Nur tote Gangster schweigen - John Gardner - E-Book

Nur tote Gangster schweigen E-Book

John Gardner

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Beschreibung

Inspektor Derek Torry ist der berüchtigten Gang endlich auf der Spur. Doch bevor zwei Kronzeugen singen können, werden sie erschossen. Da setzt Torry alles auf eine Karte und startet eine Hetzjagd, wie Scotland Yard sie noch nie erlebt hat ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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John Gardner

Nur tote Gangster schweigen

Aus dem Englischen von Edda Janus

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Eine schwarze Humber-Limousine brachte sie zu der wartenden VC 10. Armitage saß blaß zwischen Torry und einem Inspector in Uniform auf dem Rücksitz. Er wirkte wie ein Mann kurz vor dem Tode. Ein Mann, der nicht weiß, wo er sich befindet, der den Verstand verloren hat. Die Gesichtshaut gespannt und durchscheinend, wie trockenes, altes Pergament. Mit unruhigen Fingern zupfte und zerrte er am Anzug.

Als der Wagen vor der Gangway zur Touristenklasse hielt, beugte sich der lederhäutige Torry mit den ruhelosen Augen zu Armitage.

»Dann geben Sie mal Ihre Hände her, ›Schnürriemen‹.« Seine Stimme klang überdrüssig. »Wenn ich Sie schon heil abliefern muß, halten wir uns am besten an die Regeln.«

Armitage streckte in unterwürfiger Bereitwilligkeit die Hände vor. Torry ließ die Handschellen über den knochigen Gelenken zuschnappen.

»Gott sei Dank! Wenigstens keine Presse!« stellte der Inspector fest.

»Die Presse interessiert sich doch nicht für so ein Wrack.« Torry betrachtete Armitage, als hätte er Typhus. »Zehn Jahre früher, ›Schnürriemen‹ Armitage! Vor zehn Jahren hätten wir die Presse hier gehabt!«

Armitage gab keine Antwort. Seine ganze Aufmerksamkeit schien auf einen Punkt zehn Zentimeter vor seinen Augen konzentriert zu sein.

»Los, kommen Sie.«

»Ich würde für die Tour ein paar Monatsgehälter geben«, sagte der Inspector und verabschiedete sich.

Detective Inspector John Derek Torry stieg mit dem Häftling die Gangway hinauf. Während des Transatlantikflugs würde er sich notgedrungen mit diesem armseligen menschlichen Strandgut unterhalten müssen, das er in sein Heimatland zurückbrachte. Eine Aufgabe, die ihn nicht in bessere Stimmung versetzte.

Aber hoch über dem Ozean begann Armitage zu sprechen, und es war Torry, der ihm mit wachsendem Interesse zuhörte.

2

»New York ist die einzige Stadt, wo man auf dem Gehweg verhaftet werden kann, weil man sich als menschliches Wesen ausgibt. In dieser Stadt müssen Sie immer mit dem Schlimmsten rechnen.«

Der Taxifahrer war so philosophisch wie das Nachtprogramm im Fernsehen. Torry verzog die Lippen zu einem müden Lächeln.

Draußen zeigte sich der Great White Way von seiner schlimmsten Talmiseite. In New York machten sie nur mehr her; die Reklamen waren größer, die Beleuchtung greller. In London gab’s das auch. New York hat kein Monopol auf Laster, Pornographie, Mord, Obszönität, Diebstahl. Die Gewalt trat hier offener zutage. Man fand sie in einem von zehn Gesichtern. Man mußte sie nur erkennen. Torry erkannte sie.

Der Taxifahrer setzte den Monolog fort.

»Und dann dieser große Chrysler. Hält der plötzlich vor einer roten Ampel, und ich bin ein bißchen dicht hinter ihm. Fahr ihm also an die Stoßstange. Nicht viel passiert, aber der Kerl hat einen großen Wagen und steigt natürlich aus; ich warte, daß er einen Zettel zückt, um sich meine Nummer aufzuschreiben. Dann kommt er, beugt sich durchs Fenster und flüstert ganz freundlich: ›Junge, wenn du mich schon anfährst, dann aber richtig – das ist für die Versicherung besser.‹«

Sie hielten vor einer Kreuzung. Der Dampf stieg wie Sumpfgas aus den Kanalgittern. Ein Streifenwagen fuhr mit heulender Sirene durch die Ampeln. Zwei Wagen, die freie Fahrt hatten, bremsten scharf.

