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Die dreijährige Siri verschwindet über Nacht spurlos aus einem Hotelzimmer im Hinterland des Bodensees. Verena, vierundvierzig, eine erfolgreiche wohlhabende Werbefilmproduzentin aus Frankfurt und nicht gerade die typische Oma hätte ihre Enkeltochter über ein verlängertes Wochenende hüten sollen und befindet sich deswegen in heller Panik. Die Polizei ist dazu noch mit anderen Vorkommnissen überlastet, und die Ermittlungen in diesem Fall laufen nur zögernd an. Nur durch Zufall stößt Verena selbst auf eine winzig kleine Spur des Kindes und versucht fieberhaft diesem roten Faden zu folgen. Ihre Suche führt sie um den halben See, zu Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen und wird für sie zunehmend gefährlich. Nicht nur die Sorge um Siri, auch das schwindende Vertrauen in eine neu aufkeimende Liebe bringt sie vollkommen durcheinander. Und bald weiß sie nicht mehr wem sie noch trauen kann. Die liebliche Bodenseelandschaft zwischen Gehrenberg und Pfänder bildet den Hintergrund zu diesem turbulenten Abenteuer das nicht nur ihr Leben in wenigen Stunden völlig verändern wird....
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Seitenzahl: 268
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Christina Hupfer
Nur eine winzige Spur
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Inhaltsverzeichnis
Titel
* 1 *
* 2*
* 3 *
* 4 *
* 5 *
* 6 *
* 7 *
* 8 *
* 9 *
* 10 *
* 11 *
* 12 *
* 13 *
* 14 *
* 15 *
* 16 *
* 17 *
* 18 *
* 19 *
* 20 *
* 21 *
* 22 *
* 23 *
* 24 *
* 25 *
* 26 *
* 27 *
Epilog
Danke!
Weiteres von dieser Autorin:
noch etwas für kleine und große Kinder:
Impressum neobooks
Der Zufall ist immer kraftvoll.
Lass Deinen Haken immer ausgeworfen;
Im Teich werden dort Fische sein
wo Du sie am wenigsten erwartest.
Ovid
***
„Sind Sie wirklich ganz sicher, dass die Tür noch abgeschlossen war?“, fragte er mich zum wiederholten Mal.
Ich, die ich normalerweise die Souveränität in Person bin – so behauptet wenigstens mein Geschäftspartner Sascha – hätte diesen Kotzbrocken von wichtigtuerischem Polizisten erschlagen können. Und ich hätte es bestimmt auch getan, hätte ich mich nicht wie paralysiert an meinen Sessellehnen festgeklammert. Mir war schlecht, mir war schwummerig, und mein Herz raste schneller als ein ungebremster Intercity. Ich wollte nur noch aufwachen und mich aus diesem Albtraum befreien. Aber das Verhör ging weiter:
„Wann sind Sie in diesem Hotel angekommen? Mit wem hatten Sie Kontakt? Wer hat die Zimmer links und rechts von Ihnen? Was haben Sie gestern Abend unternommen? Was und wie viel haben Sie getrunken? War das wirklich alles?“
Mechanisch beantwortete ich die unzähligen Fragen und beobachtete dabei abwesend die kräftigen Finger mit den ordentlich kurz geschnittenen Nägeln, die ungeduldig auf einen Tablet-PC klopften.
„Bitte, wiederholen Sie nochmals von Anfang an. Wieso sind sie beide hierher nach Friedrichshafen gekommen?“ Der Zeigefinger verhielt schwebend über dem Display, bereit, sofort wieder zuzustoßen.
„Aber ich habe Ihrer Kollegin doch auch schon alles erzählt. Jetzt TUN Sie doch endlich etwas!“ Meine Stimme kippte vor Verzweiflung.
„Die Kollegen sind dran, Frau Ahrendt. Bitte beruhigen Sie sich”, sagte er distanziert. „Aber ich kann es Ihnen leider nicht ersparen mir die ganze Geschichte noch einmal von vorn zu erzählen.“
Streng blickende graue Augen unter gerunzelten Brauen musterten mich unerbittlich.
„OK, also gut”, begann ich erschöpft. „Vor einer Woche hat mich mein Schwiegersohn angerufen...“
Ich war gerade dabei, mir die Unterlagen für meine kurzfristig geplante Geschäftsreise zur Messe nach Friedrichshafen zusammenzusuchen, als meine Sekretärin den Anruf annahm.
„Frau Ahrendt, Herr Peters ist dran. Mir scheint es ist wichtig.“
„OK, stellen sie durch”, ergab ich mich seufzend in mein Schicksal. Ich konnte immer noch nicht ganz glauben, dass sich meine Tochter tatsächlich in diesen Langweiler verliebt und ihn dann auch noch geheiratet hatte. Gespräche mit ihm verliefen zäh wie eingedickter Rübensirup. Ach was, dagegen war Rübensirup ein munter sprudelndes Bächlein.
Gut, er war hochintelligent und, das musste ich zugeben, er hatte auch eine humorvolle Ader. Allerdings eine winzig kleine, fand ich.
