Nur wenn du mir vertraust - Deborah Crombie - E-Book
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Deborah Crombie

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Beschreibung

Inspector Gemma James fährt mit ihrer alten Freundin Hazel nach Schottland, um dort ein erholsames Wochenende zu verbringen. Im Hotel angekommen, treffen die beiden Frauen auf Donald Brodie, mit dem die verheiratete Hazel anscheinend mehr als nur eine Freundschaft verbindet. Am darauffolgenden Abend kommt es zum erbitterten Streit zwischen Hazel und Brodie. Als Brodie kurz darauf tot im Moor gefunden wird, muss sich Gemma fragen, inwieweit sie Hazel vertrauen kann ...

Der neunte Roman mit Superintendent Duncan Kincaid und Inspector Gemma James

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Seitenzahl: 640

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Deborah Crombie

Nur wenn du mir vertraust

Roman

Deutsch von Andreas Jäger

Copyright

Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Now May You Weep« bei William Morrow, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2003 by Deborah Crombie

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2004 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Published by Arrangement with Deborah Crombie

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

ISBN: 978-3-894-80881-5V002

www.goldmann-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

12 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Danksagung Über das Buch Über den Autor Copyright

Gewidmet meinem Onkel A. C. Greene,

1923–2002,

dem Literaten und

unvergleichlichen Geschichtenerzähler

Und ob auch Regen rauscht, ob Schnee still rieselt,

Der Blitz in Kiefern fährt im Sturmgewühl;

Es scheint doch warm das Licht zu Haus’ im Tale,

Und, Schottlands Sohn, dein ist’s auch im Exil.

Weit übers Meer hinaus hat Sehnsucht dich getrieben,

Und müde bist du, weinen magst du nun,

Wenn die Erinnerungen dich bestürmen

An dieses raue Land, wo deine Väter ruhn.

Neil Munro,

»An die Verbannten«

1. Kapitel

Gibt’s eine Weise wie ein Schwert,

Schottland mit einem Streich

Zu trennen vom Rest der Welt –

Gebt sie mir gleich!

Hugh MacDiarmid,

»An Circumjack Cencrastus«

Carnmore, November 1898

In ihren wärmsten Umhang gehüllt, einen Wollschal um den Hals geschlungen, ging Livvy Urquhart unruhig auf den ausgetretenen Steinfliesen der Küche auf und ab. Mit dem warmen Ofen, den rot gestrichenen Wänden und den offenen Regalen voll mit irdenem Geschirr wirkte die Stube wie ein behaglicher Zufluchtsort, doch draußen peitschte der Wind um die Ecken der Brennereigebäude, sein unheimliches Stöhnen fast wie die Stimme eines Menschen, und die bittere Kälte kroch selbst durch die dicken Steinmauern des alten Hauses.

Es war die Sorge um Charles, ihren Mann, die Livvy bis in die frühen Morgenstunden wach gehalten hatte. Er war wahrscheinlich auf dem Heimweg von Edinburgh gewesen, als der Schneesturm ihn überrascht hatte – ungewöhnlich früh im Jahr, ungewöhnlich heftig für den Spätherbst.

Und die Straße von Cock Bridge nach Tomintoul, die Charles nehmen musste, um nach Carnmore zu gelangen, war immer die erste in ganz Schottland, die durch die Schneefälle vollkommen unpassierbar wurde. War seine Kutsche vom Weg abgekommen, Pferd und Kutscher gleichermaßen geblendet durch die wirbelnde weiße Wand, die ihnen mit Urgewalt entgegengeschlagen war, als sie die Passhöhe erreichten? Lag ihr Mann in diesem Augenblick in einem Straßengraben oder in einer Schneewehe, wo ihn die lähmende Kälte langsam, aber sicher übermannte?

Ihre Angst ließ ihr keine Ruhe, und so ging sie immer noch in der Küche auf und ab, lange nachdem Will, ihr sechzehnjähriger Sohn, zu Bett gegangen war. Das Wissen um ihre Lage trieb sie schier zur Verzweiflung. Geschützt, aber auch gefangen hinter den weißen Rauputzmauern ihres Hauses, war sie ebenso hilflos wie Charles und konnte nichts für ihn tun. Bald würde sie nicht einmal mehr die Nebengebäude der Brennerei erreichen können, geschweige denn den Fußweg, der zu dem kleinen Weiler Chapeltown führte.

Livvy ließ sich in den Schaukelstuhl am Herd sinken und kämpfte gegen die Tränen an, die sie am liebsten verleugnet hätte. Sie war schließlich eine geborene Grant, und die Grants waren mit Gefahren und Widrigkeiten seit jeher vertraut. Sie hatten in diesem harschen Landstrich nicht nur über viele Generationen überlebt, sie hatten es auch zu etwas gebracht. Und Livvy war zwar in relativ komfortablen Verhältnissen in der Stadt aufgewachsen, doch sie hatte inzwischen lange genug in dieser entlegenen Bergregion der Highlands gelebt, um die Entbehrungen und die Einsamkeit wie selbstverständlich hinzunehmen.

Und Charles… Charles war ein besonnener, vernünftiger Mann – zu vernünftig, wie sie es in den siebzehn Jahren ihrer Ehe zuweilen empfunden hatte. Er würde beim ersten Anzeichen eines Schneesturms gleich im nächsten Gasthof oder in einer Kate Schutz gesucht haben. Er war in Sicherheit – natürlich war er in Sicherheit, und so würde sie weiter ganz fest an ihn denken, als könnte sie ihn allein mit der Kraft ihrer Gedanken schützen.

Sie stand wieder auf und trat ans Fenster. Doch als sie die dicke Scheibe mit dem Saum ihres Umhangs abgewischt hatte, sah sie nichts als wirbelnde weiße Flocken. Was sollte sie Will am nächsten Morgen sagen, wenn es bis dahin immer noch kein Lebenszeichen von seinem Vater gäbe? Eine neue Angst erfasste sie. Will war ein ruhiger Bursche, doch er konnte auch sehr stur und aufbrausend sein. Es war ihm durchaus zuzutrauen, dass er sich dem Schnee und der Kälte zum Trotz auf den Weg machte, um seinen Vater zu suchen.

Eilig entzündete sie eine Kerze und verließ die Küche. Das Haus war dunkel und kalt, und ihr Herz raste. Doch als sie das Schlafzimmer ihres Sohnes im Obergeschoss erreichte, fand sie ihn in tiefem Schlummer. Einen Arm hatte er unter der Bettdecke hervorgestreckt, und sein Buch – ein zerlesenes Exemplar von Robert Louis Stevensons Entführt – lag aufgeschlagen auf seiner Brust. Von seinem Vater hatte er die ebenmäßigen Gesichtszüge und das feine, glatte, hellbraune Haar geerbt, und von ihm hatte er auch seine Liebe zu Büchern und die romantische Ader. Für Will waren David Balfour und der Jakobit Alan Breck ebenso real wie seine Freunde in der Brennerei. Doch in letzter Zeit schien seine Begeisterung für die Rebellion von1745ein wenig nachgelassen zu haben, und er redete jetzt mehr von Sicherheitsfahrrädern und Lötlampen, und von den neuen dampfgetriebenen Wagen, die George Smith drüben in Drumin zum Transport der Whiskyfässer einsetzte. Alles ganz normal für einen Jungen in seinem Alter, wie Livvy sehr wohl wusste, und doch schmerzte es sie, zu sehen, wie er langsam, aber sicher die Grenzen der warmen, geschützten Welt von Hof, Dorf und Brennerei hinter sich ließ.

