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Urlaub, Abenteuer, Liebe - zu Land, Leuten und einem geheimnisvollen Fremden. Ein Buch, das süchtig macht auf Griechenland, das man vor Spannung nicht vor dem überraschenden Schluss aus der Hand legen kann, und das trotzdem ohne literweise Blut und Horrorvisionen auskommt.
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Seitenzahl: 195
Veröffentlichungsjahr: 2017
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Christina Hupfer
Götter, Gipfel und Gefahr
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Inhaltsverzeichnis
Titel
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Danke
Impressum neobooks
Wie bin ich nur in diese Situation geraten? Ruhelos drehte ich mich auf meiner Matratze hin und her. Blickte zum wiederholten Mal auf die leuchtenden Ziffern meiner Uhr: 2:37. Warf die erstickend warme Decke zum hundertsten Mal von mir, um mich gleich darauf wieder fröstelnd darunter zu verkriechen. Mein wie verrückt klopfendes Herz ließ meinen ganzen Körper beben und meine Gedanken fuhren Karussell: Was soll ich nur tun? Wie komme ich da wieder raus? Normalerweise fällt mir es nicht schwer, meine Fehler auszubügeln. Und da gibt es leider immer wieder die Gelegenheit, das zu beweisen. Aber das...! Dabei hatte alles so gut angefangen.
Nachdem ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, den diesjährigen Urlaub beim Camping mit Sylvie, meiner liebsten Kollegin, und ihrem Mann Jonas zu verbringen, hob sich langsam die bleierne Schwere, die seit Michaels Tod, also seit fast genau zwei Jahren, auf mir gelastet hatte. Und als mich kurz darauf aus einem Kaufhausregal unvermutet eine blasse, hohlwangige, verhärmte Person anstarrte, deren zotteliges, dunkles Haar garantiert seit Ötzis Zeiten nicht mehr gepflegt worden war – ich brauchte gefühlte zehn Schrecksekunden, bis ich feststellte, dass das m e i n S p i e g e l b i l d war – raffte ich mich auf und ging endlich mal wieder zum Friseur.
Und das Klischee stimmt tatsächlich: So ein Friseurbesuch streichelt ein wenig die Seele. Die neue Frisur mit dem kinnlangen, glänzend dunkelbraunen Haar schmeichelte meinem schmalen Gesicht und aus dem hohen Spiegel schaute mich dieses Mal aus grünen Augen eine ernste, aber vorzeigbare, schlanke junge Frau an, der man ihre 32 Jahre nicht unbedingt ansah. Na ja, die Nase war immer noch etwas groß, der Mund ein wenig zu breit und der Schwanenhals, von dem ich früher immer geträumt hatte, war mir auch nicht gewachsen. Aber ich fühlte mich wohl.
Die Reisevorbereitungen machten mir dann auch immer mehr Freude und die schmerzhaften Stiche, die mich so oft und bei jeder Assoziation, die mich mit Michael verband, durchfuhren, verloren ganz langsam ihre Schärfe. Ich musste sogar fast lächeln, als ich überlegte, was Michael von diesem „Schwachsinn” gehalten hätte. Ich lieh von einem Kollegen ein kleines Zelt samt Luftmatratze. Wegen der Privatsphäre. Drei Wochen Zusammenleben in einem kleinen Wohnwagen übersteht, so glaube ich, keine noch so gute Freundschaft. Ich hatte noch nie so luftig – und schon gar nicht allein – übernachtet. Michael und ich hatten eher das luxuriöse Ambiente von edlen Hotels für unsere wenigen gemeinsamen Urlaubstage geschätzt. Doch ein kleines Pfefferspray plus eine riesige Taschenlampe mit M o r s e l i c h t, dazu das Handy, auf dem ich gleich mal auf der ersten Schnellwahltaste die Nummer von Jonas speicherte, und ich fühlte mich für das große Abenteuer gerüstet.
