Nymphenkuss - Wiebke Tillenburg - E-Book

Nymphenkuss E-Book

Wiebke Tillenburg

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Beschreibung

»Du machst mir Scheißangst«, murmelte er neben ihrem Ohr. »Und, warum umarmst du mich dann?« »Weil es mir noch mehr Angst machen würde, dich in Flammen aufgehen zu sehen.« Kaum hat sich Elina mit ihrer Magie vertraut gemacht, wird sie bereits auf die Probe gestellt. Ligund befindet sich weiterhin in Aufruhr. Zwar ist die Herrin gestürzt, doch ringt das kleine Land jetzt um eine neue politische Ordnung. Gleichzeitig erhebt sich der Ursprung aus seinem Versteck und holt zum letzten Schlag gegen Ligund aus. Elina verstrickt sich in einen alten Streit und entdeckt, wer wirklich hinter den Verschwörungen im Land steckt. Zuletzt kämpft sie gegen eine mächtige Gegnerin und die Reize ihrer eigenen Macht. Elina muss lernen, ihre Fähigkeiten zu kontrollieren, um nicht selbst zur Bedrohung zu werden. Kann sie den düsteren Verlockungen ihrer Magie widerstehen und Ligund vor dem Untergang bewahren? Nymphenkuss ist das Finale der Elina-Dilogie.

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Die Autorin

Wiebke Tillenburg, geboren 1989, wuchs in Aachen auf und studierte Germanistik und Geschichte. Bücher waren stets ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens, sodass sie früh entschied, selbst welche schreiben zu wollen. Inzwischen schreibt Wiebke in verschiedenen Genre und veröffentlichte bereits einige Bücher und Kurzgeschichten im Self-Publishing. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Koblenz, kocht in einem Kindergarten und sammelt allerlei Ideen, die ihr begegnen.

Für S., der keine Geschichte las, aber jede begleitet.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Fernsicht

Miriam

Wutgedanken

Staubtanz

Kontaktversuch

Verbindungen

Nymphengeflüster

Scherben

Atemringen

Spiegelung

Ehrenfrage

Loyalitätsverschiebung

Zeugenangst

Wortklarheit

Verantwortung

Eifersucht

Puppenspiel

Gedankenbilder

Muttergefühle

Impulssteuerung

Nachfolge

Tintenklekserei

Waldleben

Vogelflucht

Nymphe

Feuerspiel

Wutwanderung

Verbindungen

Gedankenmagnetismus

Blütenrausch

Seitenbrand

Morgenstund

Ausgebrannt

Wurzelsuche

Selbstfindung

Vorbereitungen

Erkenntnisbrand

Flüsterschatten

Schwachpunkt

Regengeflüster

Zukunftsmusik

Großstadtluft

Aschepfad

Zuckerkrusten

Balanceakt

Stolpertakt

Blendwerk

Bärenwut

Familientreffen

Bühnenpräsenz

Klingenwetzen

Auftakt

Formierung

Feuer

Wasser

Abklang

Nachklang

Epilog

Danksagung

Prolog

Staub und Zwielicht begrüßten Elina, als sie die nächste Tür öffnete. Zimmer für Zimmer hatte sie das Schloss abgesucht, um Jevan zu finden. Allerdings war es nicht leicht, einen unsichtbaren Jungen inmitten eines revolutionären Umsturzes aufzuspüren, der nicht gefunden werden wollte. Den Widerständlern war es gelungen, Jevan von Gesas leblosen Körper zu lösen und ihn aus dem Turmzimmer zu führen, doch in dem engen Treppenaufgang hatte er sich losgerissen und wieder unsichtbar gemacht. Niemand außer Elina hatte sich bemüht, ihn wiederzufinden. Die Widerständler waren beschäftigt mit ihrem Sieg über die Herrin, mit dem Plündern und Feiern. Sie hatten keine Zeit für einen verzweifelten Jungen.

Elina seufzte und schloss die Tür. Auf zur Nächsten. Sie hatte sich in die höher gelegenen, offenbar ungenutzten Räume des Dammstädter Schlosses vorgearbeitet. Hier war niemand außer ihr. Den Strom aus plündernden und neugierigen Menschen, die dem Widerstand in das Schloss gefolgt waren, hatte sie weit hinter sich gelassen. Nicht einmal ihre Stimmen oder die polternden Schritte drangen bis hierher. Vielleicht hatten sie das Schloss auch längst wieder verlassen, ihr Zeitgefühl hatte Elina verloren.

Die nächste Tür quietschte erbärmlich. Wie auch in den Räumen zuvor erwarteten sie verhängte Möbel, Staub und der Geruch nach alten Teppichen. Trotzdem verharrte sie auf der Schwelle. Elina fühlte eine andere Person, als atme diese ihre Anwesenheit in die abgestandene Luft.

»Jevan?« Ihre Stimme klang leiser als beabsichtigt. Jetzt, da sie glaubte, ihn gefunden zu haben, beschlichen sie Zweifel. War es klug, ihn nach Gesas Tod mit einem weiteren Schock zu konfrontieren? Jevan war außer sich gewesen, hatte getobt und sich verzweifelt an Gesas leblosen Körper geklammert. Ihm jetzt zu sagen, dass sie nicht so richtig tot war, erschien ihr plötzlich unsensibel. Ganz abgesehen davon, dass es absolut schräg war, was sie entdeckt hatte und sie es selbst noch nicht richtig verstand.

Ein Sperling flatterte an Elina vorbei in den Raum und ließ sich in einer aufwirbelnden Staubwolke auf dem Baldachin des Bettes nieder. Der Vogel brach die schwere Stimmung, die über dem Zimmer lag wie die weißen Laken über den Möbeln darin.

Er wird es nicht gut aufnehmen.

Elina zuckte zusammen. Es war verstörend, Gesas Stimme in ihrem Kopf zu hören, obwohl sie vor ihren Augen gestorben war. Wie krass das alles war! Natürlich würde Jevan es nicht gut aufnehmen. Elina seufzte. Sie wusste selbst nicht, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Seit sie Gesa durch das magische Portal in diese Welt gefolgt war, prasselten die Ereignisse endlos auf sie ein und schluckten viele Gefühle. War sie überrascht, ängstlich, beeindruckt, erleichtert? Freute sie sich? Elina konnte es nicht sagen. Wie so oft in den vergangenen Tagen verdrängte sie ihre Gedanken und konzentrierte sich auf ihre nächste Aufgabe: Jevan finden und ihm davon erzählen. Selbst wenn es ihn überforderte. Immer noch besser, als ihn in dem Glauben zu lassen, Gesa sei tot.

Nüsschen kam unter dem Bett hervor, huschte zu Elina und kletterte auf ihre Schulter. Das war der Beweis, dass Jevan hier sein musste. Seit er seine Angst vor dem Leuchtling überwunden hatte, hing Nüsschen mehr an ihm als an Elina. Sie strich über das weiche Fell. »Du hast ihn gleich gefunden, hmm?«

Nüsschen musste über einen Sinn verfügen, mit dem sie Jevan und auch sie immer und überall aufspürte.

Ganz schön zutraulich für einen Leuchtling, kommentierte Gesa.