Meine Karen hatte wohl Sicherheit und Verlässlichkeit gesucht. Beides Attribute mit denen ihr bisheriges Leben nicht gerade beschrieben werden konnte. Aber es war wenigstens nie langweilig gewesen, verteidigte ich mich innerlich. Sie hatte einen Vater, der dauernd in der Weltgeschichte unterwegs war, weil immer irgendwo DIE Reportage auf ihn wartete und eine Mutter, die sich erfolgreich ein eigenes Leben aufgebaut hatte und stolz auf eine steile Karriere in der Werbefilmbranche zurück blicken konnte.
Sie hatte ihre ersten Schritte gemacht, indem sie sich an wackeligen Fotostativen festhielt, und ihre ersten „Kunstwerke" zierten eine Wand in unserem Atelier. Sie hatte diverse Au-pair-Mädchen gehabt, die auf sie aufpassten, und wenn Ulf zwischen zwei Reisen mal wieder im Land war wurden sie – und das jeweilige Au pair – von ihm gnadenlos verwöhnt. Wenn sie dann zum wiederholten Mal seinem Flieger enttäuscht hinterher gewinkt hatte, versuchte ich, sie mit Shoppingtouren und Mädelstagen abzulenken. Leider mussten diese Events nur allzu zu oft gekürzt werden, denn irgendwo brannte es immer, und sie landete wieder mal bei einer der beiden Omas oder der jeweiligen Mandy, Jenny oder Ginny.
Mit Manfred Peters, das gab ich offen zu, war Ruhe in ihr Leben eingekehrt, und das, was mich einigermaßen mit ihm versöhnte, war meine kleine dreijährige Enkeltochter Siri. Ich hätte mir zwar gewünscht Karen wäre nicht, genau wie ihre Mutter bereits mit zweiundzwanzig Jahren schwanger geworden, sondern hätte ihr schöpferisches Talent weiter entfalten können. Aber sie war glücklich! Und Siri war ein kleiner Sonnenschein, total pflegeleicht. Immer gut gelaunt zeigte sie ihre Zähnchen und inzwischen plapperte sie munter drauf los. Mein Herz quoll über, wenn sie mit ihren Patschhändchen an mir zog und „OmiReni" unbedingt etwas so Wichtiges wie zum Beispiel einen halbvertrockneten Regenwurm oder etwas anderes Undefinierbares zeigen wollte.
„Hallo Manfred”, sagte ich daher freundlich. „Was gibt's?“
„Verena, wir brauchen deine Hilfe.“ Oh, so schnell kam er sonst eigentlich nie zur Sache.
„Wieso, ist was mit Karen?“, fragte ich erschrocken.
„Ja...nein...eigentlich nicht...aber irgendwie doch...“
„Jetzt sag schon?!“
„Na, ja, du weißt ja, dass sie in letzter Zeit ein wenig erschöpft war und ab Donnerstag ein paar Tage zu ihrer Freundin Natascha aufs Land fahren wollte?“
Ja, das wusste ich. Karen, perfektionistisch wie sie war, hatte sich in letzter Zeit etwas übernommen. Nicht nur, dass sie abends immer wieder die staubtrockenen Schriften ihres Mannes auf Schreibfehler überprüfen durfte, sie hatte auch noch für einen ihrer Freunde einen Kunstkatalog erstellt und ihn erst knapp vor dessen Vernissage fertig stellen können. Wie sie es dazu noch schaffte, ihre gemütliche Wohnung einwandfrei in Schuss zu halten und darüber hinaus auch Siri nicht zu vernachlässigen, war mir ein Rätsel. SIE schwänzte kein Babyschwimmen und keine Krabbelgruppe, und sie nahm sich nicht nur Zeit für Kindergartenfeste, sie half auch da noch mit! Da gab es, wie ihre Mutter kleinlaut feststellen musste, keine Events, die abgebrochen oder, bitterer noch, auf "irgendwann mal" verschoben wurden.
Es war daher unausweichlich, dass sie eines Tages explodieren würde. Explodieren musste. Als sie dabei dem hilflosen Manfred eine filmreife Szene hinlegte geriet Natascha bei einem unangemeldeten Kurzbesuch mitten zwischen die fliegenden Fetzen. Sie verfrachtete meine Tochter kurz entschlossen mit einer Großpackung Tempos und einer nicht weniger großen Tasse Tee in einen Sessel. Dann brachte sie die verstörte Siri zum Spielen zur Nachbarin, schnappte sich meinen Schwiegersohn und rang ihm das Versprechen ab, Urlaub zu nehmen und sich um Siri zu kümmern, damit Karen sich eine Woche bei ihr erholen könne.
Als Karen mir das erzählte, war ich mehr als erfreut, denn ich hatte mir langsam Sorgen um sie gemacht. Und bei ihrer unkonventionellen, etwas überspannten, schon mal Frühlingszwiebeln im Haar tragenden Freundin Natascha, Feldenkrais- und Yogalehrerin, war sie sicher gut aufgehoben.
„Klappt das jetzt doch nicht?“, fragte ich daher beunruhigt.
„Nun, es ist eben so...“
Weitschweifig erklärte er mir, dass er, DIE Chance, eine zweiwöchige Vortragsreise (Er, Vortrag???) nach Südamerika antreten sollte, und dass sie auf die Schnelle niemanden hätten, der sich um Siri kümmern könnte. Aber er wollte auch unbedingt, dass Karen sich erholen könne. Und er wisse zwar, dass ich eine vielbeschäftigte Frau sei, aber ob nicht ich...
