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Anna, dreißig, alleinerziehend, hat ein Händchen für einfache, leckere Gerichte und versucht mit der schlecht bezahlten Arbeit in einer Imbissbude über die Runden zu kommen. Um sich einigermaßen über Wasser zu halten putzt sie nebenher auch noch die Wohnung ihres neuen Nachbarn. Doch ihr Job wackelt wegen Corona, ihr Ex-Mann will das Sorgerecht für ihren kleinen Sohn, und ihr Nachbar ist von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Dafür steht kurz darauf Malin, die zickige Tochter dieses Herrn bei ihr auf der Schwelle. Als hätte sie nicht schon Sorgen genug, bringt das Mädchen sie dazu, sich mit ihr auf die Suche nach ihrem Vater zu begeben. Eine Suche, die den beiden einiges abverlangt und sie in tödliche Gefahr bringt. Eine Geschichte über Freundschaft, Anderssein, Liebe, Toleranz, Genuss und unheimlich nette Nachbarn.
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Seitenzahl: 262
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Christina Hupfer
Unheimlich nette Nachbarn
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Impressum neobooks
Verträumt vor mich hin summend räumte ich das Frühstücksgeschirr ab, in Gedanken bei dem Nachtisch, den ich später noch vorbereiten wollte. Nicht der Hauch einer bösen Ahnung streifte mich. Hätten sich die schrecklichen Ereignisse etwa verhindern lassen? Vielleicht, wenn ich Kaffeesatz hätte lesen können? Ich glaube nicht.
Wenn ja, hätte ich sicher an diesem Tag nicht ganz so dämlich grinsend in meine Tasse geschaut, Marks Worte noch im Ohr: „Ich bin so schnell zurück wie ich kann. Ich freu mich auf unser Essen, Anna. Mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen!“
Alleine, wie er meinen Namen aussprach: Annaah! Hatte ich den wirklich mal hässlich gefunden? So einfallslos, so gedankenlos ausgewählt? Minutenlang stand ich an der Spüle und rieb einen Teller blank. Er mochte mich, das war mir klar. Aber ob er...? Ich konnte es kaum erwarten: Ich mit ihm alleine! Heute Abend...
Nicht, dass ich darüber froh war, dass Olli sich nun eine ganze Woche bei seinem Vater aufhalten würde, Playstation spielte, sich mit Süßkram vollstopfte und sich von der doofen Bodywrapping-Denize — ,so-eine-Behandlung-wär-doch-auch-was-für-deine-Mama’ — verwöhnen ließ. Wenn er sich daheim wieder an unsere Regeln halten sollte, wäre er bestimmt vollkommen durcheinander. Er war schließlich erst fünf.
Aber nun gestattete ich mir doch, mich ein klein wenig über meine freien Tage zu freuen. Sein Vater, dem früher die unglaublichsten Ausreden einfielen, wenn er mal Windeln wechseln, Kinderwagen schieben, geschweige denn den Müll rausbringen sollte, turtelte jetzt um seine neue Frau herum und leckte sprichwörtlich den Boden vor ihren Füßen auf. Drei Jahre lang hatte er sich so gut wie nicht um uns gekümmert. Hatte oft seine sowieso sparsam genug zugesagten Besuche nicht eingehalten und es mir überlassen, dem enttäuschten Kind zu erklären, dass sein Papa ihn trotz allem sehr lieb habe. Aber nun, da seine ihm seit neuestem angetraute Denize beschlossen hatte, den süüüßen kleinen Olli in ihr Herz zu schließen, kämpfte er auf einmal mit harten Bandagen um jede Minute offiziellen Besuchsrechts, hatte sogar angedeutet, das Sorgerecht zu beantragen. Bei ihm hätte Oliver eine intakte Familie — und dazu noch unsere früheren Freunde, die mir seit unserer Trennung geflissentlich aus dem Weg gingen. In jedem Fall die besseren Chancen. Argumente, die mir unsagbar Angst machten.
Für den Moment schob ich das von mir. Endlich, nach langer Zeit mit Enttäuschungen und Niederlagen, während der mir nur ein Kleinkind Halt bot, fing ich an zu glauben, dass es auch für mich wieder gut laufen könnte. Und trotz dieser seltsamen Lage, in der sich die ganze Welt befand, dieser ängstlichen Befindlichkeiten seit dieses Virus sein Unwesen trieb, fühlte ich mich voller Hoffnung.