»Sie ist unsere Lebensretterin.« Nüsschen hatte ihr und Jevan mehrfach aus der Not geholfen. Sei es mit dem sanften Licht, das in der Dunkelheit von ihr ausging, oder mit der extremen Körperwärme, mit der sie Jevan und Elina vor dem Erfrieren bewahrt hatte. Unfassbar, dass die Menschen in Ligund diese Tiere fürchteten. Angeblich explodierten die Tiere, wenn sie sich bedroht fühlten, um ihre Artgenossen zu schützen. Allerdings war Nüsschen ihnen als Einzelgängerin begegnet und hatte sich in bedrohlichen Situationen eher hilfreich als explosiv erwiesen. Elina nahm an, dass Leuchtlinge noch nicht ausreichend erforscht waren und sich die Sorge der Menschen auf Gerüchte und Legenden gründete.

Mit Nüsschen auf der Schulter ging Elina auf das Bett zu und zog vorsichtig den Baldachin zur Seite. Jevan lag zusammengekrümmt auf dem weißen Laken. Er war immer noch nackt, seine Kleidung hatte er abgelegt, um sich unsichtbar machen zu können. Seine Haut war schmutzig und zerschunden, übersät von den Spuren, die der Kampf mit der Ghula hinterlassen hatte. Die untote Wächterin hatte den geheimen Zugang zum Schloss bewacht und sie beinahe umgebracht.

Jevans Anblick schreckte sie weniger ab als die Stille. Er weinte nicht. Selbst sein Atem war nur bei genauem Hinsehen bemerkbar. Elina streckte eine Hand aus, um ihn zu berühren, zog sie jedoch wieder zurück. Vielleicht hatte er sie nicht bemerkt und würde sich erschrecken.

»Jevan.«

Keine Reaktion.

Sie warf einen ratlosen Blick hinauf zum Vogel. Als sie Gesa kennengelernt hatte, hatte sie zu allem etwas zu sagen gehabt, doch jetzt schwieg sie.

Also gut, dann musste sie das allein durchziehen. Sie fixierte den schweren Stoff des Bettvorhangs mit den dafür angebrachten Kordeln. Vorsichtig ließ sie sich auf der Bettkante nieder. »Jevan, ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«

Er regte sich nicht. Elina wartete. Sie würde ihm alle Zeit lassen, die er brauchte, obwohl es für sie zur Geduldsprobe wurde. Am liebsten würde sie ihre Entdeckung gleich herausposaunen, aber das wäre unsensibel.

Sie rechnete nicht mehr mit einer Reaktion und überlegte sich bereits den nächsten Schritt, als Jevan sich langsam umdrehte und aufrichtete. Einige der leicht verkrusteten Wunden auf seinem Oberkörper rissen auf, sein Gesicht blieb regungslos. Die schlaflosen und anstrengenden Tage hatte dunkle Schatten hinterlassen, doch viel schlimmer als das waren die ausdruckslosen braunen Augen, mit denen er sie ansah.

»Was willst du?« Er klang kalt und abweisend. Elina verschlug es die Sprache. Waren sie zuletzt nicht so etwas wie Freunde gewesen, vielleicht sogar mehr als das? Sie schüttelte kaum merklich den Kopf. Das spielte jetzt keine Rolle. Gesa war für Jevan wie eine Mutter gewesen und er hatte sie sterben sehen. Verständlich, dass ihm alles andere gleichgültig war.

Sein Ton blieb hart, als er weitersprach. »Deine Großmutter ist tot und ich kann dir nicht helfen, wieder zurück nach Hause zu kommen. Du kannst verschwinden, wohin du willst.«

Der Sperling erhob sich vom Baldachin, flatterte auf Jevans Kopf und hackte ihm kräftig mit dem Schnabel auf die Schädeldecke.

Er schrie schmerzerfüllt auf. »Was war das?«

Der Sperling ließ sich auf der Bettdecke nieder und sah Jevan herausfordernd an.

Elina verschränkte die Arme vor der Brust. »Gesa wollte dir wohl eine Lektion erteilen.« Verdammt! Ihre guten Vorsätze, ruhig zu bleiben waren dahin, ebenso Geduld und Verständnis. Jevan starrte sie an, sein Blick wurde glasig. Ihre Worte hatten getroffen.

Die sensible Ader hast du von mir, hörte sie Gesa.

»Deine Kommentare helfen nicht weiter.« Sie warf dem Sperling einen düsteren Blick zu.

Irritiert sah Jevan von Elina zum Vogel.

»Gesa lebt noch. Sie steckt im Sperling.«

Stille erfüllte den Raum. Elina bildete sich ein, Staubkörner fallen zu hören. Selbst Nüsschen schien den Atem anzuhalten.

»Ein Sperling saß am Fenster, als Gesa starb«, sagte er. Nachdenklich erwiderte er den Blick des gefiederten Tieres. Er war ein Mondkind, konnte sich unsichtbar machen und selbst im Dunkeln hervorragend sehen, doch die Telepathie gehörte nicht zu seinen Fähigkeiten.

»Ich war in seinem Geist, also vom Vogel.« Der Bann war gebrochen und die Worte sprudelten nur so aus ihrem Mund. »Und zuerst war da nur mein Name. Ich habe mich total erschrocken. Und plötzlich war Gesas Stimme in meinem Kopf. Sie war, nein, ist eine Telepathia, das wusste ich. Aber sie hat mir gesagt, sie sei nicht so begabt und könne nicht viel bewirken. Aber ich glaube, sie hat ihren Geist in diesen Vogel übertragen und das ist total krass, aber jetzt ist sie halt eigentlich gar nicht tot. Ich dachte, das solltest du wissen.« So viel sinnloses Zeug hatte sie schon lange nicht mehr von sich gegeben. Elina war hoffnungslos überfordert mit der Situation.

Der Vogel legte das Köpfchen schräg, als wolle er den Jungen zwingen, ihm in die Augen zu sehen.

Doch Jevan funkelte Elina wütend an. »Gesa war keine Telepathia! Wenigstens das hätte sie mir erzählt. Und selbst wenn, was ändert das schon? Sie ist tot. Selbst wenn ihr Geist in diesem Vogel steckt, wie du behauptest, ist sie für mich unerreichbar. Ich kann sie nicht sehen und ich kann nicht mit ihr reden. Sie bleibt für mich gestorben.«

Wie du behauptest, wiederholte Elina in Gedanken. Herablassend, verletzend, – als sei sie ein Eindringling, der ihn mit wilden Spekulationen behelligte. Jevan wusste, dass sie nicht log, aber er biss um sich wie ein verwundetes Tier. Er verteilte seinen Schmerz. »Ich lüge dich nicht an. Ich verstehe ja, dass du verletzt bist und traurig, aber Gesa ist noch da. Verstehst du das?«

Mit einem Ruck setzte er sich kerzengerade auf. »Ob ich das verstehe?« Ein bedrohlicher Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen, der Elina aufstehen und zurückweichen ließ.

»Ob ich das verstehe.« Ein Glucksen, das Lachen oder Weinen sein konnte, folgte seinen Worten. Dann brach es aus ihm heraus: »Nichts verstehe ich! Absolut gar nichts. Gesa hat dir scheinbar mehr über sich erzählt als mir. Und sie ist tot. Sie ist vor meinen Augen gestorben. Ich stand praktisch daneben und konnte nichts tun. DU verstehst das nicht. Du kommst hierher, mischst dich in alles ein und tust so, als wüsstest du, wie die Welt funktioniert. Dabei willst du doch nur zurück in dein großes Haus, wo gleich zwei Eltern auf dich warten. Du hast keine Ahnung von meiner Welt oder meinem Leben. Verschwinde! Und nimm das Vogelvieh gleich mit.« Er warf ein Kissen nach Gesa, die sich mit ihren Krallen im Laken verhedderte und darunter begraben wurde. Hastig barg Elina den Vogel.

