Schleuderkurs - Christina Hupfer - E-Book

Schleuderkurs E-Book

Christina Hupfer

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Beschreibung

Das Leben könnte so schön sein — Wenn einen der Lebensgefährte nicht gerade gegen eine andere ausgetauscht hätte. Wenn alles nicht so teuer wäre, und man für seine Arbeit angemessen bezahlt würde. Wenn nicht mancher für Geld über Leichen ginge. Oder wenn man Superfrau wäre... Paulina ist im Moment alles andere als das. Liebeskummer, Karriereknick, Geldnöte: Ihr Lebensgefährte fand was Besseres, im Büro thront ein selbstherrlicher Chef und auf ihrem Konto leuchten die roten Zahlen. Trotz ihrer finanziellen Schieflage und obwohl die mitleidigen Blicke ihrer Kollegen fast schlimmer sind als ihre Höhenangst, lässt Paulina sich überreden, mit ihnen ein Wochenende in den Bergen zu verbringen. Als sie dort, gerade mal alleine unterwegs, auch noch einen abgestürzten Wanderer entdeckt, steht sie an der Grenze ihrer Belastbarkeit. Erst recht, als sich herausstellt, dass bei dem Unfall nachgeholfen wurde. Paulina fühlt sich beileibe nicht als Superfrau, das Unbehagen über die vergangenen Wochen hat sie noch fest im Griff, und sie hat keine Ahnung, was sie mit dem verletzten Kerl anfangen soll, für den sie sich nun irgendwie verantwortlich fühlt. Und erst recht nicht, dass sie sich selbst damit in größte Gefahr bringt.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Christina Hupfer

Schleuderkurs

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Dank

Götter, Gipfel und Gefahr

Nur eine winzige Spur

Miro

Impressum neobooks

Kapitel 1

Schleuderkurs

***

Das Schicksal ereilt uns oft auf den Wegen,

die man eingeschlagen hat, um ihm zu entgehen.

Jean de la Fontaine

Soll ich?

Soll ich nicht?

Oder vielleicht sollte ich doch…

Das Rauschen des Verkehrs, die Gesprächsfetzen der vorbei Flanierenden, das Klingeln der Fahrräder und das Lachen von Schulkindern. All das nehme ich nur als schwaches Hintergrundgeräusch wahr. Vor mir ragt einschüchternd das vertraute Gebäude auf, das ich so noch nie betrachtet habe. Zögernd trete ich näher, starre auf die Abbildungen der Immobilien, die im Eingangsbereich meiner Bank angeboten werden ohne sie wirklich zu sehen. Aber ich weiß, dort drin, hinter der zweiten Tür von rechts sitzt der geschniegelte, ach so nette Herr Bäuerle, der mir erst kürzlich vorgerechnet hat, wie viel Geld mir für den laufenden Monat noch zur Verfügung steht: Nämlich so gut wie nichts. Die Raten für die Wohnung, für meinen kleinen Flitzer und für die teure Reise, die ich noch abstottern muss, obwohl sie mir überhaupt keine Freude gemacht hatte. Das extravagante Kleid, das ich nur dafür gekauft und ungetragen wieder mitgebracht hatte, das neue iPhone, das ich meinte unbedingt haben zu müssen und vor allem die unvorhergesehene Reparatur meines Autos — all das hat dafür gesorgt, dass sich mein kleines Sparguthaben in rote Zahlen verwandelt hatte, und dass meine Bekanntschaft mit diesem Herrn intensiver wurde.

„Sehr geehrte Frau Werner, ich kann Ihren Dispokredit um tausend Euro aufstocken. Nur vierzehn Prozent Zinsen“, hatte er mir angeboten. „Sie haben eine feste Anstellung? Ja? Sie können natürlich auch einen normalen Kredit beantragen. Sie müssten einfach diese Formulare hier ausfüllen, dann können Sie alles gemütlich abbezahlen. Sie sollten sich das aber schnell überlegen“, hatte er mit einem Blick auf meine Unterlagen fordernd hinzugefügt.

