Miro - Christina Hupfer - E-Book

Miro E-Book

Christina Hupfer

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Beschreibung

Das Mädchen Miro kann sich aus den Fängen einer Menschen verachtenden Organisation befreien und versucht nun, von Deutschland aus, nach Hause zu ihrer Familie in Bulgarien zu gelangen. Wie soll das gehen, ohne Geld und ohne Papiere? Und ohne die Menschen, die sie auf ihrem Weg kennen und lieben lernt, zu gefährden? Ihre brutalen Verfolger schrecken vor nichts zurück. Eine fast ausweglose Situation. Eine aufregende Geschichte. Ein überraschendes Ende.

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Seitenzahl: 220

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Christina Hupfer

Miro

Flucht aus der Angst

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

1

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3

4

5

6

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8

9

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Epilog

Danke

Weiteres von dieser Autorin

Götter, Gipfel und Gefahr

Nur eine winzige Spur

Leo, was nun?

Impressum neobooks

1

Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen,

und den glimmenden Docht wird er nicht

auslöschen.

Er wird das Recht wahrhaftig halten lehren.

Jesaia, 42

***

Verfluchte Scheiße! Er biss sich auf die Lippen und verfolgte abgestoßen aber fasziniert wie der Mann das Gesicht des kleinen Halunken vor ihm auf den Tisch knallte. War das wirklich noch sein distinguiert wirkender Boss, der vorher mit ihm so freundlich und kumpelhaft verhandelt hatte? Mit rebellierendem Magen schaute er zu, wie er ihn wieder hochriss und gnadenlos gegen die Wand schleuderte. Er zuckte zusammen als er den zornigen Fußtritt seines Chefs die empfindlichste Stelle des armen Teufels zielsicher treffen sah, und hatte tatsächlich Mitleid als er dann das zusammengekauerte, wimmernde Bündel anherrschte: „Spätestens morgen Abend ist die Schlampe wieder da, oder wir machen dich so fertig, dass du auch nur noch zum Betteln taugst.“

Er sah zu, wie sich der geprügelte Hund mit gesenktem Kopf zwischen seinen anderen betreten dreinschauenden Kollegen hindurch aus dem kahlen, grell erleuchteten Raum schlich und kleine rote Punkte auf den weißen Fliesen hinterließ. Der wütend irre Glanz seiner Augen, der kurz die seinen streifte, ließ ihn schaudern. Wie sollte der arme Idiot in diesem Zustand diese geflüchtete dumme Kuh wohl einfangen können? Aber eingefangen werden würde sie. Es war ihnen noch nie eine entwischt. Und dann gnade ihr Gott.

2

Sie konnte nicht sagen, wie lange sie schon in diesem engen Versteck kauerten. Sie duckte sich immer noch krampfhaft in die Mauerecke und drückte sich eng an den warmen Körper von Rumo. Das tröstliche Gefühl seiner Wärme ließ ganz langsam den parkähnlichen Friedhof weniger dunkel, die Angst weniger heftig, die Schatten weniger grausig, und das Rufen des Käuzchens nicht ganz so unheimlich wirken. Sie zog die belaubten Äste noch etwas dichter heran, ihre Füße noch enger an sich, und schlang den Arm um ihren Freund. Gemeinsam lauschten sie angespannt in die Nacht hinaus. Ein Rascheln in der Nähe des klobigen Grabsteins gegenüber ließ sie zusammenzucken, und nicht weit davon entfernt klatschte etwas laut auf den Boden. Bestimmt nur ein Tannenzapfen, beruhigte sie sich.

Da! Was war das? Nur ein Ast, der knackte? Hinter der Mauer brummte ein Auto vorbei. Stille.

Das Rasseln von Schlüsseln ließ sie erneut aufschrecken. Eine Tür fiel ins Schloss. Es klackte vernehmlich, und schwere Schritte entfernten sich. Weg von diesem düsteren Ort, der ihnen jedoch für den Moment Geborgenheit versprach. Eingesperrt, aber dafür auch von außen nicht zugänglich. Bis morgen früh um acht Uhr, hatte das Schild am Eingang versprochen.

Sie ließ eine gefühlte Ewigkeit verstreichen bevor sie es wagte, sich zu bewegen.

