Obsidian Castle: Der letzte Kristallsplitter - Cristina Haslinger - E-Book
SONDERANGEBOT

Obsidian Castle: Der letzte Kristallsplitter E-Book

Cristina Haslinger

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wem kannst du vertrauen, wenn du schon einmal alles verloren hast? – prickelnde Romantasy

Geheimnisvolle Tore, eine mystische Prophezeiung und obendrein die schönsten Regentag-Augen, die Bay je gesehen hat … All das erwartet sie, als Bay an ihrem 16. Geburtstag die Ausbildung zur Wächterin im Obsidian Castle antritt. Sie ahnt nicht, dass sie auserwählt ist, den mächtigen Orbiskristall zu finden. Vielmehr hofft sie, hier mehr über ihre verstorbene Mutter zu erfahren. Doch die dunklen Mächte haben ihren eigenen Plan. Gabriel ist der Letzte, auf dessen Hilfe sie sich berufen möchte, aber er hat nicht nur diesen Blick, sondern als Sohn eines Ratsmitglieds auch wertvolles Insiderwissen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Wem kannst du vertrauen, wenn du schon einmal alles verloren hast? – prickelnde Romantasy

Geheimnisvolle Tore, eine mystische Prophezeiung und obendrein die schönsten Regentag-Augen, die Bay je gesehen hat … All das erwartet sie, als Bay an ihrem 16. Geburtstag die Ausbildung zur Wächterin im Obsidian Castle antritt. Sie ahnt nicht, dass sie auserwählt ist, den mächtigen Orbiskristall zu finden. Vielmehr hofft sie, hier mehr über ihre verstorbene Mutter zu erfahren. Doch die dunklen Mächte haben ihren eigenen Plan. Gabriel ist der Letzte, auf dessen Hilfe sie sich berufen möchte, aber er hat nicht nur diesen Blick, sondern als Sohn eines Ratsmitglieds auch wertvolles Insiderwissen …

Die Autorin

© Patrizia Wenzlaff

Cristina Haslinger wuchs als waschechtes Stadtkind auf, das hinter jeder dunklen Ecke das Abenteuer vermutete und es schließlich zwischen zwei Buchdeckeln fand. Nach Abitur und Ausbildung entdeckte sie das Reisen für sich, doch nichts konnte die Sehnsucht nach fremden Welten so stillen, wie die Bibliothek am Ende der Straße es vermochte. Heute lebt die Autorin mit ihrem Mann im Norden von Hamburg, wo sie ihre eigenen Welten erschafft und in fantasievolle Geschichten verpackt.

Mehr über die Autorin auf Instagram: https://www.instagram.com/crisihasi

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Loomlight auch!

Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher und Autoren auf: www.loomlight-books.de

Loomlight auf Instagram: www.instagram.com/loomlight_books/

Viel Spaß beim Lesen!

Cristina Haslinger

Obsidian CastleDer letzte Kristallsplitter

Für meine Mutter

Kapitel 1

»Bist du soweit?«

Dads Stimme ließ mich zusammenfahren. Ich warf einen hektischen Blick über meine Schulter. Durch den Spalt zwischen Schlafzimmertür und -rahmen fiel ein matter Lichtstrahl auf den kleinen Nachttisch neben dem Bett.

»Ich komme gleich«, rief ich in Richtung Tür und zog mit spitzen Fingern an der obersten Schublade. Da lag sie, zwischen Magentabletten und gebügelten Stofftaschentüchern, eine längliche Schatulle. Mein Atem flatterte.

Behutsam hob ich den Deckel an und griff hinein. In einer routinierten Geste ließ ich den Anhänger durch meine Finger gleiten. Es war ein rau bearbeiteter Stein, die Kanten viel zu scharf für ein Schmuckstück. Unförmige Linien reflektierten das Licht und warfen gelbe, blaue und rosa Funken an die Wand. Mit klopfendem Herzen öffnete ich den Verschluss meiner Kette und fädelte den Anhänger auf, um ihn anschließend unter meinem T-Shirt verschwinden zu lassen. Dann legte ich die nun leere Schatulle zurück in die Schublade und steuerte auf die Tür zu, als ich plötzlich Schritte auf der Treppe hörte. Ich erstarrte, doch im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass ich jetzt nur noch vorwärts konnte. Daher riss ich die Tür auf und überquerte eilig den Flur, sodass ich gerade in meinem Zimmer verschwunden war, als Dad am oberen Ende der Treppe ankam.