Ha! Ja, ich habe eine feste Anstellung — mit einem leider kümmerlichen Gehalt, wie Herr Bäuerle bemerkt haben dürfte. Gerd hatte mir schon immer gesagt, ich wäre unterbezahlt, mit meiner guten technischen Ausbildung könne ich wesentlich mehr erwarten, und ich solle endlich mal auf den Tisch hauen. Aber dafür bin ich einfach nicht geschaffen. Die Hoffnung, dass mein Vorgesetzter erkennt, was er an mir hat, die habe ich inzwischen aufgegeben, genauso wie der liebe Gerd mich. Der hat mich mitsamt der Wohnung, die auf meinen Namen läuft, von einem Tag auf den anderen sitzen lassen.

Ich zögere immer noch vor dem Eingang meiner Bank. Wenn ich jetzt kehrt machte, wenn ich da jetzt NICHT hinein ginge, wäre ich wenigstens all meine finanziellen Sorgen auf einmal los. Ich würde nicht mehr verzweifelt überlegen müssen, wie ich mit dem kümmerlichen Restgeld, das mir nach dem Abführen der von Herrn Bäuerle auf den Cent genau ausgerechneten Kreditraten, der Versicherungsbeiträge, der Telefongebühren, des Benzingelds und was sonst noch so alles jeden Monat fällig ist, über die Runden kommen sollte. An die horrenden Summen für die Abbezahlung der Wohnung, für die ich jetzt alleine aufkommen muss, mag ich gar nicht denken. Wenn ich jetzt umkehrte, würde ich nicht peinlich berührt unserem Hausverwalter erklären müssen, warum die von ihm eingezogene Wohnnebenkostenjahresnachzahlung von meiner Bank wieder zurückgeholt worden war. Ich könnte alle meine Schulden auf einen Schlag tilgen. Ich könnte mich zur Feier des Tages in das vielgerühmte, mit einem Stern verzierte Restaurant am Marktplatz setzen, anstatt das günstige Essen in der Kantine zu mir zu nehmen und verstohlen die Hälfte für den Abend einzupacken.

Was soll ich nur tun? Seit ich vor drei Tagen widerstrebend meinen Kontoauszug ausgedruckt und danach ungläubig die schwarze Zahl darauf angestarrt hatte, falle ich abwechselnd von euphorischen Höhen in die Tiefen dunkler Ängste. Sehe mich unbeschwert durch wilde Partys tanzen, in den teuersten Läden einkaufen und Gerd eine lange Nase drehen. Dann wieder schlägt mein Herz panikartig im Takt von ‚Aber, was wäre wenn?‘.Und ich frage mich gerade wieder: Wer hat mir diese fünfundzwanzigtausenddreihundertundfünf Euro und dreiundvierzig Cent, in Zahlen: 25305,43 Euro, überwiesen??? Aus den Nummern auf dem Auszug werde ich nicht schlau, auch wenn ich sie mir noch so oft ansehe. Und bis heute hat niemand diesen Betrag zurückgefordert. Gibt es tatsächlich Menschen, denen es nicht auffällt, wenn solche Summen von ihrem Konto verschwinden? Ich kann es mir nicht vorstellen. Die unruhigen Nächte vor und nach diesem unerwarteten Geldsegen stecken mir in den Knochen. Zuerst die Gedanken an eine drohende Armut, an das Ausgegrenzt sein. Nicht mehr mal schnell ein interessant wirkendes Buch kaufen, nicht mehr mit jemandem ohne zu überlegen einen Cappucino trinken gehen können. Ich müsste mir andauernd Ausreden überlegen. Das alles könnte ich mir ersparen. Und vor allem weitere unerfreuliche Gespräche mit Herrn Bäuerle.

Oder es käme noch schlimmer. Was geschähe, wenn das Geld eines Tages doch noch vermisst würde?

Aber wenn ich an die Summen denke, die man unseren Politikern, Fußballern und anderen Prominenten hinterher wirft! In solchen Kreisen kauft jemand vielleicht schnell mal ein Wohnmobil oder ein Segelboot, bei dem nur das Zubehör so viel wie ein Kleinwagen kostet. Der oder die merkt bestimmt nicht, dass seine Überweisung auf ein falsches Konto geraten ist und bezahlt wahrscheinlich nach einer Mahnung einfach noch mal. Und was kann mir schon passieren, wenn ich das nicht melde? Ich würde so gern diese Chance nutzen. Wenn ich dann trotzdem sparen würde, hätte ich die Summe vielleicht beisammen, bis der Fehler auffällt.