"Ich hol jetzt Wasser, mein Lieber. Ich denke, das ist das Wichtigste, was wir nun brauchen", flüsterte sie und strich Rumo beruhigend über das verletzte Bein. "Bleib du mal hier. Ich bin gleich wieder zurück."

Sie ahnte nur seinen zustimmenden Blick, erhob sich vorsichtig, ignorierte ihre schmerzenden Gelenke und all die wunden Stellen ihres Körpers und griff nach der Gießkanne. Wer immer auch dieses Grab pflegte, zwischen dessen mächtigem Gedenkstein und der Außenmauer, eingerahmt von dichtem Buschwerk, sie sich versteckt hatten; er hatte die Kanne hier deponiert. Also musste man die auch irgendwo mit frischem Wasser füllen können.

Nach allen Seiten sichernd schlich sie sich über die schmalen Wege, die der Mond durch den aufziehenden Oktobernebel nur spärlich beleuchtete, und huschte hinüber zu dem großen hellen Gebäude in der Mitte, auf dem die Schatten der uralten Bäume einen spukhaften Tanz aufführten. Hier wurden die leeren Hüllen von Menschen für ihrer letzte Reise aufgebahrt. Sie hatte keine Angst vor den Toten. Die konnten ihr nichts anhaben. Die Lebenden waren es, vor denen sie sich so entsetzlich fürchtete. Und vor dem Krach, der ihr Herz fast zum Stillstand brachte als sie über den Griff einer Schubkarre stolperte, und dabei deren Inhalt mit Getöse auf dem Plattenweg verteilte. Schreckensstarr wartete sie darauf, dass im nächsten Moment jemand schreiend über sie herfallen würde. Doch nur das weit entfernte Gebell mehrerer Hunde, das kein Ende nehmen wollte, übertönte das wieder einsetzende, panische Getrommel in ihrem Innern. Und das hysterische Bellen ganz in der Nähe. Hinter ihrem Rücken.

„Sch, sch“, rief sie nervös. „Ist ja gut.“ Sie rieb die schmerzende Stelle an ihrem Schienbein und schaute sich suchend um. Irgendwo musste hier doch ein Brunnen sein! Vielleicht da drüben, neben dem süßlich riechenden Komposthaufen? Hoch aufgetürmt lagen dort die ausgedienten Requisiten der zurückliegenden Verabschiedungen: alte Kränze, verwelkte Blumen, Gestecke, Grünzeug, abgeschnittene Äste, Zweige und erdige Wurzeln. Weitere Gießkannen standen in Reih und Glied auf einer Bank vor einer akkurat geschnittenen Hecke. Gartengeräte lehnten ordentlich nebeneinander in einem Gestell, und eine dunkle Gestalt stand regungslos daneben.

Entsetzt schnappte sie nach Luft. Aber es war nur eine vergessene Jacke, die schlaff über einem der Besen hing. Die Nachwirkung des Schreckens ließ sie haltlos zittern, doch die Hoffnung auf frisches Wasser trieb sie vorwärts. Wo war denn nur der Wasserhahn?

Da, an der Hauswand: der kleine schwarze Schatten über einer Art Hocker, das musste er sein! Und sofort war er wieder vergessen, denn die Aufschrift auf der Tür daneben entlockte ihr einen leisen Freudenschrei. Eine Toilette!

Verschlossen.

Das einfache Schloss war kein Hindernis für ein Mädchen, das mit den Jungen aus dem bulgarischen Dörfchen Panjagurtschik groß geworden war. Das hoch über dem Bach mit ihren langen dünnen Beinen über schwankende Baumstämme balancieren konnte und kreischend steile Sandsteinufer hinunter rutschte, anstatt brav bei den Nachbarmädchen Elisaveta, Livia und deren Puppen zu sitzen. Das bei den wildesten Spielen vorn mit dabei gewesen war, und mit ihren verschrammten Knien und zerrissenen Hosen ihre armen Eltern immer wieder zur Verzweiflung gebracht hatte. Nicht mal die wiederholte Drohung, man würde sie demnächst zu dem finsteren Onkel Stanislavs zum Arbeiten schicken, hatte langfristig gewirkt.