Während ich dies alles mühsam aus ihm heraus kitzelte überlegte ich fieberhaft, was ich tun sollte.
Manfred musste auch schon am Donnerstag fliegen. Ich hatte aber noch am Freitag dieses Meeting in Friedrichshafen. Das lag leider auch nicht gerade um die Ecke von Frankfurt. Dieser Termin war für unsere Firma jedoch enorm wichtig. Der Kunde wollte nur mit mir verhandeln, und wenn ich ihn versetzte, würde die Konkurrenz ihn mit Handkuss übernehmen. Und mein Partner würde mich lynchen.
Eine Idee begann in mir zu reifen. Ich war doch mal in diesem wunderschönen kleinen Hotel im Hinterland vom Bodensee gewesen. Wenn ich mich richtig erinnerte, war es sehr familienfreundlich. Bei allem Luxus stolperte man da schon mal über Kinder und Hunde. Die würden mir sicher auch jemanden vermitteln, der ein paar Stunden auf ein Kleinkind aufpasste. Und dann könnten wir noch zwei, drei Tage anhängen. Ich könnte Siri diesen komischen Affenberg zeigen, von dem ich mal gehört hatte, und irgendwo bei Überlingen sollte so ein richtig netter Kleintierzoo sein.
„Hör` mal zu, Manfred...“Am selben Tag noch fuhr ich von Frankfurt nach Gießen um mit meiner Tochter und meinem Schwiegersohn alles zu besprechen. Und als ich danach mit Hilfe meiner Sekretärin das Drumherum organisiert hatte, freute ich mich wie ein Kind auf die Reise mit meiner Enkelin. Die Verkäuferinnen einiger Kinderausstattungsläden freuten sich auch, als sie mir und meinen vollen Tüten hinterher winkten. Flipflops und Sommerkleidchen in rosarot (Karen würde es schütteln!), ein kleiner Kinderreisekoffer, ein winziger Hut und süße weiße Leggins waren natürlich drin. Dazu sonst noch so einiges, von dem Oma meinte, dass ihre Enkelin es gebrauchen könnte. Zum Beispiel ein Wasserball und ein aufblasbares Krokodil. Immerhin war es in diesem Frühjahr bereits ungewöhnlich warm.
Zwei Tage später verabschiedeten wir uns von Karen, die ebenfalls schon mit gepackten Taschen auf ihre Freundin wartete.
„Reni, ich komme mir vor wie eine Rabenmutter, ich würde am liebsten einen Rückzieher machen”, sagte sie mit tränenfeuchten Augen zu mir, während sie die zappelnde Siri an sich drückte. „Andererseits kann ich dir gar nicht sagen wie sehr ich mich auf diese paar Tage Auszeit freue.“
„Und ich freue mich riesig auf die Zeit mit der Kleinen. Es kommt mir vor wie Schule schwänzen”, lachte ich.
"Pass gut auf sie auf.“ Sie gab Siri frei, die gleich begeistert mit ihrem kleinen Koffer um uns herum rollerte. „So ganz wohl ist mir nicht. Da draußen bei Natascha ist kein Mobilfunkempfang. Und Festnetzanschluss hat sie auch nicht.“
„Du hast mir doch die Nummer von Nataschas Mutter gegeben, falls etwas sein sollte.“ Ich hielt mein Handy hoch. „Ist gespeichert. Und ich passe gut auf sie auf. Das verspreche ich dir. Weißt du, es ist wahrscheinlich tatsächlich so, dass manche Großmütter an ihren Enkeln gut machen wollen was sie bei ihren eigenen Kinder verbockt haben”, meinte ich schuldbewusst und umarmte sie fest. Dann schulterte ich das Gepäck.
Siri und ich brachten Manfred, dem ich kurz vor dem Einchecken noch schnell Karens Lippenstift vom Hemdkragen gerieben hatte, zum Terminal und zwei Stunden später ging auch unser Flug in den tiefen Süden Deutschlands. Meine kleine Prinzessin kokettierte mit den Flugbegleitern, dem Kapitän und sämtlichen Fluggästen. In ihren hellen Kräusellocken fing sich die Sonne und ich hätte sie knuddeln und in sie reinbeißen können.
„Ihre Tochter ist ein bezauberndes Kind.“ Der Fluggast neben uns sammelte gerade eine Menge Pluspunkte bei mir.
Sie sah mir ja auch wirklich ähnlich. Die gleichen blauen Augen, das schmale Gesicht. Nur waren meine Locken etwas dunkler und normalerweise trug ich sie glatt geföhnt. Die paar Fältchen um die Augen kaschierte ich sonst immer mit etwas getönter Creme. Doch wenn man sich um einen Wirbelwind, und sei er auch noch so bezaubernd, kümmern musste, blieb das Styling etwas auf der Strecke. Und das war mir in diesem Moment auch herzlich egal. Immerhin ging ich noch als Mutti durch! So entspannt und locker war ich schon lange nicht mehr gewesen. Ich musste mir eingestehen, dass die Arbeit, und wenn sie noch so interessant war, dieses Glück bei weitem nicht aufwog. Der Stachel des Bedauerns, diese Erfahrungen mit Karen so oft verschenkt zu haben, piekte kräftig.