Ja. Ich überlege noch einmal fieberhaft. Ich würde meine Schulden abbezahlen. Und vielleicht noch tausend Euro extra behalten, Den Rest würde ich auf einem Tagesgeldkonto parken. Und dann jeden Monat eine feste Summe sparen. Wie lange müsste ich…? Die Versuchung zieht mich mit Macht in Richtung Ausgang.

Ich schaue auf die Uhr. In fünfzehn Minuten schließt die Bank. Es ist Donnerstag Abend. Ich könnte mir doch mit meiner Entscheidung bis Montag Zeit lassen?

***

Genervt pfeffere ich die einzig verbliebene Tüte Gummibärchen mit dem sinnigen Aufdruck ‚Ihre Bank — immer für Sie da‘ in die Ecke. Mir ist schlecht von diesen Süßigkeiten, die ich gerade eben in mich hineingestopft habe. Aber die zerfetzten kleinen Tüten im Korb erinnern mich an die Igelhaare meines Beraters, die, als er mir meinen Dispokredit genehmigte, beifällig mitnickten. Und an die hilflose Wut, mit der ich mir währenddessen die Taschen mit den verfluchten Gummibären vollgestopft hatte. Bald ist Wochenende. Das fünfte ohne Gerd. Vor kurzem war ich noch seine anmutige Gazelle, die er gerne überall vorgezeigt hatte. Was ich, entwöhnt aller Lagerfeuerromantik und des Jeanslooks meiner Jugend, ausgiebig genossen hatte. Vorbei!

Ich muss immer noch gewaltsam die Tränen unterdrücken wenn ich dran denke, wie er es mir beigebracht hatte. Nach dem Abendessen, das er sich noch schmecken ließ, hatte er mich vor vollendete Tatsachen gestellt. Er hatte sich das alles schon fein ausgedacht. Angewidert von meinem verheulten Gesicht nahm er seine Autoschlüssel und öffnete die Wohnungstür.

„Es tut mir leid, aber Bille hat mich einfach umgehauen. Sie ist so tough, so sportlich und verwegen.“ Keine so zimperliche Heulsuse wie du, Paulina. Das sagte er zwar nicht, aber ich sah ihm an was er dachte, und wie es ihn drängte, zu verschwinden.

Ich darf nicht an diese eingebildete fette Kuh aus der Marketingabteilung denken. Warum musste die vor ein paar Monaten ausgerechnet bei uns anfangen?! Sybille Müller-Oberbauer! Ha! Aber, wenn ich ehrlich bin: sie ist nur nicht ganz so knochig wie ich. In ihrem Beruf funktioniert sie tadellos und kleiden kann sie sich perfekt. Dass ich Gerd jeden Tag in der Firma begegne, trägt auch nicht gerade zur Besserung meiner Verfassung bei. Und es ist nicht das erste Wochenende, an dem ich kurz davor bin, ihn anzurufen. Obwohl ich mir, verlassen, gedemütigt und gekränkt, geschworen hatte, das nie zu tun. Aber an wen soll ich mich denn sonst wenden? Der Besuch vorher in der Werkstatt hat mir den Rest gegeben. Wenn ich gehofft hatte, der Händler würde mir Kulanz geben und den, wie ich dachte, kleinen Schaden an meinem Auto umsonst reparieren, so hatte ich mich bitter getäuscht.

„Weiber“, höre ich den Mechaniker noch immer knurren. Können nicht mal den richtigen Sprit tanken. Das kostet!“

Dabei bin ich mir sicher — na ja, zu neunundneunzig Prozent — dass ich nichts falsch gemacht habe. Ratlos lasse ich meinen Kopf auf den Esstisch sinken. Jetzt komme ich auch MIT dem Kredit an die Grenzen meiner Berechnungen. Mit diesem unerwarteten Geldsegen auf meinem Konto jedoch…

Miri, ich muss Miri fragen!

Aber meine beste Freundin kann und will ich nicht einweihen. Sie hat sich erst vor kurzem mit ihrer Erfindung selbständig gemacht, sich dabei finanziell weit aus dem Fenster gelehnt, und reist nun gerade in der ganzen Republik herum, um Aufträge zu ergattern.