Dann ging es ans Pläneschmieden. Wir wollten nach Griechenland, auf die Peloponnes. Mit der Fähre von Ancona nach Patras, von dort aus drei oder auch vier Stationen anfahren, viele, viele historische Stätten der alten Griechen besichtigen, in den anscheinend teils sehr schroffen Bergen und Schluchten wandern (na, da war ich mal gespannt – bisher hatten meine Wanderungen eher durch die wunderschönen, aber meist ebenen Häuserschluchten diverser Großstädte geführt...), schwimmen und in romantischen Tavernen gemütlich einkehren. Wir freuten uns riesig auf dieses Land, in dem die Kinder noch Dyonisos und Aphrodite heißen. Wo Götter in den Bergen wohnen, wo Quellen nach ihnen benannt werden und Flüsse unverwundbar machen sollen. Wo Orangen goldene Kringel in die Landschaft malen und Delphine über tiefblauem Wasser ihre Pirouetten drehen.
Ich geriet in einen wahren Kaufrausch und überschwemmte an einem schauderhaft grauen Apriltag meine winzige Wohnung mit Tüten voller Wanderausrüstung, Sommerkleidchen, Sandalen, Sonnencreme, Bikinis und, und, und...
„Cara mia, willst du dort einen Laden aufmachen?”, lachte Sylvie, als ich ihr bei der nächsten Urlaubsbesprechung meine Errungenschaften vorführte. „Ich freue mich ja, dass dich das Leben so langsam wieder zurück hat, aber überlege dir gut, was du mitnehmen willst. Wir drei sollten schon auch noch ins Auto passen.”
Sie hatten auch schon die Tickets für die Fähre dabei: „Ancona – Patras am 01.05.2015 Abfahrt 15:30 Uhr“, las ich, und unter den Namen von Sylvie und Jonas meinen eigenen: Müller Carola. Meine Freunde nennen mich, wie Sylvie auch, Sara.
Drei unbeschwerte Wochen lagen vor uns. Bei mir waren es sogar vier Wochen, denn ich musste erst am 30.05. wieder antreten. Alle Kollegen beteuerten mir, dass mein Urlaub überfällig wäre, dass ich darauf schauen sollte, mich gut zu erholen, dass ich kein schlechtes Gewissen zu haben bräuchte – sie würden mir schon noch genügend Arbeit übrig lassen. Und mein Chef meinte: „Falls Sie je nach Athen kommen sollten, schauen sie dort in unserer Filiale vorbei und grüßen Sie Yannis. Er soll Sie mal schön zum Essen ausführen.”
„Der würde sich bedanken, wenn wir dort gleich zu dritt aufkreuzen würden”, lachte ich. „Aber das liegt sowieso nicht auf unserer Route.”
„Egal, wie auch immer, genießen Sie ihren Urlaub. Sie haben es sich wirklich verdient.”
„Danke, vielen Dank – Euch allen.” Ich schluckte gerührt. „Und ja, das werde ich.”
Ich wollte es wirklich versuchen – und am Abend vor der Abreise drückte ich mit einem Kloß im Hals Michaels Bild an mich und versorgte es dann tief unten in meinem großen Reiserucksack.
Mitten in der Nacht wurde ich abgeholt und im Nu – so kam es mir wenigstens vor – erreichten wir den Hafen von Ancona. Während der fast zwei Tage langen Seefahrt verließ ich nur ungern unseren schnell ergatterten, windgeschützten Winkel auf dem Oberdeck. Jedes Plätzchen war belegt und die elegant in der frischen, blauen Luft schwebenden Möwen äugten gierig auf uns herunter, hoffend, dass vielleicht ein Bröckchen von den guten Sachen, die uns serviert wurden, den Weg über Bord fände.
Nein. Ich wandte mich ab und drehte den bedrückenden Nachrichten den Rücken zu. Ich wollte endlich wieder leben. Für mich schien hier die Sonne. Blauer Himmel, noch blaueres Meer und immer wieder ein Schiff. Eine Fähre, ein Frachter. Ab und zu eine Motoryacht oder ein Segelschiff. Ich stand auf, lehnte mich an die Reling und entzifferte laut die griechischen Buchstaben „όμορφος Απόλλωνας“ (O M O R F O S A P O L L O N A S) am Bug des schnittigen Segelbootes, das gerade von unserer Heckwelle gut durchgeschaukelt wurde.