Der Fahrer rutschte so weit herum, daß er Torry ins Gesicht sehen konnte. »Warum fährt ein netter Mann wie Sie zum Vierten Polizeirevier? Sie sind doch kein Bulle.«

»Was wetten Sie?« Es war lange her. Fünfzehn, sechzehn Jahre? Seit er und Joey Donalta wegen eines Alarmrufs hier ganz in der Nähe zu einem Häuserblock gerast waren. Er sollte wirklich die alte Mrs. Donalta anrufen. Vielleicht vom Revier aus; später, auf dem Kennedy-Flughafen, würde er doch keine Zeit dazu haben.

»Wenigstens kein Bulle von der Sorte, die ich kenne«, sagte der Fahrer.

»Ich komme aus England, das ist der Unterschied.« Torry hatte das Interesse verloren. Er sollte Armitage nicht ernst nehmen. Es war zu lange her. Es würde nichts als Ärger geben.

Der Taxifahrer fuhr langsamer. Er wollte reden. »Daß Sie nicht aus New York sind, hab ich gemerkt. Aber Sie hören sich nicht wie ’n Engländer an.«

»Warum interessiert Sie das?«

»Okay, okay.«

»Ich hab’ früher hier gearbeitet, aber das ist lange her«, sagte Torry. Das hätte er nicht sagen dürfen; nicht zu einem Fremden, noch dazu zu einem Taxifahrer. Der Flug und die Zeitumstellung hatten ihn aus dem Gleichgewicht gebracht.

 

Das Reviergebäude roch noch genau so: eine Mischung aus Bohnerwachs, Arbeit, Schweiß und enger Tuchfühlung mit den Lichtscheuen. Ein Geruch, der sich einem anhängt, und der nun für Torry die Jahre zurückdrehte. Er wußte nicht, wie der Schalterbeamte hieß, aber er kannte das Gesicht, auf dem ein fragendes Stirnrunzeln lag. Der Sergeant wollte ihn einsortieren und ging wahrscheinlich in Gedanken die Kartei durch. So wird man mit der Zeit; man sieht ein Gesicht und sucht danach in der Verbrecherkartei.

»Kenne ich Sie nicht?« Der Sergeant hatte graue, scharfe Augen.

»Kann schon sein. Ist Captain Lorenz da?«

»Wen soll ich melden?« Der Sergeant ließ nicht locker.

Dann die halbvergessene Stimme. »Torrini! Derek Torrini! Also, ich bin platt!« Guy Lorenz stand vor der Tür mit der Aufschrift: Capt. Lorenz, deren Goldbuchstaben verblaßt waren. Die großen, haarigen Hände umfaßten den Türpfosten. »Guido.« Torry hätte den großen Captain am liebsten umarmt und ihm mit den Fäusten auf die Schultern geklopft.

»Jetzt erinnere ich mich.« Der Sergeant grinste erleichtert. »Torrini. Ich war noch bei der Bereitschaftspolizei, als Sie zu uns kamen. Wie geht’s Ihnen denn?«

»Gut.« Torry konnte sich immer noch nicht an den Namen erinnern. Lorenz holte ihn in sein Büro.

»Kaffee, Dutch, bringen Sie uns Kaffee«, rief er dem Sergeant zu. Torry wußte es wieder: ›Dutch‹ Schaefer. Lorenz hatte den Arm um Torry gelegt; eine Pranke ruhte auf seiner Schulter. »Hör zu, jeden Augenblick muß ein britischer C.I.D.-Mann aufkreuzen, aber der kann warten. Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt?«

Das Büro hatte sich über die Jahre nicht verändert. Der Schreibtisch, die Stühle, dieselben Bilder an den Wänden: ein vergessener Polizei-Captain; die Reviermannschaft, die in den dreißiger Jahren das Pistolenschießen gewonnen hatte.

Torry schloß die Tür hinter sich. Er hatte den Schreibtisch nicht so aufgeräumt in Erinnerung, aber Guido war immer ordentlich gewesen. »Schön, dich wiederzusehen, Torrini. Na, kriegst du kein Heimweh?« Die beiden Männer standen sich verlegen gegenüber und wurden sich des Abgrunds bewußt, den die Zeit zwischen ihnen aufgerissen hatte.

Lorenz deutete auf einen Stuhl. »Ich kann’s immer noch nicht glauben. Wie lange ist das jetzt her?«

»Fast sechzehn Jahre.«

»Das glaube ich nicht.«

»Rechne’s doch nach!«

Lorenz stützte sich auf den Tisch. »Fünfzehn Jahre brauchst du, bis du deine alten Freunde besuchst. Kein Brief, kein Wort. Torrini hat einfach den Abschied genommen und ist nach England zurückgegangen. Sein Vater liegt im Sterben. Was ist, Dereko?«

»Du erwartest einen englischen Bullen?«

»Wieso?«

»Wie heißt er, Guido? Der britische Polizist?«

»Torry.« Lorenz warf einen Blick auf seinen Schreibtisch.