„So musst du ihn biegen, den Draht“, hatte sie die Stimme des zwei Jahre älteren Marek noch immer im Ohr. „Dann einführen und mit Gefühl drehen. Mit Gefühl!“

Das, was bei den diversen Streifzügen durch die Schuppen ihres Dorfes geklappt, und ihnen ab und zu eine dicke Wurst, ein Glas Kirschen oder sonstige Leckereien beschert hatte, funktionierte noch immer. Der Draht, den sie aus einem der Gestecke gezogen hatte, war fest genug, und gleich darauf stand sie in dem kleinen Raum und konnte ihr Glück kaum fassen. Mit der gefundenen Jacke verdeckte sie das kleine Fenster, fand einen Knopf, drückte ihn, und helles Licht flutete über ein sauberes Waschbecken und die Toilettenschüssel hinter einer weiteren Tür. Und es war warm.

„Weißt du was“, murmelte sie viel später, schläfrig an den Türrahmen gelehnt. „Es ist das erste Mal seit einem halben Jahr, dass ich mich wieder einigermaßen sauber fühle. Ja, ich weiß, dass ich dieses Etablissement hier arg unter Wasser gesetzt habe. Die werden sich morgen früh wundern wo das viele Toilettenpapier geblieben ist. So was tolles, weiches, saugfähiges. Fast zu schade, es so zu verschwenden. Bei uns zuhause nehmen wir nur geschnittenes Zeitungspapier.“

Ihre Gedanken liefen zurück. In das Dorf ihrer Kindheit. Zu ihrem Vater, groß, kräftig und immer fröhlich, der alles reparieren konnte. Zu dem jeder kam, den jeder mochte, und auf den jeder hörte.

Zu ihrer Mutter, drall und weich mit ihrem ganz besonderen Duft. Die dicken schwarzbraunen Haare zu einer Krone geflochten, nie ohne eine blütenweiße Schürze, mit einem großen Herzen und ansteckendem Lachen.

Sie dachte an ihren älteren Bruder Niklas, der sie schon mal versohlt hatte, und der seine Erziehungsversuche nun bei seinem eigenen kleinen Mädchen ausprobierte. Bei ihrer aufgeweckten herzigen Nichte Jani. Sie hatte sie alle schon so lange nicht mehr gesehen.

Sie vermisste auch die Oma von Joji mit ihrem drolligen deutschen Akzent.

„Hast was ausgefressen, Slavenka?“, fragte die, wenn sie sich mal wieder zu ihr geflüchtet hatte. „Lass hören.“

Und von ihr ließ sie sich sogar gerne mal ins Gewissen reden: „Miroslava, das war aber gar nicht gut. Hättˋ ja auch zu gern gesehen wie der alte Stinkstiefel in der vollen Waschschüssel vor seiner Stufe gelandet ist. Aber stell dir vor, er hätt` sich dabei was gebrochen. Hättest dann für ihn und seine mageren Viecher sorgen wollen?“ Sie kicherte. „Für die Viecher würd`s ja noch gehen!“

Es konnte durchaus vorkommen, dass die alte Frau über ihre Streiche lachen musste, und die, während sie beide von den selbst gemachten Bonbons naschten, noch haarsträubendere Geschichten von sich selbst zum Besten gab.

Sie gehörte praktisch zur Familie. Seltsamerweise wollte sie damals nach dem Tod ihres Mannes nicht zurück nach Deutschland. Obwohl die dortige Verwandtschaft ihr gerne ein Plätzchen angeboten hätte. Auch nicht, nachdem ihr einziger Sohn nach Sofia gezogen war und sich nur noch selten in dieser Einöde blicken ließ. Sogar ihr Enkel war zu ihrem Kummer nur wenige Sommer lang zu Besuch gekommen.

Und so brachte Baba Dora, die außer einem enormen Wissen über Pflanzen und Kräuter auch über einen Schatz buntester Kittelschürzen verfügte, über denen ihr kurz geschorener Kopf auf einem dürren Hals wackelte, eben nun den Kindern ihrer Freunde alles bei, was sie wusste.

Zum Beispiel auch, wie man schmalen Grashalmen schrille Pfiffe entlockte.

Baba Dora war auch die einzige, die über Onkel Stanislavs Bescheid wusste. Den fiktiven grässlichen Onkel, der, als sie kleine Kinder waren, für Strafandrohungen herhalten musste, und der ihren Eltern als Ausrede diente, wenn sie sich vor Papas aufdringlicher Schwester aus dem Staub machen wollten.