Sie wich weiter vor Jevan zurück, dem jetzt wieder ungehemmt Tränen über die Wangen liefen. In seinem Blick loderte der Zorn und sie hatte Mühe, den ruhigen, verständnisvollen Jungen der letzten Tage darin zu erkennen. Länger ertrug sie den Anblick nicht, sie wandte sich ab und verließ das Zimmer.

Gesa hockte auf ihrer Hand. Nach der Kissenattacke sah sie etwas zerknittert aus. Er ist nicht gerade ein Sonnenschein, weißt du.

Es mochte Gesas schräge Art sein, sie zu trösten, aber Elina war nicht in der Lage, den Versuch zu würdigen. Sie fühlte sich wieder genau so einsam wie kurz nach ihrer Ankunft in Ligund. Jevan hatte ihr Halt gegeben. Sie hatte sich dem Gefühl hingegeben, ihn zu kennen, wenigstens ein bisschen. Doch er hatte recht. Elina wusste nichts über ihn, sein Leben oder seinen Schmerz.

Fernsicht

Wilma strich über die Fahne einer Gänsefeder. Weich und fest spannte sie sich zu beiden Seiten des Kiels. Beeindruckend, dass sie die schweren Vögel durch die Lüfte trugen. Dennoch waren sie letztlich leicht zu brechen. Sie blickte über das Meer aus braunen Federn, das den Kammerboden bedeckte. Das Tier hatte sich heftig gewehrt, bevor sie es betäuben konnte. Ohne sein Gefieder war es nutzlos geworden.

Der Wind pfiff durch die Fensterläden und hinterließ Gänsehaut auf ihren Armen. Obwohl verglaste Fenster in der Stadt längst zum Standard gehörten, sparte man sich das Geld in den oberen Etagen. In kümmerlichen Dachstuben wie ihrer erst recht. Die Unterkunft war unter ihrer Würde. Ein Palast oder wenigstens eine Villa wäre angemessen gewesen. Trotzdem saß sie hier fest. Noch. Wilma reckte das Kinn. Nicht mehr lange. Dieser Vogel mochte vergebens gestorben sein. Ein Fehlversuch neben vielen gelungenen. Er brachte sie ihrem Ziel ebenso näher wie ein Erfolg. Jetzt wusste sie, wie es nicht ging.

Es klopfte. Auch das noch. Der Verwüstung um sie herum schenkte sie einen flüchtigen Blick. Wer auch immer sie da störte, würde sich an nichts erinnern, was er hier sah.

»Herein!«, rief sie ungeduldig.

Mit einem anklagenden Knarzen wurde die Kammertür geöffnet und ein untersetzter Mann mit kunstvoll geschwungenem Bart trat ein. »Wilma, wir ...« Er brach ab und betrachtete das Federmeer am Boden.

»Gut, dass du da bist, Rels«, sagte sie und streckte ihre mentalen Finger nach Rels Bastrars Geist aus. Der Magier war nützlich, aber viel zu skeptisch für Wilmas Pläne. Vor Monaten war er bereits zu einer ihrer Marionetten geworden. Seine Stirnfalten glätteten sich, während sie sprach. »Wir sollten die Sitzordnung für das Bankett im Stadtpalast noch einmal besprechen. Wir können keine Gäste aus Ligund erwarten.«

»Sehr wohl«, antwortete der Mann mechanisch. »Gibt es Nachrichten aus Dammstadt?«

»Nicht offiziell. Es gibt Gerüchte unter den Händlern, denen sollten wir nachgehen.«

Rels nickte. »Ich werde einen Boten entsenden.« Der Mann sprach in seinem üblichen tiefen Singsang. Nichts deutete darauf hin, dass unsichtbare Fäden ihn davon abhielten, die Federn am Boden weiter zu beachten oder sich an sie zu erinnern.

»Gibt es sonst noch etwas?«

»Nein. Entschuldige die Störung.« Er trollte sich.

Wilma seufzte. Natürlich wusste sie, wie es um Ligund bestellt war. Sie hatte viele Marionetten, nah und fern. Die Fäden, die nach Dammstadt führten, waren aufgeribbelt, bis sie dünn und schwach geworden waren und schließlich rissen. Als Ursprung hatte sie versagt.

Wilma hatte es geliebt, wie eine Spinne im Netz zu hocken und ihre Fäden weiter und weiter zu spinnen. Sie wollte das Machtzentrum dieser Welt sein, ihr Ursprung. Aber sie hatte die Herrin zuletzt kaum lenken können. Die Entfernung war zu groß gewesen, die Verbündete zu unberechenbar. Und dann waren zu viele Unbekannte auf den Plan getreten. Gesa und Alagir, dieser vergessene Bluterbe. Dabei war Wilma sicher gewesen, dass die Revolution in Ligund keinen davon übrig gelassen hatte. Und zuletzt dieses Mädchen, das wie aus dem Nichts auf den Plan getreten war.

Elina war ein mächtiger Sprössling und hatte alles verändert. Wilma brauchte eine neue Strategie. Sie musste Elina zu sich locken und für sich gewinnen. Das Mädchen konnte der Schlüssel sein. Zum Glück war Elina jung, naiv und leichtgläubig. Wilma hatte schon gestandene Magierinnen überzeugt. Und ihr Angebot war besser als das einer alternden Widerstandskämpferin. Gesa mochte ihr moralisch überlegen sein, aber Wilma lockte mit schier grenzenloser Macht. Das musste einem jungen Mädchen ohne nennenswerte Bedeutung doch gefallen.

Elina für sich zu gewinnen, hatte neben dem praktischen Aspekt noch einen ganz anderen Reiz. Wilmas Rache an den Nymphen wäre nicht mehr zu steigern. Sie konnte sich vorstellen, wie sie all ihre Hoffnung in dieses Mädchen setzten. In Wahrheit klammerten sich die Schwestern im See verzweifelt an ihren letzten Machtfetzen. Ligund und die erbärmlichen Menschen, die dort lebten, waren alles, was von ihrem Einfluss übrig geblieben war.

Die Nymphen hatten alles darangesetzt, das Portal vor ihr zu schützen. Sie hatten Wilma verbannt und ihr gedroht. Sie konnte Ligund nicht betreten. Die Schwestern würden sie zerfetzen. Jede Pfütze war zur Gefahr geworden und doch kümmerten Wilma keine Grenzen. Sie handelte im Verborgenen. Ginge sie hinaus auf die Straße, schenkte ihr niemand Beachtung und doch war sie es, die über alles in dieser Stadt entschied.

Dieser Ort war ein Spielzeug. Wilma testete, wie viele Fäden sie gleichzeitig bespielen konnte und ob ihre Puppen auch an der langen Leine tanzten. Dammstadt war zu weit entfernt, so viel wusste sie jetzt. Doch es spielte keine Rolle mehr. Das Mädchen war der Schlüssel und es würde zu ihr kommen. Früher oder später. Es würde Wilma zum Portal führen und in diese andere Welt bringen. Fernab der Nymphen, bevölkert von nichts ahnenden Menschen. Ein neues Spielfeld für sie allein.

Miriam

Nebel waberte in den Gassen von Dammstadt. Er tanzte über Bächen und Rinnsalen und verhüllte die Zerstörung, die der Aufruhr der vergangenen Tage angerichtet hatte. In der Früh war der graue Dunst so dicht, dass es schwer war, die Orientierung zu behalten. Elina wusste inzwischen, wie sie vom Blutmarkt zu einem kleinen Markt gelangte, der von den Straßenkämpfen verschont geblieben war.