»Bay?«, drang seine Stimme von der anderen Seite der Tür. »Kommst du?«

»Moment!«, erwiderte ich und griff nach meiner Reisetasche, die ich zum Glück heute Vormittag bereits gepackt hatte. Seit Monaten wartete ich auf diesen Tag und heute sollte es endlich so weit sein. Heute begann meine Ausbildung im Obsidian Castle.

Ich atmete zittrig aus, dann öffnete ich die Tür.

Dad stand wartend auf dem Flur. Seine Schultern hingen tief herunter, genau wie seine Mundwinkel.

»Oder hast du es dir anders überlegt?«, fragte er und nahm mir die Tasche ab.

»Das würde dir so passen!«, grinste ich und zog die Tür hinter mir zu. Ein Lachen schlich sich auf seine Lippen, doch in seinen Augen lag dieser besorgte Blick, den er schon seit Wochen mit sich herumtrug. Obwohl er es nicht explizit sagte, wusste ich, dass ihm lieber gewesen wäre, ich hätte nicht zugesagt. Denn seit Mums Tod hatte er sich weitestgehend aus der Organisation zurückgezogen und alles, was damit zu tun hatte, aus unserem Alltag verbannt. Dennoch oder gerade deswegen brannte ich darauf, Ghâley zu sehen. Die Stadt im Berg, wo er und Mum sich kennengelernt hatten. Er sprach viel zu selten von ihr.

Gemeinsam stiegen wir in den zweiten Stock hinauf. Schon seit Jahren arbeitete Dad nicht mehr von zu Hause aus, was das Büro am Ende des Flurs eigentlich überflüssig machte. Doch für einige besondere Gelegenheiten war es durchaus noch zu gebrauchen.

»Master Del Gallo wird die Einführung mit dir machen«, erklärte Dad. »Dass du nicht allein in die Tore gehen darfst, hatte ich dir gesagt, oder?«

»Hast du«, bestätigte ich und seufzte theatralisch.

Dad lachte. Mit unruhigen Fingern kramte er seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und öffnete die Tür, die mit einem leisen Knarren aufsprang. Ungeduldig quetschte ich mich an ihm vorbei.

»Eins noch!«, sagte er und griff nach meinem Handgelenk. »Erwarte nicht zu viel, ja?«

»Tu ich doch gar nicht«, erwiderte ich, doch wir wussten beide, dass das nicht stimmte.

»Ich will nur nicht, dass du enttäuscht wirst«, sagte Dad und zog mich in seine Arme. Der süßlich-herbe Geruch von Tabak stieg mir in die Nase. Ich vergrub mein Gesicht in seinem Hemd und verstärkte den Griff um seine Taille. In meinen Ohren pochte das schlechte Gewissen. Ich schämte mich dafür, ihn bestohlen zu haben. Aber es war die einzige Verbindung zu meiner Mutter, die ich mitnehmen konnte. Und ohne sie wollte ich nicht gehen.

»Na komm, er müsste gleich hier sein«, sagte Dad und schob mich sanft in das Büro. Er stellte meine Reisetasche auf der niedrigen Couch ab und wandte sich zum Gehen.

»Ich hab dich lieb, Cookie«, sagte er, den Türgriff schon in der Hand.

»Ich hab dich auch lieb«, antwortete ich mit plötzlich belegter Stimme. Ich versuchte mich an einem Lächeln, doch auf halber Strecke blieben meine Mundwinkel hängen.

Dad nickte mir aufmunternd zu, dann trat er auf den Flur und zog die Tür hinter sich ins Schloss, das mit einem leisen Klicken einrastete. Ich horchte auf seine Schritte, doch der dicke Teppich musste jedes Geräusch verschluckt haben. Stille legte sich wie ein gnädiger Nebel über den Raum. Dads eingestaubter Schreibtisch stand neben ein paar Regalen unter dem Fenster, an der gegenüberliegenden Wand hing ein dunkelroter Vorhang. Mit einem Ruck zog ich den Stoff beiseite. Staubpartikel wirbelten wie Funken durch die Luft und ließen sich friedlich auf der Oberfläche eines großen Spiegels nieder, der an der Wand befestigt war und seit einer Ewigkeit geduldig auf diesen Tag gewartet hatte. Wie ich.

In meiner Hosentasche vibrierte es. Ich zog mein Handy heraus und registrierte mit einem Lächeln, dass ich eine neue Nachricht von Zoe hatte.