Mit langsameren Schritten ging Livvy in die Küche zurück, ein wenig fröstelnd trotz des warmen Umhangs, und machte es sich wieder in ihrem Schaukelstuhl bequem. Sie dachte an Charles, doch als sie nach einer Weile in einen unruhigen Schlaf fiel, war es nicht er, der ihr im Traum erschien.

Es war das herzförmige Gesicht einer Frau. Die dunklen Augen, die sie anstarrten, wirkten vertraut, ganz wie ihre eigenen, doch mit der unwiderlegbaren Gewissheit der Träumenden wusste Livvy, dass es nicht ihr Spiegelbild war, das sie sah. Die Frau hatte dunkles, lockiges Haar, so wie sie selbst, aber es war kurz geschnitten, als ob die Frau eine Krankheit durchgemacht hätte. Die Traumgestalt war auch merkwürdig gekleidet – sie trug ein ärmelloses Hemdkleid, ähnlich einem Unterrock oder einem Nachthemd. Ihre entblößte Haut war braun gebrannt wie die einer Landarbeiterin, doch als sie die Hand hob und sich über die Wange strich, sah Livvy, dass ihre Hände makellos und zart waren.

Die Frau schien in einem Eisenbahnwaggon zu sitzen – Livvy konnte die schwankenden Bewegungen des Zuges wahrnehmen –, doch an den Fenstern schoss die verschwommene Landschaft in einer Geschwindigkeit vorüber, wie sie nur in Träumen möglich war.

Livvy versuchte zu sprechen, versuchte die Wattehülle zu durchdringen, die sie zu umschließen schien. »Was – wer –«, stammelte sie, doch das Bild begann bereits zu schwinden. Es flackerte noch einmal auf und wurde dann dunkel, als hätte jemand eine Lampe ausgeblasen, aber Livvy hätte schwören können, dass sie im letzten Moment den Ausdruck verblüfften Wiedererkennens in den Augen der Frau hatte aufblitzen sehen.

Mit einem erstickten Schrei auf den Lippen erwachte sie. Ihr Herz raste, doch sie wusste sofort, dass es nicht der Traum gewesen war, der sie geweckt hatte. Da war ein Geräusch gewesen, eine Bewegung an der Küchentür. Livvy sprang auf, ihre Hand fuhr zur Kehle, und eine plötzliche Hoffnung ließ sie erstarren. »Charles?«

Die Welt glitt vorüber, ein verschwommener Flickenteppich aus mit Schafen gesprenkelten Wiesen und hellgelben Rapsfeldern, die von einem inneren Leuchten erfüllt schienen. Dann und wann wichen die sanften Hügel tiefen, dicht belaubten Schluchten, moosgrün und geheimnisvoll, in deren Schutz träge Flüsschen dahinströmten. Die Natur erstrahlte in voller Frühlingsblüte, und Gemma James spürte, wie eine Woge der Freude sie bei dem Anblick durchflutete. Gewiegt vom einschläfernden Ruckeln des Zuges, hätte sie sich beinahe einbilden können, dass die Zeit stillstand, dass der dahinrollende Zug mitsamt den Reisenden in einer endlosen Schleife aus rhythmischer Bewegung und gelegentlich aufblitzenden grünen Hängen gefangen war.

Sie gab sich einen kleinen Ruck und sah ihre Freundin Hazel Cavendish an, die ihr direkt gegenüber saß. »Ich weiß zwar nicht, wo wir sind«, sagte sie und deutete zum Fenster hinaus, »aber es ist traumhaft.«

Hazel lachte. »Northumberland, wenn ich mich nicht irre. Wir haben noch eine ziemliche Strecke vor uns.«

Irgendwo am Ende des Abteils versuchte eine Mutter ihr zunehmend quengeliges Kind zu beruhigen, und Gemma registrierte mit einer Mischung aus Erleichterung und Schuldbewusstsein, dass es nicht ihr Problem war. So sehr sie ihren vierjährigen Sohn Toby liebte – es kam nun einmal nicht allzu oft vor, dass etwas anderes als die Arbeit ihr eine Pause von ihren Mutterpflichten verschaffte. Und wenn sie es sich recht überlegte, hatten sie und Hazel auch noch nicht allzu viel Zeit miteinander verbracht, ohne dass die Kinder dabei gewesen wären. Fast zwei Jahre lang, bis kurz vor Weihnachten des vergangenen Jahres, hatte Gemma zur Miete in der Garagenwohnung der Cavendishs gewohnt. Holly, Hazels und Tims Tochter, war so alt wie Gemmas Sohn, und Hazel hatte auf beide Kinder aufgepasst, wenn Gemma im Dienst gewesen war.

»Ich bin froh, dass du mich gefragt hast, ob ich mitkomme«, sagte Gemma spontan und lächelte Hazel über die schmale Tischplatte hinweg an.

»Wenn irgendjemand es verdient hat, mal ein paar Tage auszuspannen, dann du«, erwiderte Hazel mit ihrer gewohnten Herzlichkeit.

Im Herbst des Vorjahres war Gemma zur Detective Inspector der Metropolitan Police befördert und zum Revier Notting Hill versetzt worden. Die lang ersehnte Beförderung hatte allerdings ihren Preis gehabt. Nicht nur hatte sie längere Arbeitszeiten und eine größere Verantwortung mit sich gebracht, sondern auch den Abschied von Scotland Yard und damit das Ende ihrer Zusammenarbeit mit Superintendent Duncan Kincaid, ihrem Lebensgefährten, mit dem sie seit Weihnachten auch unter einem Dach zusammen wohnte.

»Erzähl mir doch noch mal, was uns da oben so erwartet«, forderte Gemma Hazel auf. Vor einer Woche hatte Hazel angerufen und Gemma ganz unvermittelt gefragt, ob sie sie übers Wochenende zu einem Kochkurs in den schottischen Highlands begleiten würde.

»Ich weiß, es ist ziemlich kurzfristig«, hatte Hazel gesagt, »aber es sind insgesamt nur vier Tage. Wir fahren am Freitag rauf und kommen am Montag zurück. Was meinst du, kannst du freibekommen? Du hast doch seit Ewigkeiten keinen Urlaub mehr gemacht.«

Gemma hatte die unausgesprochene Botschaft verstanden. Hazel, die nicht nur ihre Freundin, sondern auch eine erfahrene Therapeutin war, fürchtete, dass Gemma sich noch nicht ganz von ihrer Fehlgeburt im Januar erholt haben könnte.

Es war wahrhaftig ein schwerer Winter gewesen. Die Tatsache, dass es sich um eine ungeplante Schwangerschaft gehandelt hatte, die zu akzeptieren Gemma nicht leicht gefallen war, hatte den Verlust des Babys nur umso schrecklicher gemacht; und auch rein körperlich hatte sie sich nicht so schnell erholt, wie sie vielleicht gehofft hatte. Aber als der Frühling gekommen war, hatte sie neuen Lebensmut und neue Energie geschöpft; und wenn sie immer noch zuweilen mitten in der Nacht aufwachte, weil eine quälende Traurigkeit ihr das Herz einschnürte, dann sprach sie mit niemandem darüber.

»Es ist ein nettes kleines Anwesen, das sich Innesfree nennt«, erklärte Hazel. »Ein Wortspiel – der Eigentümer heißt nämlich Innes.«

»Nette Idee – nur das falsche Land. Die Insel Innisfree liegt schließlich in Irland.«

Hazel lächelte. »Es ist nicht weit vom Ufer des Spey gelegen, am Fuß der Cairngorm Mountains. Laut Prospekt ist John Innes auf dem besten Wege, sich als Gourmet-Koch einen Namen zu machen. Wir können uns glücklich schätzen, einen Platz in einem seiner Kochkurse ergattert zu haben.«

»Du weißt doch, dass ich dir in der Hinsicht nicht das Wasser reichen kann«, wandte Gemma ein. Sie dachte an die diversen kleinen Katastrophen, die ihr in der Küche des Hauses in Notting Hill widerfahren waren, das sie mit Duncan bezogen hatte. Den alten Ölherd hatte sie trotz Hazels hilfreicher Ratschläge noch immer nicht so recht im Griff.