In dem kleinen übersichtlichen Flughafen Friedrichshafens angekommen, fanden wir uns gut zurecht, schnappten uns schnell den Koffer vom Band und durften gleich ins erste Taxi steigen. Auch hier wirkte der Prinzessinnenbonus. Ein durchaus ansehnliches Exemplar von Mann ließ uns den Vortritt und hielt uns, während der Fahrer noch nach dem Kindersitz kramte, sogar die Tür auf: „Viel Vergnügen, die Damen.“
„Danke schön”, krähte Siri und hüpfte mit meiner Hilfe auf die Rückbank. Nicht einen Moment lang dachte ich an etwas Böses.
Der Termin mit WOTOKRAFT am folgenden Tag verlief problemlos und auch ganz erfreulich bis auf die Tatsache, dass ich die Finger von einem der Herren immer wieder höflich von meinen diversen Körperteilen pflücken musste. Beim mit Augenzwinkern anvisierten Gegenbesuch in Frankfurt würde ich allerdings meinen Geschäftspartner Sascha mit in den Ring nehmen. Vielleicht könnte der, schwul wie er war, sich ein wenig für mich revanchieren.
Als ich endlich ins Hotel zurückkam war Siri noch sehr beschäftigt damit, unter Aufsicht einer Babysitterin, die nur unwesentlich älter aussah als sie selbst, riesige Wassereimer über die Liegewiese vor dem kleinen Swimmingpool zu schleppen. In Zeichensprache bedeutete ich dem Mädchen, dass ich gleich wieder da wäre. Dann holte ich mir an der Rezeption meinen Schlüssel und grüsste beim Weggehen höflich den anderen Gast, der grade an einem Ständer mit Bodenseepostkarten drehte.
Oh, das war doch der nette Herr, der uns am Flughafen beim Taxi den Vortritt gelassen hatte. Ein Geschäftsmann wahrscheinlich. So ein Anzug sah doch immer vorteilhaft aus – und wenn darin auch noch ein liebenswürdiger Mann steckte... Vielleicht sah man sich ja Abends beim Essen. Wir nickten uns lächelnd zu und ich beeilte mich in unser Zimmer zu kommen, um endlich meine mörderisch zwickenden Ohrclips runter zu reißen, die Pumps in die Ecke zu kicken und das kleine elegante Kostüm gegen Jeans und schlabberige Bluse zu tauschen.
Obwohl es aus dem Gastraum wunderbar verführerisch nach Braten duftete und den vielen Autos im Hof nach zu urteilen das Essen sehr gut sein musste, bestellte ich uns nur ein Lunchpaket. Mit dem gemieteten E-Bike samt Kinderanhänger fuhren Siri und ich anschließend durch sattgrüne Wiesen, gesprenkelt mit tausenden Frühlingsblumen, vorbei an unendlich vielen Spalier stehenden Obstbäumen und kleinen Tannenwäldern zum Strand, sammelten Steine und Schwemmholz (wovon ich das meiste gleich wieder entsorgte – zu sperrig für unser Fluggepäck) und fütterten Enten. Es war ein traumhaft schöner Tag. Aus der Ferne grüssten uns weiße Bergspitzen. Der See davor leuchtete in tiefem Blau, und die silbernen Blätter einiger Pappeln zitterten in der leichten Brise, die uns tatsächlich schon einen Hauch von Sonnenöl mit der angenehmen Kühle vorbei schickte. Für die frühe Jahreszeit war es bereits ganz schön warm. Während die Kleine später unermüdlich am Uferrand spielte, saß ich im Schatten der Bäume und bastelte aus ein paar Fundstücken, einer blass geschliffenen ehemals roten Perle, löchrigen Schwemmholzstückchen und einem, selbstverständlich im See ordentlich gewaschenen ausgefransten Schuhbändel eine Kette für sie. Die hübsche weißgraue Feder steckte ich ihr kurzerhand ins lockige Haar. Als Siri sich im Display meines Handys anschauen konnte lachte sie übers ganze Gesichtchen und schmiegte sich glücklich an mich. Und ich, die ich mich sonst immer über die ewig vor einem Handy klebenden Leute lustig machte, schoss mein erstes Selfie. Während ich noch gerührt dieses Bild anschaute, rannte sie stolz zu den paar anderen Badegästen, die mit uns an diesem idyllischen Plätzchen saßen, präsentierte sich freudestrahlend, und heimste dabei ein paar Gummibärchen, ein Streicheln über den Kopf, ein fröhliches Lächeln und auch mal ein belästigtes Wegscheuchen ein. Im nächsten Moment lief sie Richtung Wasser und ich konnte grade noch „Siri! Haaaalt!“ rufen, da brachte sie auch schon ein künstlerisch aufgebautes Steinmännchen zum Einsturz.
Verlegen sprang ich auf und entschuldigte mich wortreich bei dem älteren Herrn, der da gerade in seinen Badeshorts die Sonne genoss und eben mit Erfolg zwei Steine mit der spitzen Seite aufeinander gestellt hatte. Na ja, ganz so alt war er nun auch wieder nicht – er war so etwa in meinem Alter, wie ich bei genauerem Hinsehen feststellte.
„Machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe es ja geschafft – Und nur darum geht's doch”, lachte er belustigt und erhob sich.
