffnet. Andererseits stellt Inklusion kein Patentrezept für alle Schüler mit Beeinträchtigung dar. Sie kann eine Chance sein, wenn entsprechende Voraussetzungen gegeben sind, aber sollte nicht zur Zwangsjacke für Schüler werden, deren Weg zur Teilhabe an der Gemeinschaft ein anderer ist.

Dr. Vera Bernard-Opitz, Herausgeberin der Reihe,

Irvine, Frühjahr 2019

Inhaltsverzeichnis

Geleitwort zur Reihe »Autismus Konkret«

Geleitwort zu diesem Band

Vorwort

1 Begriffsklärung

1.1 Autismus

1.1.1 Die medizinische Definition

1.1.2 Pädagogische Aspekte

1.2 Schulische Inklusion

2 Nach welchem Inklusionsmodell soll gearbeitet werden?

2.1 Allgemeine Inklusionsmodelle, die auch für Schüler im Autismus-Spektrum geeignet sind

2.1.1 Fachkräfte bündeln: Die Schwerpunktschulen

2.1.2 Förderung auf verschiedenen Ebenen: Das »Rügener Inklusionsmodell« (RIM) und der »Response-to-Intervention-Ansatz« (RtI)

2.2 Spezielle Modelle für Schüler im Autismus-Spektrum

2.2.1 Das Inklusionsmodell des Institutes für Entwicklungsförderung (»Instytut Wspomagania Rozwoju Dziecka – IWED«) in Polen

2.2.2 Das verschränkte Modell in Wien

2.2.3 Das Inklusionsmodell von »White Unicorn e. V.«

2.2.4 Die »Pathlight-Schule« in Singapore

3 Wie bereitet man die Aufnahme eines Schülers im Autismus-Spektrum in die Schule gut vor?

3.1 Die Vorbereitung des (zukünftigen) Schülers

3.2 Lern- und Verhaltensvoraussetzungen bestimmen

3.3 Die Vorbereitung des Kollegiums

3.4 Die Bereitstellung bedarfsgerechter Personalressourcen

3.5 Die Mitschüler vorbereiten

3.6 Die Eltern der zukünftigen Mitschüler vorbereiten

3.7 Externe Unterstützer

3.8 Schüler helfen Schülern

4 Wie gestaltet man den Unterricht mit einem Schüler im Autismus-Spektrum?

4.1 Ausgewählte Aspekte des sonderpädagogischen Förderbedarfs

4.2 Die didaktisch-methodische Gestaltung der Lernsituation

4.3 Was kann mein Schüler gut und wie kann ich ihm Gelegenheit geben, dies zu zeigen?

4.4 Der Umgang mit herausforderndem Verhalten

4.5 Bewertung

5 Wie begleitet man das System, damit die Inklusion gelingt?

5.1 Die Pädagogen begleiten

5.2 Die Teamarbeit unterstützen

5.3 Die Mitschüler begleiten

5.4 Elternarbeit

5.5 Übergänge gestalten

6 Literatur

Anhang

Anhang 1

Checkliste Aufnahme eines Schülers im Autismus-Spektrum

Anhang 2

Fragebogen für Erzieher und Eltern

Anhang 3

Weiterführende Literatur zum Thema

Schüler im Autismus-Spektrum im Unterricht aus unterschiedlichen Perspektiven

Anhang 4

Studientag zum Thema: Schüler im Autismus-Spektrum

Anhang 5

Zu klärende Fragen vor Beginn der Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Schulbegleiter

Anhang 6

Vertiefende Lektüre, Filme und Arbeitsmaterialien für den Einsatz in der Schule

Vorwort

Inklusion ist seit einiger Zeit in aller Munde, dies zeigen die Anzahl der Schlagwörter im World Wide Web ebenso wie zahlreiche Publikationen (Laubenstein, Lindmeier, Guthöhrlein & Scheer, 2015). In diesem Buch wird Inklusion als sozialer Zusammenhalt und kollektive Identität sowie als fortlaufender Prozess verstanden (Ellger-Rüttgardt, 2016).