»Der Kurs ist angeblich ganz individuell ausgerichtet«, versicherte Hazel ihr. »Und wir können bestimmt auch sonst viel unternehmen. Am Fluss spazieren gehen, abends ein Gläschen am Kamin…«

»Klingt ja sehr romantisch.«

Einigermaßen überrascht beobachtete Gemma, wie Hazel errötete und sich abwandte. »Ja, das ist es wohl«, murmelte sie, indem sie sich zurücklehnte und die Augen schloss.

Gemma betrachtete ihre Reisegefährtin. Sie bemerkte die Flecken von verlaufener Schminke unter den dichten schwarzen Wimpern, die ungewohnt hohlen Wangen, die ihre ausgeprägten Wangenknochen noch stärker hervortreten ließen. Einen Augenblick lang fragte sich Gemma, ob Hazel vielleicht krank war, doch sie verwarf den Gedanken ebenso rasch, wie er ihr gekommen war. Hazel – Therapeutin, perfekte Ehefrau und Mutter und dazu noch eine ausgezeichnete vegetarische Köchin – war der gesündeste und ausgeglichenste Mensch, den Gemma je kennen gelernt hatte. Sicherlich war sie nur etwas übermüdet, und das erholsame Wochenende in Schottland war genau das Stärkungsmittel, das sie brauchte.

Donald Brodie hob ein Segment der schweren Holzabdeckung des Maischbottichs an und sog das berauschende Aroma des in heißem Wasser eingeweichten Gerstenmalzes ein. Dieser Teil der Whiskyherstellung hatte ihn schon als kleines Kind fasziniert. Sein Vater hatte ihn hochheben müssen, damit er in die schaumigen Tiefen des Kessels hinabblicken konnte. Und noch immer fand er es verblüffend, wie aus dieser Flüssigkeit, einem Gemisch aus heißem Wasser und gemahlener, getrockneter Gerste, ein so edles und feines Endprodukt wie Malt Whisky entstehen konnte. Aber vielleicht war das ja auch der Grund, weshalb er immer noch mit solch glühender Leidenschaft an der Brennerei hing.

Selbst an diesem Tag, da für ihn so viel auf dem Spiel stand, hatte er wie gewohnt nach getaner Arbeit seinen Rundgang über das Brennereigelände gemacht. Jetzt verschloss er den Bottich wieder und ging über den Stahlgittersteg zur Treppe. Seine Schritte hallten in dem weiten Gewölbe wider. Er trat ins Freie, schloss die Tür des Gebäudes hinter sich ab und blieb dann einen Augenblick im Hof stehen, um den Blick über sein Reich schweifen zu lassen.

Für Mitte Mai war es hier oben in den Highlands ein relativ milder Tag gewesen, und jetzt, am Spätnachmittag, hielt die Luft immer noch die Wärme der Sonne. Vor ihm fiel der Rasen sanft bis zu dem Haus ab, das sein Ururgroßvater erbaut hatte, ein Zeugnis viktorianischer Romantik aus behauenem Stein. Er wandte sich zu dem Gebäude um, das er soeben verlassen hatte. Zur Linken stand das Lagerhaus, das einst den riesigen Malzboden beherbergt hatte, mit den beiden charakteristischen Pagodendächern, die zur Belüftung der Darren gedient hatten; zur Rechten das Brennhaus mit den kupfernen Destillationskesseln und die stillgelegte Mühle. Zwar war hier seit den frühen Sechzigerjahren keine Gerste mehr gemahlen worden, doch Donalds Vater hatte das Mühlrad wieder instand gesetzt, und das Wasser plätscherte fröhlich über seine Schaufeln. In dem Gebäude war jetzt das Besucherzentrum der Brennerei untergebracht.

Die Mühle wurde von dem Bach gespeist, der von den Ausläufern der Cairngorms herabfloss und wenig später in den nahen Spey mündete. Doch das Wasser, das für den Whisky verwendet wurde, kam aus der Quelle, die aus den sanft gewellten Wiesen auf dem Brennereigelände sprudelte. Bei der Whiskyherstellung kam der Qualität des Wassers eine entscheidende Bedeutung zu, und es bildete mit das wichtigste Kapital einer jeden Highland-Brennerei.

Der Brodie, der die Brennerei Benvulin getauft hatte, musste eine rege Fantasie besessen haben –ben war schließlich eine Variante des gälischen Wortes beinn, das Berg oder Hügel bedeutete. Der zweite Teil des Namens, vulin – abgeleitet vom gälischen mhoulin für Mühle –, war dagegen schon etwas zutreffender.

Morgen würde er Hazel hierher locken – eine ziemlich direkte Methode, sie an ihre Herkunft zu erinnern und an das, was er ihr zu bieten hatte, doch die indirekten Methoden hatte er allmählich gründlich satt. Die Anrufe, die Briefe, die spontanen Verabredungen zum Essen in verschwiegenen Londoner Restaurants, bei denen sie beide um ihre wahren Gefühle herumgeredet hatten; all dies hatte seinen Sinn gehabt, aber nun war es an der Zeit, dass Hazel sich der Wahrheit stellte. Seine Freunde, John und Louise Innes, hatten ihren Teil dazu beigetragen, Hazel herzulocken, indem sie den Wochenend-Kochkurs arrangiert hatten. Aber nun war die Reihe an ihm – und zwar schon sehr bald, wie ihm ein Blick auf die Uhr verriet. Sein Puls beschleunigte sich.

Das Handy an seinem Gürtel vibrierte. Er zog es aus der Halterung und las die angezeigte Nummer. Alison. Verdammt! Er zögerte einen Moment, dann ließ er es klingeln, bis der Anruf auf die Mailbox weitergeleitet wurde. Wenn es eine Komplikation gab, die er an diesem Wochenende absolut nicht brauchen konnte, dann war es die Sache mit Alison. Er hatte ihr gesagt, er habe einen geschäftlichen Termin – und das stimmte ja auch. Er würde sich mit Heather treffen, der Geschäftsführerin der Brennerei, die wiederum darauf bestanden hatte, Pascal Benoit dazu einzuladen, den Franzosen, dessen Konzern nur darauf wartete, Benvulin zu übernehmen. Gewiss, er konnte Alison nicht auf unbestimmte Zeit vertrösten, aber auf ein paar Tage mehr oder weniger kam es wohl nicht an – und dann würde er einen Weg finden, sie ein für alle Mal loszuwerden.

Mit solchen Gedanken steuerte er fröhlich pfeifend auf das Haus zu, um sich für den Abend frisch zu machen.

Tim Cavendish setzte sich an den Schreibtisch seiner Frau und machte sich daran, die Schubladen zu durchsuchen. Er ging gerne systematisch vor, und seine Zeit war begrenzt, da Holly, die mit ihren vier Jahren jeden Vorschlag, doch einen Mittagsschlaf zu machen, mit Entrüstung von sich wies, bestimmt bald aufwachen würde. Er sagte sich, dass er hier nur einen Job erledigte; ein Projekt, an das er herangehen konnte wie an jedes andere. Ja, er konnte sich sogar einreden, dass er nur etwas suchte – einen verlegten Notizzettel oder eine Quittung. Vielleicht könnte er damit den tief verwurzelten Widerwillen unterdrücken, den er bei dem Gedanken empfand, in die Privatsphäre einer Therapeutenkollegin einzudringen. Aber Hazel, so sagte er sich, hatte jedes Recht auf solche Rücksichtnahme verwirkt.