„Schon, Danke, aber sie muss lernen...“
Ich wandte mich an Siri: „Du musst besser aufpassen, es könnte ja auch was Schlimmeres passieren.“ Ich nahm die freche Maus auf den Arm und schüttelte sie leicht.
„Klar, aber machen sie sich deswegen jetzt nicht verrückt. Die schlimmeren Sachen kommen schon noch. Warten sie erst mal die Pubertät ab.“ Er seufzte abgrundtief.
„Sprechen Sie da aus Erfahrung?“, fragte ich neugierig.
„Oh ja, meine sechzehnjährige Tochter bringt mich schon manchmal um den Verstand. Ich würde sie grade gar zu gern gegen ihre eintauschen.“
Hier am Bodensee gab es wirklich sehr nette Menschen. Ich musterte ihn beiläufig. Höchstens zehn Zentimeter größer als ich, so ein Meter fünfundachtzig, straff und muskulös. Die Art Muskeln, die nicht dem Fitness-Studio, sondern körperlicher Arbeit geschuldet waren. Grau gesprenkeltes, dunkles, etwas zu langes Haar und vergnügt funkelnde, blaugraue Augen. Ein Mister Universum war er nun nicht gerade. Die knackige Bräune hörte an den Oberarmen auf und die käsige Haut darüber war alles andere als sexy. Aber er hatte ein sehr nettes Lächeln.
Was er wohl beruflich machte? Dem Kleiderstapel auf seinem Badetuch zufolge etwas Handwerkliches, vielleicht etwas Künstlerisches. Schade, dass er schon vergeben war. Was ich da gerade dachte!
„Oh”, ich setzte Siri wieder ab, gab ihr einen Klaps und ließ sie springen. „Danke für das Kompliment, aber das ist nicht meine Tochter. Das ist meine Enkelin.“
Im Nu waren wir in ein lockeres Gespräch vertieft. Über Töchter und Enkelinnen, Reisen und Sehenswürdigkeiten, und nebenbei brachte er Siri dazu, flache Steine zu suchen und zeigte ihr, wie man sie übers Wasser tanzen lässt.
Das Piepen seines Handys unterbrach abrupt unsere angeregte Unterhaltung. Erstaunt schaute er auf seine Uhr.
„Schade, Mittagspause vorbei, ich muss los. Ich habe gleich einen Termin.“
Er schlüpfte in Hose und T-Shirt und griff sich seinen Rucksack.
„Ich habe mich sehr gefreut, dich und deine Omi kennenzulernen”, lachte er Siri zu, schulterte den Sack, schwang sich auf ein Fahrrad, winkte, und weg war er. Wirklich schade.
„Was hältst du davon”, fragte ich Siri, wenn wir auch zusammenpacken und nach Immenstaad fahren würden, um ein schönes Eis zu essen?“
Dafür war mein Leckermäulchen natürlich gleich zu haben, und kurz darauf saßen wir an der Uferpromenade auf einer Bank. Während Siri in meinem Arm bald selig schlummerte, stellte ich amüsiert fest, dass man nicht nur in der Großstadt sondern auch hier am See richtig schön „Leute gucken" konnte. Das Abendessen im Hotel überstand ich nur mühsam, denn mir fielen fast die Augen zu. Nachdem Siri mit ihrer Mami, die dafür extra in eine Zone mit Handyempfang gefahren war, telefoniert hatte und danach endlich über einer Gutenachtgeschichte eingeschlafen war, verspürte ich nicht die geringste Lust auf irgendeine Art Abendunterhaltung. Ich trat hinaus auf unseren hochgelegenen Balkon, ließ meine Augen über die mit einem zartgrünen Hauch bedeckten Felder und die dämmerdunklen Wälder schweifen und atmete tief den herbsüßen Duft frisch gepflügter Erde ein. Einer nach dem anderen leuchteten die Sterne auf und blinkten um die Wette mit einem kleinen Flugzeug, das bald am Horizont verschwand. Die Vorhänge hinter mir wehten im frischen Abendwind. Nichts, aber rein gar nichts, hatte mich auf den grausamen Schlag vorbereitet, der mich am folgenden Morgen treffen sollte.
Blicklos starrte ich vor mich hin. Mein Fahrrad lehnte an der Bank, auf der ich saß, und sein Anhänger versperrte den Durchgang zum Parkgelände hinter dem kleinen Spielplatz. Das empörte Aufschnauben der dürren alten Dame nahm ich kaum zur Kenntnis, aber ich zerrte das Teil ein wenig zu mir rüber. In Wellen überrollte mich Übelkeit.
„Bleiben Sie erreichbar, halten Sie sich zur Verfügung und verlassen Sie bitte nicht die Stadt.“ Die letzten Worte des Polizisten dröhnten immer noch in meinem Kopf. Und sein kurzes aufmunternd gedachtes „Wir tun wirklich alles, um sie zu finden.“ Er hatte nicht gesagt „Wir finden sie...“
Die munteren Stimmen der jungen Frauen, die auf dem Parkplatz zusammenstanden, bohrten sich in mich hinein wie scharf gespitzte Pfeile. Bei dem Gedanken, dass ich meiner Tochter jetzt bald Bescheid sagen und sie mit in diesen Albtraum ziehen, ihr dieses ungeheuerliche Geschehen erklären musste, verkrampfte sich meine Kehle. Stundenlang war ich schon unterwegs, hatte hinter jeden Busch geschaut, hinter jede Hausecke, in jedes Kindergesicht. Siri aber war und blieb verschwunden.