Torry beugte sich vor; in der ausgestreckten Hand hielt er den Ausweis.

»John Derek Torry«, las Lorenz. »Detective Inspector? Nicht zu fassen. Aber du hast doch einen anständigen italienischen Namen. Was paßt dir nicht an Torrini? Schämst du dich?«

»Hat meine Mutter auch gesagt, wirklich. Aber sag mal Detective Inspector Torrini, Kriminalabteilung Scotland Yard. Das klingt nicht. Die braven Leute machen ein überhebliches Gesicht, und die Kunden denken nur daran, daß ein Itaker Schmiergeld nimmt. Ich hab den Namen urkundlich anglisiert. Es ist leichter.«

»Aber die Finger hast du nicht davon lassen können.« Lorenz grinste. »Einmal ein Bulle …«

»Ich hab’s versucht.«

»Wann? Als du wieder in London warst? Nach Joey?«

Torry nickte. »Nach Joey. Mein Vater ist in der Woche danach gestorben. Ich hab die britische Nationalität wieder angenommen. Dann war ich eine Zeitlang bei der Armee.« Er rieb sich mit den Fingerknöcheln über das Kinn. »Dann hab ich wieder ganz von vorn anfangen müssen.«

»Und jetzt bist du ein echter Inspector. Prima! Ich freu mich für dich. Hast du geheiratet?«

Torry schüttelte den Kopf.

»Dann rennst du immer noch hinter Idealen her?«

»Fang nicht wieder damit an, Guido! Ich will ein guter Polizist sein.«

»Ich hab dich seit Jahren nicht gesehen und kenne dich immer noch in- und auswendig. Torrini, der edle Ritter. Wenn du einen Fehler machst, mußt du das ganze Leben dafür büßen. Lebenslänglich.«

Es klang wie damals auf der Polizeiakademie. Lorenz, der Profi, Torrini, der Idealist.

Torry zog die Schultern hoch. »Vielleicht hast du recht. Ich bin eben so.«

»Und ich«, Lorenz seufzte, »bin ein guter Ehemann, ein guter Vater; ich gehe in die Kirche, ich beichte, ich geb mir Mühe, meine Arbeit gut zu machen; mehr ist nicht drin.«

»Ich muß um ein Uhr nach London zurückfliegen und bin erst nachmittags um fünf angekommen. Ich bin müde und ausgepumpt. Das Wiedersehen und die Fahrt durch Manhattan haben die Vergangenheit aufgerührt. Ich fange jetzt keine Diskussionen mit dir an, weil ich einfach nicht die Zeit dazu habe.«

Der Sergeant brachte Kaffee in Pappbechern aus der Kantine. »Weißt du was?« sagte Torry. »Wenn ich amerikanische Fernsehfilme sehe, muß ich immer lachen. Wenn mich die Leute fragen, ob es in den Staaten wirklich so zugeht, lache ich auch. Und dann komme ich wieder: und es stimmt alles. Es ist, wie es immer war.«

Lorenz lachte. »Pack mal aus. Um was geht es?«

»Ich wußte, daß du hier bist. Du bist der einzige höhere Polizeimensch, den ich hier in den Staaten kenne. Hast du Kontakt zur Bundespolizei?«

»Aber klar. J. Edgar Hoover fliegt zweimal in der Woche aus Washington her, und dann machen wir die Stadt unsicher.«

»Ich mein’s ernst.«

»Den einen oder anderen kenne ich.«

»Ich hab ihnen gerade einen alten Freund zurückgebracht. Wir haben ihn vor zwei Wochen geschnappt. Gefälschtes Visum, falscher Name im Paß. Er war erst eine Woche im Land. In seinem Hotelzimmer hatte er genug Dextromoramid, um Millionär zu werden. Und im übrigen hatte er ein kleines Arsenal: zwei Pistolen, einen Revolver und ein stehendes Messer.«

»Eine Ein-Mann-Revolution. Wer war’s denn?«

»›Schnürriemen‹ Armitage.«

»›Schnürriemen‹? Ich dachte, der wär längst tot. Der war mal ganz oben. Aber als ich ihn kannte, hatte er nichts mit Rauschgift zu tun. Er muß runtergekommen sein.«