»Sweet Sixteen! ENDLICH! Happy Birthday vom anderen Ende der Welt! Ach, ich habe übrigens bisher noch keine heißen Rugby-Spieler kennengelernt. Kann ja noch werden …«

Typisch Zoe. Da war sie mir in Neuseeland locker zwölf Stunden voraus und brachte es trotzdem zustande, fast meinen Geburtstag zu verpassen. Vermutlich war sie gerade aufgestanden und machte sich für den Strand fertig, während hier erst gleich die Geisterstunde schlagen würde. Schmunzelnd tippte ich eine Antwort und steckte das Handy zurück in meine Hosentasche. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder gespannt auf den Spiegel. Meine Hand hatte kaum den üppig verzierten Rahmen berührt, als ein Zittern durch das Glas fuhr. Reflexartig wich ich zurück und starrte auf die Oberfläche, die nun statt meines eigenen Spiegelbilds einen älteren Herren zeigte. Seine schneeweißen Haare hatten sich weit hinter die Stirn zurückgezogen und bedeckten die angehende Glatze nur dünn. Er trug Jackett und ein weißes Hemd. Unwillkürlich musste ich an einen Zirkusdirektor denken.

»Guten Abend«, begrüßte er mich, hinter seiner silbernen Brille funkelte ein Lächeln.

»Hallo«, sagte ich schüchtern. Mein Nacken fing an zu prickeln und ich spürte, wie mir das Blut in die Ohren schoss.

»Es freut mich, dich endlich kennenzulernen, Bay«, sagte er in einer angenehmen, dunklen Stimme. »Ich bin Domenico Del Gallo, dein Empfangskomitee.« Er deutete auf die Couch hinter mir. »Vergiss dein Gepäck nicht.«

»Oh! Ach ja«, rief ich und griff nach meiner Reisetasche, die noch immer zwischen den kitschigen Sofakissen lag. Mit einer schnellen Bewegung schulterte ich den Gurt und wandte mich wieder dem Zirkusdirektor zu, der mich nun lächelnd betrachtete. »Was muss ich jetzt machen?«

»Einfach hindurchgehen«, antwortete Del Gallo und trat einen Schritt beiseite.

»Durch den Spiegel?«, fragte ich und ärgerte mich sogleich darüber, wie naiv ich klingen musste. Natürlich war das kein Spiegel! Sonst würde er ja nicht mittendrin stehen.

Ein Schmunzeln erschien auf seinem faltigen Gesicht.

»Du hast recht, es ist ein Spiegel«, sagte er. »Doch es ist vor allem auch eines: ein Tor.« Zur Demonstration ließ er seine Hand in einer fließenden Bewegung durch die Oberfläche gleiten. Auf meiner Seite des Glases wirkte die Haut runzeliger und ich konnte ein paar Altersflecken erkennen. Aber es war eine ganz normale Hand.

Del Gallo zog seine Finger wieder zurück und sah mich auffordernd an. »Jetzt bist du dran.«

Nervös sog ich den Atem ein. Ich spürte meinen Herzschlag durch meine Adern pumpen und klammerte mich an meiner Reisetasche fest. Dann trat ich vor. Meine Nasenspitze tauchte zuerst hindurch. Die Oberfläche des Spiegels fühlte sich an wie Wackelpudding. Kalter, klarer Wackelpudding, der sich wie ein dünner Film auf mein Gesicht legte und mit leichtem Widerstand nachgab, als ich den Rest meines Körpers hinterherschob. Dunkelheit umfing mich. Ich spürte einen leichten Windhauch auf der Haut. Unwillkürlich hatte ich die Augen geschlossen und als ich sie wieder öffnete, fand ich mich vor einem riesigen Grabstein wieder. Einem von hunderten, die sich in der Finsternis eines uralten Friedhofs verloren. Über ihnen schimmerte ein bläuliches Leuchten, das leicht pulsierend die Nacht erhellte und mir eine Gänsehaut über den Körper jagte.

Wie ein uraltes Polaroid verblasste Dads Arbeitszimmer langsam auf der Oberfläche des zwei Meter großen Steins hinter mir. Nur ein paar Schritte trennten mich von dem gemütlichen, kleinen Sofa in der Mitte des Raumes und der Sicherheit meiner bekannten Welt.