Wie an diesem Morgen, als ich noch ziemlich schlaftrunken und sehr benommen aufgewacht war und alleine in dem großen Doppelbett gelegen hatte. Als ich Siri weder im Bad noch auf dem Balkon und auch nicht unter dem Bett hatte finden können. Auch nicht, als ich die immer noch gut verschlossene Zimmertür geöffnet hatte und in heller Panik zur Rezeption gelaufen war und mit der aufgescheuchten Hausdame alle erdenklich zugänglichen Winkel im und ums Hotel herum abgesucht hatte. Nicht mal die wirklich schnell eingetroffene Polizeiabordnung hatte ein einziges Haar von ihr aufgespürt. Ich hatte den leitenden Beamten inständig gebeten meine Tochter noch zu schonen, sie erst am Abend, falls wir Siri noch nicht gefunden hätten, zu benachrichtigen. So einfach war sie ja auch nicht zu erreichen. Der Name von Nataschas Mutter war mir beim besten Willen nicht mehr eingefallen, und auf meinem Handy tummelten sich mindestens so viele Adressen wie in Frankfurts Telefonbuch.
Manfred!!!! Aber da hatte sich, wie nicht anders zu erwarten, auch nur die Mailbox gemeldet.
„Bitte melde dich. Es ist dringend!“, hatte ich versucht, bemüht ruhig darauf zu sprechen. Vielleicht, bitte, lieber Gott, vielleicht war sie ja bald wieder da...
Danach hatte ich es einfach nicht mehr ausgehalten nur in meinem Zimmer herumzusitzen und auch in der Lobby flatterte ich vor Unruhe. Die mitleidigen und dabei sensationsgierigen Blicke der Gäste, denen die ganze Aufregung natürlich nicht verborgen geblieben war, konnte ich erst recht nicht ertragen. So fuhr ich mit dem Rad los, klapperte jeden Ort ab, den wir am Tag zuvor aufgesucht hatten, was total irrational war, und landete schließlich vollkommen erschöpft auf dieser Bank. Ich klaubte mit zitternden Händen mein Handy aus der Gürteltasche – kein Anruf – aber vielleicht war sie doch schon da, saß vergnügt auf dem Schoß eines Hausmädchens, und man war nur noch nicht dazugekommen, mich anzurufen. Ich wählte, und noch ehe das genervte „Kriminalkommissar Böhringer" verklungen war, wusste ich, dass ich meine winzig kleine Hoffnung ein weiteres Mal begraben konnte.
Die hellen Stimmen drangen nur langsam zu mir durch. Eine Gruppe von Kindern stürmte aus einem grünen Hohlweg, tobte über den Platz und drängelte sich in Begleitung zweier junger Frauen, wahrscheinlich Lehrerinnen, durch den engen Durchlass neben mir. Müde und hoffnungslos schaute ich ihnen nach, hörte sie fröhlich rufen, sah sie auf ihre Mütter zulaufen, sich von ihren Freunden verabschieden, hörte Türen zuschlagen und Autos losfahren. Bitterer Neid fraß mich fast auf. Dieses sorglose Leben war heute Morgen mit einem Schlag für mich in weite Ferne gerückt.
Eine der jungen Lehrerinnen, die mit den roten Rastalocken, um die sie ein buntes Tuch gebunden hatte, schob ein Rad, dessen Einzelteile ebenfalls nur durch Bänder zusammengehalten waren – in diesem Fall hatte wohl eine ganze Rolle silbernes Klebeband dran glauben müssen – , an mir vorbei. Sie schwang sich anmutig darauf und verschwand wie eine Fabelgestalt zwischen den Büschen, die einen weiteren Zugang des Platzes umgaben. Erst da wurde mir etwas bewusst, kam das Kaleidoskop in meinem Kopf zum Stillstand. Da war doch was...
Die Kleine vorher, die mit dem etwas strähnigen dunklen Haar, die hinter der Gruppe her getrottet war. So ein armes Würmchen mit dem, wie es aussah, keiner was zu tun haben wollte, und das wahrscheinlich nur froh war, wenn man es in Ruhe ließ. Die Kette, die ihr um den Hals baumelte und an der sie hingebungsvoll herumgedreht hatte. Signal an alle: Ich brauche euch nicht. Überhaupt nicht. Mir geht es supergut. Diese Kette sah aus wie die, die ich vor einer gefühlten Ewigkeit für meine Enkelin gebastelt hatte.
Wie durch einen schmerzhaft hellen Spot beleuchtet sah ich meine Siri vor mir. Die kleine Hand, die sich gestern Abend unnachgiebig an dieses wertvolle Schmuckstück klammerte. Sie wollte die Kette partout nicht ablegen. Ich musste eingeschlafen sein noch bevor ich es schaffte sie dem schlafenden Kind abzustreifen. Denn diese Kette sah nicht nur so aus. Das Schwemmholz! Der rote Stein! Es war genau diese!!!
Erregt sprang ich auf, spurtete auf den Parkplatz und sah ein letztes Auto auf die Strasse hinausfahren. Oh, nein! Das durfte jetzt aber nicht wahr sein! Der Platz war wie leergefegt. Keine Menschenseele war mehr zu sehen.