Bleistifte, Gummis, Heftklammern – all der harmlose Kleinkram, den man in jedem Büro finden konnte. Hazels Terminkalender lag aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch; ihre Patientenakten bewahrte sie in einem separaten Schrank auf. Frustriert lehnte er sich zurück und hob gedankenverloren die Ecke der Schreibunterlage an.

Das Foto mit den Eselsohren lag nahe am Rand, so, als würde es regelmäßig zur Hand genommen. In verblassten Farben blickte ihm eine lächelnde Hazel entgegen. Sie trug Shorts, und ihre sonnengebräunten Beine schienen gar nicht enden zu wollen. Ihr Gesicht war jünger und weicher, und er konnte mehr denn je die Ähnlichkeit mit Holly erkennen. Neben ihr saß ein großer, kräftiger Mann in Jeans, der den Arm ebenso beiläufig wie besitzergreifend um ihre Schultern gelegt hatte. Er hatte ein offenes Gesicht mit markanten Zügen, und er trug sein dichtes Haar ein wenig länger, als es derzeit modern war. Hinter ihnen breitete sich das purpurrote Meer einer mit Heidekraut bedeckten Moorlandschaft aus. Schottland im Sommer.

Sein erster Impuls war, das Foto zu zerreißen – aber nein, sollte sie es doch behalten. Sie würde wenig genug haben, wenn er einmal mit ihr fertig war.

Etwas Weißes lugte an einer Seite unter der Fotografie hervor. Er stieß das Bild mit der Fingerspitze weg, als wäre es unrein.

Eine Visitenkarte. Du liebe Zeit! Der Mann hatte ihr doch tatsächlich seine Visitenkarte gegeben, wie ein Staubsaugervertreter, der an der Haustür klingelt. Im Gegensatz zu dem Foto war die Karte neu und blendend weiß, und sie verriet ihm alles, was er wissen wollte: Donald Brodie, stand da, Benvulin Distillery, Nethy Bridge, Invernessshire.

Tim spürte, wie eine eiskalte Gelassenheit von ihm Besitz ergriff. Er steckte die Karte ein und schob das Foto wieder in sein Versteck unter der Schreibunterlage. Die Sekunden schienen sich zu Minuten zu dehnen, und in der Stille hörte er das Pumpen seines eigenen Herzens.

Er wusste jetzt, was er zu tun hatte.

»Und wenn sie nun kein Fleisch essen?« Louise Innes stand am Spülbecken in der Küche und arrangierte Blumen für die abendliche Tischdekoration in Vasen. Obwohl sie ihrem Mann den Rücken zuwandte, wusste John genau, dass sie die Stirn gerunzelt hatte – die kleine Falte zwischen ihren Brauen schien sich von Mal zu Mal tiefer einzugraben. »Bist du denn nicht auf die Idee gekommen, sie mal zu fragen?«

»Ich dachte, wenn jemand ein Problem damit hätte, würde er oder sie schon selbst Bescheid sagen«, erwiderte John. Es gelang ihm, seine Stimme ruhig zu halten, doch die Heftigkeit, mit der er den Teig für die Crêpes mit Kräutern und Pilzen schlug, die für heute Abend als Vorspeise geplant waren, verriet seine Verärgerung. Die Küche war sein Reich, der Rest des Hauses gehörte Louise – aber sie konnte es nicht lassen, ihm in seine Menüplanung hineinzureden.

»Und ausgerechnet Hirsch –«

»Ach, Louise, das ist schließlich eine Highland-Spezialität. Und Hazel Cavendish ist eine alte Schulfreundin von dir – das wüsstest du doch, wenn die kein Fleisch essen würde.«

»Dieses ganze Wochenende war von vorne bis hinten eine Schnapsidee«, entgegnete Louise giftig. Je gereizter sie war, desto ausgeprägter wurde ihr englischer Akzent – als wolle sie sich mit aller Deutlichkeit von seinem Schottentum distanzieren. »Ich habe Hazel seit dem Sommer nach unserem Studienabschluss nicht mehr gesehen, und ich halte von der ganzen Geschichte rein gar nichts. Sie ist verdammt noch mal verheiratet, und ein Kind hat sie auch. Du hast dich schon immer von Donald Brodie zu Dingen überreden lassen, von denen du besser die Finger gelassen hättest.« Seine Frau nahm ein halbes Dutzend Rosen aus dem Eimer voll Blumen, den John am Morgen aus Inverness mitgebracht hatte, legte sie auf ein Schneidbrett und kürzte die Stängel mit einem scharfen Messer um exakt zwei Zentimeter. Die Art, wie sie den unbarmherzigen Streich vollführte, ließ ihn an eine Exekution denken.

Louise hatte im vergangenen Jahr einen Kursus für Blumenarrangements besucht, und sie hatte dieses Projekt mit der gleichen Gründlichkeit durchgezogen, die alle ihre Aktivitäten kennzeichnete. Doch obwohl sie jetzt in der Lage war, regelrechte Bilderbuch-Sträuße zusammenzustellen, die ihre Gäste in wahre Begeisterungsstürme versetzten, hatte er das Gefühl, dass ihren Arrangements irgendwie die kreative Note fehlte – eine letzte, nicht ganz perfekt eingesteckte Blüte vielleicht –, die das Ganze zu einer wirklich befriedigenden Komposition gemacht hätte.

»Wenn das so ist, dann solltest du vielleicht auch einen Teil der Verantwortung übernehmen«, fuhr er sie an. »Du hast mich schließlich mit Donald bekannt gemacht, vergiss das nicht.« Er wusste, dass er sich rechtfertigen musste, denn schließlich hatte er sich von Donald beschwatzen lassen, Hazel und ihre Freundin kostenlos bei ihnen logieren zu lassen, und das wiederum bedeutete, dass sie an diesem Wochenende zu Beginn der Hauptsaison zahlende Gäste abweisen mussten. Andererseits hatte er gute Gründe, es sich mit Donald Brodie nicht zu verscherzen – und je weniger Louise darüber wusste, desto besser.

Louises einzige Antwort auf seine Attacke war die beredte Silhouette ihres Rückens. Mit einem Seufzer rührte John den Teig fertig und machte sich anschließend daran, die Pilze mit einem feuchten Tuch abzureiben. Es war sinnlos, Louise zu kritisieren. Es waren schließlich gerade die Eigenschaften, die ihn an ihr so nervten, die dies alles überhaupt erst möglich gemacht hatten.

Vor zwei Jahren hatte er seinen Job als Makler für gewerbliche Immobilien in Edinburgh aufgegeben und das alte Bauernhaus zwischen Coylumbridge und Nethy Bridge am Rande des Abernethy Forest erworben. Wohnhaus und Scheune waren in einem fürchterlichen Zustand gewesen, aber der jüngste Immobilienboom in Edinburgh hatte ihm das nötige Kleingeld für die Renovierung verschafft.

Louise hatte anfangs noch ihrer Arbeit und ihrem Freundeskreis nachgetrauert, doch bald schon hatte sie sich mit dem gewohnten Eifer in das Projekt gestürzt. Er war fürs Einkaufen und Kochen zuständig, während sie die Reservierungen bearbeitete und die Gästezimmer herrichtete – denn Angestellte konnten sie sich vorläufig noch nicht leisten.

Er viertelte die Pilze, indem er den Ballen der linken Hand auf den Messerrücken legte, und hackte sie anschließend fein. Mit einem Seitenblick registrierte er, dass Louise immer noch mit dem Rücken zu ihm stand, den Kopf über den Blumenstrauß geneigt. Er beobachtete sie, und seine Wut begann sich zu legen. Sie war vielleicht nicht einverstanden mit den Plänen für das Wochenende, aber sie würde ihr Bestes tun, um für einen reibungslosen Ablauf zu sorgen.