„Paulina, wenn der Laden mal läuft, dann kommst du zu mir!“, hatte sie zu mir gesagt. Aber so weit ist es noch lange nicht. Ich würde sie nicht mit meinen Problemen behelligen. Dazu kommt, dass sie nicht verstehen kann, warum ich mich mehr und mehr aufgegeben und so sehr an Gerd und seinen Lebensstil angepasst hatte. Und es ist mir peinlich, weil ich langsam, sehr langsam, einsehe, dass sie Recht hatte.

Papa. Es bleibt mir nichts anderes übrig.

Ich werde ihn anrufen müssen. Jetzt gleich! Er will schon in drei Tagen losfahren. Seine erste große Reise. Für ihn als Alleinerziehenden und kleinen Handwerker war nie mehr drin als Radtouren und Wanderungen von Jugendherberge zu Jugendherberge. Meine Klassenfahrten mussten schließlich auch finanziert werden, und was er sonst noch alles für nötig hielt, um seiner Tochter die viel zu früh verstorbene Mutter zu ersetzen. Gut, da gab es schon mal eine Mary, die das mit Torten und Hausmütterchengehabe versucht hatte, und ich denke schuldbewusst an eine Ursula, die ich ebenfalls vergraulte. Isabel dagegen, die mich zuerst mit modischen Fähnchen bestach, stellte ganz schnell fest, dass Selbstständigkeit nicht zwangsläufig mit Reichtum einhergeht, und hatte selbst die Flucht ergriffen.

Lange Zeit dachte ich, er legt keinen Wert mehr auf weibliche Einengung seiner gut eingerichteten Lebensweise, aber nun will er mit Elfi, seiner neuen Bekannten aus dem Fotoworkshop auf diese verrückte Abenteuerreise gehen.

Papa! Er ist meine letzte Rettung. Ich sehe unsere alte Wohnung vor mir. Zwei Zimmer. Das Große enthielt sein Schlafsofa, auf dem wir oft vor dem Fernseher kuschelten, seinen Schreibtisch mit den überquellenden Ordnern, an dem er oft bis spät in die Nacht saß und sämtliche Bürohengste verwünschte, die Essecke, an der ich über meinen Hausaufgaben schwitzte.

Das etwas kleinere war mein Reich. Meine Märchenburg, mein Abenteuerspielplatz, mein Musikstudio, mein Studierzimmer. Nach meinem Auszug wurde es zum Schlafzimmer meines Vaters, und als ich ihn das letzte Mal besuchte, waren da schon überall Spuren dieser Elfi.

„Weißt du, Paulina“, hatte er verschämt zu mir gesagt. „Ich komme mir vor wie ein junger Bengel. Aber wir wollen es langsam angehen. Wenn wir uns nach dieser Reise noch ausstehen können…“ Er wurde tatsächlich rot. Und ich muß kurz lächeln als ich daran denke. Er war so voller Vorfreude.

Und jetzt komme ich mit meinen Problemen daher. Ich weiß, was er mir raten wird. Und ich weiß auch, er wird mir helfen. Er wird bestimmt alles noch mal verschieben können und mir mit einem Teil des Geldes unter die Arme greifen, bis ich eine Lösung gefunden habe. Ich muß eine Lösung finden!

„Ja, hier Werner.“ Seine Stimme klingt laut und fröhlich.

„…“

„Wer ist denn da?“

„Papa...?“

„Paulina, meine Große. Das ist ja lieb, dass du noch mal anrufst!“, ruft es aufgekratzt aus dem Hörer. „Stell dir mal vor, Elfi will mir so eine knallgelbe Schildmütze verpassen. Gleich hängt sie mir noch ne Trillerpfeife um, dann ist der Kanarienvogel fertig!“

Im Hintergrund höre ich sie herumwursteln und lauthals antworten: „Sag deinem Vater, nur so komme ich mit. Erstens sieht er gut damit aus, und zweitens kann ich ihn so besser im Auge behalten! Und das mit der Pfeife ist gar keine so schlechte Idee.“

Der Kontrast zu meiner Mutter, die mir von Fotos und Erzählungen vertraut ist, könnte nicht größer sein. Sie war so groß, so schlank und so dunkelhaarig wie ich. Und Papa hatte sie angebetet.

„Du hast ihr Lächeln geerbt, Paulina.“

Das hatte er aber schon lange nicht mehr zu mir gesagt.