Ihr Ziel besteht darin, Menschen, deren Rechte in unserer Gesellschaft beschnitten werden – egal aus welchen Gründen – vollen Zugang zu eben diesen Rechten zu gewähren.

Die Forderung nach Inklusion findet allgemeine Zustimmung. Bei der konkreten Frage, wie sie umzusetzen sei und was dies für den Einzelnen bedeutet, bestehen allerdings oft Unsicherheiten, Ernüchterung und Einschränkungen. Visionen, wie die der inklusiven Gesellschaft (Hinz, 2015) können einen Weg für Veränderungen weisen. Beginnen wir nun also auch diesen Weg zu gehen!

Es dürfte schon klar geworden sein: Inklusion ist keine vorrangig pädagogische, sondern eine allgemeingesellschaftliche Orientierung. Doch da Pädagogik und Autismus meine Betätigungsfelder sind, soll im Folgenden aufgezeigt werden, wie der Inklusion in der Schule der Weg bereitet werden kann, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, welche Modelle oder Ansätze bereits existieren und auch, wo unter den gegenwärtigen Umständen die Grenzen des Machbaren liegen.

Das vorliegende Buch erscheint in einer Schriftenreihe, in der evidenzbasierte Methoden vorgestellt werden. Evidenzbasiert bedeutet, sich auf empirische Belege zu stützen. Unterricht unterliegt i. d. R. noch komplexeren Faktoren als die ebenfalls schon schwierig evidenzbasiert zu untersuchende Therapie. In der Schule begegnen uns eine Fülle von Wirkfaktoren: Schulleistungen, Lebenszufriedenheit, Entwicklung sozialer Kompetenzen, Beziehungen zu anderen Schülern, Zugang zu Ausbildungsplätzen, Elternzufriedenheit …, – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Das komplexe Geschehen wird in einer evidenzbasierten Pädagogik unzulässig vereinfacht (Karger, 2018, S. 250). Tatsächlich gibt es keine allgemeine evidenzbasierte Pädagogik.1 Wo mir Evidenzen für einzelne Wirkungen bekannt sind, werden sie erwähnt.

Wenn Inklusion als Prozess verstanden wird, kann hier auch weder ein endgültiges Konzept vorgestellt, noch können aus Platzgründen alle Ideen ausführlich genug präsentiert werden. Doch an vielen Stellen wird auf weiterführende Literatur verwiesen, die es dem interessierten Leser2 ermöglicht, sich intensiver mit einzelnen Fragestellungen auseinanderzusetzen.

1     Zu dem Thema auch Ahrbeck, B.; Ellinger, S.; Hechler, O.; Koch, K. und Schad, G. (2016): Evidenzbasierte Pädagogik. Sonderpädagogische Einwände. Stuttgart: Kohlhammer und Eckert & Sempert (2012).

2     Aus Gründen der besseren Lesbarkeit, d. h. zu Vermeidung von Wortungetümen und Redundanzen wird die männliche Form gewählt, auch wenn beide Geschlechter gemeint sind.

 

 

 

1          Begriffsklärung

1.1       Autismus

1.1.1     Die medizinische Definition

Seit Erscheinen des »Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-5« (APA, 2013) gibt es offiziell ein Umdenken in der Beschreibung dessen, was Autismus ist. Dies zeigt sich bereits in der Begrifflichkeit. Der aktuelle medizinische Fachterminus lautet »Autismus-Spektrum-Störung« (Falkai & Wittchen, 2015, S. 64).

Es handelt sich beim DSM-5 um das aktuellste Klassifikationssystem der »American Psychiatric Association«, in dem Störungen mit ihren Bezeichnungen und Symptomen aufgelistet werden. Der Begriff »Autismus-Spektrum-Störung« ersetzt darin die zuvor verwendeten Diagnosen »Frühkindlicher Autismus«, »Autismus in der Kindheit«, »Kanner-Autismus«, »High-Functioning-Autismus«, »Atypischer Autismus«, »nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung im Kindesalter« und »Asperger-Syndrom« (Falkai & Wittchen, 2015).