Die Widerständler hatten sich mit der Schlossstürmung nicht zufriedengegeben. Sie hatten ihre Wut in die Gassen der Stadt getragen und dort geplündert, gezündelt, geprügelt. Es war niemand da, der sie hätte hindern können. Die Maskierten waren fort, die Stadtwache auf ein Minimum reduziert und so hatte man beschlossen zu warten. Jetzt waren die Aufständischen wieder abgezogen.

Elina biss in ein süßes Hefegebäck. Sie hatte es bei der Bäckerin ergattert, die stets ein oder zwei Backwarensorten auf ihrem Handkarren anbot. An diesem Morgen waren es Rosinenweckchen. Die alte Elina hätte die Nase gerümpft und die schrumpeligen Früchte herausgepult. Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht erst gegessen, dachte sie und schmunzelte kauend vor sich hin. Aber diese alte Elina hatte 17 Jahre in dem großen Haus ihrer Eltern gewohnt und täglich ein reichliches Frühstück aufgetischt bekommen. Dank ihrer Großmutter war sie jetzt weit weg von ihren Eltern, dem Haus und Rosalie mit dem üppigen Frühstück. Und aß Rosinenbrötchen. Seltsamerweise vermisste oder bereute sie nichts. Fast nichts.

Sie wünschte sich Zeit oder vielmehr die nötige Ruhe, um tagsüber in den Dammstädter Alltag einzutauchen. In der anderen Welt, zu Hause, ein Leben entfernt, war sie oft mit Finn, ihrem besten Freund, ins Eiscafé gegangen. Von ihrem Stammplatz am Fenster aus hatten sie einen guten Blick auf das Café und die Straße gehabt. Wo die Dammstädter hingingen, um sich die Zeit zu vertreiben, wenn ihre Arbeit sie nicht vereinnahmte?

Ein Sperling landete auf ihrem Handballen und pickte ein Stück aus der weichen Krume. »Noch kein Frühstück gehabt?«, fragte Elina. »Du bekommst Bauchweh davon.«

Unsinn.

Aus dem Nebel schoss ein bernsteinfarbener Blitz hervor. Gesa stieß sich fluchend von Elinas Hand ab.

Sieh zu, dass du dieses Vieh in den Griff kriegst!

»Vielleicht will ich das ja gar nicht«, sagte Elina mit vollem Mund.

Sie hatte sich gefreut, als sie den Geist ihrer Großmutter in dem kleinen Vogel entdeckt hatte. Allerdings hatte sich die Freude gelegt, denn Gesa war jetzt eben eine geflügelte Nervensäge. Außerdem tauchte sie in Elinas Gedanken auf, wann immer es ihr gerade passte. Sie hatte ihre Großmutter zwar nur kurz kennenlernen können, bevor sie gefangen genommen und bald darauf ermordet wurde, doch es hatte gereicht, um zu wissen, dass sie unhöflich war. Elina ging ihr so gut es möglich war aus dem Weg. Bei allem Eifer, mit dem Gesa in Ligunds Zukunft mitmischen wollte, wünschte Elina sich mehr Respekt für ihre persönlichen Grenzen. Ungewollt und ungefragt war sie zu Gesas Sprachrohr geworden, in einem Konflikt, den sie nicht verstand und an dem sie nicht beteiligt sein wollte.

Wenn Gesa ihr nicht folgte, beobachtete sie die Vorgänge im Neuordnungsrat. Ein Gremium, das über die Zukunft Ligunds bestimmen sollte. Am liebsten wäre es Gesa, wenn Elina sich dort beteiligte. Doch wozu? Und mit welchem Recht? Es waren entscheidende Tage für das Land, da sollten die Menschen entscheiden, die auch darin lebten.

Außerdem kreisten ihre Gedanken um Jevan. Sie schmunzelte. Typisch. Worum sollte sich eine Teenagerin, die in einer fremden Welt gestrandet war, auch sonst sorgen? Allerdings war es keine alberne Schwärmerei. Seit Gesas vermeintlichem Tod hatte Jevan sich in dem Zimmer verbarrikadiert. Er kam nicht heraus, redete nicht, aß kaum etwas. Sie überquerte einen Kanal und ihre Schritte klangen wie wütendes Klopfen auf der hölzernen Brücke. Kotzbrocken! Sie verstand seinen Schmerz. Der Sperling war nicht dieselbe Gesa wie früher. Und er konnte nicht ohne Weiteres mit ihr reden. Mit Elinas Hilfe wäre es ihm möglich. Allerdings konnte sie ihm diese nicht bieten, weil er sie angebrüllt und aus dem Zimmer geworfen hatte.

Gesa hatte versucht, sie zu trösten und selbst Kontakt zu Jevan aufzunehmen, doch er hatte den kleinen Vogel mit allem beworfen, was er in die Finger bekommen hatte. Seitdem hatte sie sich nicht mehr in das Zimmer gewagt. Elina hoffte, dass Jevan sich mit der Zeit an Gesas neue Gestalt gewöhnen und sie akzeptieren würde. Sie selbst war zu wütend, um ihn erneut zu besuchen. Sollte er doch in dem stinkenden Gästezimmer verrotten!

Das Rosinenbrötchen war in ihrer geballten Faust zu einem klebrigen Klumpen geworden. Ärgerlich betrachtete sie den Schlamassel. Jetzt hatte sie auch noch ihr Frühstück an diesen Mistkerl vergeudet.

Sie betrat eine menschenbreite Gasse. Es war einer der Durchgänge zwischen den Häusern, die den Markt im Halbkreis umstanden. Nur gegenüber des Schlosses befand sich eine breitere Straße, durch die Fuhrwerke und größere Karren gelangen konnten. Mit sicheren Fluchtwegen hatten es die Dammstädter nicht so. Eilig überquerte Elina den leer gefegten Blutmarkt. Die Tribünen sowie das hölzerne Podest zeugten von der vereitelten Hinrichtung, die hier vor wenigen Tagen hatte stattfinden sollen. Bis hierher hatten sich die Händler noch nicht wieder vorgewagt.

Die Eingangshalle empfing sie still und leer. Irgendwo in diesem gruseligen Schloss hockte Jevan und schmollte. Elina ging in die Küche, wo sich die Widerständler vorzugsweise aufhielten. Dieses Gewölbe war nicht so überladen wie die anderen Räume und es war warm und gemütlich. Es war zur Hälfte in den Fels gehauen, der Rest aus Bruchstein gemauert. Die frisch ernannte Schlossköchin rührte in einem Kessel über der Feuerstelle.

»Ich geh nich, ich war gestern«, protestierte der Bär, der mit Mina an dem massiven Holztisch saß. Angewidert blickte er auf ein Tablett, auf dem eine Kanne und etwas, das wie brauner Glibber aussah, standen.

»Lass uns würfeln«, schlug Mina vor.

»Müsste das nicht noch gebraten werden oder so?«, unterbrach Elina die beiden und inspizierte den unförmigen Brocken genauer.

»Die hohe Herrin der Kerker wünscht das so.« Mina schnaubte abfällig. »Soll sie doch dran ersticken.«

Der Bär schüttelte den Kopf. »Sie wird ihre Strafe erhalten. Auch wenn du ihr nicht persönlich die Kehle durchschneiden darfst.« Er grinste schief und hielt Elina einen duftenden Brotfladen hin. Seine kahle Kopfhaut glänzte im Schein des Feuers und ließ die Tätowierungen darauf aussehen wie bewegte Bilder.

»Warst du noch mal bei Jevan?«, wechselte Mina abrupt das Thema.