»Der Mann ist ein Wrack, Guy. Aber nicht vom Rauschgift. Bei ihm ist es Alkohol und als Zugabe tertiäre Syphilis. Sie haben ihn betrunken an der Themse gefunden. Es war reiner Zufall: bei seinem Gesicht hat’s bei mir geklingelt.«

»So was hast du schon damals gehabt. ›Schnürriemen‹ Armitage. Der war mal ganz gefährlich; ein Schläger und ein Killer. Weißt du, woher der Name ›Schnürriemen‹ kommt?«

»Er hat zwei Streifenpolizisten, die ihn in Denver verhaftet hatten, mit ihren Schnürriemen gefesselt. Er wird immer noch in drei Staaten wegen Mord gesucht.«

»Habt ihr auch Ärger mit dem Syndikat?«

»Wir haben mit allem und jedem Ärger, aber das Syndikat würde niemals einen syphilitischen Trinker wie ›Schnürriemen‹ anheuern. Diese Knaben haben weiße Kragen und elegante Aktentaschen. ›Schnürriemen‹ ist nicht ihr Stil. Ich habe gerade sieben Stunden neben ihm im Flugzeug gesessen.«

»Und was macht dir Kummer?«

»Er tut so, als stecke er in einer ganz großen Sache. Ich weiß nicht, woran ich bin. Es können Wahnvorstellungen sein, aber er bibbert vor Angst. Und er sagt, er müßte unter besonderen Polizeischutz gestellt werden.«

»Und die Washingtoner haben sich nicht für ihn interessiert?«

»Du weißt doch, wie das ist.«

Lorenz nickte. »Du bist beunruhigt?«

»Er hat gesagt, er hätte was für mich, wenn ich ihm helfen würde.«

»Das haben wir alle schon mal gehört.«

Torry schlug das Notizbuch auf. »Er behauptet, daß innerhalb der nächsten zehn Tage im Scrubs was passiert. Das ist Wormwood Scrubs, eins unserer …«

»… eurer größten Londoner Gefängnisse. Das hat sich bis zu uns rumgesprochen. Was? Ein Ausbruch?«

»Das glaube ich nicht. Wenn das passiert wäre, hat er gesagt, sollten wir nach einem gewissen Wexton suchen.«

»Wexton? Klingelt da was bei dir?«

»Nichts.«

»Hört sich sehr nach Phantasie an. Aber ich werd feststellen, wer das Verhör führt. Wir können auch den Namen Wexton in die Fahndung aufnehmen. Wenn was rauskommt, setze ich mich direkt mit dir in Verbindung.«

»Danke, Guido.«

»Und was machst du?«

»Ich werde es weitermelden.« Torry zögerte und fügte dann hinzu. »Wahrscheinlich.«

 

Torry wartete, bis Lorenz telefoniert und sich Zivil angezogen hatte. Sie fuhren zum Times Square und aßen im Howard Johnson. Um elf Uhr rief Lorenz das Revier an und bestellte einen Wagen für Torry.

Um Mitternacht sieht der B.O.A.C.-Abflugwarteraum des Kennedy-Flughafens trist und verkommen aus.

Torry saß allein vor einer Tasse Kaffee. »Ist der Platz frei?« Der Mann war Mitte Dreißig; das hochmütige, graue Gesicht paßte zum knitterfreien Anzug.

Torry gab wortlos zu erkennen, daß er allein war. Der Mann im grauen Anzug setzte sich und legte die Daily News vor sich. Er bestellte einen Martini. Torry überlegte, warum sich der Mann an seinen Tisch gesetzt hatte, wenn der Raum halb leer war. Dann wurde sein Flug aufgerufen. Torry schob den Stuhl zurück. Der Fremde beugte sich vor. »Einen Moment noch, Inspector. Ein Freund wendet keinen Blick von Ihnen. Er hat eine kleine Pistole.« Die Stimme war ausdruckslos. Torry starrte ihm ins Gesicht und merkte sich jede Einzelheit für später. »Ich gehe jetzt. Ich lasse die Zeitung für Sie zurück.«

Torrys Ohren suchten nach einer Klangfärbung, die den Mann auf einer Landkarte einordnete. Nichts.