Das Neue der 5. Version des DSM besteht darin, dass die bisherige kategoriale, schubladenorientierte Betrachtung des Autismus und seine Unterteilung in verschiedene Formen aufgegeben wurde. Sie wurde ersetzt durch die Idee eines Kontinuums mit unterschiedlichen Ausprägungen. In Untersuchungen war festgestellt worden, dass Erwachsene mit Frühkindlichem Autismus in ihrer Symptomatik nicht eindeutig von denen mit Asperger-Syndrom unterschieden werden können (Amorosa, 2010). Die Idee von klar differenzierbaren Formen des Autismus war somit nicht länger haltbar.

Eine Autismus-Spektrum-Störung ist immer eine Summationsdiagnose. Das bedeutet, dass verschiedene Symptome gemeinsam auftreten müssen. Sie kommen aus dem Bereich der »sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion über verschiedene Kontexte« und beinhalten »eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten« (Falkai & Wittchen, 2015, S. 64). Für beide Bereiche können drei Schweregrade bestimmt werden:

•  Schweregrad 1: »Unterstützung Erforderlich«

•  Schweregrad 2: »Umfangreiche Unterstützung Erforderlich«

•  Schweregrad 3: »Sehr Umfangreiche Unterstützung Erforderlich« (Falkai & Wittchen, 2015, S. 67).

Zusätzlich treten oft intellektuelle, sprachliche und motorische Besonderheiten auf. Das Fähigkeitenprofil ist häufig sehr unausgeglichen (Falkai & Wittchen, 2015).

Die Diagnose erfolgt auf der Grundlage von Verhaltensbeobachtung und -einschätzung sowie einer Befragung der Bezugspersonen. Die Autismus-Spektrum-Störung zählt im DSM-5 zur Gruppe der »Störungen der neuronalen und mentalen Entwicklung« (Falkai & Wittchen, 2015, S. 39). Damit wird auf die biologischen Ursachen hingewiesen und gleichzeitig werden Erziehungsfehler als Ursache ausgeschlossen.

1.1.2     Pädagogische Aspekte

Für Lehrer ist die psychiatrische Erklärung leider unzureichend. Sie erklärt nicht, warum das bewährte pädagogische Handwerkzeug bei diesen Mädchen und Jungen nicht oder zumindest weniger gut funktioniert.

Schüler im Autismus-Spektrum werden fälschlicherweise oft als bockig, desinteressiert oder sich verweigernd beschrieben. Dabei liegen die Gründe für ihr Verhalten nicht in einer mangelnden Anstrengungsbereitschaft. Ihr Gehirn ist in einer spezifischen Weise strukturiert und lässt sie die Welt auf eine besondere Art erleben.

Ist Lehrern, Erziehern und Schulbegleitern dies bekannt, wird das ansonsten ungewöhnlich erscheinende Verhalten dann i. d. R. logisch. Es ist nur keine Logik, die den bekannten sozialen Regeln folgt.

Biologische Voraussetzungen für soziales Lernen: Der Bau und die Funktion unseres Gehirns unterstützen in besonderer Weise den Erwerb psychosozialer Fähigkeiten. Man spricht von ihm sogar als einem »Sozialorgan« (Hüther, 2011). Die meisten Neugeborenen kommen bereits mit zwei wichtigen sozialen Lernvoraussetzungen zu Welt.

Die erste besteht darin, dass bestimmte soziale Reize wie z. B. die Augen einer Person, aufgrund einer angeborenen Tendenz als attraktiv empfunden werden (Bischof-Köhler, 2011). Neugeborene haben bereits direkt nach der Geburt Interesse an anderen Menschen und daran, mit ihnen in Kontakt zu treten (Tomasello, 2010).