„Könnet sie des wirklich lese?”, fragte mich die pummelige Reisebekanntschaft aus Stuttgart, die sich neben mir über das Wasser beugte und wohl ein wenig Anschluss suchte.
„Na ja, lesen ist zu viel gesagt. Ich habe vor ein paar Jahren beruflich mit der Vertretung unserer Firma in Griechenland zu tun gehabt. Damals habe ich mir einen kleinen Sprachführer gekauft. Und für unseren Urlaub habe ich das wenige, das ich gelernt habe, aufgefrischt.”
„Wir haben sie jedenfalls nur deswegen mitgenommen”, flachste Sylvie, die ebenfalls zu uns gestoßen war.
„Das wirst du spätestens dann bereuen, wenn ich Euch das erste Mal in die Irre führe!” Ich lächelte sie an und lud dann die füllige Dame, die sich offensichtlich alleine und verloren vorkam, dazu ein, uns bei einem Tässchen Kaffee Gesellschaft zu leisten.
Sie teilte uns dann auch aufgeregt mit, dass sie auf Einladung einer Cousine das erste Mal so eine große Reise unternähme. Die Tasche mit ihren Reisepapieren hielt sie dabei die ganze Zeit in ihren verkrampften Fingern. Sie erzählte uns, dass sie in Patras abgeholt werden würde und war äußerst besorgt.
„Ob die mi au glei erkenne werret? – i hon ekschtra den Sonnehut mit dene schene Rose` kauft – aber wenns dunkel isch, wenn mir det akommet?”
Und dass sie sicherheitshalber ein paar Packungen Kekse von daheim mitgenommen habe.
„Wer woiß, ob mr des Essa do au verträgt – i bin nämlich scho ziemlich allergisch!“
Ich grinste mir eins und ließ von da an das Gespräch an mir vorbeiplätschern, dachte an die schöne Woche von vor drei Jahren, als ich den Geschäftsbesuch in Athen verlängert hatte und mir von unserem netten Filialleiter Yannis Prokotos, der angenehmerweise sehr gut Deutsch sprach, und dessen wunderschöner Verlobten Eleni, die sich ohne weiteres in die Reihe der griechischen Göttinnen hätte einreihen können, die Stadt und die Umgebung hatte zeigen lassen. Und Michael, der sich ein paar Tage Urlaub genehmigt hatte, war mit von der Partie gewesen. Die Erinnerung an den letzten Abend, als wir alle im Hafen von Piräus auf der pompösen Yacht von Elenis Eltern an Deck gesessen hatten – die Sterne funkelten am kitschig dunkelblauen Himmel, Bouzukiklänge wehten von einem benachbarten Boot herüber, Michael, sein warmer Körper dicht an meinem, summte mir ins Haar und der Wein floss in Strömen – ließ mich wieder mal heftig schlucken. Michael würde mich nie wieder in den Arm nehmen. Das hatte ein betrunkener Autofahrer verhindert.
Schnell dachte ich an Yannis und Eleni. Ob sie inzwischen verheiratet waren? Ob wohl schon ein kleines „Prokotosle” herumkrabbelte? Vielleicht mit Elenis zarter Haut und Yannis tollen dunklen Locken und einem entzückenden, kleinen griechischen Näschen? Da ich ein Viertel Jahr nach unserem Athenbesuch ein anderes Aufgabengebiet zugewiesen bekommen hatte, hatte ich den Kontakt zu den beiden verloren. Und jetzt einfach bei Ihnen anzuklopfen und „Hallo, da bin ich wieder” zu sagen, das wollte ich dann auch nicht. Sylvie und Jonas hatten Athen vor einigen Jahren schon mal besucht. Außerdem wollten sie dieses Mal nur in die Natur und lieber wandern. Dieser Urlaub sollte für mich nun ein ganz anderes Kapitel sein. Neue Erfahrungen, neue Begegnungen. Ich wollte, und das hatte ich mir fest vorgenommen, das Leben einfach neu lernen.