»Etwas auf der ersten Seite wird Sie interessieren«, fuhr der graue Mann fort. »Es ist angekreuzt. Aber warten Sie, bis ich weg bin.«

Er stand auf und schlenderte zur Rolltreppe. Die Fluggäste strömten zum Ausgang. Torry konnte kein Risiko eingehen. Er stand langsam auf und nahm die Zeitung. Darunter lag ein länglicher, weißer Umschlag. Genau in der Mitte stand in Maschinenschrift sein Name. Er schob den Umschlag in die Tasche und schloß sich der Prozession der Fluggäste an. Durch die hohen Aussichtsfenster sah man blinkende blaue, rote, grüne Lichter, und aus der Ferne drang Motorengeheul durch die Nacht. Der Geschmack langer Stunden Flugzeit stieg Torry wie Galle in die Kehle. Erst in der Maschine, als er den Sicherheitsgurt angelegt hatte und die Düsentriebwerke murrten, riß er den Umschlag auf. Es mußten etwa dreihundert Pfund in Zehnpfundnoten sein. Dazu eine schmale weiße Karte. Der Text war getippt. »Dies ist ein Vorschlag, über den verstorbenen Mr. Armitage Schweigen zu bewahren. Siehe Seite eins der Daily News.«

Torry wußte, was dort stehen würde. Nur die Details fehlten noch. William ›Schnürriemen‹ Armitage und zwei Beamte der Bundespolizei hatten bei einem unerklärlichen Unfall auf der Pennsylvania-Autobahn am Abend den Tod gefunden.

3

Das Haus war so trübselig wie seine Umgebung; und Willesden, London NW 10, reizt nicht zu poetischen Beschreibungen. Vom Fenster des obersten Stockwerks blickte der Junge zum Bahnhof Willesden hinüber: graue, zackige Giebel von Waggonhallen und Lokomotivschuppen, das verwirrende Durcheinander der Gleisanlagen. An einem klaren Tag konnte man bis zum Rand des berühmten Kensal Parks und bis zum katholischen Friedhof sehen. Weiter nach rechts, jetzt im Dunst verborgen, lag das Scrubs.

Der Junge war etwa neunzehn; er trug enge Jeans, einen schwarzen Rollkragenpullover und langes, blondes Haar, das voller Pomade war. Billige Haarpomade, ein Kamm, schmierig von Staub und Schuppen, und eine Plastikflasche mit Aftershave schmückten den Toilettentisch, dessen Ränder die Brandmale abgelegter Zigaretten trugen.

Er konnte riechen, daß unten Speck gebraten wurde, und überlegte, wann die im Scrubs wohl aufstehen mußten. Gus war im Scrubs, und heute abend würde er …

»Alf, bist du denn immer noch nicht fertig?« Das war Robeys Stimme auf der Treppe.

»Komme schon.« Alf bückte sich zum Spiegel. »Verdammter alter Idiot«, sagte er laut. Wenn es nicht um das Geld ginge, wäre er auf und davon von hier. Heute abend war er sowieso weg. London ging ja, aber was die Mädchen betraf, wenn man’s regelmäßig haben wollte, waren Birmingham und Coventry große Klasse.

»Dein Frühstück ist kalt.« Robey war fast fertig. Er wischte das schleimige, rohe Eiweiß mit einem Stück Brot auf. Alf schnitt mit der Messerspitze das Eigelb auf. Ob so das Blut herausläuft, wenn man einen richtig fertigmacht? »Springer schon weg?« fragte Alf.

»Da warst du noch lange nicht wach.« Robey sah dreckig und unrasiert aus; er hatte kleine schwarze Halbmonde unter gespaltenen Nägeln und getrocknete Fettflecken auf dem schmierigen Pullover.

»Garage offen?«

»Klar. Was glaubst du, wofür die mir Geld geben?«

Alf wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Koch anständiges Essen, nicht diesen Schauderfraß, und halt deine Fresse.«

»Ich weiß doch nichts«, murrte Robey. »Mir sagen die nichts, und dann kann ich auch nichts reden.«

»Das will ich auch schwer hoffen«, sagte da Springer.

Springer war älter als Alf, zwei oder drei Jahre. Ein magerer Körper, flinke Augen, ruhiger, sicherer Gang. »Schon alles bestens erledigt. Mein Frühstück, Robey!« Er stand ironisch lächelnd unter der Küchentür und rieb sich die Hände.

»Gott, bist du leise reingekommen!« Alf sah nicht auf.

»Je leiser, je besser, Alfie.«

Robey schlurfte an ihm vorbei in die Küche.