»Du fragst dich sicherlich, wieso das Tor auf dieser Seite kein Spiegel ist«, sagte Del Gallo und stieß mich damit auf eine Tatsache, die mir bisher gar nicht aufgefallen war. »Wir befinden uns hier im Atrium, ein Übergang zwischen den Welten. Jeder dieser Steine stellt ein Tor dar, das an einen anderen Ort führt. Auf der anderen Seite können die Portale ganz anders aussehen. Manche sind in Spiegeln, andere in Wasser, es gibt auch welche in Bäumen oder unsichtbar zwischen zwei Steinsäulen. Aber hier im Atrium sind die Tore immer aus Stein.«

»Soll das heißen …« Ich stockte. Mein Gehirn brauchte einen Moment, um sich zu sortieren. »Diese Tore führen alle in andere Welten?«, fragte ich schließlich.

»Richtig.« Del Gallo lächelte gutmütig. »Bitte entschuldige, Bay. Ich habe ganz vergessen, wie verwirrend das alles für dich sein muss. Thomas hatte mich bereits darauf vorbereitet, dass er keine Gelegenheit hatte, dir all das hier zu erklären.« Er machte eine ausladende Geste.

An Gelegenheiten hatte es keinesfalls gemangelt. Dad hatte es einfach so lange vor sich hingeschoben, mit mir über das Obsidian Castle zu sprechen, bis nur noch Zeit für die wichtigsten Eckpunkte gewesen war. Ich hatte von den Toren gewusst, aber nicht, dass sie woanders hinführten, als in unsere eigene Welt. Doch bevor ich Gelegenheit hatte, den Gedanken zu Ende zu führen, sprach Del Gallo bereits weiter.

 »Das muss aber kein Nachteil sein«, sagte er. Ein schwaches Zwinkern flog über sein Gesicht. »Nimm es einfach als großes Abenteuer. So, nun wollen wir aber, oder?«

Aufregung schnürte mir die Kehle zu, daher nickte ich nur und schulterte erneut meine Reisetasche, die mir zwischenzeitlich vom Arm gerutscht war. Del Gallo führte mich den dunklen Friedhofspfad entlang. Die Bodenplatten waren größtenteils von Moos überwuchert und an manchen Stellen versanken meine Sneakers in feucht glänzendem Efeu. Alle paar Meter warfen vereinzelte Laternen ihr schwaches Licht in die Nacht. Ich blickte hinauf zu dem sternenlosen Himmel. Nicht einmal der Mond war zu sehen. Ich konnte mich an keine Nacht erinnern, in der ich nicht zumindest die Venus erblickt hätte. Hier schien wirklich alles anders zu sein.

»Wieso stehen die Tore auf einem Friedhof?«, fragte ich und versuchte mit dem alten Mann Schritt zu halten, der ein beachtliches Tempo an den Tag legte.

»Die Ähnlichkeit mit einem Friedhof ist tatsächlich erstaunlich«, antwortete Del Gallo. »Aber wer weiß, ob diejenigen, die diesen Ort geschaffen haben, überhaupt so etwas wie einen Friedhof kannten. Dies ist jedenfalls kein Ort des Todes, vielmehr ein Durchgang. Nur über das Atrium gelangen wir ins Obsidian Castle. Hat dein Vater dir vom Schloss erzählt, Bay?«

»Nein«, antwortete ich und versuchte im Halbdunkel die Steinplatten zu erkennen, die den Weg vor uns definierten. »Ich hatte geglaubt, es wäre nur der Name der Organisation.«

»Es ist beides«, antwortete Del Gallo, während wir in eine neue Reihe von Grabsteinen einbogen. »Wir nehmen den traditionellen Weg, dann hast du einen besseren Blick auf die Stadt im Berg.«

»Traditionell?«, fragte ich.

»Der alte Weg nach Ghâley. Früher war das Castle gastfreundlicher, was seine Nachbarn angeht. Es gab Besucher von außerhalb und regen Handel. Dafür wurde ein Weg angelegt, ein Eingang durch das Gebirge sozusagen.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Nein«, antwortete Del Gallo. »Im letzten Jahrtausend brach ein Krieg um die Region aus, in den das Obsidian Castle nicht hineingezogen werden wollte. Daher wurde der Eingang verschlossen und nun führt der einzige Weg nach Ghâley nur noch durch die Tore. Einen Teil der traditionellen Route gibt es aber immer noch.«

Del Gallo blieb vor einem schmiedeeisernen Tor stehen. Kein Grabstein-Tor, ein Richtiges, mit Gitterstäben und aufwändigen Verzierungen. Er stieß es auf, doch anstatt einfach hindurchzugehen, blickte der alte Mann sich plötzlich um und starrte in die Dunkelheit.