Am folgenden Tag rollten wir mit unserem Hänger von Bord und fuhren gemächlich an der Küste entlang bis zu unserem ersten Campingplatz. Jede Bucht, jeder Olivenbaum, jede Palme, jeder Ziegenstall, praktisch jeder Blick nach einer der vielen Kurven versetzten uns in Entzücken. Und der Urlaub hielt wirklich, was ich mir davon versprochen hatte. Wir wanderten durch eine herrliche, fast unberührte Landschaft. Die auf unseren Karten eingezeichneten Wanderwege waren eine Herausforderung für jeden Pfadfinder! Von den Gipfeln schroffer Gebirgszacken genossen wir überwältigende Ausblicke auf traumhafte Buchten, auf die im weiten Meer verstreuten Inseln und auf immer neue Gebirgszüge im Hinterland. Ich hätte mir vorher nie vorstellen können, wie gut das Picknick im Schatten einer so haarscharf am Abgrund stehenden Aleppokiefer schmecken kann. Und wenn man dann noch unter nickenden Glockenblümchen und zu der Musik summender Insekten eindöste, war das einfach herrlich.
Unser gemeinsamer Urlaub gestaltete sich trotz meiner anfänglichen Bedenken angenehm entspannt. Das „Fünfte Rad am Wagen” störte die beiden überhaupt nicht. Im Gegenteil. Am Morgen ließ ich die beiden etwas länger schlafen, holte Brötchen, genoss die frische Morgenluft und kümmerte mich ums komplette Frühstück.
„Habt ihr gesehen, wie die anderen Camper immer neugierig auf unseren Tisch starren?”, machte uns Jonas einmal aufmerksam.
„Ja, wer von denen bekommt jeden Morgen schon weiche Eier, Müsli, Wurst, Käse, Butter, Orangensaft und Kaffee serviert?”, meinte Sylvie und leckte sich genüsslich einen Marmeladenklecks von den Lippen. Nach so einem üppigen Frühstück waren wir gerüstet für die täglichen Unternehmungen. Und da bot uns dieses Land einiges.
An den Abenden durfte ich mich bedienen lassen.
Jonas und Sylvie kochten gerne und es machte Ihnen sichtlich Spaß, aus den frischen Zutaten, die wir meist unterwegs und am liebsten an den kleinen Ständchen am Straßenrand einkauften, leckere Gerichte zu kochen.
Alle paar Tage klinkte ich mich komplett aus und genoss einfach Sonne, Strand und Meer. Spät am Abend, meist schon im Dunkeln, wenn wir gemeinsam unseren gewaltigen Abwasch erledigt hatten, saßen wir bei einem Glas Retsina in unseren gemütlichen Klappsesseln vor dem Camper und ließen die Erlebnisse der vergangenen Tage nochmals an uns vorüberziehen:
Die ewig lange, beängstigend tiefe und dunkle Schluchtenwanderung.
Die Klöster, die einsam und düster hoch oben in den Felsen klebten.
Die riesigen Herden von frechen Ziegen mit goldenen Augen.
Der würzige Duft der unterschiedlichsten Kräuter, der einem an sonnenwarmen Stellen um die Nase wehte.
Die wunderbar neuen, überwiegend gähnend leeren Straßen und die zum Teil aufwändig restaurierten historischen Stätten:
„Da könnt Ihr mal sehen, wohin die EU-Gelder gehen”, lästerte Jonas gutmütig.
Wir dachten an den netten Wirt, der uns stolz seinen Geländewagen zeigte und der dann unser Geld ohne Rechnung einsteckte:
„Wie sollen die so jemals aus Ihrer Schuldenfalle rauskommen?”, fragte Jonas kritisch.
„Na ja, unser Bad haben wir kürzlich auch von einem „Freund” machen lassen”, meinte seine Frau.
„Das ist ja wohl ein bischen was anderes”, protestierte er.