Elfi ist ein kleiner pummeliger Irrwisch. Dauernd in Bewegung. Klug, unkompliziert und warmherzig. Man muss sie einfach gern haben. Jetzt will sie sich mit ihm auf das Abenteuer einer außergewöhnlichen Reise einlassen. Sein kleiner Kastenwagen, mit dem er bis zu seinem Rentenbeginn, also bis vor kurzem, noch als Flaschner unterwegs gewesen war, hat einen doppelten Boden bekommen. So kann er Koffer und eine Tischgarnitur aufnehmen und obenauf eine bequeme Matratze.

„Nur für Notfälle, oder für ein Mittagsschläfchen nach dem Picknick“, hat Elfi nach der Besichtigung dieses Gefährts kategorisch festgestellt. „Ansonsten schauen wir nach preiswerten Unterkünften. Wellnesstempel brauche ich nicht, aber ohne eine vernünftige Dusche halte ich das nicht durch.“

Sie wollen einfach drauf losfahren, sich treiben lassen, und haben vor, mindestens ein halbes Jahr unterwegs zu sein. So lange ihr Budget es eben erlaubt. Da ist es doch bestimmt egal, ob sie etwas später loskommen. Papa ist der einzige, der mir jetzt raten und helfen kann.

„Paulina, was ist los?“ Er spürt meine Bedrückung.

„Ich… Ich wollte dich nur noch mal hören. Kommt gesund wieder!“

***

Ich hoffe, ich muss meine einsam getroffene Entscheidung nicht bereuen. Ich schleppe mich ins Schlafzimmer. Starre zum Fenster hinaus und sehe darin gespiegelt den Designerschrank und das Designerbett, das Gerd mir neben der Designerkommode grosszügig dagelassen hatte. Wahrscheinlich passten diese Möbel nicht in Frau Müller-Oberbauers Ambiente. Alles andere, außer der Einbauküche hatte er mitgenommen. Das war das, was er unter gerechter Teilung verstand. Das Wohnzimmer ist leergeräumt bis auf den riesigen Esstisch, natürlich von edlem Design, und eine vernachlässigte Pflanze, die genauso schlaff in der Ecke steht wie ich mich fühle. Ich habe nicht mal mehr einen Fernseher, den ich einschalten kann, um mich nicht so allein und verlassen zu fühlen.

Kapitel 2

Mein Auto steht noch in der Werkstatt. Ich laufe mit gesenktem Kopf durch die Straßen bis zu unserer Firma, einem kleinen Ableger der Luftfahrtindustrie, in dem ich schon seit zehn Jahren schufte. Genauer gesagt ein Drittel meines Lebens. Demnächst feiere ich meinen einunddreißigsten Geburtstag, und was habe ich vorzuweisen? Eine gescheiterte Beziehung und Bauchschmerzen. Ich konzentriere mich nur noch auf die Tropfen, die den Teer dunkel sprenkeln und spüre den frischen Wind, der durch meine dünne Jacke bläst. Es ist doch erst Ende August! Aber um mich herum ist an diesem Morgen alles so kalt und grau wie meine Gedanken. Ich stecke meine Hände in die Taschen und meine Mundwinkel wandern dann doch wider Erwarten nach oben. Der Lego-Baustein, den ich darin finde, erinnert mich an den kleinen Burschen, der mir heute Morgen im Treppenhaus begegnet ist. Als ich auf dem Weg hinunter in die Tiefgarage stockte, und dann den zum Hauptausgang genommen hatte.

„Darfst du heute auch nicht Auto fahren?“, hatte er mit seiner hellen Kinderstimme gefragt, die Nase hochgezogen und mich mit seinen verheulten Augen gemustert, in denen es schon wieder neugierig funkelte.

„Emil!!!“ Eine halb geöffnete Wohnungstür wurde vollends aufgerissen und eine junge Frau, noch in Unterwäsche, schimpfte aufgebracht: „Wie hast du das bloß wieder geschafft? Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht alleine raus darfst. Solange du so klein bist, ist das viel zu gefährlich. Und wenn du nicht spurst, dann bleiben wir eben heute Nachmittag auch drin!“