»Du freust dich bestimmt, Hazel wiederzusehen, nicht wahr?«, fragte er. Es war ein Friedensangebot.

Louises Schultern entspannten sich, und sie legte den Kopf schief, sodass ihr gepflegtes blondes Haar zur Seite fiel, als hätte ein Vogel seinen Flügel ausgestreckt. »Es ist lange her«, antwortete sie. »Ich weiß gar nicht so recht, worüber ich mit ihr reden soll.«

»Na, da wird Donald bestimmt gerne einspringen«, sagte er leichthin, um sich schon im nächsten Moment für seine unkluge Bemerkung zu schelten. Darauf musste Louise zwangsläufig etwas erwidern.

»Ja, genau da liegt das Problem.« Sie drehte sich zu ihm um. In der Hand hielt sie einen Strauß Duftwicken. »Donald springt immer gerne ein, und zwar, ohne einen Gedanken an die Folgen zu verschwenden. Er ist genau so ein Nichtsnutz wie sein Vater, wenn nicht noch schlimmer. Heather ist stinkwütend – und wir müssen schließlich auch nach diesem Wochenende noch mit ihr auskommen.«

»Ich wüsste nicht, was Heather daran auszusetzen haben sollte«, erwiderte er ungerührt. »Hazel ist doch schließlich ihre Cousine. Man sollte meinen, dass sie sich freut –«

»Du kapierst doch gar nichts!« Rote Flecken tauchten auf Louises Wangen auf. »Wie kannst du nur so schwer von Begriff sein, John? Du weißt doch, wie kritisch es um die Brennerei bestellt ist –«

»Ich verstehe aber immer noch nicht, was das mit dem Besuch deiner Freundin Hazel zu tun hat.« Er legte eine Knoblauchzehe auf das Schneidbrett und zerhackte sie mit unnötigem Kraftaufwand.

Louise kehrte ihm wieder den Rücken zu, just als die ersten Strahlen der im Südwesten sinkenden Sonne durch das Küchenfenster fielen und ihr helles Haar mit einer Aureole umgaben, die sie wie ein mittelalterliches Heiligenbild aussehen ließ.

»Warum bist du denn plötzlich so wild entschlossen, eine Frau in Schutz zu nehmen, die du noch nie gesehen hast?« Ihre Stimme war kalt und fest, ein Warnzeichen, das er inzwischen sehr wohl zu deuten wusste. Wenn es ihm jetzt nicht gelänge, den Streit beizulegen, würde er sich in den Abend hinein fortsetzen – und das durfte er auf keinen Fall riskieren.

»Hör mal zu, Schatz –«

»Es sei denn, es gibt da etwas, was du mir nicht gesagt hast.« Sie stand regungslos da, die Hände um die Vase mit dem fertigen Blumenarrangement gelegt.

»Sei nicht albern, Louise. Warum hätte ich es dir denn verheimlichen sollen, wenn ich dieser Frau schon mal begegnet wäre?«

»Da fallen mir spontan eine ganze Menge Gründe ein.«

Er schabte die Pilze und den Knoblauch in den vorbereiteten Topf mit zerlassener Butter und überlegte sich, was er darauf antworten sollte. Er würde niemals lernen, wie er sich zu verhalten hatte, wenn sie in dieser Stimmung war. Er hatte es schon mit Spott und Sarkasmus probiert, mit wütendem Leugnen – und alles ohne den geringsten Erfolg. Aber je länger er zögerte, desto sicherer würde sie sein Schweigen als Eingeständnis seiner Schuld interpretieren. »Louise –«

Sie fuhr herum, und er sah an ihrem Gesichtsausdruck, dass es zu spät war. Er hatte den Kürzeren gezogen; der Abend war nicht mehr zu retten. »Was ist bloß in dich gefahren, John?«, zischte sie ihn an. »Wie konntest du dir nur einbilden, dass ich es gutheißen würde, wenn du dich dafür missbrauchen lässt, die Ehe einer anderen Frau zu sabotieren?«

Der Zug raste weiter Richtung Norden, und bald wichen die Wiesen und Felder Northumberlands und die sanften Hügel der Scottish Borders Granitfelsen und dichten Wäldern, und diese wiederum den mit Heidekraut bewachsenen Hochmooren. Gemma blickte aus dem Fenster, fasziniert von dem wirren Muster aus dunkleren und helleren Flecken, das die Moorlandschaft überzog, als habe jemand eine von ungeschickten Kinderhänden gezeichnete Weltkarte über das Hochland gebreitet.

»Sie brennen das Heidekraut ab«, erklärte Hazel auf Gemmas Frage hin den merkwürdigen Effekt. »Die nachwachsenden Pflanzen dienen als Nahrung für die Moorhühner.«

»Und die gelben Flecken?«

»Das tiefe Goldgelb ist Stechginster. Wunderschön anzuschauen, aber piekst gemein, wenn man hineinfällt. Und das etwas blassere Gelb«– Hazel deutete auf die blühenden Pflanzen, die die Bahngleise säumten –»ist Besenginster.«

»Und das weißt du alles noch von deiner Kindheit her?«, fragte Gemma. Hazel hatte ihr erzählt, dass sie als kleines Mädchen in dieser Gegend gewohnt hatte, bevor ihre Eltern mit ihr nach Newcastle gezogen waren.

»Ach…« Die Frage schien Hazel ein wenig aus der Fassung zu bringen. »Ich habe eine Zeit lang hier in der Gegend gearbeitet, gleich nach dem Studium.«

Noch bevor ihr Gemma weitere Details entlocken konnte, wurden sie durch die Ankunft des Teewagens unterbrochen. Kurz darauf erreichten sie den Bahnhof von Aviemore, der wie ein überdimensioniertes Puppenhaus aussah.

Mit großen Augen bestaunte Gemma die bunte Lebkuchenhaus-Architektur des Bahnhofsgebäudes. Hazel musste lachen, als sie ihren Gesichtsausdruck sah. »Das ist bei weitem das schönste Gebäude in ganz Aviemore«, sagte sie, als sie ihr Gepäck aus der Ablage wuchteten. »Der Bahnhof weckt große Erwartungen, aber Aviemore ist nur ein Zentrum des Ski- und Wandertourismus, und viel mehr hat die Stadt nicht zu bieten.«

Am Schalter der Autovermietung im Bahnhofsgebäude holten sie die Schlüssel ihres Mietwagens ab und traten dann hinaus in das Abendlicht. Auf den ersten Blick fand Gemma Hazels Einschätzung bestätigt. Die High Street war von Bergsportläden und Restaurants gesäumt; auch gab es einen modernen Supermarktkomplex. Zur Linken erhob sich auf einer grünen Anhöhe der steinerne Block des Hilton, zur Rechten, jenseits des Parkplatzes, befand sich das Polizeirevier. Doch im Osten, hinter dem Bahnhof, erhoben sich nebelverhangene Berggipfel, vergoldet vom Schein der Abendsonne.

»Fahren wir dorthin?«, fragte Gemma, als sie ihre Taschen im Kofferraum des roten Honda verstaut hatten, der auf dem Parkplatz für sie bereitstand, und deutete auf die Berge.

»Die Pension ist im Tal des River Spey. Aber hier in der Gegend kann man von jedem Punkt aus die Berge sehen«, fügte Hazel hinzu. Gemma glaubte, eine gewisse Wehmut aus ihrer Stimme herauszuhören.