Alf hob den Blick vom Teller. »Was hast du gefunden?«

Springer glitt auf Robeys Stuhl und schob den Teller fort. »Einen hübschen, schwarzen Austin Cambridge. Der Tank ist voll. Ich hab die Schilder ausgewechselt. Der Wagen ist höchstens sieben, acht Monate alt.«

»Du kommst leicht an dein Geld.«

»Und du, Freund, kriegst doppelt soviel wie ich. Der anonyme Mr. Smith schon da?«

»Das hat noch Zeit. Hoffentlich taugt dieser verdammte Ersatzmann was.«

»Hör doch auf damit.«

»Nach dem, was passiert ist mit Armitage?«

»Ich würd’s gar nicht erst machen, Alfie. Einen Wagen klauen, die Schilder auswechseln, das Geld abholen und verschwinden, da bin ich dabei«, sagte Springer. »Aber mehr nicht.« Er dachte an Smith und Wexton. Den Namen sollte er nicht mal denken! Das bringt Unglück.

»Smith ist mit dem Grausamen gekommen.« Alf stand am Fenster und bewunderte den dunkelbraunen Rover 2000.

Springer rührte sich nicht.

»Morgen, Springer, Alfred.« Smith war im Zimmer. Springer stand auf. Smith hätte ein Bulle sein können. Pfeife, Regenmantel, einfarbige rote Krawatte.

»Morgen, Mr. Smith.« Alf mußte immer strammstehen, wenn Smith was sagte. Er blickte an Smith vorbei auf den Ersatzmann. Ein Riesenkerl.

»Alles klar, Springer?«

»Austin Cambridge, Mr. Smith. Tank voll. Schilder ausgetauscht.«

»Schon gepackt?«

»Klar.«

»Und die echten Nummernschilder?«

»Oben in meinem Koffer.«

Smith nickte. »Gut so, Junge. Hier die Fahrkarte. Einmal einfach nach Reading. Und dein Geld. Laß die Schilder verschwinden. Aber für immer.«

Springer nahm die Fahrkarte und den Umschlag. »Die Schilder findet keiner mehr.« Er wollte den Umschlag aufreißen. »Nicht hier, Junge. Oder traust du Mr. Wexton nicht?«

»Entschuldigung, Mr. Smith.« Springer stopfte den Umschlag in die Tasche.

»Sonst nichts, Springer?«

Springers Augen huschten durch das Zimmer. »Na, Wiedersehen, und bis auf bald.«

»Und Mr. Wexton soll ich nichts sagen?«

»Sagen Sie, ich danke ihm sehr.«

»Sei vorsichtig, Springer. Wir bleiben in Kontakt.«

Alf merkte, daß Smith sogar Springer aus der Ruhe brachte. Er sah sich den großen Kerl an, den Smith mitgebracht hatte.

»Du wirst deinen Partner kennenlernen wollen, Alfred.« Smith lächelte.

»Ja doch, Mr. Smith.«

»Graham, das ist Alfred. Graham war in Aden, beim Militär. Jetzt langweilt er sich.«

»Weiß er Bescheid?«

»Ich hab ja nicht viel zu tun. Du mußt uns reinbringen und wieder rausholen. Das Rausholen ist mir am wichtigsten.«

»Und ob wir wieder rauskommen.« Alf dachte positiv.

Graham wandte sich an Smith. »Und es ist eine Sterling, ja?«

»Eine Sterling. Alfred hat sie aufgehoben.«

»Muß ich mir ansehen. Damit ich sicher bin, sie ist in Ordnung.«

»Die ist tadellos, Graham, nagelneu. Aber, Alfred, hol Graham die Kanone, ja?«

Vom Tisch waren die Reste des Frühstücks abgeräumt. Statt der Teller und Tassen lagen Metallteile darauf. Graham murmelte vor sich hin und setzte die Teile sauber und ordentlich wieder zusammen. Ein letztes Klicken, dann: »Na bitte.« Er war der Corporal, der er immer hatte sein wollen. »Die L2A3 Neun-Millimeter-Maschinenpistole oder, wie sie allgeheim heißt, die Sterling.«

»Sehr gut, Graham. Mit Kanonen kennt Graham sich aus, was, Alfred?« Smith sprach leise. »Jetzt braucht ihr beide nur noch abzuwarten.«

 

Jumper ging federnd über den Bahnsteig eins von Paddington. Die große Uhr zeigte zwei Minuten nach acht. Der Acht-Uhr-Zug war gerade weg. Der nächste ging um Viertel nach. Noch zehn Minuten, und er war aus allem raus.

»Morgen, Springer. So früh schon unterwegs?« Es war der große, rothaarige Bulle, der ihn im letzten Augenblick erwischt hatte.