Sie strich sich genervt die hellblonden, Locken aus dem Gesicht und meinte entschuldigend: „Tut mir leid, dass Sie unseren Kleinkrieg mitbekommen haben. Aber der Entzug seines Tretautos ist für den kleinen Fratz die effektivste Strafe. Sie zeigte auf ein knallrotes Teil, das an einem Haken unter der Decke hing. Überhaupt war alles, was ich hinter ihr erblickte, schreiend bunt: Der königsblaue Vorhang, eine Art Raumteiler, hinter dem die großen Augen eines etwa vierjährigen Mädchens hervor lugten. Das Spielzeug, das überall verteilt herumlag. Die glitzernden Ketten, die dekorativ an einer Wand hingen — außer Reichweite von Kinderhänden. Das rote Sofa und ein paar lebhafte Bilder. Alles einfach, aber durchaus geschmackvoll, und ganz anders als meine Wohnung zwei Stockwerke über ihr, bei deren Einrichtung wir ganz gewiss nicht an ein Heim für quirlige Kinder gedacht hatten.

„Nicht so ganz einfach, wenn man alleine mit den Rabauken klarkommen muss.“ Sie seufzte und lachte gleichzeitig.

Ich hatte sie verständnisvoll beruhigt und festgestellt, dass ich rein gar nichts über sie wusste. Dass ich keine Ahnung hatte, wie lange wir schon gemeinsam in diesem Haus wohnten. Ich konnte mich nur dunkel erinnern, dass Gerd einmal über einen Fahrradanhänger fluchte, der ihn fast zu Fall gebracht hatte.

Ich kenne — kennen ist eigentlich schon zu viel gesagt — nur die direkten Nachbarn auf unserem Stockwerk, die Familie Küçük. Ein berufstätiges Ehepaar mittleren Alters. Ein junger, finster aussehender Mann, der öfter vorbei kommt, wahrscheinlich der Sohn. Und die Oma, immer mit langem Mantel und ordentlich gebundenem Kopftuch.

„Dieses Türkengesindel“, hatte Gerd, als sie eingezogen waren, geschimpft. „Wie können die sich so eine Wohnung leisten?“

Vorsichtig wies ich ihn darauf hin, dass da ein Dr. vor dem fremd klingenden Namen steht.

Mein Ex — schon wieder spukt er in meinen Gedanken, obwohl ich seit Wochen versuche, das zu vermeiden.

Immer noch lächelnd den Lego-Stein betrachtend, den mir Emil gerade vorher noch großzügig geschenkt hatte — „damit du nicht traurig bist!“ — stolpere ich im Büro als erstes über Gerd. Dieses Mal ist es mir leider nicht gelungen, ihm aus dem Weg zu gehen.

„Na, dir geht‘s ja gut?“

Was soll das jetzt? Was höre ich da heraus? War das gerade Eifersucht? Hat er von seiner Bille schon genug? Will er vielleicht zu mir zurückkommen? Ist das mein Herz, das da grade umeinander stolpert? Er liebt mich also doch noch! Wir waren immerhin über fünf Jahre zusammen. Die harten Kanten des kleinen Bausteins drücken sich in meine plötzlich verkrampfte Hand, und die Hoffnung, die in mir aufkeimt, lässt mich alles andere vergessen: Die ganze Wut auf ihn, diesen Besserwisser. Diesen Alleskönner und Egoisten. Gerade noch hatte ich mir gesagt, wahrscheinlich gut für mich, dass es vorbei ist. Ich schaffe das. Was andere können, unter schwereren Umständen, das schaffe ich auch. Und nun genügt ein Blick in diese blitzenden Augen, und ich will ihn wieder zurück.

Gerd sieht mich immer noch fragend an.

„Ja, mir geht es hervorragend. Finanziell und auch persönlich. Ich habe erst kürzlich eine wahnsinnig interessante Bekanntschaft gemacht!“

Meine Verblüffung über diese spontane Antwort ist mindestens so groß wie seine.

„Er ist natürlich etwas jünger als du“, schiebe ich beim Gedanken an den kleinen Emil lächelnd nach und sehe mit Genugtuung, dass er sich hastig mit der Hand über seine gestylten Haare fährt. Es ist nicht zu übersehen, dass die sich allmählich lichten.