»Du kennst den Weg?«, fragte sie mit wachsender Neugier, als sie sich anschnallten und Hazel die von der Autovermietung zur Verfügung gestellte Straßenkarte ins Handschuhfach legte.

»Ich kenne die Strecke«, antwortete Hazel, während sie aus dem Parkplatz herausfuhr, »aber nicht das Haus.«

Schon bald hatten sie die Häuser von Aviemore hinter sich gelassen und bogen in eine Nebenstraße ein, die über den Spey führte und dann in die Nadelwälder eintauchte. »Wir fahren jetzt unmittelbar an der Grenze der Rothiemurchus-Ländereien entlang«, erklärte Hazel. »Die gehören den Grants von Rothiemurchus – einer ziemlich einflussreichen Familie in diesem Teil der Welt.«

»Den Grants?«, fragte Gemma.

»Eine berühmte Highland-Familie. Ich bin – na, lassen wir das. Ist zu kompliziert.«

»Mit ihnen verwandt?«

»Sehr entfernt. Aber in den Highlands ist so gut wie jeder mit jedem verwandt. Inzest ist hier auf dem Land gang und gäbe.«

»Hast du denn noch Verwandte hier?«, fragte Gemma interessiert.

»Eine Tante und einen Onkel. Und eine Cousine.«

Gemma dachte an all die Stunden zurück, die sie in Hazels gemütlicher Küche in Islington verplaudert hatten. Hatte Hazel diese Verwandten nie erwähnt? Oder war Gemma nie auf die Idee gekommen, sie zu fragen?

In der Zeit, als Gemma und Hazel Nachbarinnen gewesen waren, hatte sich eine enge Freundschaft zwischen ihnen entwickelt. Doch im Rückblick wurde Gemma klar, dass sich ihre Gespräche meist um Kinder, Essen, Gemmas Beruf und – wie sie beschämt zugeben musste – um Gemmas Probleme gedreht hatten. Wenn sie sich überhaupt gefragt hatte, wie Hazel es immer wieder schaffte, das Gespräch von ihrem eigenen Privatleben abzulenken, dann hatte Gemma es als tief verwurzelte Gewohnheit einer Therapeutin abgetan. Aber was wusste sie denn wirklich über Hazel?

»Als du nach dem Studium wieder hierher zurückgekehrt bist…«, fragte sie zögernd, »was hast du da gemacht?«

»Gekocht«, antwortete Hazel mit verbittertem Unterton. »Für Jagdgesellschaften auf den Landgütern und Hütten der Umgebung.«

»Jagdgesellschaften? So nach dem Motto: Die Queen fährt jedes Jahr im August zur Moorhuhnjagd nach Balmoral?«

Hazel lächelte. »Wir sind hier übrigens gar nicht so weit von Balmoral. Und du hast Recht, es waren Moorhühner, aber auch Fasanen und Rotwild und überhaupt alles, was man mit einer Flinte abknallen konnte. Was ich da an toten Tieren zu sehen bekommen habe, reicht mir für den Rest meines Lebens.« Hazel verlangsamte die Fahrt und fügte hinzu: »Wir müssten gleich da sein. Halt die Augen offen – es ist auf der linken Seite.«

Gemma hatte gedankenverloren auf das glitzernde Band des Flusses gestarrt, das sich durch die Wiesen wand und dann und wann in einem dichten Gehölz verschwand, und sie hatte sich vorzustellen versucht, wie es wohl wäre, in einer solchen Umgebung aufzuwachsen. »Worauf soll ich denn genau achten?«

»Ein weißes Haus, ein wenig abseits der Straße. Es ist bestimmt ausgeschildert.« Hazel fuhr jetzt noch langsamer, und sie umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden. Seltsam, dachte Gemma; wieso ist Hazel so besorgt, dass sie eine Abzweigung verpassen könnte?

Schweigend fuhren sie noch ein, zwei Kilometer weiter; dann bogen sie um eine Kurve, und Gemma sah etwas Weißes zwischen den Bäumen aufblitzen. »Da!« Auf einem kleinen Schild, das auf einem Torpfosten befestigt war, stand: INNESFREE – BED AND BREAKFAST INN.

Hazel bremste und bog in die Einfahrt ein. Das Haus lag nach Norden, mit der Seitenfront zur Straße. Sein schlichter quadratischer Grundriss verriet das ehemalige Bauernhaus, doch es machte einen komfortablen und einladenden Eindruck. Rechts vom Haus stand ein weiteres Gebäude, und im Hintergrund konnten sie den Fluss schimmern sehen.

Dankbar registrierte Gemma den Rauch, der aus dem Schornstein aufstieg, denn beim Aussteigen hatte sie als Erstes bemerkt, dass es merklich kühler geworden war, seit sie Aviemore verlassen hatten. Hazel zitterte in ihrem ärmellosen Kleid und schlang fröstelnd die Arme um die Brust.

»Soll ich deine Strickjacke holen?«, fragte Gemma und steuerte den Kofferraum an, doch Hazel schüttelte den Kopf.

»Nein, es geht schon. Lassen wir das Gepäck erst mal im Auto.« Sie marschierte auf die Haustür zu, und Gemma folgte ihr, wobei sie sich interessiert umblickte.

Die Tür ging auf, und ein Mann kam heraus, um sie zu begrüßen. Er breitete die Arme in einer Willkommensgeste aus und sagte: »Sie sind also Hazel, habe ich Recht? Ich bin John, Louises Mann.« Er nahm Hazels Hand und drückte sie herzlich, bevor er sich Gemma zuwandte. »Und Sie sind Hazels Freundin –«

»Gemma. Gemma James.« Sie schüttelte ihm die Hand und nutzte die Gelegenheit, sich den Mann etwas genauer anzusehen. Sein dunkles Haar, das er ein wenig länger als zurzeit üblich trug, begann bereits schütter zu werden; er trug eine Nickelbrille, hatte ein gemütliches Gesicht und, wie es sich für einen guten Koch gehörte, einen kleinen Bauchansatz.

»Wir haben Sie in der umgebauten Scheune untergebracht – das ist unser bestes Zimmer«, ließ John sie wissen. »Kommen Sie doch rein, damit Sie Louise Hallo sagen können; Ihr Gepäck hole ich dann später.« Er führte sie in eine Diele mit Steinfliesen, deren Wände mit Drucken von Jagd- und Angelszenen nebst Jagdtrophäen dekoriert waren; an Haken hingen Ölzeugjacken, und in einem Holzbottich steckten Krockethämmer, Badmintonschläger und Angelruten. Einen auffallenden Kontrast zu diesem Durcheinander von abgenutzten Geräten bildete eine Vase mit einem perfekt arrangierten Frühlingsstrauß, die auf einem kleinen Tisch stand.

Aus einer Tür am Ende des Flurs kam ihnen eine Frau entgegen. Sie war eine adrette Erscheinung, zierlich wie ein Vogel, und ihr blondes Haar war zu einer perfekt sitzenden Kurzhaarfrisur gestylt, die Gemma mit ihrem wirren kupferroten Lockenschopf nur mit Neid betrachten konnte.

»Hallo, Hazel«, sagte die Frau, als sie vor ihnen stand, und spitzte die Lippen zu einem Kuss, der ein paar Zentimeter neben Hazels Wange in der Luft landete. »Wie schön, dich zu sehen. Ich bin Louise«, setzte sie an Gemma gewandt hinzu. »Kommen Sie doch noch auf einen Drink mit in den Salon, bevor wir das Essen servieren. Die anderen sind zum Fluss hinuntergegangen, um Appetit zu bekommen, aber sie dürften bald wieder hier sein.«

Sie führte ihre Gäste nach rechts in ein Wohnzimmer. In dem einfachen Kamin flackerte ein Kohlenfeuer; die Möbel waren in einer ungewöhnlichen, aber nicht unattraktiven Kombination von schottischen Tartanmustern in Malventönen bezogen. In einer Vase auf der Fensterbank neigten einige lilafarbene Tulpen elegant die Häupter, und mit Freude registrierte Gemma, dass an einer Wand ein altes Klavier stand.