Ich befolgte selbstverständlich die Regeln, wusch mir endlos die Hände, lief mit Maske zum Einkaufen, hielt so gut es ging Abstand. Olli, der im kommenden Jahr eingeschult werden sollte, wollte ich sicherheitshalber ein Jahr zurückstellen lassen. Ein Glück, dass er so ein heiteres, zufriedenes Kerlchen war. Dass er sich mit ein paar Kieseln und Stöckchen ewig und mindestens genauso gerne beschäftigte wie mit den teuren Spielsachen, die bergeweise im Haus seines Vaters auf ihn warteten. Aber wie lange noch? Und auch wenn ich mich unglaublich auf die ungestörten Stunden heute Abend freute: ein Teil von mir wünschte, mein Kleiner wäre sicher und wohlbehalten bei mir.
Mark verstand das. Auch er hatte ein Kind aus einer gescheiterten Beziehung. Eine vierzehnjährige Tochter. Sie sollte morgen zu Besuch kommen. Mit dem Zug aus Stuttgart. Für drei Tage. Noch so ein Vater-Kind Wochenende. Ich war gespannt auf sie. Das Foto auf Marks Schreibtisch zeigte eine aufgeweckt aussehende Jugendliche mit glänzend braunem Pagenkopf und einem anziehenden Lächeln: Malin. Bestimmt könnte ich mich mit ihr anfreunden.
Wie Olli mit Mark. Er war für ihn ein neuer Kamerad, ein Freund, der ihn ernst nahm. Der mit ihm über seine Lieblingssendung sprach, eine Augenbraue erhoben, wenn er ihn herausforderte, und der über seine kindlichen Witze so herzlich lachte, dass sein leicht vorstehender Schneidezahn aufblitzte.
„Was ist das, Mark? Rot und rund mit zwei Streifen? Rate!“
„Keine Ahnung, Sportsfreund.“
„Tomaten mit Hosenträgern! Haha!“
Er fand ihn toll, freute sich, dass er immer öfter zum Essen kam, mit uns redete und spielte. Wenn Olli dann schlief, half er ungefragt beim Aufräumen. Währenddessen und danach diskutierten wir: über Klima und Kino, Essen und Trinken, über Menschen im Allgemeinen und über Politik und die allgegenwärtigen Coronaprobleme im Besonderen. Es wurde manches Mal spät, bis er sich verabschiedete. Bisher gab es jedoch leider keinerlei Andeutung, dass er mehr für mich empfand als nur Freundschaft. Aber heute Abend, bei gutem Essen, Wein und Kerzenlicht...“
Hör auf zu träumen, schalt ich mich. Wenn du nicht langsam in die Gänge kommst, sieht die Bude da drüben morgen noch aus wie ein Auslieferungslager der Post, und deine hübschen Kerzen beleuchten ein paar Ravioli aus der Büchse. Immerhin wirst du für die Putzerei bezahlt, und das Geld kannst du wirklich brauchen! Ich nahm den mir anvertrauten Schlüssel, griff einen randvoll gefüllten Wäschekorb und ging über das Treppenhaus in die gegenüberliegende Wohnung.
Seit einem halben Jahr wohnten wir hier. In diesem nichtssagenden, vierstöckigen Wohnblock inmitten der vielen nichtssagenden kleinen Ein- und Zweifamilienhäuser am Stadtrand. Wie ein Fehlwurf lag dieser überdimensionale Würfel in unserer Straße. So fehl am Platz wie ich mich anfangs hier auch fühlte. Seit diesem denkwürdigen Tag, an dem ich meine ehrenamtliche Arbeit in der Stadtbibliothek unterbrechen und Oliver wegen eines Ausbruchs von Magen-Darm-Infektionen vom Kindergarten abholen musste. Und deswegen früher nach Hause kam.
Nach Hause: Das war eine schicke Villa am Hang mit umwerfendem Ausblick, glänzenden, modernen Möbeln, und seit neuestem mit einem strahlend blauen, dicht geknüpften Teppich einer teuren Manufaktur, auf dem Olli und ich seinen Vater beim Spielen antrafen. Mit einer fremden jungen Dame.
Es hatte meine ganze Kraft gekostet, Olli beizubringen, dass wir bei diesen Spielchen nicht gefragt waren. Hals über Kopf war ich mit ihm zu einer Kollegin geflüchtet und bemühte mich, ihn so wenig wie möglich von meiner Verzweiflung spüren zu lassen. Schnellstmöglich Arbeit und eine bezahlbare Wohnung für uns zu finden, waren fast unüberwindbare Herausforderungen. Immerhin überlagerten sie ein wenig den bohrenden Schmerz von Freds Verrat.