Elina knibbelte an dem Brotfladen herum. Keine Träne für den unsensiblen Klotz! Trotzig sog sie die Luft ein und straffte die Schultern. »Er zieht es vor, in Selbstmitleid zu zerfließen und allen anderen die Schuld dafür zu geben.« Energisch biss sie ins Brot.

»Das hat ihn hart getroffen. Er mochte Gesa sehr, das musst du...«

Mina ließ den Bären nicht ausreden. »Gar nichts muss sie. Sein Schmerz mag nachvollziehbar sein, auch dass er sich ein paar Tage verkriecht, aber es gibt keinen Grund, Elina die Schuld zu geben.« Mina wandte sich an sie. »Der Kerl soll sich nicht einbilden, du wärst ihm irgendwas schuldig. Wenn er meint, er muss alleine damit zurechtkommen, dann lass ihn.«

Elina schenkte ihr ein dankbares Lächeln. »Kann ich das in den Kerker bringen?«, fragte sie spontan. Die Warterei war unbefriedigend, sie hatte das Gefühl, irgendetwas unternehmen zu müssen. Die Herrin nach dem Ursprung zu befragen, erschien ihr ein Anfang zu sein. Sie wusste, dass Alagir niemanden zu ihr ließ und ihre offizielle Anhörung später stattfinden sollte. Ihr schien, als würden die Hinweise der Herrin auf diesen ominösen Ursprung bewusst ignoriert. Niemand in diesem Schloss wollte weitere Probleme. Die Herrin war gestürzt und eingekerkert, das reichte den meisten. Doch Elina ging dieser Ursprung nicht aus dem Kopf. Die Ghula hatte auch von ihm gesprochen. Und wenn die Herrin die Dämonin nicht beschworen hatte, wer hatte es dann getan?

Mina und der Bär tauschten ratlose Blicke.

»Ach kommt schon! Ihr wollt doch beide nicht hingehen und ich will mit ihr reden. Immerhin hat sie meine Großmutter getötet.«

Die beiden mussten nicht erfahren, dass Gesa überlebt hatte. Niemand im Widerstand wusste, dass sie eine Telepathia war, und Elina konnte nicht einschätzen, wie Mina und der Bär zu den Nymphensprösslingen standen. Es würde Fragen über ihre eigenen Fähigkeiten aufwerfen, auf die sie selbst keine Antwort hatte. Außerdem hatte Gesa sie gebeten, es niemandem zu sagen. Außer Jevan.

»Du sollst sie eigentlich nicht besuchen«, gab der Bär zu bedenken.

Elina runzelte die Stirn.

Mina blies die Wangen auf und ließ geräuschvoll die Luft entweichen. »Aber du willst sie ja nicht besuchen, sondern übernimmst eine Aufgabe.« Sie zwinkerte ihr zu.

»Danke.« Elina klemmte sich ihr Brot zwischen die Zähne und balancierte die Mahlzeit aus der Küche.

Vor wenigen Tagen war sie mit Jevan durch den Kerker gerannt, nachdem sie beinahe von einer Ghula zerfleischt worden waren. Als sie jetzt den Gang mit den niedrigen Zellen betrat, erinnerte sie sich vage an den schmalen Durchgang, der zu dem Raum mit der Bodenluke führte. Die Angst vor der Ghula und ihr schmerzender Arm hatten die Erinnerung zuvor überschattet.

Eine Wächterin stand im Kellerdurchgang und deutete auf die letzte Zelle. Das Mahl auf dem Tablett verriet Elinas Ziel. Außer der Herrin gab es ohnehin wenig Gefangene. Sie hatte kaum überzeugte Anhänger gehabt, zumindest waren sie nicht überzeugt genug gewesen, um sich dem Widerstand entgegenzustellen. Soweit sie mitbekommen hatte, waren es einige Händler und Räte, die sich nach ihrem Sturz zur Herrin bekannt hatten. Sie warteten auf ihren Prozess, – auch wenn keiner so genau wusste, weswegen man sie anklagen sollte.

Mit klopfendem Herzen näherte sich Elina der letzten Nische. Sie konnte nicht sagen, was sie erwartete. Sie empfand keinen Groll gegen die Herrin. Der Mord an Gesa wirkte rückblickend wie die Tat einer Verwirrten, die nicht wusste, was sie tat. Für die Dammstädter hatte die Herrin Wohlstand und eine funktionierende Infrastruktur erwirkt. Trotzdem verstand sie die Wut der Waldsiedler, die von alldem nichts abbekommen hatten.

Elina sah vor allem die Rätsel, die die Herrin umgaben. War sie ein Sprössling? Oder stammte sie tatsächlich aus dem Kreis der Schwestern? Und wenn dem so war, wie konnte sie außerhalb des Wassers existieren? Die Nymphen hatten sich nicht einmal aus dem See herausgewagt, um ihr zu folgen. Oder hätten sie es gekonnt und wollten es nicht?

Das Licht vom Kerkereingang reichte nicht bis zur letzten Zelle. Elina kniff die Augen zusammen. In der hintersten Ecke kauerte eine Gestalt. Unschlüssig blieb sie vor dem Gitter stehen, klammerte sich an das Tablett wie an einen Schutzschild.

»Die Suche nach Antworten kann quälend sein«, drang eine Stimme aus dem Zwielicht. »Ich muss nicht in deinen Verstand sehen, um herauszufinden, was dich hierherlockt.« Die Gestalt erhob sich und kam auf das Gitter zu. »Was treibt dich mehr um? Die Frage nach dem Ursprung oder was die Verbindung zu unseren Schwestern mit dir macht? Dass deine Großmutter nicht so tot ist, wie alle glauben, wirst du längst herausgefunden haben.«

Die Frau trat näher. Das weißblonde Haar fiel offen über ihre Schultern und die wasserblauen Augen blitzten im Halbdunkel. Ein leises Rascheln begleitete ihre Schritte, als der seidig glänzende Stoff ihres Kleides über den schmutzigen Boden strich. Elina biss sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien. Das Gesicht wurde nicht länger von einer Maske bedeckt.

Ihre Reaktion war der Herrin nicht entgangen, sie nickte kaum merklich. »Widerlich, nicht wahr? Das ist der Preis, den ich für ein Leben fern des Wassers zahlen musste.« Die Herrin hob eine Hand, ihr fehlte der Daumen und strich über ihre eigene Wange. Die Gesichtshaut sah aus wie verkohltes Papier, als würde sie unter jeder Berührung zu Staub zerfallen. Doch es blieb bei dem verstörenden Anblick.

»Du bist eine von ihnen.« Es klang ehrfürchtig und Elina ärgerte sich darüber. Die Herrin hatte nichts getan, das sie beeindruckte. Aber wenn sie wirklich eine Nymphe war, nicht bloß ein Sprössling, dann war sie die talentierteste, die sich an Land finden ließ.

»Bleib aus meinen Gedanken heraus!« Ihre Erkenntnis kam zu spät. Ein gehässiges Grinsen präsentierte schwarze Zahnstummel. »Hat dir niemand beigebracht, deinen Geist zu schützen?«

Elina schwieg. Niemand hatte ihr irgendetwas beigebracht.

Die Demaskierte trat ganz dicht an die Gitterstäbe heran und umfasste sie. Die Haut an den Händen war weitgehend unversehrt. Nur einzelne Flecken, wie Altersflecken bei einem Menschen, deuteten auf die Veränderung hin. »Du solltest es lernen. Gegen unsere Schwestern wirst du dich damit nicht behaupten können, aber einfache Angriffe auf deine Gedanken könntest du leicht abschirmen.« Sie schob eine Hand zwischen den Gitterstäben hindurch und griff nach dem bräunlichen Zeug, das inzwischen von zwei Fliegen umkreist wurde. Sie wog es nachdenklich in der Hand.