Als sie etwas älter waren, hörte sie mit ihrem Bruder feixend zu wenn sich ihre Mutter am Telefon wand:

„Wie schön, dass du uns besuchen willst. Du kannst leider, leider nicht lange bleiben, weil wir wegfahren müssen. Wir haben dem lästigen Onkel Stanislavs versprochen, ihm bei der Kartoffelernte, oder beim Hausputz, oder bei sonst irgend was Unangenehmem zu helfen. Aber wenn du willst, kannst du gerne mitkommen.“

Um sich dann, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, strahlend umzudrehen:

„Sie bleibt nur zwei Tage. Sie hat selbst ganz wichtige, unaufschiebbare Termine!“

Miroslava hatte zum Entzücken der ganzen Familie sogar einmal eine Tasse getöpfert, auf der Stanislavs Name stand, und die nun einen Ehrenplatz auf dem Regal in der Küche einnahm. Sie erinnerte sich sehnsüchtig an lange helle Tage voller Gelächter, Spaß und dreckigen Füssen. An Marmeladenbrote, Kartoffelfeuer, Erntewagen, Tanz und Musik.

Wann hatte das alles aufgehört? Wann fing das Leben an, in die verkehrte Richtung zu laufen? Ging es damals los, als sie von der Lehrerin ausgewählt wurde, die Schule in der Hauptstadt Sofia mit der Sportförderung zu besuchen? Bodenturnen, Ballet und Tanz. Es war so toll, alles war neu, und sie fühlte sich den Daheimgebliebenen unendlich überlegen. Wenn sie in den Ferien wieder heimkam dauerte es immer länger, bis die alte Vertrautheit wieder aufkam.

Oder fing es erst an, als der Vater verunglückte und er seinen Beruf nicht mehr richtig ausüben konnte? Er war so unglücklich, weil sein Bein nicht heilen wollte. Dazu kam, dass ausgerechnet der reiche Tabakbauer, dessen Wagenrad ihm den Fuß zerschmettert hatte, nun auch die kleineren Arbeiten, die er im Sitzen hätte erledigen können, anderweitig vergab. Ihr Bruder Niklas war damals beim Militär und wollte Lehrer werden. Aber er hätte mit seinen zwei linken Händen sowieso nicht helfen können.

Wahrscheinlich aber begann es, als sie die Schule abbrechen musste. Keiner verriet zwar, wer die lange gerüschte Unterhose der grässlichen Geschichtslehrerin ausgestopft an die Wäscheleine gehängt hatte. Aber wegen dieser Kleinigkeit wurde ihr ganzer Schlafsaal dazu verdonnert, ohne Essen und gnadenlos früh ins Bett zu gehen. Die Alte verstand echt keinen Spaß. Es war dann aber auch nicht gerade ihr intelligentester Schachzug gewesen, spät in der Nacht den ganzen Berg Pfannkuchen, der zum Abkühlen vor der Küchentür stand, zu stibitzen und an alle zu verteilen. Eine Petze gab es immer, und das „extra“ Schulgeld für den Direktor konnten ihre Eltern nun wirklich nicht aufbringen.

Zurück im Dorf kam ihr alles so hinterwäldlerisch vor. So eng und einfältig. Sie half ihrem Vater in der Werkstatt, sie war immer schon die Geschicktere der Geschwister, aber die Gedanken an die große weite Welt da draußen, die sie magisch anzog, ließen sie nicht los. Sie war wütend auf die verkniffene Geschichtslehrerin. Wenn sie eine Schraube fest anziehen musste, drehte sie ihr in Gedanken den Hals um. Dachte sie beim Hämmern an die Fratze des öligen Direktors, drosch sie so auf die Sense ein, dass sie sich fast verformte. Und meist hätte sie am liebsten sich selbst geohrfeigt weil sie so dämlich gewesen war sich erwischen zu lassen.

So langsam ging es ihrem Vater wieder besser. Einer nach dem anderen kamen die Kunden kleinlaut wieder zurück. Die meisten konnten zwar nur mit Naturalien bezahlen: Gemüse, Eier, Pilze. Ab und zu ein Kaninchen. Aber es ging wieder aufwärts. Und irgendwann ergatterte sie einen Ausbildungsplatz in einem Reisebüro in der nächsten größeren Stadt. Sie war überglücklich.