Nun hatten wir uns langsam eingewöhnt, die anderen Mitbewohner kennen gelernt, und vor allem mit dem Ehepaar Huchler, dessen Tür unserer genau gegenüberlag, hatte sich ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt. Vor einer Weile hatten die beiden leider beschlossen, der kalten Jahreszeit und der erhöhten Ansteckungsgefahr in geschlossenen Räumen den Rücken zu kehren und ihre Rente auf den Kanaren zu verprassen. Deswegen suchten sie für ihre komplett eingerichtete Eigentumswohnung einen ordentlichen, zuverlässigen Mieter. Auf Empfehlung eines früheren Kollegen Herrn Huchlers hatten sie sofort jemanden gefunden und kurzerhand für das Winterhalbjahr einen Mietvertrag abgeschlossen. Ich hatte die Ehre, den Herrn willkommen zu heißen und den Schlüssel zu übergeben, da sich die Termine der Ab- beziehungsweise Anreise der beiden Vertragspartner überschnitten. Wie die Huchlers mir berichteten, benötigte der Neue für den Übergang eine Bleibe, um in Ruhe eine passende Unterkunft für sich zu finden. Der Arme sei frisch geschieden.
Dem Kerl, der dann an diesem Montag Vormittag bei mir klingelte, hätte ich auch den Laufpass gegeben. Was für ein ungepflegter Typ: Zerknautschte Klamotten, unrasiert und ungekämmt. Oder war das etwa gewollt? Die attraktive weiße Strähne über der linken Schläfe in den etwas zu langen dunklen Locken machte ihn für mich aber auch nicht sympathischer. Und seine kurz angebundene Art erst recht nicht.
Nun ja, ich war auch nicht gerade extrem freundlich gewesen. Schon jetzt bereute ich, dass ich zugesagt hatte, mich um die Wohnung zu kümmern, Ansprechpartner zu sein, und einmal die Woche an meinem freien Tag durchzuputzen.
Wegen dieses unhöflichen Individuums hatte mein Chef mich vorher am Telefon angegiftet: „Sie können froh sein, dass Sie noch einen Job haben. Sie haben pünktlich hier zu sein, und wenn ich mich nicht auf Sie verlassen kann, dann war’s das!“ Er brüllte so laut, dass Olli mithörte und sich verschreckt an mich drückte. Und das alles, weil dieser Widerling viel später als verabredet hier aufgetaucht war und sich auch noch, während ich wie auf Kohlen saß, im Treppenhaus von unserer sogenannten ‚Hauszeitung’, der Weber-Will aufhalten ließ. Ich bemühte mich um Ruhe, durfte die Arbeit nicht aufs Spiel setzen. Mein Mann bezahlte zwar Unterhalt, aber natürlich nur das Nötigste. Er hatte hervorragende Berater. Doch so wie ich zur Zeit alles geregelt hatte, klappte es ganz gut: Halbtags arbeiten, Olli im Kindergarten (noch hatten sie ihn wegen Corona nicht wieder geschlossen), am Nachmittag für mein Kind da sein, am Abend vorkochen und den Haushalt bewältigen. Meistens schaffte ich das ohne größere Probleme. Außer so ein Rindvieh wie dieses brachte mir den ganzen Ablauf durcheinander!
Nachdem ich dem Neuen nun endlich die Schlüssel übergeben und mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr das Wichtigste ultrakurz erklärt hatte, riss ich mich zusammen und fragte, ob ich ihm sonst noch helfen könne. Sein hingeblafftes: „Nein, ich will nur meine verdammte Ruhe haben!“, war ganz sicher nicht der Beginn einer großen Freundschaft.
Was mir dann doch den Tag rettete war Olli, der sich vor mich hinstellte, seinen Kindergarten-Rucksack schützend vor den Bauch gepresst, und den Rüpel entrüstet anschimpfte: „So was darfst du doch nicht sagen! Nicht zu meiner Mama!“
Mit Genugtuung bemerkte ich die Röte, die sich unter seinen Bartstoppeln ausbreitete. In dem Bereich, der über seinem Mund-Nasenschutz zu sehen war. Immerhin hielt er sich an die vorgegebenen Regeln.