„Keine Politik bitte – wir haben doch Urlaub”, bat ich und erinnerte an den freundlichen alten Herrn, der es ich nicht nehmen ließ, uns mit seinem Stock bewaffnet durch sein Dorf zur nächsten Abzweigung zu führen und der uns in Deutschenglischgriechisch mitteilte, dass er die Deutschen „trotz allem” sehr schätze. Manche taten das wohl nicht – deshalb der Stock? Und, und, und... Und wir bedauerten sehr, dass sich unser Aufenthalt bald dem Ende zuneigte. Außerdem würde ich meine gemütliche „Höhle” vermissen. Zwei mal zwei Meter groß. Darin eine Matratze, eine Klappkiste als Tisch und sogar eine Steckdose (dank einer Kabelverbindung zum Wohnwagen) für Licht, Ladegerät und, ganz wichtig, für den Tauchsieder, der mir den frühmorgendlichen Luxus–Cappuccino ermöglichte. Dank sei Nestlé.
„Du könntest ja noch eine Woche anhängen”, schlug Sylvie vor.
„Hm, das wäre schon was”, antwortete ich träge. „Ich müsste eigentlich nur meinen Rucksack vergrößern und noch schnell fürs nächste Wochenende einen „billigen” Flug von Patras nach München buchen.”
Aber ich freute mich auch auf die gemeinsame Rückreise mit dem Schiff, auf die kleine Woche Schonzeit, bevor die Tretmühle wieder anlaufen würde, und auf die Besuche bei den Eltern, Geschwistern und Freunden, denen ich ja nun einiges zu erzählen hatte. Es wurde nun auch jeden Tag ein wenig heißer und bald würden die Touristen in Massen über diese jetzt noch wunderschönen, einsamen Strände hereinbrechen.
Am Tag vor unserer Abreise befanden wir uns auf einem winzigen, sehr familiären Campingplatz direkt am Meer, nur ca. 20 km von Patras entfernt und unternahmen zum Abschluss eine letzte, kurze Wanderung ins Hinterland. Auf dem Heimweg fuhren wir in den Hafen zum Fähranleger um zu schauen, wo wir uns am nächsten Abend einreihen müssten. Und da geschah es...
So ein riesiger Hafen ist ganz schön aufregend für jemanden, der wie wir aus der tiefsten Provinz stammt. Ich konnte sehr gut verstehen, dass Jonas sich hier vorab orientieren wollte.
Dutzende Fahrstreifen führten zu den Anlegestellen der unterschiedlichsten Fährgesellschaften. Turmhoch ragten die Schiffe vor den Reihen unzähliger Autos, Wohnanhänger, Wohnmobile und riesiger Lastwagen empor. Schiffssirenen heulten, Ketten rasselten, Rufe gellten, Bremsen quietschten und manchmal bewegte sich tatsächlich eine der Fahrzeugschlangen vorwärts. Es roch nach Schmieröl und heißem Asphalt. Verschwitzt aussehende Menschen standen vor weit geöffneten Autotüren in Grüppchen zusammen und kommentierten lauthals die Vorgänge. Ein besonders wichtigtuerisches Exemplar, dessen Wanst das Matrosen-T-Shirt, in dem er steckte demnächst zum Platzen bringen würde, erklärte gerade den Umstehenden:
„Und wenn wir in Ancona ankommen, dann können wir uns auf eine noch viel längere Wartezeit gefasst machen. Die vom Zoll nehmen dort zurzeit nämlich jeden Wagen auseinander. Die suchen illegale Einwanderer. Die versuchen jetzt mit allen Mitteln über die Grenze zu gelangen.”
„Und wehe, die finden da jemanden”, tönte er weiter. „Wenn sich da so einer bei Euch z. B. im Wohnwagen eingeschlichen hat, dann seid Ihr genauso dran! Und so ein Zuchthaus ist auch in Italien kein Zuckerschlecken, das sage ich Euch.”
„Oh, je, das hört sich ja schrecklich an”, sagte ich zu Jonas. „Da dürfen wir ja morgen Abend unser Gespann nicht aus den Augen lassen. Aber die armen Menschen, die das nötig haben...”