Einige Monate waren bereits vergangen, und immer noch kam es ihr vor, als hätte sie sich gerade erst in ihrer neuen Wohngemeinschaft eingerichtet, angefangen sich in ihrer Stelle zurechtzufinden und den Trubel der Stadt aufzusaugen. Als ihr Vater eines Tages in der Tür stand, freute sie sich riesig darauf, ihm ihre Mitbewohnerin vorzustellen, ihm ihre Arbeitsstelle zu zeigen und ihn dann durch die Stadt zu führen. Sie sprudelte über vor Begeisterung. Erst als sie merkte, dass er immer einsilbiger wurde, spürte sie, wie bedrückt er war. Und wie schwer es ihm fiel, sein Anliegen vorzubringen.

„Slavenka, deine Mutter ist schwer erkrankt. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Ich hab`s wirklich versucht. Aber alle Hausmittel versagen, und der Arzt, wenn er denn mal kommt, hat keine Ahnung, was ihr fehlt.“ Die Mutlosigkeit hatte tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben.

„Habt ihr Baba Dora gefragt? Wenn jemand sämtliche Heilkräuter kennt, dann doch sie“, hatte sie verzagt gefragt. Und noch während er deprimiert und den Tränen nahe den Kopf schüttelte, band sie resigniert ihre modisch geschnittenen halblangen Haare zusammen, packte die schicken Kleider und die hübschen unbequemen Schuhe wieder in den vor knapp einem Jahr mit so großer Hoffnung gekauften Koffer und fasste ihren Vater bei der Hand.

Zuhause angekommen stopfte sie ihr Gepäck in den hintersten Winkel ihres Schranks und begrub all ihre Träume unter Bergen schmutziger Wäsche, Hektolitern stärkender Suppen und Kannen voll gesunden Tees. In den Nächten kämpfte sie gegen ihre Tränen, sah ihre Mutter immer schwächer, den Vater immer mutloser werden und schämte sich dafür, dass sie sich trotzdem aus der Umklammerung ihrer dankbaren Eltern fortsehnte. Ganz schlimm war es, wenn ihre Freunde, die es aus dem Dorf heraus geschafft hatten, zu Besuch kamen, sie bedauerten, und unter dem Aufheulen ihres neu erworbenen, stolz vorgeführten Fahrzeugs so schnell wie möglich wieder das Weite suchten.

3

Kurz nach Miroslavas zweiundzwanzigstem Geburtstag stolperte der alte Doktor über seine eigenen Füße. Er hatte die hochprozentige ‚Medizin‘, mit der er seinen Frust bekämpfte, überdosiert und musste für ein paar Wochen selbst das Bett hüten. Seine Vertretung, ein überarbeiteter junger Arzt, der noch nicht all seine Ideale verloren hatte, untersuchte die Mutter kopfschüttelnd und schickte sie zur Abklärung seines Verdachts ins Krankenhaus nach Plewen. Dort wurde eine fortgeschrittene Vergiftung durch irgendwelche körpereigenen Pilze festgestellt, und sie wurde unverzüglich dahingehend therapiert. Es war unglaublich, zu sehen wie die Mutter innerhalb kürzester Zeit wieder auflebte und sich straffte wie eine fast verdurstete Pflanze, deren Zellen sich wieder mit frischem Wasser vollsogen. Wie sie ihr Leben wieder in die Hand nahm und sich nun um ihre Tochter sorgte.

„Slavenka“, jetzt musst du endlich raus. Wir haben dich viel zu lange hier festgehalten.“

„Wo soll ich denn hin?“, fragte die verzagt. „Was soll ich überhaupt machen? Hab doch nichts gelernt. Die warten grade auf so ne alte Schachtel vom Land. Es gibt so viele hier, die keine Arbeit finden. Und von denen haben manche sogar noch eine gute Ausbildung. Vielleicht kann ich ja ins Ausland gehen wie Olga. Als Erntehelferin oder als Pflegekraft?“

„Aber, aber. Ich kenne meine Tochter nicht mehr. Mit so was hast du doch keine Zukunft. Du kannst immer noch was lernen. Mit deinem Talent für Sprachen dürftest du überhaupt keine Probleme haben. Du sprichst Bulgarisch, Rumänisch und Deutsch. Könntest deine Sprachkenntnisse ja noch etwas auffrischen. Deutsch kannst du ja sowieso ganz gut, aber Englisch ist, glaube ich, fast noch wichtiger. Du bist jung und hübsch. Den Vorteil musst du nutzen. Du hast so eine schöne, klare, helle Haut. Dazu deine tiefblauen Augen und das dichte dunkle Haar. Geh doch mal zu Lydja und lass es ein wenig in Form schneiden.“

Bei dem Gedanken an die Frisuren der alten Damen, die stolz ihre Köpfe reckten wenn sie mit blau getönten, frisch gewellten oder geflochtenen Haaren aus Lydjas „Salon“ stolzierten, verzog sie unwillkürlich das Gesicht.