Doch das allein reicht nicht, es gibt eine zweite biologische Voraussetzung. Sobald das Kind Kontakt aufnimmt, werden Glücksbotenstoffe (Hormone und sogenannte Neurotransmitter) ausgeschüttet. Dies führt zu einem angenehmen Gefühl (Grandin, 2010). Mit anderen Menschen zusammen zu sein und zu kommunizieren, belohnt sich damit also sozusagen selbst (Vogeley, 2012).

Der soziale Entwicklungsturbo: Beide Lernvoraussetzungen bringen zusammen einen »Entwicklungsturbo« in Gang. Das Neugeborene schaut in die Augen oder schmiegt sich an und empfindet dies als angenehm. Es wiederholt den Blickkontakt deshalb, was dem klassischen »Üben« gleichkommt.

Auf diese Weise verbessert das Kind seine sozialen Fähigkeiten, wodurch auch die Gelegenheiten für Glücksgefühle zunehmen. Ein häufiges und langes Üben ist sichergestellt und sorgt so wiederum für eine rasant schnelle Entwicklung sozialer Kompetenzen.

Jeder Entwicklungsturbo – egal in welchem Bereich – hat folgende Eigenschaften:

•  Die Beschäftigung mit dem Thema ist lustvoll,

•  die Person sucht sich ihren Input allein (ist »Selbstlerner«),

•  die Beschäftigung mit dem Thema strengt sie nicht an.

Allerdings hat sich das Spezialinteresse am Sozialverhalten bei neurotypischen3 Menschen nicht zufällig entwickelt. Die Fähigkeit zum Miteinander hilft und half uns beim Überleben. Zu einer Gruppe zu gehören, von ihr angenommen zu werden, bleibt lebenslang von großem Wert. Die Fähigkeiten hierfür verbessern sich unter günstigen Lebensbedingungen in der Kindheit und Jugend permanent.

Soziale Hinweise wie Lob, ein aufmunterndes Lächeln, Blickkontakt, Mimik, aber auch Tadel und Kritik werden aufgrund ihrer sozialen Bedeutsamkeit bedeutsame Hinweise für das Verhalten. Für das Bestehen in einer Gruppe ist das äußerst wichtig.

Soziale Interaktion als Spezialinteresse neurotypischer Kinder: Das neurotypische Kind hat somit ein Spezialinteresse, auch wenn das im Allgemeinen nicht so genannt wird. Dieses »Spezialinteresse« gilt der sozialen Interaktion.

Diese Fähigkeiten im Miteinander mit anderen Menschen zu erweitern, ist eine der wichtigsten Entwicklungsaufgaben in der frühen Kindheit. Entsprechend viel Zeit verbringen Kinder damit. Weil die überwältigende Mehrheit der Kinder dies so tut, bezeichnet man es als »normal«.

Spezialistentum schärft den Blick für das eigene Interessensgebiet. Das Spezialinteresse am Sozialverhalten führt dazu, dass eine Person jede Situation, an der andere Menschen beteiligt sind, als erstes auf ihre sozialen Aspekte hin beurteilt. Wer ist anwesend? Wer verhält sich wem gegenüber auf welche Art und Weise? Wie sind die sozialen Beziehungen gestaltet, wo bestehen es Konflikte, wo Allianzen?

Autismus als »soziale Sehbehinderung«

»Obwohl uns der Arzt versicherte, dass Walker nichts fehle […] beunruhigte mich etwas. […] Er hatte im ersten Augenblick, als ich ihn sah, an mir vorbeigeschaut. […] Er blickte weg, wenn er in dem kleinen Babykorb aus Plastik lag. Auch wenn ich ihn stillte, sah er mich nicht an. Es war, als beachte er weder Cliff noch mich oder Elizabeth« (Stacey, 2004, S. 13 f.)

Das Zitat stammt von einer Mutter, die ihre ersten Beobachtungen bei ihrem Baby schildert. Sie beschreibt die Auswirkungen fehlender angeborener sozialer Lernvoraussetzungen – das Kind initiiert keine oder nur wenige soziale Kontakte.