»Was ist das?«, fragte Elina.

»Das, was diese Waldtrampel als Wasserpflanzen bezeichnen.« Die Herrin rümpfte die Nase.

»Algen?«

»Mehr gibt der Virandus wohl nicht her. Im See, bei den Schwestern...« Sie seufzte und der wehmütige Ausdruck in ihrem Gesicht wirkte fremd an ihr. »In dieser Stadt ist selbst das Wasser vergiftet, ganz zu schweigen von den Pflanzen darin, aber in den Bergen ist es das reine Leben.«

Elina schüttelte den Kopf. Der Speiseplan der Nymphen interessierte sie nicht. »Wie kannst du an Land überleben? Ich dachte, Nymphen verlassen das Wasser nicht.«

Die Herrin betrachtete die Algen in ihrer Hand, als hielten sie die Antwort bereit. »Der Ursprung hält mich am Leben. Er erlaubte mir, an Land zu gehen und schenkte mir eine Armee aus Schergen, um Dammstadt zu beherrschen. Er verstand mich und meine Idee. Unterstützte mich. Im Gegensatz zu unseren Schwestern. Sie spotteten über mich, haben es nie verstanden, weißt du. Sie haben nie geglaubt, dass es zu wenig ist, zuzusehen. Dass wir viel mehr erreichen können, wenn wir dazugehören. Aber sie meinen, das sei nicht unsere Aufgabe...«

»Wer oder was ist der Ursprung?«, unterbrach Elina den Monolog.

Die Nymphenaugen richteten sich mit glasigem Blick auf sie, schienen durch sie hindurchzusehen. »Warum suchst du die Antworten an Land, wenn sie im Wasser liegen?« Sie wandte sich ab und biss in die Algen wie ein hungriger Straßenköter in einen ergatterten Leckerbissen.

Resigniert setzte Elina das Tablett mit der Kanne vor dem Gitter ab und ging. Auf halbem Weg hielt sie inne. »Wie heißt du?« Es war ein Impuls. Sie wollte die Nymphe nicht weiter als »Herrin« bezeichnen. Das war sie nicht und jedes Wesen hatte es verdient, mit seinem Namen angesprochen zu werden.

»Miriam.«

Ein schöner Name, dachte Elina. Ohne es sich erklären zu können, empfand sie Mitleid für die Frau, die von den meisten verachtet wurde. Zugleich fröstelte sie. Es lag nicht an der feuchten Kälte. Miriams Worte hatten ihr etwas klargemacht. Im Stillen hatte sie es gewusst, es verdrängt. Elina würde zu den Schwestern im See gehen. Sie kannten die Antworten auf ihre Fragen. Vielleicht konnten sie ihr mehr über den Ursprung verraten. Und über sie selbst. Seit sie die Grotte verlassen hatte, fragte sie sich, was sie mit den Schwestern verband. Sie war zwar ein Sprössling wie Gesa. Doch soweit Elina wusste, hatte ihre Großmutter keinen Kontakt zu den Nymphen gehabt. Sie hatte auch nicht erwähnt, dass sie Elina rufen würden oder sich überhaupt für sie interessierten.

Sie würde allein gehen. Jevan hatte genug mit sich selbst zu tun. Und mit Gesa. Sie wollte keinen der beiden um sich haben. Vielleicht konnte Gesa ihm solange auf die Nerven gehen, bis er ihre neue Gestalt akzeptierte. Wahrscheinlich brauchte er ihre Gedanken nicht einmal zu hören. Gesa würde stets einen Weg finden, sich irgendwie mitzuteilen, so stur und hartnäckig, wie sie war.

Wutgedanken

Dieser elende Sturkopf! Der Sperling flatterte um den Jungen herum und versuchte, ihm ins Ohr zu zwicken. Doch unter dem strähnigen, verklebten Haar verbarg sich ein wacher Geist mit der Reaktionsgeschwindigkeit einer Katze. Er wich aus und funkelte Gesa aus verquollenen Augen an. Wie ein zu groß gewachsenes, verdrecktes Kind stand er vor dem Fenster. Die Vorhänge waren zugezogen, die Luft im Raum zum Schneiden dick.

Der Sperling rettete sich auf den verstaubten Baldachin des Bettes, legte den Kopf schräg und blinzelte Jevan aus schwarzen Knopfaugen an. Das gefiederte Köpfchen schmerzte. Gesas Probleme waren zu groß für den kleinen Vogel.

Es klopfte und Jana betrat das Gästezimmer, in den Händen trug sie das Frühstück für Jevan. »Du bist aufgestanden.« Sie ließ es wie eine große Leistung klingen. »Wie fühlst du dich?«

»Großartig.« Er klammerte sich an den Vorhang, als fürchte er, jemand könnte Tageslicht in den stinkenden Raum lassen.

»Darf ich mir deine Wunden jetzt ansehen?«

Jevans nackte Haut war übersät von Kratzern, deren Wundränder verdächtig rot schimmerten. Was hatte er angestellt? Blass erinnerte sich Gesa, dass er das Turmzimmer bereits nackt betreten hatte. Er musste kurz zuvor unsichtbar gewesen sein. Elina hatte ihr nicht viel erzählt. Sie wich ihr aus. Und Gesa hatte sich in den vergangenen Tagen auf die Gespräche im Bankettsaal konzentriert. Es waren zu viele Baustellen. Endlich war der Umsturz in Ligund gelungen und sie war offiziell tot. Das war immerhin ein Vorteil. Niemand rechnete mehr mit ihr und damit, dass sie ausplauderte, was sie wusste. Dennoch erschien es ihr unmöglich, den Bluterben zu kontrollieren. Ganz gleich, welches Problem sie anzupacken versuchte, ein anderes lenkte sie ab. Und das Schlimmste: All das hatte sie zu verantworten.

Der Sperling schüttelte heftig das Köpfchen und beobachtete, wie Jevan wortlos zum Bett ging. Er ließ sich auf der Kante nieder. Die Heilerin zog energisch die Vorhänge beiseite und öffnete eines der Fenster. Jevan kniff stöhnend die Augen zu.

»Tut mir leid, aber ich brauche Licht, um die Wunden zu untersuchen. Und wenn hier keine Luft reinkommt, wird mir schwindelig.« Routiniert begutachtete sie die Schnitte und Kratzer. »Wo seid ihr dem Ghul begegnet?«

Ghul? Der Sperling hüpfte aufgeregt. Gesa hatte angenommen, Ghule seien samt der Magie aus Ligund verschwunden. Ebenso hatten sämtliche Magiebegabten das Land längst verlassen. Eine Folge des Magieverbotes, das mit aller Härte durchgesetzt worden war. Nymphensprösslinge wie Gesa hielten ihre Fähigkeiten besser geheim, wenn sie welche besaßen. Die reine Abstammung machte zum Glück noch keine Telepathia. Aber selbst wenn es außer Gesa weitere heimliche Telepathia in Ligund gab, so überstiegen Ghule die Macht dieser bei Weitem. Selbst für erfahrene Beschwörer waren die Dämonen ein gefährliches Spielzeug. Wie sollte ein solches Wesen also nach Dammstadt gelangt sein?