Ihre Mutter lachte: „Gib ihr eine Chance. Sie studiert immer noch abends sehnsüchtig Magazine mit Frisurvorschlägen, die sie an ihren Klienten nicht ausprobieren kann. Ich weiß das.

Überhaupt kann ich dich mir gut am Schalter einer Bank oder so vorstellen. Und wenn du dann zu Besuch kommst, werden wir unverschämt mit dir angeben. Ja, so ist`s gut. Dein Lächeln hat noch gefehlt.

***

„Hallo, bist du das? Miroslava?“

Nicht nur der bewundernde Ausruf, sondern auch die Steine, die durch Mareks Motorrad beim Bremsen heftig aufspritzten, ließen sie abrupt anhalten. „Warst du in `ner Weibermühle?

„Nein, nur in der örtlichen Schönheitsfarm. Bei Lydja!“, lachte sie nach dem ersten Schrecken geschmeichelt. „Was führt dich seltenen Gast in diese Einöde? Bist du der Prinz, der Aschenbrödel endlich auf seinem Ross entführen will?“

„Wenn ich nicht den Stress hätte, dass sich schon zwei Schönheiten in der Stadt um mich streiten, würde ich mir das glatt überlegen!“, beantwortete er ihre nur zur Hälfte scherzhaft gemeinte Frage.

„Aber wenn du hier raus willst...“ Abschätzig betrachtete er die ärmlichen Katen links und rechts der mit Schlaglöchern übersäten Strasse und den zerlumpt gekleideten Mann, der sich mit seinem schäbigen Eselkarren gerade an seinem glänzenden Motorrad vorbei zwängen wollte und es mit offenem Mund bewunderte. Er zeigte ihnen dabei eine Zahnreihe, die noch üblere Lücken aufwies, als der verwitterte Straßenbelag vor ihnen, und führte ihr das allgegenwärtige Elend unbarmherzig vor Augen. „Ich habe letzte Woche Andrej getroffen. Kannst du dich noch an ihn erinnern? Er hat mir erzählt, dass er jemanden kennt, der über eine seriöse Agentur Aupair-Mädchen ins Ausland vermittelt. Das wär` doch was für dich. Du bist hier ja am Versauern. Wäre doch die Gelegenheit, eine fremde Sprache perfekt zu lernen. Ein Sprungbrett in tolle Jobs. Mit guten Sprachkenntnissen hast du überall viel bessere Chancen. Wenn du willst, kann ich für dich ja mal die Telefonnummer rausfinden.“

4

Wenige Wochen später saß sie — sie konnte es noch gar nicht richtig fassen — zitternd vor Anspannung im Flugzeug neben Karel und blickte hinunter auf die unheimlich schnell schrumpfende graue Stadt. Sah mit einem Kloß im Hals die kleinen Katen und die Dörfchen verschwinden. Der vertraute Fluss begleitete sie noch ein Stück weit durch immer winzigere Felder, dann durchbrach das Flugzeug die Wolkendecke, und die aufstrahlende Sonne schien mit ihr ihrem Ziel entgegenzufiebern.

Nicht mal die Frage ihres Begleiters, betont mit einem nach oben gerichteten, nicht gerade amüsierten Blick über einer gerümpften Nase: „Sag mal, hast du die ganze Jahresknoblauchwurstproduktion des Dorfs im Gepäck?“, konnte ihre freudige Erwartung dämpfen.

Es roch schon etwas kräftig aus dem Fach über ihnen, das musste sie zugeben, aber sie hätte es nicht fertiggebracht, auch nur eine einzige der gut gemeinten Gaben abzuweisen. Und so beherbergte ihr Handgepäck neben ein paar nahrhaften, von Sirup triefenden Baclavas und fettigen Banizas eben auch diese stark gewürzte Wurst, deren Duft durch die Flugzeugkabine waberte. Da halfen anscheinend auch nicht die Lagen dicker Plastikfolie und die selbst genähte handbestickte Weste von Baba Dora, in die sie eingewickelt war.