Ich schob meinen kleinen Helden Richtung Ausgang: „Komm Olli, ist schon okay. Wir müssen los.“
Aber der Tag hatte noch viel mehr zu bieten. Die Arbeit war zwar, wie immer in letzter Zeit, überschaubar. Dieses verdammte Virus! Wo früher noch Trauben von Menschen vor unserem Imbiss anzutreffen waren, und in den vergangenen Sommerwochen immerhin jeder der inzwischen weit auseinander gerückten Stehtische permanent belegt war, verkauften wir heute nur noch einen Bruchteil unserer berühmten belegten Semmeln. Genauer gesagt gingen gestern genau fünfzehn Stück ‚to go‘ über die Theke. In den Innenraum wollte trotz der Kälte kaum jemand mehr. Kam bald der nächste ‚Lockdown‘? Man sprach über fast nichts anderes mehr. Die Studenten, die uns bisher im ‚Knusperknäuschen‘ unterstützt hatten, konnten wir nicht mehr beschäftigen, und ich musste wirklich froh sein, dass mein Chef noch nicht beschlossen hatte, auch auf mich zu verzichten. Als ich eine Stunde zu spät eintraf — ich hatte zu allem anderen auch noch Mühe, die Kindergartenleiterin davon zu überzeugen, dass sie sich bitte einen anderen Tag aussuchen möchte, um mit mir ein Hühnchen zu rupfen — war er immer noch stocksauer. Wir waren alle gereizt in diesen Tagen. Es gab auch keine überschwänglichen Rückmeldungen unserer Kunden mehr für meine selbst kreierten leckeren Aufstriche. Deretwegen hatte ich noch Bleiberecht. Aber wenn ich mich gar nicht mehr bezahlt machte...? Zur Zeit bekam nicht mal ein gut ausgebildeter Mann mit Qualifikation so ohne weiteres eine Stelle, geschweige denn eine alleinerziehende Mutter, die irgendwann mal Betriebswirtschaft studiert hatte.
Den Druck, der ständig auf mir lastete, spürte ich gerade besonders. Und nach den Neuigkeiten, die Olli mir auf dem Heimweg sprudelnd vor Aufregung berichtete, wurde er auch nicht weniger. Ganz im Gegenteil!
„Mama, stell dir vor, der Kevin hat von seinem Opa ein Auto geschenkt bekommen. Ein richtiges Auto! Mit Elektrik. Mit dem kann er ganz alleine auf der Straße fahren. Ganz schnell und auch auf den Berg! Und er hat gesagt, ich darf vielleicht auch mal! Meinst du, der Papa schenkt mir auch so eins?“
Himmel hilf! Sind die denn jetzt alle verrückt geworden? Kevin und seine Familie! Wenn ich könnte, würde ich die ganze Bande in einen Sack stecken und sie an der tiefsten Stelle im See versenken! Was schenken die dann im nächsten Jahr? Wenn sie jetzt schon vom Bobbycar direkt zum Elektroauto wechseln? Wahrscheinlich ein Drei-D-Brillen-Spiel für den Computer, damit die lieben Kleinen ihre dicken Hintern gar nicht mehr hochwuchten müssen! Ich war so wütend, dass ich nicht merkte, dass nicht nur ich sondern auch Olli, den ich hinter mir her zog, fast die Bodenhaftung verlor.
„Mama!“
„Oh, tut mir leid, mein Hase.“
Aber auch während unseres Mittagessens, das ich sonst immer so genoss, war das Auto noch Thema. Ich versuchte Olli abzulenken, ihm zu erklären, dass so etwas für ihn noch in weiter Ferne lag. Wenn ich an meinen Ex dachte, war ich mir da allerdings nicht so sicher. Leisten könnte er sich das — seine IT-Firma lief hervorragend. Sie war ‚systemrelevant‘. Auch so ein Wort, das ich nicht mehr hören konnte. Nicht dass er Geld übrig hätte. Er hatte angeblich horrende Nebenkosten, der Arme! Meine Anwältin, die sich in meinen Fall festgebissen hatte, und zu meiner Erleichterung nur im Erfolgsfall bezahlt werden wollte, versuchte seit Monaten, ihn zu vernünftigen Unterhaltszahlungen zu bewegen.
Die Nudeln waren heute für meinen Hals eindeutig zu dick, und jedes Salatblatt, das ich hinunterwürgte, verwandelte sich im Handumdrehen in pure Säure. Ich hatte alle Mühe, mein Kind nichts davon spüren zu lassen. Nicht mal mit meinem Kochtick konnte ich mich ablenken. Diesmal produzierte mein Hirn nur ungenießbare Pampe.
Sonst funktioniert der immer ganz gut. Wenn ich Stress hab, wenn ich traurig bin, wenn ich nicht mehr weiter weiß, und — ich geb’s ja zu — auch wenn ich überglücklich bin, denke ich an Essen. Kreiere in Gedanken neue Rezepte.