»Sie hat den Ausstieg im Keller bewacht, einen Fluchtweg für die Schlossbewohner.«

»Du hast Glück gehabt, dich hat sie nicht gebissen«, stellte Jana fest. »Elina schon.«

Gesa fuhr zusammen. Warum lebte Elina noch? Niemand überstand einen Ghulbiss. Wenn man Glück hatte, verfaulte man bei lebendigem Leibe. Mit etwas Pech wurde man selbst zu einem.

Jevan hob abrupt den Kopf. Aha! Sie war ihm also doch nicht so gleichgültig, wie er behauptet hatte.

»Sie wurde gebissen? Davon hat sie nichts gesagt!«

Der Sperling flatterte vom Baldachin und hieb dem Jungen im Sturzflug den Schnabel auf den Kopf. Weil du sie nicht zu Wort kommen lassen hast!, schrie Gesa, doch alles, was herauskam, war ein wütendes Zwitschern.

»Aua!«

»Wie kommt der denn hier herein?«, wunderte sich die Heilerin.

»Einer von Elinas Freunden«, nuschelte Jevan. »Ein zahmer Leuchtling gehört übrigens auch dazu.« Er blickte sich suchend im Zimmer um. »Versteckt sich wahrscheinlich unter dem Bett.«

»Du hast einen Leuchtling hier drin? Bist du lebensmüde?« Janas Stimme klang ungewohnt hoch.

Gesa verstand ihre Angst. Leuchtlinge galten als unberechenbare kleine Monster. Natürlich war das ein albernes Vorurteil.

»Keine Sorge, Nüsschen ist harmlos. Sie hat uns das Leben gerettet und ist nützlich.«

Jana wandte sich erneut Jevans Wunden zu, sah sich jedoch immer wieder nervös um.

»Wie geht es Elina? Ist der Biss... schlimm?«

Jana hielt in ihrer Arbeit inne. »Es ist merkwürdig. Der Biss hat keine Wirkung auf sie. Er sieht aus wie eine üble Fleischwunde, verheilt aber gut. Deine Kratzer machen mir mehr Sorgen.« Sie bemühte sich, heiter zu klingen, doch Gesa spürte, wie sehr Elinas Wundheilung sie verunsicherte. Die Heilerin musste eine Vermutung haben. Elinas Äußeres verriet ihre Abstammung jedoch nichts über ihre Fähigkeiten. Gesa jubelte innerlich. Wenn das Nymphenblut sie vor dem Biss geschützt hatte, musste sie ein starker Spross sein. Unter der richtigen Anleitung würde sie eine mächtige Telepathia werden. Aber wer sollte sie ausbilden? Gesa hatte vorerst überlebt, aber ihre Zeit war begrenzt. Sie war ein Parasit in einem winzigen Vogel, der beständig gegen sie ankämpfte. Gesa fehlte die Kraft für Größeres.

Jevans Stimme durchdrang ihr Selbstmitleid.

»Jana, du wirst nichts verraten, oder? Besonders nicht Alagir.«

Die Heilerin nickte. »Du traust ihm nicht?«

»Du doch auch nicht, aber du brauchst ihn.«

Die beiden tauschten einen langen Blick. Ein stiller Pakt.

Gesa plusterte stolz ihr Brustgefieder auf. Jevan war immer schon vernünftig gewesen, als Junge bereits ein halber Erwachsener. Selbst wenn sie zu einem Häufchen blanker Knochen und Federn zerfallen war, er würde in ihrem Namen kämpfen. Er wusste, wem nicht zu trauen war, ihn hatte sie gut ausgebildet, auch ohne telepathische Fähigkeiten. Vielleicht musste sie nicht auf Elina setzen. Die Herrin war geschlagen und mit vereinten Kräften konnten Jana und Jevan gegen einen magielosen wie Alagir bestehen.

»Du solltest dich bei Elina entschuldigen. Sie für Gesas Tod verantwortlich zu machen, ist schäbig«, sagte Jana. Sie erhob sich von der Bettkante, nahm eine Tunika vom Nachtschrank und warf sie Jevan zu. »Und du kommst mit runter. Du musst dich waschen, dann kann ich die Wunden besser versorgen.«

Staubtanz

Die Frühlingssonne durchflutete den Raum und ließ Staubkörner in der Luft tanzen. Alagir folgte ihrer Choreografie. Wild und ohne Muster wirbelten sie in dem schmalen Lichtstreifen. Arglose Staubkörner, die keine Vorstellung hatten, wohin ihre Reise führte. Er pustete und die Flocken teilten sich in zwei Gruppen. Wie ein Tanzmeister spaltete er die Paare, die sich nun in zwei Reihen zum unsteten Takt bewegten.

Fenja, die Vorsitzende des Neuordnungsrates, eröffnete soeben die heutige Sitzung. »Es fehlen Sprecher aus den Siedlungen und aus der Ebene. Und ich denke, es sollten auch Vertreter der Bürger aus Dammstadt hinzugezogen werden.«

Alagir seufzte gut vernehmbar und der Laut schien sich durch die Reihen fortzusetzen. Seit Tagen drehten sie sich im Kreis.

»So kommen wir nicht vorwärts«, fuhr einer der Händler auf. Er trug einen beachtlichen Schnauzbart, damit brach er mit der gängigen Mode unter den Wohlbetuchten. »Wir sollten entscheiden, wie die Herrschaftsfolge in Ligund zukünftig gesichert wird. Über Befindlichkeiten können wir später reden.«

Er erntete zustimmendes Gemurmel.

»Es ergibt keinen Sinn, ohne das Volk über diese Frage zu entscheiden. Dann landen wir da, wo wir zuletzt standen«, fuhr Mina auf. Sie war nicht für ihre Geduld bekannt, doch in den vergangenen Tagen hatte sie sich merklich zusammengerissen.

Der Schnauzbart beugte sich vor und schenkte ihr ein abfälliges Grinsen. »Weil ihr dort hingehört.«

Er hatte die Bewegung nicht gesehen, mit der Mina zum Messer griff. Der Stahl blitzte im einfallenden Licht auf. Es war der schnellen Reaktion des Bären zu verdanken, dass die Klinge in der Tischplatte endete und nicht im Bauch des Händlers .

»Da habt ihr es.« Er deutete auf die wutschnaubende Frau. »Sie wollen mitreden, kennen aber nur die Sprache der Gewalt. Was soll das für eine Zukunft werden, wenn die mitbestimmen?«

Jana stützte sich mit den Fäusten auf die Tischplatte, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten. »Welche Sprache sollten sie auch sonst sprechen? Die Waldsiedler sind über Jahrzehnte allein gelassen worden! Ihr habt den Zugang zu den Märkten verbaut und sie wie Verbrecher behandelt. Sie werden sich weiterhin mit Gewalt behaupten müssen, wenn wir ihnen keine Alternative bieten.«

Alagir trat vor. »Wegen dieser Frage sollten wir uns nicht zerfleischen«, unterbrach er den aufkommenden Disput. »Es wird uns nichts nehmen, die Menschen anzuhören. Vielmehr geht es um einen symbolischen Akt. Was letztlich in diesem Raum beschlossen wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. Wir vergeuden wertvolle Zeit. Die innere und äußere Sicherheit Ligunds steht auf dem Spiel.«

Stille breitete sich aus. Alagir war weit davon entfernt, die Achtung zu erhalten, die er verdiente. Er war vielmehr ein Bindeglied zwischen der Zeit vor der Herrin und dem, was jetzt kommen sollte. Die meisten wussten um seine Herkunft und dass er in den Reihen des Widerstandes das Schloss gestürmt hatte. Den Ratsmitgliedern war ebenso bewusst, dass er alles daran setzte, der nächste Herrscher zu werden. Er blickte reihum in die Gesichter und erkannte in einigen, dass sie ihn längst als diesen akzeptierten. Hier ging es nicht um das Wer, sondern das Wie.