»Morgen. Sind Sie jetzt hier gelandet?«

»Ich renn’ nicht aus Spaß auf dem Bahnhof rum, Springer. Kennen Sie meinen Kollegen noch nicht?«

Der andere Bulle war ein Mordskerl. »Tag.« Lächeln und freundlich aussehen, Springer. Du hast nichts verbrochen.

»Police Constable Philips, und das ist Lionel Jumper, den alle nur ›Springer‹ nennen, weil er die nette Angewohnheit hat, in anderer Leute Autos zu springen und fortzufahren.«

»Gut, wenn man so einen kennt.«

Springer gefiel das Gesicht von diesem Constable Philips nicht.

»Mein Zug fährt gleich«, sagte er.

Der rothaarige Polizist wich nicht von der Stelle. »So? Welcher Zug denn?«

»Der nach Reading um acht Uhr fünfzehn. Ich muß rennen.«

»Sie haben noch ’ne Minute. Was gibt’s denn? Sie sind doch sonst viel gesprächiger. Waren Sie etwa auf Arbeit?«

»Na, hören Sie mal!«

»Und warum wollen Sie nach Reading?«

»Ich will meine Tante besuchen.«

»Ihre Tante ist doch in Liverpool.«

»Sie ist jetzt in Reading.«

»Seit wann?«

»Seit letzter Woche.«

»Wie ist die Adresse?«

»Was ist in dem Koffer, Springer?« Das war Constable Philips. »Ein gestohlenes Auto.«

»Springer hält sich strikt an Autos.«

»Ich hab Ihnen gesagt, ich verpaß noch den Zug. Könnt ihr verdammten Polypen nicht …«

»Jetzt werden Sie mal nicht beleidigend, Springer! Vielleicht sollten wir doch mal den Koffer ansehen. Sie sind vorbestraft.«

»Los, Springer, machen Sie auf.«

Springer kam fünf Meter weit. Philips legte ihn; er war Rugbyspieler. Springer ging zu Boden. Der Koffer schurrte über den Bahnsteig.

Als sie ihn öffneten, lagen die Nummernschilder oben auf.

»Ich hab ihn bloß angesprochen, weil ich nett zu einem vorbestraften Mann sein wollte«, erklärte der rothaarige Constable später.

 

Torrys Maschine landete kurz vor zwölf Uhr mittags. Er ging durch den Zoll und rief dann Ticker an. Er mußte Ticker das Geld aushändigen. Und einen ausführlichen Bericht würde er auch schreiben müssen.

Aber Detective Superintendent Tickerman war gut gelaunt.

»Fahren Sie nach Hause und legen Sie sich aufs Ohr, Derek. Aber kommen Sie um fünf Uhr, ja? An einen Wexton kann ich mich nicht erinnern.«

»Danke, Tick, ich bin groggy, aber ich komm um vier oder spätestens halb fünf.«

»Gut, Derek, aber passen Sie um Himmels willen auf dieses Geld auf!«

Draußen suchte Torry nach einem Bus, der zum B.E.A.-Terminal in der Cromwell Road fuhr. Von dort aus waren es bis zu seiner Wohnung nur zweihundertundfünfzig Normalschritte in Streifentempo.

In Torrys Wohnung standen ein großer, runder Glastisch, zwei tiefe Ledersessel, ein Büfett und ein Bücherschrank. Ein Bett, ein Wand- und ein Toilettentisch und ein gerader Stuhl im Schlafzimmer. Über dem Bett hing ein großes Messingkreuz; das Pendant dazu war der Blickfang, wenn man das Wohnzimmer betrat.

Torry warf ganz aus Gewohnheit einen prüfenden Blick in die kleine Küche und das Schlafzimmer, ehe er das Badewasser aufdrehte. Zwanzig Minuten darauf rief der saubere, rasierte und nackte Torry den Auftragsdienst an und bat um einen Anruf um fünfzehn Uhr dreißig; dann kroch er ins Bett.

 

Gus versuchte, ruhiger zu atmen. Beim Rennen war ihm die Luft ausgegangen; die Seitenstiche wurden unerträglich. Aber es sah so aus, als hätte es sich gelohnt. Sie hatten ihm gesagt, die Wärter würden nie auf den Gedanken kommen, daß der Blitz zweimal an derselben Stelle einschlagen könnte. So, jetzt geh, du darfst nicht mehr rennen. Stemm das Fenster im zweiten Stock im D-Flügel auf, hatten sie gesagt. Sechs Meter bis zur Erde. Er hatte geglaubt, es wäre um ihn geschehen. Der Fuß tat immer noch weh. Ein taubes Zittern. Das Seil hing über die Mauer. Genau pünktlich; diese Burschen hatten eine erstklassige Organisation. Zwei Uhr dreißig. Jetzt die Straße entlang. Über die zweite Mauer und auf die Eisenbahnschienen. Er trug einen Monteuranzug; die Kappe und die Installateurtasche waren genau an der Stelle, an der sie sein sollten. Geradeaus, und dann nach links in die Primula Street. Hübscher Name. Der Wagen würde um zwei Uhr vierzig kommen. Er würde fünf Minuten warten, länger nicht.