So wie Ollis Lieblingsessen, das ich bald wieder kochen wollte. Das Ergebnis eines besonders einschneidenden Ereignisses: Ich konnte es damals kaum fassen, kurz nach der Trennung von Fred einen so netten Mann kennengelernt zu haben. Es passte alles. Er blieb eines Tages bei uns am Imbiss hängen. Wir mochten beide Wandern, Schwimmen, Lesen, fanden die gleichen Politikerphrasen zum Davonlaufen. Er machte mir Komplimente zu meinem klaren Teint, zu meinen frechen kurzen Haaren, den rauchblauen Augen. Er mochte auch meine leicht drallen Formen, die ein kleiner Windstoß nicht gleich zum Klappern bringen würde. Ich fühlte mich wohl in meiner Haut.
Bald hatten wir uns verabredet, ich war aufgeregter als damals bei Fred, und es wurde ein wundervoller Tag. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so richtig verwöhnen lassen. Sogar die Sonne spielte mit und machte unseren Spaziergang vor dem Essen zum reinen Vergnügen. Das Lokal war wundervoll eingerichtet. Der Wein funkelte in den Gläsern, die Speisen waren köstlich, und wir unterhielten uns blendend.
Vor dem zweiten Treffen war ich womöglich noch kribbeliger als beim ersten. Olli war schon bei Frau Weber-Will, die so lieb war und wieder mal auf ihn aufpasste. Bestimmt zehn Mal hatte ich meinen Kleiderschrank umgedreht, die Schuhe noch öfter gewechselt, und war sehr zufrieden mit der neuen Wimperntusche. Eine teure Extravaganz, die aber meine Augen, die mir voller Erwartung aus dem Spiegel entgegen schauten, wirkungsvoll betonten. Bald würde er mich abholen, wir würden noch bei Frau Weber-Will vorbeischauen und ich würde ihm ganz kurz meinen liebenswerten kleinen Sohn vorstellen. Er würde sich sicher blendend mit ihm verstehen. Und dann...
Dann kam die SMS.
Die nicht unbedingt hübschere Frau, mit der ich ihn kurz darauf im Park lachen sah, hatte ihm wahrscheinlich, nicht wie ich, am Ende des ersten Treffens gleich gestanden, dass es da noch ein zwar nettes, aber auch etwas anstrengendes Anhängsel gab.
Immerhin blieb mir ein gutes Rezept von der Romanze: Ein süßer Knusperpuffer aus Karotten, Walnüssen und Rosinen. Mit leicht bitterem Nachgeschmack.
So gab es leider immer mehr Erinnerungen an Situationen, die ich nur mit angestrengtem Nachdenken über neue Rezepte verdrängen konnte. Die ich dann natürlich auch ausprobieren musste. Was schlussendlich dazu führte, dass die liebe Denize mir zu Bodywrapping riet.
Als ich mich aus meinen Grübeleien löste und endlich den Tisch abräumte, erklomm Olli den schweren Ohrensessel. Der bildete zusammen mit einer Grünpflanze in unserer Küche eine gemütliche Ecke. Zu gemütlich. Denn wenn ich mich zum Ausruhen hinein setzte, bestand die Gefahr, dass ich innerhalb von Minuten einschlief. Wenn nicht Olli sich zum Vorlesen mit dazu setzte. Es war im Grunde genommen ‚sein‘ Sessel. Er turnte darauf herum, baute sich eine Höhle mit einem Tischtuch, ließ seine Spielzeugtiere darauf bergsteigen. Er war auch die Schaltzentrale für seine Ufo-Abenteuer in einer Galaxie, die unsere ganze Zweizimmer-Wohnung umfasste, mit einer Sperrzone rund um den Küchenherd. Auch wenn er müde war, so wie jetzt, krabbelte er dort hinauf.
Ich betrachtete mein schlafendes Kind. Sein verschwitztes, hellbraunes Haar, das sich im Nacken kringelte. Die feinen halbmondförmigen Schatten der Wimpern auf der zarten Kinderhaut. Seit ich ihn hatte wusste ich wie es sich anfühlte wenn ein Herz überquoll. Meines quoll andauernd. Ich würde alles geben, ihn glücklich zu machen. Alles! Vorsichtig hob ich ihn hoch und trug ihn in sein Zimmer.
Sobald hier aufgeräumt war, sollte ich endlich die Farben, neongrün und gelb, und das Schleifpapier heraus suchen, um den Tretroller, den ich gebraucht ergattert hatte, aufzumöbeln. Bald war Weihnachten, und ich hatte mich so darauf gefreut, seine großen Augen strahlen zu sehen. Nun träumte er von einem Elektroauto.