Fassungslos starrte ich dem schnell kleiner werdenden Wagen hinterher. Was nun?
Die Lehrerin!!!
Ich rannte zu meinem Rad, schob es an und fegte mit frischer Kraft durch die Büsche. Die Zweige peitschten mir ins Gesicht, der Anhänger hakte in den Wurzeln, und fast wäre ich über einer Stufe ins Schleudern gekommen. Doch ich gelangte ins Freie, stieß auf eine stark befahrene Straße und weit entfernt sah ich einen roten Haarschopf in der Sonne leuchten. Meine Beine stampften in die Pedale, mein Puls erklomm schwindelnde Höhen und meine Lunge pfiff. Das E-Bike schoss vorwärts, und obwohl der Anhänger mich doch ziemlich ausbremste holte ich schnell auf. Ich konnte später nicht sagen, ob die Ampel, die ich überfuhr, gerade rot, oder schon wieder grün anzeigte. Ich wich einfach nur ein paar querenden Fußgängern aus, die mir eindeutige Schimpfworte hinterher brüllten, was mir herzlich egal war. Als ich nur noch ungefähr hundert Meter entfernt war, bog die junge Frau rechts ab. Mit letzter Kraft gelangte ich an diese Stelle und schaute in eine Seitenstrasse, gesäumt von hübschen kleinen Häuschen mit gepflegten Vorgärten, die sich ein paar Meter weiter in zwei Richtungen verzweigte. Eine bergab in Richtung See. Eine bergauf. Und beide gähnend leer.
„Die Rothaarige, wohin?“ fragte ich keuchend eine Frau, die in einem Vorgarten werkelte und einem Schwätzchen nicht abgeneigt schien.
„Ha, die isch do nauf!“ Sie zeigte nach oben und sah mir mit enttäuschtem Blick hinterher, als ich mich auf ihren Hinweis hin sofort von ihr abwandte und den Berg hoch kämpfte.
Fast oben angekommen sah ich meine „Hoffnung" in einer eleganten Kurve hinter ein riesengroßes Hochhaus fahren. Und als ich ebenfalls um die Ecke bog, verschwand sie gerade in dessen Eingang, neben dem unzählige Klingeltasten aufgereiht waren.
Durch die Scheibe der verschlossenen Tür, gegen die ich hilflos hämmerte, sah ich verschwommen die leuchtenden Stockwerksanzeigen zweier Aufzüge. Der eine hielt gerade bei der 3. Der andere zählte gerade 5, 6, 7 und hielt bei der 8. Der erste fuhr wieder weiter zur 13. Drei Stockwerke zur freien Auswahl. Und jedes mit mindestens sechs Wohnungen. Und an den Klingeln war nicht zu erkennen, zu welchem Stockwerk sie gehörten. Ich musste die junge Frau unbedingt finden. Nur wie? Wenn ich in dem einen Stock beginnen würde zu fragen, könnte sie vom anderen geradewegs wieder unbemerkt an mir vorbeifahren. Wenn ich aber hier unten vor der Tür wartete, müsste sie zwar irgendwann wieder rauskommen, aber das könnte Tage dauern!
An der Hauswand lehnte ein junger Mann, so in sein Smartphone versunken, dass er erst, aber nur kurz, aufschreckte, als ich ihm fast auf die Zehen trat. Ohne viel Hoffnung fragte ich:
„Hallo, entschuldigen Sie bitte. Die junge Frau, die da gerade angekommen ist, kennen Sie die?“
„Wen? Hab niemand gesehn.“ Er hob nicht mal den Blick.
„Bitte, können Sie mir sagen, ob Sie eine junge Frau kennen, eine mit roten Rastalocken, die hier in diesem Haus wohnt?“, wurde ich lauter.
„Beh, kann sein, weiß nich, wohn noch nich lang hier.“ Und schon tauchte er wieder in seine virtuelle Welt ab.
Mein suchender Blick fiel auf zwei Kopftuch tragende Frauen, die, schwer bepackt mit Einkaufstüten, heran kamen.
„Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir helfen?“, fragte ich überdeutlich.
Sie starrten mich etwas seltsam an, und die Jüngere fragte in astreinem Deutsch:
„Was benötigen Sie? Geht es ihnen nicht gut?“
„Nein, nein, ich brauche nur eine Auskunft.“ Ich hatte keine Zeit zu erröten. „Ich suche eine junge Frau. Lehrerin, rote Haare, die hier wohnen muss. Kennen Sie sie? Ihr gehört das Fahrrad da drüben, das zusammengeflickte.“
„Hmm. Gesehen hab ich sie schon öfter. Sie grüsst immer. Aber leider...“
Sie zuckte bedauernd mit den Achseln und fragte in schnellen, fremden Lauten ihre Begleiterin. Aber die schüttelte nur ihren Kopf.
„Vielleicht weiß dieser Mann etwas.“ Sie hielt mir die Tür auf und wies auf einen elegant gekleideten Herrn, der gerade aus dem Fahrstuhl kam und uns misstrauisch betrachtete. Der verneinte jedoch knapp und unfreundlich meine Frage und eilte murrend mit etwas, das eindeutig nach „Seltsames Volk, das sich hier langsam einnistet" klang, nach draußen.