***

Das Telefon schweigt, und obwohl zwei meiner Kollegen heute Urlaub haben, hält sich der Arbeitsanfall in unserer Abteilung in Grenzen. Keiner stört mich, denn auch unser Chef ist nicht im Haus. Wegen eines Herzinfarkts wird er mindestens noch bis Ende des Monats abwesend sein. Zum Glück für mich, denn ich kann mich derzeit partout nicht auf Maschinenteile, Bestellnummern und Rechnungen konzentrieren. Zumindest nicht auf diese Art Rechnungen. Auf meinem Zettelkasten liegt der blaue Lego-Stein und blinzelt mich auffordernd an: ‚Paulina, jetzt mach schon. Fang noch mal an zu rechnen!‘

Mein Schreibblock füllt sich rasant mit allen Beträgen, die jeden Monat fällig sind. Dabei darf ich auch nicht vergessen, dass es Ausgaben gibt, die erst in ein paar Monaten auf mich zukommen. Wenn ich den Durchschnitt nehme, bleiben mir für Essen und Unvorhergesehenes noch... Ich glaub es nicht und rechne nochmals nach, aber es wird nicht mehr: fünfunddreißig Euro. Nicht mal zehn Euro pro Woche! Dabei habe ich aber die Reparaturkosten für meinen fahrbaren Untersatz nicht mitgerechnet. Das Abo für die zwei Zeitschriften, die ich sowieso immer nur überflog, den Mitgliedsbeitrag für den Alpverein und die Zusatzversicherungen, die mir kürzlich ein kompetenter Makler dieser Branche aufgeschwatzt hatte, werde ich auf jeden Fall kündigen. Aber egal wie ich rechne, es bleibt kaum etwas übrig. Ich kaue trübselig auf meinem Bleistift und überlege. Wie kann ich, ohne dieses geheimnisvolle Geld anzunehmen, wieder auf die Füße kommen? Ohne dies stehe ich momentan mit ungefähr dreihundert Euro in der Kreide und der Monat hat gerade erst angefangen. Bald wäre mein Disporahmen von tausend Euro wieder ausgeschöpft. Herrn Bäuerles Igelhaare nicken bestätigend vor meinem inneren Auge. Der größte Brocken sind die Raten für meine Wohnung. Die drücken mich am meisten, denn dass sich mit Gerd als er verschwand, auch sein monatlicher Beitrag zu unserer Gemeinschaftskasse in Luft auflöste, hatte ich in meiner Verzweiflung erst mit Verzögerung mitbekommen.

Ich würde die Wohnung verkaufen müssen. Es bliebe, wenn Makler und Bank sich bedient hätten, sicher noch etwas übrig, und ich könnte eine günstige mieten. Aber zuerst mal eine finden! Der Wohnungsmarkt in unserer Gegend ist wie leergefegt. Ich habe Horrorgeschichten von überhöhten Mietpreisen, üblen Löchern und unverschämten Vermietern gehört. Manche meiner Kollegen haben eine halbe Tagesreise hinter sich, wenn sie in der Firma eintreffen. Dazu kommen die Kosten für Benzin und der Wertverlust des Autos durch die vielen gefahrenen Kilometer. Ich höre sie fast täglich darüber stöhnen.

Dann muss ich eben doch wieder bei Papa einziehen. Er würde mich bestimmt aufnehmen. Sie fahren erst morgen. Ich könnte ihn noch erreichen. Es wäre bestimmt nur vorübergehend, und falls es länger ginge, würde ich mich ganz arg zurücknehmen, damit ich seine Elfi nicht verscheuche. Hoffentlich versteht sie das.

Aber er würde nicht unbeschwert losfahren können. Es muß eine andere Lösung geben! Vielleicht reicht es, meinen kleinen Flitzer zu verscherbeln. Das Gefühl von Großartigkeit und Freiheit ist sowieso den Bach runter. Es gibt Leute, die haben nicht mal ein Auto und schon gar kein so flottes Gefährt. Und die halbe Stunde Fußweg hierher wird mich schon nicht umbringen. Weitere große Reisen kann ich mir grade sowieso nicht leisten, und ich könnte mir dazu gleich noch das Fitnessstudio und den Anblick von Frau Müller-Oberbauer im heißen Sportdress ersparen!

Viel würde ich für den Wagen wahrscheinlich nicht mehr bekommen: Die Reparatur, das Alter, der Wertverlust. Ich hätte zwar nur noch vier Raten abzubezahlen, aber wenn die sofort wegfallen würden? Kein TÜV wäre mehr fällig, keine Versicherung, keine Steuern, keine neuen Reifen, keine Reparaturen. Warum eigentlich nicht? Ein kleines Licht fängt an zu flackern. Das erste Mal seit den vergangenen Tagen atme ich etwas freier. Ich rechne von vorne.