Auch wenn ich gewollt hätte, so was konnten wir uns schlichtweg nicht mehr leisten. Erst recht nicht, nachdem ich die heutige Post durchgesehen und mir an der Rechnung unserer Kombi-Versicherung fast die Finger verbrannt hatte. Vor nicht all zu langer Zeit musste ich mich mit so etwas überhaupt nicht befassen. Geldsorgen? Was war das? Nun gab in letzter Zeit auch noch die Waschmaschine so komische Geräusche von sich, und unser Vermieter hatte kürzlich erst angedeutet, dass er die Miete für unsere hübsche ‚Puppenstube‘ unangemessen niedrig fände. Jetzt nur nicht drüber nachdenken!
Jedenfalls hatte ich für Olli nur dieses alte Teil, total verschrammt, und selbst die Räder quietschten erbärmlich. Missmutig rührte ich im trüben Spülwasser, ließ das Wasser durch den Abfluss gurgeln und wäre am liebsten hinterher getrudelt. Aber wenn ich mich nicht bald drüber hermachen würde, hätte ich gar nichts. Wo hatte ich die Farbdosen nur versteckt? Im Kleiderschrank? Jetzt klingelte es auch noch! Entnervt sank ich auf den Küchenstuhl. Nein! Nein, ich würde nicht öffnen.
Wer da vor der Tür stand gab nicht auf. Klingelte nochmals. Auf die typische Art der Weber-Will. Gleich würde Olli davon aufwachen. Innerlich stöhnend lief ich zur Tür, dachte: die alte Ratschtante fehlt mir gerade noch. Was braucht sie wohl diesmal? Ein Ei, Mehl oder Zucker als Vorwand, um ihre Neuigkeiten loszuwerden? Ich riß mich zusammen. Manchmal war ich doch froh, wenn sie als Babysitter einsprang. Und es war ja immer wieder ganz nett zu erfahren, wer mit wem unterwegs war, welche Wohnung, welches Haus in unserer Straße neu bezogen oder verkauft wurde. Dass der Bürgermeister eine Affäre hatte, und seine Freundin angeblich ein Kind erwartete. Sie wusste Bescheid darüber, wer schon wieder ein neues Bürogebäude baute, dass das unbekannte Auto, das seit Tagen bei uns im Hof herumstand, demnächst abgeschleppt werden sollte, und dass der Mieter, der bei uns oben links wohnte, öfter einen über den Durst trank. Sie war so gut wie, nein, besser als jede Zeitung. Wenn sie dabei ihre dick geschminkten Augen weit aufriss und die grellrot übermalten Lippen spitzte, tief einatmete und sich der ewig gleiche Typ Hemdblusenkleid über ihrem Busen spannte, wusste ich, dass sie jetzt gleich eine kleine Sensation zu berichten hatte. Wie zum Beispiel kürzlich die Geschichte von dem übermüdeten Krankenpfleger, der für eine ungestörte Nacht seinen zu renitenten Patienten eine Dosis Schlafmittel in den Infusionsbeutel gespritzt hatte. Leider wurde er dabei erwischt, der arme Kerl.
Aber sie rückte mir in letzter Zeit ein bisschen zu sehr auf den Pelz. Die Gefahr, die von Corona ausging, ignorierte sie geflissentlich, und meine Versuche Abstand zu halten, liefen bei ihr ins Leere. Mit einem tiefen Seufzer öffnete ich: „Hallo Frau...“
***
Blumen? Für mich???
Hatte ich in den vergangenen Jahren überhaupt einmal Blumen geschenkt bekommen? Ich konnte mich nicht erinnern. Doch natürlich. Ollis Gänseblumenköpfchen! Und das oft. Aber so einen kunstvoll gebundenen Strauß? Da hatte sich wohl jemand in der Tür geirrt.
Die Blüten unter der Klarsichtfolie vor mir schwankten auf einmal, dehnten sich, zogen sich wieder zusammen, und um mich herum fing alles an sich zu drehen. Wieso bestanden meine Knie auf einmal aus Pudding? Was...? Jemand packte mich — der Bote?— trug mich...
Die Konturen wurden wieder klarer, schärfer. Ich saß in meinem Sessel und blickte in die besorgten Augen eines Fremden. Nein, ganz fremd war er nicht. Das war doch...? „Entschuldigung... ich...“
„Geht es wieder? Ich vermute, Sie hatten gerade ein kleines Kreislaufproblem“, sagte der Mann mit der hellen Strähne im welligen kastanienbraunen Haar, der versuchte die Maske, die an seinem Ohr baumelte, wieder zu befestigen. „Ich hol´ Ihnen ein Glas Wasser.“
Der neue Nachbar! Auf einmal so nett? Ich war zu durcheinander, wusste nicht wie reagieren, trank dankbar das Glas aus, schaute zu wie er den Blumenstrauß vom Boden aufhob und mir hinhielt.