Es war alles so schnell gegangen. Sie schaute zu Karel hinüber. Abgesehen davon, dass er sie gerade hatte merken lassen, dass er den streng riechenden Reiseproviant nicht so angenehm fand, hatte er sich bisher rührend um sie gekümmert. Elisaveta, die den Absprung aus dem Dorf auch noch nicht geschafft hatte, hatte neidvoll gemeint: „So ein Mann, diese Figur, so elegant gekleidet und so charmant, so einer verirrt sich sicher nicht noch mal in unser Kaff. Und die helle Strähne in seinem dunklen Haar, damit sieht er doch göttlich aus. Pass nur auf, dass der dir nicht durch die Lappen geht!“

„Ach, Lisa, ich hab im Moment gar keinen Nerv für einen Gedanken an eine Affäre.“

„Na, er irgendwie schon. So, wie er dich ansieht.“

„Ach Quatsch, er ist einfach nur nett. In Deutschland gibt es sicher was Besseres für ihn als uns Landpomeranzen.“

Er hatte sich nur wenige Tage später gemeldet, nachdem Marek sich, natürlich schwungvoll und leider wieder viel zu schnell, von ihr verabschiedet hatte. Er hatte sich dafür sogar auf den Weg in ihr entlegenes Dorf gemacht und ihr einen unglaublich interessanten Vorschlag unterbreitet.

„Es ist etwas dringend. Nachdem was ihr Freund mir von Ihnen erzählt hat, wären Sie ideal für diese Stelle.“

„Wieso denn das?“ Sie hatte versucht, nicht gar zu eifrig zu klingen.

„Nun, diese bulgarische Familie wurde gerade erst nach Deutschland versetzt. Der Mann ist im diplomatischen Dienst, und das bedeutet, dass seine Frau auch viele Verpflichtungen hat. Deshalb suchen sie für ihre zwei Kinder dringend eine Person, die ihre Sprache spricht, nicht zu alt und vertrauenswürdig ist. Sie müsste auch bereit sein, für die beiden das Mittagessen zu kochen. Und nicht nur Fastfood servieren. Sie können doch kochen?“

„Natürlich. Das muss man hier können. Oder sehen sie hier auch nur so was Ähnliches wie eine Imbissbude?“

„Sehr gut.“ Er holte ein Foto aus seiner Brieftasche. „Das sind Petar und Juli.“

Es zeigte zwei hübsche aufgeweckt aussehende Kinder. Der kleine Junge präsentierte lachend und unbekümmert eine riesige Zahnlücke, und das etwas ältere Mädchen mit den abstehenden Zöpfen hielt sich ernsthaft an ihrem Puppenwagen fest. Die Kleidung der zwei und das Haus im Hintergrund verrieten, dass hier nicht jeder Lew zwei mal umgedreht werden musste.

„Es wäre ihnen natürlich am liebsten sie könnten sofort anfangen. Für ein Jahr, danach würde man sehen. Sie sprechen ja wahrscheinlich kein Deutsch?“

„Ich. Ein wenig...“

„Nun, das ist auch nicht nötig. Das lernen sie schnell. Ihre Arbeitgeber legen großen Wert darauf, dass sie gemeinsam mit den Kindern lernen. Sie können dort auch eine Abendschule besuchen.“

„Ich würd‘ ganz gern diese Leute persönlich kennenlernen.“ Ihr Vater, der zwar in seinen ausgebeulten Hosen und dem schütteren, weißen Haar – wann war es so weiß geworden? – gegen den eleganten Städter etwas weltfremd wirkte, war nicht so schnell zu begeistern.

Das war natürlich nicht möglich. Aber ein kurzer, intensiver Briefwechsel mit der Familie Arsa, bei dem noch ein paar weitere Fotos hin- und her gesandt wurden, überzeugte ihre Eltern dann auch. Und deshalb befand sie sich nur wenige Wochen später erwartungsvoll und etwas beklommen auf ihrem Weg in die Zukunft.