„Nur keine Aufregung, in unserem kleinen Camper kann sich sowieso keiner verstecken. Da müssen die mit ihren aufgeblasenen Luxusmobilen eher aufpassen”, wiegelte er ab. „Wir suchen jetzt erst mal die Terminals.”
Gott sei Dank war ich hier nicht auf mich alleine angewiesen! Mit dem Handy versuchte ich (mein Fotoapparat lag leider mal wieder im Auto) die Atmosphäre dieser riesigen Maschinerie einzufangen. Na ja, ich versuchte es. Als wir aber für eine Auskunft ewig lange an einem der Schalter warten mussten, lief ich zurück, um die Kamera zu holen.
Die Luft flimmerte über den Autodächern als ich an den Blechlawinen vorbei zu der Stirnseite des riesigen Platzes lief, wo wir unseren Wagen geparkt hatten. Es war sicher der heißeste Tag unseres ganzen Urlaubs. Der Großschwätzer hielt trotzdem immer noch Hof und ein weiteres Paar lauschte gebannt seinen drastischen Ausführungen, die er mit der Bierdose in der Hand untermalte. Dabei stand hinter ihm die Tür seines Wohnmobils sperrangelweit offen. Eine generöse Einladung für eine ganze Wagenladung Asyl suchender Menschen. Ich lachte in mich hinein und kramte den Schlüssel zu unserem Auto aus der Hosentasche.
Und da sah ich es: Auf dem Parkplatz, zwei Autos vor dem unseren stand ein alter, verrosteter, ehemals weißer Lieferwagen.
Ein dunkelhäutiger, ungepflegter Mann, so einer von der Sorte, dem ich nicht unbedingt nachts alleine begegnen wollte – sein herunterhängendes, linkes Augenlid trug auch nicht gerade zu einer vertrauenerweckenden Erscheinung bei – warf gerade einen großen Sack durch die geöffnete Heckklappe und schlug sie im Weggehen hinter sich zu. Er wandte sich an einen anderen Typen von der gleichen Sorte, der mit seiner ausgefransten Narbe, die die untere rechte Seite seines Gesichts verzierte, ebenfalls ungeschminkt in einem Horrorfilm hätte mitspielen können. Die beiden gingen auf einen großen, schlanken Mann in Uniform zu, der mit einer gefährlich aussehenden Pistole im Gürtel und Papieren in den Händen seitlich vom Wagen stand.
Die Klappe des weißen Lieferwagens war aber anscheinend nicht eingerastet, denn sie bewegte sich ganz leicht, nur ein paar Zentimeter, nach oben. Ein paar dünne Beine erschienen und eine kleine Gestalt huschte pfeilschnell an mir vorbei und verschwand hinter den Reifen des riesigen Kühllasters, der nur ein paar Meter entfernt neben unserem Auto stand. Kurz sah ich, wie sich der Körper nach oben, wohin auch immer, zog. Angsterfüllte Augen brannten sich in meiner Netzhaut ein. Dann war er verschwunden.
„Habe ich das jetzt wirklich gesehen???”, fragte ich mich verwirrt. „Was war denn das?”
Ich öffnete unser Auto, ließ mich mit klopfendem Herzen ins Polster sinken und kramte in meinem Rucksack nach meinem Fotoapparat.
Inzwischen war draußen so etwas wie Panik zu erkennen. Die drei Männer brüllten sich wütend an, die Tür des weißen Lieferwagens vor mir wurde zugeschlagen (diesmal richtig), dann einigten sie sich wohl und sie bewegten sich alle drei zielstrebig suchend an den parkenden Autos entlang auf mich zu. Ich stieg aus, hängte innerlich zitternd umständlich meine Kamera um, nahm meinen Rucksack aus dem Auto, schulterte ihn, grüßte freundlich und hoffentlich unverfänglich und schloss die Tür zu.