„Ich wollte mich für heute Morgen entschuldigen“, sagte er. „Es tut mir leid, dass ich einen so ‚umwerfenden‘ Eindruck auf Sie gemacht habe. Mein Einstand war wohl etwas misslungen. Können wir nochmal von vorn anfangen? Ich bin Mark Mahler.“
„Ich...“
Er war fast nicht wiederzukennen. Wie sehr etwas Wasser und frische Kleidung einen Menschen verändern können. Erst recht das kleine Lächeln und die winzigen Fältchen um die grünbraunen Augen über der schwarzen Maske. Verlegen richtete ich mich auf, war mir meiner abgetragenen, viel zu lockeren Jeans und dem von der Küchenarbeit verspritzten Sweatshirt mehr als bewusst und stotterte: „Ähm... Ja, klar. Anna. Anna Maiwald.“
Mark Mahlers unausgepackte Kartons, die er in Huchlers Gästezimmer deponiert hatte, waren nun mit einer schokoladenbraunen Decke abgedeckt. Eine zweite lag auf dem Bett, mit ein paar von mir geopferten bunten Kissen dekoriert. Durch frisch geputzte Fenster fiel Licht auf ein weißes Bücherregal, in dem nun neben Huchlers gesammelten Werken ein paar meiner zerlesenen, für Olli aufbewahrten Lieblings-Ausgaben standen: „Die Insel der Abenteuer“ und „Fünf Freunde beim Wanderzirkus“ von Enid Blyton, Kerstin Giers „Silber“ und noch ein paar andere, von denen ich dachte, dass sie einem jungen Mädchen gefallen könnten.
Auf dem runden Tisch, ebenfalls weiß, eine Schüssel mit Mandarinen und eine zweite mit selbst gebackenen Schokokeksen. Alles war bereit für den morgigen Besuch seiner Tochter. Prüfend schaute ich mich um. Sie müsste sich wohlfühlen.
Ich zog die Tür zu. In der Küche schmurgelte der Makkaroniauflauf. So viel, dass das Mädchen und ihr Vater am kommenden Tag auch noch davon essen konnten. Der Backofen hier in Marks Wohnung, nein die ganze Kochzeile, war viel besser ausgestattet als meine, und ich hatte mich so richtig ausgetobt. Das Carpaccio samt Dressing zur Vorspeise und die wunderbar gelungene Schokocreme als Nachspeise warteten bereits im Kühlschrank auf ihren Einsatz. Der Esstisch war festlich gedeckt, mit Brot und Aufstrich in kleinen Schälchen. Ein samtroter Wein atmete schon in der Karaffe. Die Spuren der Arbeit waren getilgt, und die Kerzen, probeweise angezündet, tauchten den Raum in weiches Licht. Voll Vorfreude flatterte alles in mir. Jetzt schnell rüber, noch kurz telefonieren und meinen Ex nerven, mich vergewissern, dass es Olli gut ging, duschen, mein lange nicht mehr getragenes Kleid überstreifen und dann...
Das Mädchen, das gerade die Türklingel betätigen wollte, starrte mich genauso erstaunt an wie ich sie: Augenränder, um die sie jeder Panda beneidet hätte, ein gefilztes Band, das einen Wust von Rastalocken aus der Stirn drängte. Klimpernde Armreifen, eine abgeschnittene Jeans über einem Paar lilafarbener Leggins, Wanderschuhe kurz vor der Auflösung. Trotz der Maskierung erkannte ich sie sofort: Malin, Marks Tochter.
Auf dem gerahmten Bild auf Marks Schreibtisch sah sie allerdings um einiges angenehmer aus. Ihrem jetzigen Outfit entsprach leider auch ihr Benehmen, und ihre überhebliche Musterung meinerseits gefiel mir ganz und gar nicht.
„Wer sind Sie, was machen Sie hier? In der Wohnung von meinem Vater?“
„Malin? Du bist doch Malin? Ich dachte, du kommst erst morgen...“
Sie drängte sich an mir vorbei. Schnupperte den Geruch des Auflaufs und den Rauch der gelöschten Kerzen, sah sich um.