„Hallo, Paulina!“ In der geöffneten Tür steht Carola, unsere Buchhalterin und rauft sich die modisch kurz geschnittenen schwarzen Haare. „Ich habe meine Unterlagen für das Meeting verlegt. Darf ich deine schnell kopieren?“

„Oh.“ Ich bin völlig überrumpelt, habe ich den Termin zur Info über die Einführung der neuen Software doch glatt vergessen. „Schon so spät? Ich muss sie erst raussuchen. Dann kopiere ich sie und bringe sie mit.“

„Danke, du bist ein Schatz! Bis gleich.“

Sie dreht sich nochmals um: „Hast du dich schon in die Liste für den Wochenendausflug nach Davos eingetragen? Morgen wird sie abgehängt. Es ist ja schon in einer Woche!“

Jetzt heißt es, stark sein...

„Nein, habe ich nicht. Ich fahre nicht mit.“

„Nein? Das ist aber schade. Wieso denn?“

Weil ich mir den Anblick von Gerds knackigen Waden, die neben denen Billes vor mir her stapfen würden, ersparen will. Und weil ich mir die Zusatzkosten sowieso nicht leisten kann.

„Keine Lust. Ich habe nicht die Absicht, schon wieder zur Belustigung aller zitternd über einem Abhang zu hängen.“

Nur Mike, mein Kollege aus der Abteilung Marketing, der Wagemutigste von allen — er hat schon einige Klettersteige bezwungen und war kürzlich sogar Fünfter bei irgendeinem Autorennen — hat damals nicht gelacht. „Nicht jeder braucht das, sich die Flügel zu verbrennen“, hat er vor den anderen zu mir gesagt, und mir über die schwierige Passage geholfen. Die Erinnerung an meine schmachvolle Darbietung bei der letzten Wanderung mit der Betriebssportgruppe treibt mir jedoch immer noch die Schamröte ins Gesicht.

„Und du kannst dir sicher denken, dass ich die Plantschbecken in den engen Schluchten sehr gerne den anderen überlasse.“

„Ich doch auch. Aber wenn uns die Geschäftsleitung schon mal zur Belohnung einen Ausflug finanziert. Du hast dir doch an dem Projekt auch einige Zähne ausgebissen. Und es geht doch in die Schweiz! In diesem Hotel soll es eine traumhafte Wellness-Anlage geben. In eine warme Decke eingewickelt, einen Drink dazu und die prachtvolle Berglandschaft von unten betrachten. Das hat doch was!“

Ihre dunklen Augen leuchten, und ich kann mir gut vorstellen wie sie sich in ihrem Liegestuhl genüsslich räkeln und höchstens ab und zu eine Runde um den Swimmingpool drehen wird. Und ich weiß nur zu genau, was so ein kleiner zusätzlicher Drink in der Schweiz kostet. Ein Vermögen! So was ist ab sofort für mich gestrichen. Das passt absolut nicht in meinen Sparplan, den ich als sich die Tür öffnete, blitzschnell abgedeckt habe.

„Ach komm“, legt sie nach. „Ich will nicht den ganzen Abend mit Leuten reden müssen, die sich nur über spitze Hörner, Steilwände und Grate unterhalten wollen. Es wäre so schön, wenn du mit dabei wärst.“

Während ich im Druckerraum die Blätter durch den Kopierer laufen lasse, denke ich über diesen Ausflug nach. So etwas würde ich mir in der nächsten Zeit natürlich nicht mehr leisten können. Die Fahrt, die Übernachtung und ein exzellentes Abendessen würden von der Firma bezahlt werden. Bei allem anderen müsste ich mich eben rausreden. Und die Berge ziehen mich an. Nicht die Gipfeltouren, bei denen ich mir vor Angst in die Hosen mache, aber die sanften Almwiesen, das überwältigende Panorama. Die frische, klare Luft. So wie ich es von meiner Kindheit her kenne. Von den Ferien im Allgäu bei Onkel und Tante. Beide leben leider nicht mehr, und zu meinen Vettern habe ich schon lange den Kontakt verloren. Was aber nicht an ihnen liegt. Beschämt frage ich mich: wie lange war ich nicht mehr dort? Die Antwort lautet ganz einfach: Seit meiner Beziehung mit Gerd.