***

Bei der Ankunft schien dann leider einiges schief zu laufen. Noch während sie in Berlin am Gepäckband auf die Koffer warteten erhielt Karel einen Anruf. Er erklärte der verstörten Miroslava, Familie Arsa müsse wegen eines Trauerfalls unverzüglich ein paar Tage nach Griechenland fliegen. Sie wären gerade eben in Athen gelandet. Es täte ihnen so leid. Er, Karel, solle solange für sie sorgen, sie in einem Hotel oder bei Freunden unterbringen. Sie kämen so schnell wie möglich zurück. Es könne allerdings etwas länger dauern. Es gäbe viel zu regeln.

Sie hatte sich so auf ihre neue Aufgabe gefreut, hatte sich ausgemalt, wie sie sich mit den Kindern anfreunden würde, wie sie sich deren Eltern unentbehrlich machen würde. Sie hatte sich vorgenommen, an ihren freien Tagen die fremde Stadt zu erkunden und neue Freunde zu finden. Sich eine Schule zu suchen, um ihre Sprachkenntnisse aufzupolieren. Zu lernen.

Nie im Leben hätte sie damit gerechnet an ihrem ersten Tag in der Fremde in einer zwielichtigen Pension zu landen. Um dort von einer zwar freundlichen aber viel zu grell geschminkten Dame in Empfang genommen zu werden, die sofort ihre Reisepapiere in den Tresor steckte: „Ist besser so — Berlin leider schlimme Stadt!“

Die folgenden Tage gingen unter in einem Grauen erregenden Wirbel von Gesichtern:

Das der schrillen Frau am Empfang, die ihre Papiere nicht wieder herausrückte, tauchte immer wieder auf.

Dann das mit dem herablassenden Gesichtsausdruck der ein wenig zu eleganten Hausdame mit den hochgezogenen Augenbrauen, die sie durch einen langen, intim beleuchteten, etwas zu plüschigen Gang nach hinten in ein nicht gerade freundliches Zimmer geführt hatte, in dem neben zwei benutzten ein frisch gemachtes Bett stand. „Was Besseres haben wir nicht.“

Es schoben sich die verheulten, geschwollenen Gesichter der beiden polnischen Mädchen davor, die leicht bekleidet aneinander geschmiegt auf einem der Betten saßen und bei ihrem Eintreten abrupt verstummten.

Dazwischen blitzte das hübsche, selbstgefällige Antlitz von Karel auf, dessen Avancen immer aufdringlicher wurden, und der ihr spät abends noch wenig bedauernd mitgeteilt hatte, dass er gerade erfahren habe, dass die Familie Arsa nicht wieder zurückkäme. Dass sie leider, leider nun keinen Job habe. „Aber ich habe trotzdem eine gute Nachricht für dich. Kannst die Kosten abarbeiten. Flug, Unterkunft, alles ist teuer. Du willst doch nicht, dass deine Familie darunter leiden muss. Zeige dir bald, wie.“

Wie in einem Kaleidoskop zogen die mitleidigen Minen weiterer Bewohnerinnen vorbei, die sie seltsam neidisch musterten.

Und dann trafen sie, wie Hämmer, die toten Augen der jungen Frau, die aus der Gemeinschaftsdusche gewankt war, ihre dunkelblauen Flecken nur halb mit ihrem Handtuch verdeckt, und sie zutiefst erschreckt hatte. Dazu das porzellanglatte Gesicht einer rothaarigen Göre, die Kaugummi kauend höhnisch gemeint hatte: „Die ist selber schuld. Hat geglaubt sie könne abhauen. Muss sich noch anpassen. Aber den Kopf verschonen sie — immer. Gott sei Dank. Sonst bringen wir ihnen kein Geld mehr.“

Ihr Herz zog sich zusammen, wenn die Fratze von Karel wieder vor ihren Augen auftauchte. Aus dieser war alles Joviale verschwunden, als er sie in ihre „Arbeit“ eingewiesen und sie unter den verstörten Blicken ihrer Mitbewohnerinnen aufs Bett gestoßen hatte.

„Hättest es anders haben können.“ Sogar seine Sprache wurde grober. “Meinst wohl, bist was Besseres. Musst noch viel lernen. Willst doch nicht, dass Papas zweites Bein auch Schaden nimmt. Oder Kleine von deinem Bruder. Kinder haben schnell mal schlimmen Unfall.“