Gus war jetzt in der Primula Street. Als er um die Ecke bog, begann der Höllenlärm.

Alf, am Steuer des Austin Cambridge, hörte die Alarmglocken des Gefängnisses. »Jetzt ist es passiert, Graham. Wir müssen abhauen.«

»Nein, Mann! Er ist da. Er kommt.« Graham saß im Fond des Wagens. Alf spähte über die Schulter. Gus kam auf sie zu. Das Fenster wurde heruntergekurbelt. Gang einlegen! Diese verdammten zwei Weiber am Ende der Straße. Nie würden sie da wieder rauskommen. »Herrgott! Graham!«

»Er ist nicht nah genug.« Graham beugte sich aus dem Fenster und schrie: »Gus, renn! Gus!«

Gus ließ die Tasche fallen. Die Alarmglocken! Hinter sich hörte er Kinder schreien.

Die Sterling war gegen Grahams Schulter gepreßt. Alf hörte sie spucken. Die macht viel weniger Lärm, als man denkt.

Gus konnte nicht mehr rennen. Die Garbe warf ihn um.

»Fertig, Alf. Fahr los. Schnell weg hier«, sagte Graham.

Alf hatte nicht zugesehen, wie Gus umgemäht wurde. Er war nur zum Fahren da und mußte versuchen, nicht an Gus zu denken, der in der Primula Street lag. Geradeaus in den Westway. Graham rauslassen; dann weiter bis zur White City; dort bleibt der Wagen einfach stehen. Ich geh weg. Ich kauf’ ein Päckchen Zigaretten und geh einfach weg.

 

Um drei Uhr fünfzehn klingelte Detective Inspector John Derek Torrys Privattelefon, und ein Krankenwagen wartete, um den durchsiebten Leichnam von Gustave Lipperman aus der Primula Street fortzubringen, wo er, gemeinsam mit mehreren Polizeifahrzeugen, den Verkehr behinderte.

4

Der Termin war halb sechs Uhr abends. Der schmalgesichtige, graue Mann wartete geduldig. Um fünf Uhr zweiunddreißig kam die zivile Sekretärin zu ihm. Sie hatte hübsche Beine und eine beachtliche Oberweite.

»Er läßt bitten.«

»Danke, daß Sie selbst damit gekommen sind.« Der Mann, der auf einem der heißesten Stühle von ganz London saß, blickte auf und lächelte.

»Das ist alles, Sir.« Der Besucher hielt die rote Akte mit dem auffällig gelben Kreis in der rechten oberen Ecke vor sich hin. »Es tut mir leid, aber Sie müssen den Empfang bestätigen; selbst wenn es Ihre eigene Akte ist.«

»Wie geht es Ihrer Frau?« fragte der Chef und zückte den Federhalter über dem Formular.

»Gut, danke, Sir.«

»Da haben Sie Ihre Unterschrift.«

»Hoffentlich ist alles da, was Sie haben wollten.«

»Wenn nicht, lasse ich wieder von mir hören.«

Um neun Uhr an diesem Abend betrat der Commissioner der Polizei von London sein Arbeitszimmer, machte es sich in seinem Lieblingssessel bequem, dachte an eine Pfeife und verwarf den Gedanken wieder. Er öffnete die rote Akte. Es war ein langer, ermüdender Bericht über Torrys Karriere. Interessant war vor allem der Schluß des Berichts.

 

VON: Detective Superintendent Tickerman, Crime eins Ich habe fast vier Jahre mit Detective Inspector Torry sowohl beim West End Central als auch bei New Scotland Yard zusammengearbeitet. Obwohl ich sein unmittelbarer Vorgesetzter bin, kann ich nur große Hochachtung vor ihm haben. Ich habe nichts zu berichten, was gegen ihn spricht, es sei denn die Tatsache, daß er sich selbst vielleicht zu sehr antreibt und von anderen erwartet, daß sie mit ihm Schritt halten. Es kommt auch gelegentlich vor, daß sein Haß gegen das Verbrechen ihn zu sehr persönlich in einen Fall verwickelt.

 

VON