Kurz darauf stand ich alleine im Flur und merkte wie mich so langsam alle Kräfte verließen. Mit letzter Energie und geringer Erwartung klingelte ich an der Tür links, von der aus ich den Eingang noch im Blick hatte. „Bader" stand auf dem Schild. Der Türspion verdunkelte sich. Innen rasselte eine Kette. Dann noch eine, und die Tür öffnete sich einen Spalt. Bevor ich jedoch meinen Mund öffnen konnte fauchte die ältere Dame, von der über einer geblümten Kittelschürze nur eine scharfe Nase und giftig funkelnde Augen zu sehen waren: "'Etzt reicht's aber, 'etzt kommet die schon zum Bett'le in d'Häuser. Mir gebet nix!“
Und ich stand perplex vor der mit einem scharfen Knall wieder verschlossenen Tür.
Wie betäubt starrte ich auf die dunkelbraune Fläche. Hilfe, ich brauchte Hilfe – und da endlich fiel es mir ein, die Nummer der Polizei zu wählen. Mit fliegenden Händen wurstelte ich mein Smartphone aus der Tasche – Gott sei Dank, der Akku zeigte noch was an – wählte, und entnahm dem ewig langen Tuten, dass ich weiterverbunden wurde.
„Kommissariat eins, Friedrichshafen" meldete sich eine gestresste Frauenstimme.
„Verena Ahrendt hier, könnte ich bitte Kommissar Böhringer sprechen?“
„Tut mir leid, der ist gerade nicht da, können Sie später noch mal anrufen? Die Kollegen sind alle bei einem Einsatz.“
„Bitte”, ich weinte fast. „Es geht um die Entführung meiner Enkelin. Es ist wichtig!“
„Oh”, erwiderte die Stimme bedauernd. „Da gibt es, soviel ich weiß, noch keine neuen Erkenntnisse.“
„Aber ich habe eine Spur gefunden. Sie müssen mir helfen!“
„Ich weiß nicht – es ist schwierig – ich sollte die Leitung freihalten – ich dürfte ja nicht – aber...“ Sie seufzte. „Es gab eine Schiesserei und einen Bombenalarm im Flughafen. Hier ist die Hölle los.“ Jetzt hörte ich es auch. Im Hintergrund die schnellen abgehackten lauten Gespräche, die hastigen Schritte, das Klingeln von Telefonen, genervtes Stöhnen. Und über allem das Heulen von Sirenen. Wie schrecklich. Aber für mich unendlich weit entfernt. Was kümmerte mich das. Meine kleine Siri! Ich schluckte, und die Frau am Telefon schwieg immer noch nachdenklich. Dann sagte sie:
„Bitte sagen Sie mir, was Sie wissen. Ich schreibe alles auf und versuche den Kommissar zu kontaktieren.“
„Danke, vielen, vielen Dank.“
„Oder warten Sie, ich sehe gerade, Wachtmeister Weber ist laut Einsatzplan noch vor Ort bei Befragungen der Nachbarn. Ich gebe Ihnen ausnahmsweise seine Durchwahl. Haben Sie was zum Schreiben?“ Das hatte ich, aber erst nachdem ich in der Hektik den Inhalt meiner Tasche auf dem Fußboden verteilt hatte. Und meine Verzweiflung wuchs ins Unermessliche als unter der Nummer eine zwar freundliche aber sehr unpersönliche Stimme meinte: „Der angerufene Teilnehmer antwortet nicht. Wenn Sie einen Rückruf per SMS erbitten wollen, so drücken Sie bitte die Eins.“
Mit einem frustrierten Schrei drückte ich und stand dann wie verloren in dem kahlen gewaltigen Hausflur. Keine Menschenseele war zu sehen. Ich fuhr entschlossen mit dem Ärmel meiner Bluse über meine feuchte Nase. Dann klingelte ich nochmals bei den Baders und hämmerte dabei vehement gegen die Tür.
„Hauet sie ab, oder i hol glei die Bollizei”, drang es hinter diesem Bollwerk von Tür hervor. Wenn das nur so einfach wäre!
„Frau Bader, bitte, ich habe doch nur eine sehr wichtige Frage.“
„Ha, des isch bestimmt blos die neueschte Gaunerei. Ottooooo, Otto mach doch mal was!“
Aber nur der „Türspion" verdunkelte sich kurz. Nicht mal der Otto öffnete mir. Es hatte keinen Zweck. Eigentlich hätte bei diesem Geschrei doch das halbe Haus zusammenlaufen müssen, aber es regte sich nichts.
Ich wollte, ich konnte jetzt einfach nicht aufgeben. In welchen Stockwerken hatten die Aufzüge noch mal gehalten? Ich blickte auf die Zahlen über den beiden Türen. Der eine stand noch fest auf der 3, der andere inzwischen auf der 12. Das reinste Lotteriespiel. Ich fahre jetzt zur 3 beschloss ich und rief eine der Kabinen. Vielleicht kommt das Glück jetzt endlich mal zurück.
Als die Tür des Aufzugs aufglitt nahm ich draußen am Fahrradständer gerade noch eine Bewegung wahr. Ein Mann, verwaschene Jeans, graues Shirt, schwarzer Rucksack, schloss gerade sein Vehikel ab. Den kannte ich doch! Ohne groß zu überlegen lief ich ihm entgegen.
„Bitte, ich weiß Ihren Namen nicht, aber...“