Er sonnte sich in der Aufmerksamkeit, die sich auf ihn richtete, bis der Schnauzbärtige wieder das Wort ergriff. »Diese Waldsiedler haben sich widerrechtlich Zugang zur Stadt und zum Schloss verschafft. Sie haben Jahrzehnte mit dem Widerstand kooperiert, mit einer gemeinen, rücksichtslosen Vereinigung. Die«, er zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Jana, Mina und den Bären, »haben keine Rechte in dieser Stadt. Sie alle müssten neben der Herrin auf dem Schafott landen. Wir Händler haben Dammstadt erhalten. Wir haben dafür gesorgt, dass die Menschen etwas zu essen und zu leben hatten. Ich bestehe auf eine gerechte Verurteilung aller begangenen Verbrechen.«

Alagir entging nicht, dass der Händler kein Wort über ihn und seine Rolle im Widerstand verlor. Er hütete sich, das Versäumnis richtigzustellen.

Mina lachte abfällig. »Ihr habt die Menschen ausgebeutet! Ihr habt es den Waldsiedlern unmöglich gemacht, ihre Waren abzusetzen, habt sie ignoriert und euch noch beschwert, dass eure Warenlieferungen im Wald angegriffen wurden. Wir haben geraubt und gebrannt, ja, aber wir hatten keine andere Möglichkeit. Außerdem sitzen wir hier, in diesem Schloss, befreit von der Herrin, nur dank der angeblichen Verbrechen, die wir verübt haben.« Sie spie das Wort in die Runde und ausnahmsweise konnte Alagir ihre Wut nachfühlen. Eine der ersten Übereinkünfte war es gewesen, die Taten des Widerstandes und der Waldsiedler außer acht zu lassen.

Die Schmiedin erhob sich. »Es nützt nichts, wenn wir uns gegenseitig angiften. Die Herrin war das Übel. Jeder hatte sich in ihrem System zu fügen. Die Händler und auch wir Handwerker hatten in diesem Spiel die besten Karten. Und was kann es schon schaden, die Waldsiedler nach ihren Wünschen zu fragen? Wir haben hier in der Stadt doch gar keine Vorstellung vom Leben außerhalb dieser Mauern.« Sie bearbeitete die Anwesenden mit ihrem Blick, wie sie es in der Schmiede mit einem Stück Metall tat.

Der Mann neben ihr – ein Weber, soweit Alagir sich erinnerte, – sprang entsetzt auf. »Das kann nicht dein Ernst sein, Senta! Die Stadt braucht eine neue Führung, und zwar schnell. Meine Arbeit liegt seit Tagen brach, wie soll ich das aufholen? Wenn demnächst Waldarbeiter über meine Abgaben und das Handelsrecht bestimmen...« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

Der Streit, der sich an diese Worte anschloss, geriet aus den Fugen. Einzelne Repräsentanten schrien sich quer über den Tisch hinweg an. Beschimpfungen wurden laut und einige drohten, die Verhandlungen zu verlassen. Letztlich war es Mina, die es schaffte, das allgemeine Getöse zu übertönen: »Wir haben dieses Schloss nicht gestürmt, damit weiterhin vollgefressene Geldsäcke über uns bestimmen. Wenn der Rat eine Beteiligung der Waldsiedler, Bauern, Dienstboten und Vertreter aus der Freudengasse ablehnt, betrachten wir uns nicht weiter als Teil davon. Eher bleibt der Widerstand unabhängig und übernimmt die Verantwortung für die Menschen im Wald.« Mit diesen Worten verließ sie den Saal und ließ die schwere Flügeltür lautstark hinter sich zufallen. Jana eilte ihr nach.

Alagir grinste innerlich vor sich hin. Sollten sie sich alle zerfleischen, letztlich würde das seinem Plan in die Hände spielen. Je gespaltener der Rat war, desto eher würde er sich auf ihn als Bindeglied stützen. Zufrieden wie ein vollgefressener Kater wandte er sich zur Tür. »Ich werde versuchen, zu vermitteln.«

Er verließ den Bankettsaal ebenfalls und trat hinaus in die Eingangshalle. Minas Stimme drang vom Schlosshof durch das geöffnete Portal: »Du verrätst dich und uns alle dazu. Was willst du hier erreichen? Sie sind selbstherrlich und wollen gar nichts verändern.«

Alagir verharrte. Minas Abgang war ihm gleichgültig, aber wenn sie Jana überzeugen wollte, mit ihr in den Jägerhort zurückzukehren, dann würde er eingreifen.

Als Jana antwortete, war ihr deutlich anzuhören, wie sehr sie um einen beschwichtigenden Ton bemüht war. »Es ist schwierig und zäh, aber ich bin nicht bereit, aufzugeben. Wutausbrüche sind wenig hilfreich.«

Jana glaubte an eine neue, bessere Zukunft. Alagir schätzte ihren Idealismus, jedoch war sie die Einzige, die diese Veränderung für alle erreichen wollte. Den anderen ging es darum, das größte Stück vom Kuchen abzubekommen. Mina fürchtete wohl berechtigterweise, dass für den Widerstand und vielleicht auch für die Waldsiedler die Krümel bleiben würden.

»Du hast dich von Alagir um den Finger wickeln lassen! Ich habe mitbekommen, wie oft ihr die Köpfe zusammengesteckt habt. Denkst du, er nimmt deine Ideen ernst? Glaubst du wirklich, dass du eine besondere Rolle in seinen Plänen spielst? Der will zurück ins gemachte Nest. Danach fliegen wir alle hochkantig aus diesem feuchten Kasten.«

Er und Jana hatten in den vergangenen Tagen Gespräche geführt. Über den Rat und das, was der richtige Weg für Ligund sein konnte. Auf ihren Wortwechsel in der Kerkerzelle, bevor die Widerständler das Schloss gestürmt hatten, war sie nie wieder eingegangen. Alagir war ihr dankbar. Zwar stand er hinter seiner Idee, Ligund mit Jana an seiner Seite wieder aufzubauen, doch hatte ihn ihre Reaktion mehr verletzt, als er zugeben mochte. Da war keine romantische Anziehung zwischen ihnen, aber sie hatte ihn ausgelacht. Das nagte an seinem Stolz. Umso mehr gefiel es Alagir, dass Jana und Mina wegen ihm stritten. Als hätten sich seine Gedanken übertragen, sagte Jana: »Er hat mir ein Lebensbündnis angeboten.«

»Und jetzt? Wirst du in die Blutlinie eintreten und den Bluterben viele kleine Nachkommen schenken?« Es gelang Mina nicht, ihren Schmerz zu übertönen.

Jana reagierte heftig. »Bleib du zynisch und verstecke dich hinter deiner Bitterkeit. Es geht nicht um Nachkommen, nicht einmal um die Bluterben. Das Lebensbündnis würde den Frieden zwischen Wald und Stadt wiederherstellen. Es wäre ein Symbol.«

Alagir grinste den Türflügel an, der ihn vor den Frauen verbarg. Wenn Jana tatsächlich ein Lebensbündnis mit ihm einging, würde niemand seine Absichten hinterfragen. Welcher überzeugte Bluterbe würde sich schon freiwillig mit einer Widerständlerin verbinden?

»Du bist ekelhaft naiv!« Minas Worte klangen, als wolle sie sie Jana vor die Füße spucken. Schritte knirschten. »Soll ich Senja von dir grüßen?«