„Haben sie zufällig gerade einen Jungen vorbeilaufen sehen?”, fragte mich der Uniformierte nach einem Blick auf das Nummernschild in ganz passablem Deutsch. Zwei ungewöhnlich helle Augen in dem dunklen Gesicht musterten mich abschätzig und arrogant. Der Mann war unbestreitbar eine Augenweide und er wusste das auch. Mein Blick wurde jedoch magisch angezogen von den zwei Nasenhaaren, die sich anscheinend seit ein, zwei Tagen der allmorgendlichen Trimmaktion widersetzt hatten.
„Dieser Herr hier”, er zeigte auf „Schlupfauge“
(Herr – ha!), „wurde gerade dort drüben bestohlen.”
Ich stutzte. So hatte ich das aber nicht gesehen.
„Unglaublich, vor Ihren Augen – wie schrecklich!” staunte ich intuitiv übertrieben. „Da vorne ist, glaube ich, gerade jemand gerannt.” Ich zeigte in Richtung der Straße. „Aber ich habe nichts Genaues gesehen, tut mir leid.”
„Diese Straßenjungen sind ein richtiges Übel.” Seine drohenden Augen stachen förmlich auf mich ein, während sich die zwei Härchen im Atem aufstellten. „Ich rate Ihnen gut aufzupassen.”
Als er sich abwandte und den zwei Gesellen in die von mir angezeigte Richtung folgte, ließ ich langsam meinen angehaltenen Atem entweichen, kicherte hysterisch und sank noch einmal zurück in die Polster. Dann griff ich nach einer Orange, schaute mich um, legte ich sie auf den Boden und kickte sie vorsichtig unter den Laster. Mit wackeligen Knien rannte ich in Richtung der Terminals.
Ich konnte es kaum glauben, dass sich die Schlange vor unserem Schalter nur unwesentlich vorwärts bewegt hatte, und als wir endlich wieder draußen standen, erzählte ich, immer noch ziemlich aufgewühlt, Sylvie und Jonas von meinem Erlebnis.
„Puh, das hätte dumm ausgehen können – da dürfen wir uns nicht einmischen”, schimpfte Jonas ein wenig mit mir. „Wir sind hier immerhin in einem fremden Land. Und ein Zollbeamter hat nun mal seine Aufgaben.”
„Du hast ja recht”, gab ich zu und dachte: Aber was hätte ich denn anderes tun sollen?
„Schon gut.” Er tätschelte meine Schulter. „Ist ja nichts passiert und für Morgen ist jetzt alles klar. Um 17:00 müssen wir hier sein. Genießen wir also den letzten Abend.”
Wir drehten dem ganzen Chaos den Rücken, trotteten allmählich ziemlich geschafft zum Auto, rissen Fenster und Türen auf, um die größte Hitze herauszulassen und fuhren dann in einer weiten Kurve an den mit diversen Plakaten verunzierten Absperrungen vorbei in Richtung Ausgang. Leider sehr langsam und ohne Fahrtwind. Zu der Zeit, als Jonas liebevoll gepflegtes Wägelchen gebaut worden war, hatte man definitiv noch nichts von serienmäßigen Klimaanlagen gewusst.
Sylvie und Jonas debattierten vorne noch immer über den Ablauf des morgigen Tages. Ich machte es mir auf meiner Rückbank bequem und schälte eine der wunderbar aromatischen Orangen, die man daheim so nie bekommt. Der große Sack neben mir, der eigentlich als Mitbringsel gedacht gewesen war, schmolz bereits ganz schön zusammen. Hoffentlich hat der Kleine die Orange erwischt, dachte ich gerade und sah im selben Moment eine Hand am rechten Fensterholmen, ein dunkler Haarschopf schob sich nach oben und ich schaute wieder in dieselben angstvollen Augen.
Oh Gott, was jetzt, dachte ich und entdeckte gleichzeitig die zwei Kerle von vorhin, die immer noch mit suchenden Blicken hinter den Absperrungen auftauchten und schnell näherkamen.
„Meine Jacke... eingeklemmt”, krächzte ich, öffnete die Tür, schwang meine Beine seitlich auf die Bank und deutete mit der einen Hand nach unten in den Fußraum während ich gleichzeitig einen Finger der anderen auf die Lippen legte. Und jetzt hatte ich ein Problem.