„Stör ich vielleicht? Pech gehabt. Ich werd leider ne Weile bleiben. Unsere Schule hat schon wieder dicht gemacht. Corona sei Dank.“
Herausfordernd starrte sie mich an, und ich hätte sie am liebsten an ihren verfilzten Haaren gepackt und mit Gewalt dort hin expediert, wo sie hergekommen war. Stattdessen zuckte ich nur zusammen, als sie ihren Koffer, der vom Zustand genau zu ihrer Aufmachung passte, achtlos auf die Couch warf, sich ein Brot griff und in die Sauce tartare tauchte.
„Aus eurem süßen Date wird heute wohl nichts werden! Er hat mir gar nicht erzählt, dass er ne neue Flamme hat.“ Sie sah mich abschätzig von der Seite an. “Na, ja, verbessert hat er sich nicht!“
„Bist du fertig mit deinen Beleidigungen?“ sagte ich mühsam beherrscht, meine zur Faust geballten Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Dann kann ich ja vielleicht zu dir durchdringen: Dein Vater hat mich gebeten, für euch etwas Feines zu kochen, da er sich seltsamerweise sehr auf deinen Besuch freut. Und ja, wir sind Nachbarn, verstehen uns ganz gut, und wir wollten das Essen nachher zusammen testen. Du kannst dich selbstverständlich nun selbst darum kümmern. Und der Wohnung noch deinen eigenen Stempel aufdrücken.“ Abbittend dachte ich kurz an Huchlers. „Das Essen im Ofen ist übrigens in dreißig Minuten fertig, bis dahin müsste dein Vater zurück sein. Alles andere findest du im Kühlschrank. Schönen Abend noch!“
***
„Der Teilnehmer antwortet nicht. Bitte versuchen Sie es später noch einmal...“
Wieso hatte er den Anrufbeantworter nicht eingeschaltet? Mist, Mist, Mist! Wahrscheinlich hing er noch bei einem Klienten fest. Sein Job als Gutachter für eine Versicherung war sehr zeitintensiv. Es war eben manchmal nicht einfach, aufgebrachte Menschen zu überzeugen, dass sie sich von der hohen Schadenersatzsumme, die sie sich ausgerechnet hatten, verabschieden mussten. Mark hatte mir da Geschichten erzählt! Erst kürzlich hatte er einen, der meinte, sein durch einen kleinen Wasserschaden mitgenommener Duschbereich rechtfertige es, sich von der Versicherung gleich die Renovierung des kompletten Bads bezahlen zu lassen. Und es gab immer wieder welche, die eigenhändig ihre blinden Scheiben einschlugen und dann unverfroren die Rechnung dafür einreichten. Und das waren nur die kleineren Fälle, mit denen er sich herumschlagen musste. Und auch als Anlageberater — sein zusätzliches Standbein — musste er schon mal zusätzliche Stunden in Kauf nehmen.
Bedrückt hängte ich den Bügel mit dem Kleid wieder in den Schrank und tigerte ruhelos in meiner Wohnung auf und ab. Blieb beim Garderobenspiegel hängen. Mein vorsichtig wiedererstarktes Selbstbewusstsein hatte einen ordentlichen Knacks bekommen. Bis eben hatte ich mich noch ganz okay gefunden. Sogar attraktiv. Natürlich hatte ich mich noch nicht frisch gemacht. Aber trotzdem... Unwillkürlich prüfte ich mein Gesicht im Spiegel. Hatte ich vielleicht...? Nein, alles in Ordnung. Keine Nudel klebte irgendwo, und auch sonst kein Speiserest. Diese kleine Kröte. Mich so zu verunsichern!
Dann wieder fragte ich mich, ob ich dem Mädchen gegenüber nicht zu schroff gewesen war. Fragte mich, ob ich Olli auch mal in so einer Aufmachung zu Gesicht bekommen würde. Und was dann? Schaute auf die dunkle Straße hinunter, auf die Lichter der Autos, die in größeren Abständen vorbeifuhren, an der Ampel vorne anhielten. Weiterfuhren...
Was soll das, Anna?, redete ich mir gut zu. Setz dich hin, mach’s dir gemütlich. Der Abend ist gelaufen, und sie bleibt ja nicht ewig. Hoffentlich! Schon stand ich wieder am Fenster.
Gib auf, Anna. Er ist bestimmt schon da und wird sich noch melden. Spätestens morgen...
Der Versuch, ein Buch zu lesen, scheiterte jedoch im Ansatz. Das Fernsehen bot nur Geballer, Geschwätz und Zahlen zu Corona, die zu meiner Stimmung passten. Und die letzte Blüte, die ich aus dem Blumenstrauß von Mark gerettet hatte, hing nun auch kopfü