Kaum hatten Gemma und Hazel Platz genommen, da kam John Innes schon mit einem Tablett herein, auf dem mehrere Becher aus geschliffenem Glas und eine Whiskyflasche standen. »Es ist natürlich ein Benvulin«, sagte er, während er gut einen Fingerbreit von der bernsteingelben Flüssigkeit in jedes der Gläser goss. »Achtzehn Jahre alt. Alles andere wäre dem Anlass ja wohl kaum angemessen«, fügte er mit einem viel sagenden Blick in Hazels Richtung hinzu.

»Benvulin?«, wiederholte Gemma fragend.

Nach kurzem Zögern antwortete Hazel: »Das ist eine Brennerei hier in der Nähe. Ziemlich berühmt.« Sie hielt sich das Glas ein paar Sekunden lang unter die Nase, bevor sie daran nippte. »Überhaupt ist die ganze Region Speyside berühmt für ihre Single-Malt-Whiskys. Manche behaupten ja, dass es die perfekte Kombination von Wasser, Torf und Gerste ist.« Sie nahm noch einen Schluck, und Gemma sah, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Aber bist du denn nicht dieser Meinung?« Gemma folgte Hazels Beispiel und nahm einen ordentlichen Schluck von ihrem Whisky. Sofort brannte ihre Kehle wie Feuer, und sie musste husten, bis ihr die Tränen in die Augen stiegen. »’tschuldigung«, stieß sie keuchend hervor.

»Ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig«, meinte John. »Es sei denn, man hat seinen ersten Whisky schon in der Wiege genießen können, wie unsere Hazel hier vermutlich auch.«

»So weit würde ich dann doch nicht gehen.« Hazels verkrampftes Lächeln wirkte eher gereizt als amüsiert.

»Ist das so Brauch in den Highlands, dass man schon den Säuglingen Whisky zu trinken gibt?«, fragte Gemma. Sie fragte sich auch, was ihr hier eigentlich alles an Zwischentönen entging.

»Ist ein bewährtes Mittel, wenn die Kleinen Zähne bekommen«, antwortete Hazel, bevor John oder Louise etwas sagen konnten. »Und bei vielen anderen Wehwehchen. Die alten Leute schwören, dass ein kleiner Schluck morgens zum Porridge sie gesund und munter hält.« Sie leerte ihr Glas mit einem Schluck und stand auf. »Aber jetzt würde ich mich gerne vor dem Abendessen noch ein bisschen frisch machen, und Gemma will sicher –«

Sie brach ab, und als Gemma sich umdrehte, sah sie einen Mann in der Tür stehen und die Runde interessiert betrachten. Er war groß und breitschultrig, hatte dichtes, rotbraunes Haar und einen sorgfältig gestutzten rötlichen Bart. Und er starrte Hazel an, die wie vom Donner gerührt dastand.

Jetzt ging er auf sie zu und streckte die Hand aus. »Hazel!«

»Donald.« So, wie Hazel seinen Namen aussprach, war es eher eine Feststellung als eine Begrüßung. Als sie keine Anstalten machte, seine Hand zu ergreifen, ließ er sie wieder sinken, und sie standen einander in verlegenem Schweigen gegenüber.

Während Gemma die Szene beobachtete, wurden ihr plötzlich zwei Dinge klar. Das Erste war, dass Hazel, wie sie jetzt mit leicht geöffnetem Mund und leuchtenden Augen dastand, eine wirklich schöne Frau war und dass ihr das bisher nie aufgefallen war.

Das Zweite war die Tatsache, dass dieser kräftige Mann in dem rot-schwarz gemusterten Kilt Hazel offensichtlich sehr gut kannte.

2. Kapitel

Es war wie das Schlimmste, was die schottischen Highlands zu bieten haben, nur schlimmer; kalt, nackt und gemein, kaum Bäume, kaum Heidekraut, überhaupt kaum eine Spur von Leben.

Robert Louis Stevenson,

»Reise mit dem Esel durch die Cevennen«

Carnmore, November1898

Livvy stemmte sich mit der Schulter gegen die Küchentür, um gegen den Wind gewappnet zu sein, der mit Urgewalt daran rüttelte, und hob vorsichtig die Klinke an. Doch ihr schmächtiger Körper war der heftigen Bö nicht gewachsen, und ihre Vorbereitungen erwiesen sich als nutzlos. Der heulende Wind erfasste die Tür und schleuderte sie ihr entgegen, riss sie mit wie eine Stoffpuppe.

Sie stürzte auf die Steinfliesen, und die eisige Luft drang beißend in ihre Lungen. Mit aller Kraft stemmte sie sich hoch und arbeitete sich auf Händen und Knien hinter dem dürftigen Schutzschild der Tür hervor. Der Schnee peitschte ihr ins Gesicht und in die Augen, sodass sie kaum etwas erkennen konnte, doch sie kroch weiter voran, mit gesenktem Kopf, den Blick unverwandt auf das dunkle Bündel gerichtet, das vor den Verandastufen lag. »Charles?«, rief sie, doch ihre Stimme war nur ein Krächzen, das der Wind sogleich davontrug. Keine Antwort.

Je näher sie kam, desto mehr Einzelheiten konnte sie erkennen: Die dunkle Gestalt hatte die Größe und Form eines Menschen – das Dunkle war ein Mantel, mit Raureif überzogen. Außer sich vor Sorge wühlte sie sich durch die Schneewehe, die sich unter dem Küchenfenster angehäuft hatte.

Der Mann lag zusammengerollt am Fuß der Treppe, den Kopf unter den Armen verborgen. »Charles!« Livvy rüttelte an seiner Schulter, rollte ihn halb auf den Rücken, um sein Gesicht sehen zu können, und strich ihm die nassen, kalten Haarsträhnen aus der Stirn. Seine Haut war blau angelaufen, die Wimpern mit winzigen Eiskristallen durchsetzt, aber sie sah, dass seine Lippen sich bewegten.

»Ins Haus! Wir müssen dich ins Haus schaffen!«, rief sie und versuchte ihn hochzuheben. Doch seine Glieder waren schlaff, eine tote Last in ihren Armen, und von den Windböen hin- und hergeworfen, fand sie nicht genügend Halt, um ihn die Stufen hinaufschleppen zu können. Sie schob und zerrte, sie redete flehend auf ihn ein, doch durch die Kälte verlor sie allmählich das Gefühl in Händen und Füßen, und ihre Bewegungen wurden immer unbeholfener.

Schließlich sank sie erschöpft in den Schnee. »Charles, o Charles!«, schluchzte sie und wischte sich über die Wangen, wo ihre Tränen im Nu zu Eis gefroren. Dann schluckte sie krampfhaft und nahm all ihre Entschlossenheit zusammen. Er hatte es mit letzter Kraft bis nach Hause geschafft – wie, das wusste Gott allein –, und jetzt hing alles von ihr ab.

Doch sie musste Hilfe holen, sonst würde er hier erfrieren, und sie mit ihm.

Gemma rückte unauffällig ein wenig von dem jungen Mann neben ihr ab, dessen warmes Knie sie an ihrem Oberschenkel spürte, und lächelte ihn höflich an. Nicht dass er mit ihr geflirtet hätte – zumindest hoffte sie das sehr. Aber für die Dauer des Wochenend-Kochkurses waren die kleinen quadratischen Tische, an denen die Gäste normalerweise nach Zimmern getrennt frühstückten, zusammengerückt worden, und so saßen nun die sechs Personen, die sich zum Abendessen versammelt hatten, ein wenig dichter gedrängt, als es Gemma behagte. Das Zimmer war zudem überheizt, und wenngleich das Kohlenfeuer, das im Kamin loderte, für eine gemütliche Atmosphäre sorgte, waren die Gesichter rings um den Tisch alle von einem feuchten Glanz überzogen.

Zweifellos war dieses innere Glühen zu einem nicht geringen Teil auf den Whisky zurückzuführen, den sie als Aperitif genossen hatten, und auf den Wein, der bei Tisch reichlich floss. Dabei waren sie noch nicht einmal beim Dessert angelangt, dachte Gemma und stöhnte innerlich auf. Als Vorspeise hatte es hauchdünne Crêpes mit Waldpilzen gegeben, gefolgt von Hirschfilet in Johannisbeergelee mit Bergen von köstlichen Röstkartoffeln und knackigen grünen Bohnen. Jetzt beäugte Gemma die letzte Scheibe Hirschbraten auf ihrem Teller mit einem Gefühl, das der Verzweiflung nahe kam. Es war zu gut, um es liegen zu lassen, doch sie würde platzen, wenn sie auch nur noch einen Bissen davon aß. Mit einem Seufzer schob sie ihren Teller weg und blickte sich im Zimmer um. Ihr fiel auf, dass Hazel ihr Fleisch nur geschickt auf dem Teller hin und her geschoben hatte, ohne irgendetwas davon zu essen.

Passend zu den Sportgeräten, die sie in der Diele gesehen hatten, waren die weiß getäfelten Wände des Speisezimmers ringsum mit sorgsam handkolorierten Darstellungen von Fischen dekoriert. Auf den ersten Blick hatte Gemma geglaubt, die Fische seien direkt auf die Wände gemalt, doch als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass sie aus Papier ausgeschnitten waren. Die Abbildungen unterschieden sich in der Größe ebenso wie in der künstlerischen Qualität, aber bei allen Exemplaren schien es sich um Arten zu handeln, die von Sportfischern gefangen wurden, wie Forellen oder Lachse. Gemma konnte nur raten, da sie den Tieren bisher ausschließlich auf dem Teller begegnet war.

»Die sind übrigens alle handgemalt«, bemerkte der junge Mann neben ihr, der ihrem Blick gefolgt war. Er war ihr als Martin Gilmore vorgestellt worden, John Innes’ sehr viel jüngerer Bruder. »Das war schon Tradition in diesem Haus, bevor John es gekauft hat. Jeder, der einen Fisch von mehr als sieben Pfund Gewicht fängt, muss die Umrisse genau nachzeichnen und anschließend ausmalen.«

»Ist da auch einer von Ihnen dabei?«, fragte Gemma und deutete mit dem Kopf in Richtung Wand. Martin hatte durchaus etwas von einem Künstler an sich, mit seinem schmalen, asketischen Gesicht und dem kurz geschorenen Haar, das seine scharfe, markante Nase noch zusätzlich betonte. In einem Nasenflügel entdeckte Gemma ein winziges Loch. Den dazugehörigen Stecker hatte Martin offensichtlich herausgenommen – vielleicht, weil er fürchtete, John könnte etwas dagegen haben.

»Ich bin doch nicht verrückt«, antwortete Martin und verzog das Gesicht. »Ich bin ein Stadtmensch, aufgewachsen in Dundee. Mit Jagd und Angeln hab ich absolut nichts am Hut.« Sein Akzent, der anfangs »englischer« als der seines Bruders geklungen hatte, wurde breiter und breiter, je tiefer der Pegel in seinem Glas sank.

»Oh«, erwiderte Gemma verwirrt. »Ich hatte angenommen, dass John aus dieser Gegend stammt, aber da muss ich mich wohl verhört haben –«

»Nein, Sie haben schon richtig gehört«, bestätigte Martin. »Wir sind Halbbrüder. Unsere Mutter hat noch einmal geheiratet, und ich bin das Produkt ihres zweiten Frühlings.«

Da sie nicht recht wusste, was sie auf den zweiten Teil seiner Bemerkung erwidern sollte, konzentrierte Gemma sich auf den ersten. »Aber Sie stehen sich doch recht nahe, Sie und John?«

»Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war ich gerade mit der Schule fertig.« Martin blickte sich verstohlen im Zimmer um, als wolle er sich versichern, dass sein Bruder nicht mithörte. Er rückte näher an Gemma heran und fuhr fort: »Ehrlich gesagt, ich hätte nie gedacht, dass ich ihn mal dazu kriegen würde, mich hierher einzuladen. Konnte mein Glück gar nicht fassen, als er anrief, um zu sagen, ich könnte am Wochenende kommen und an dem Kochkurs teilnehmen.«

Gemma wich seinem warmen Atem aus. »Sie interessieren sich fürs Kochen?«

Ehe Martin antworten konnte, kam Louise mit einem leeren Tablett herein. »Die Eiskönigin höchstpersönlich«, murmelte er und machte sich dann über die Reste seines Hirschfilets her.

»Hat es denn allen geschmeckt?«, fragte Louise und blickte mit einem strahlenden Lächeln in die Runde.

Die Frage wurde von der ganzen Gesellschaft uneingeschränkt bejaht. Während Louise die Teller einsammelte, wechselte sie mit jedem Gast leise ein paar Worte, was Gemma die Gelegenheit eröffnete, ihre Tischgenossen genauer in Augenschein zu nehmen.

Ihr gegenüber saß Heather Urquhart, die Hazel ebenfalls wie eine gute Bekannte begrüßt hatte. Die Frau war Mitte dreißig, groß und dünn, das Gesicht von alten Aknenarben gezeichnet, doch das Auffälligste an ihr war ihr langes, welliges schwarzes Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte. Während des gesamten Abendessens hatte sie sich angeregt mit ihrem rechten Tischnachbarn unterhalten, einem Franzosen namens Pascal Benoit.

Benoit schien beruflich irgendetwas mit Whisky zu tun zu haben, doch Gemma hatte noch nicht herausfinden können, was er genau machte. Er war ziemlich klein und rundlich, mit beginnender Glatze, doch seine dunklen Augen waren so kalt wie Flusskiesel.

Blieb noch Hazel, die neben Heather saß, und – am anderen Ende des Tisches – der Mann in dem roten Kilt, der Gemma als Donald Brodie vorgestellt worden war. Der peinliche Moment bei seinem Eintreten ins Wohnzimmer war durch die Ankunft der anderen Gäste rasch überspielt worden, doch ehe Gemma eine Chance gehabt hatte, Hazel beiseite zu nehmen und sie darüber zu befragen, hatte Louise sie schon zum Essen hereingerufen.

Jetzt, da sie zusah, wie Brodie sich zu Hazel neigte und ihr leise ins Ohr flüsterte, war ihre Neugier größer denn je. Hazel war wie ausgewechselt, sie strahlte über das ganze Gesicht und hing geradezu an den Lippen ihres Gesprächspartners. Es war offensichtlich, dass sie Donald Brodie kannte. Und ebenso offensichtlich war sie nicht überrascht gewesen, ihn in Innesfree anzutreffen. Welches Spiel spielte Hazel hier eigentlich?

War Brodie eine alte Flamme von ihr? Bemühte Hazel sich nur, das Beste aus einer peinlichen Situation zu machen, um sich und den anderen das Wochenende nicht zu verderben? Oder – bei dem bloßen Gedanken runzelte Gemma schon die Stirn – steckte vielleicht mehr dahinter?