Ein lauerndes Gefühl krallte sich in meinem Nacken fest. Mit klopfendem Herzen folgte ich Del Gallos Blick und entdeckte einen Steinlöwen, dessen tote Augen auf mir ruhten. Er saß ein paar Meter entfernt neben einem schwarzen Granitstein. Seine spiegelglatte Marmorhaut reflektierte das Schimmern der Tore auf gespenstische Weise. Von dem dunklen Granit löste sich ein Schatten und kam langsam auf uns zu. Meine Füße wollten rückwärts stolpern, doch der Schreck hatte mich an Ort und Stelle festgenagelt.

»Wer ist da?«, rief Del Gallo.

Der Schatten kam unaufhaltsam näher. Als er nur noch wenige Meter entfernt war, antwortete eine Männerstimme: »Lehman«. Kurz darauf erschien eine Gestalt, deren Kontur sich vage im Licht der Friedhofslaternen abzeichnete. Ein großgewachsener Mann mit blonden Haaren und hellen Augen blickte interessiert zu mir herüber, bevor er sich dem Master zuwandte.

»Domenico, schön Sie zu sehen.« Er klang verbindlich, wie ein Versicherungsvertreter.

»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie ankommen, Samuel«, sagte Del Gallo und schüttelte seine Hand.

»Ich wurde in Berkeley aufgehalten«, antwortete der Mann und rief über seine Schulter: »Gabriel, begrüße den Grandmaster.«

Wie auf Stichwort erschien neben ihm das schmale Gesicht eines Jungen. Er trug ein ausgebleichtes T-Shirt und Shorts, die blonden Haare waren etwas zu lang und der ausgefranste Denim-Rucksack hing lässig über seine Schulter. Fehlte eigentlich nur das Surfbrett und eine Haifisch-Zahn-Kette, und er würde glatt als Beach Boy durchgehen. Sogar auf einem Friedhof.

»Guten Abend, Master Del Gallo«, sagte er mit einem angedeuteten Lächeln, das sofort erstarb, als er mich sah. Sein Blick glitt an mir herab und heftete sich an meine ausgetretenen Sneakers, die Zoe und ich vor ihrer Abreise nach Neuseeland mit meinen neonfarbenen Textmarkern bekritzelt hatten. Damals war es mir wie eine super Idee vorgekommen, doch jetzt plötzlich fühlte ich mich ziemlich kindisch in den selbstbemalten Schuhen.

»Schön, dich wiederzusehen, Gabriel«, antwortete Master Del Gallo und lenkte damit zum Glück von meinem Fashion-Faux-Pas ab. »Das ist Bay Hayward. Thomas‘ Tochter. Bay«, sprach er nun mich an, »das sind Samuel Lehman und sein Sohn Gabriel.«

»Willkommen«, sagte Mr Lehman steif und schüttelte wichtigtuerisch meine Hand, während sein Sohn mich weiterhin schamlos taxierte.

»Hi«, antwortete ich mit einem unsicheren Lächeln.

»Begleiten Sie uns auf der alten Route?«, fragte Del Gallo.

»Gerne«, erwiderte Mr Lehman und sah mich auffordernd an. Auch die anderen beiden wandten sich nun mir zu und schienen auf etwas zu warten. Hatte ich etwas vergessen? Das Codewort der Bruderschaft vielleicht oder ein geheimes Begrüßungsritual?

Als die Stille nicht unangenehmer hätte werden können, trat Gabriel vor und positionierte sich direkt vor mir.

»Wenn du schon nicht vorgehst, könntest du wenigstens Platz machen«, sagte er grimmig.

»Äh, was?«, stammelte ich und blickte über meine Schulter. Jetzt fiel auch mir auf, dass ich mitten im Durchgang stand. Ich machte einen Schritt zur Seite, gerade als auch Gabriel sich an mir vorbeidrücken wollte, und stieß prompt mit ihm zusammen. Für einen Moment steckten wir als zappelndes Gebilde aus Armen und Beinen zwischen dem Gitter fest. Dann zog Gabriel sich zurück, um mir mit finsterem Blick den Vortritt zu lassen.

Mit erhitztem Gesicht und wackeligem Selbstbewusstsein lief ich durch den Torbogen und wäre beinahe direkt in das nächste Hindernis gerannt, das plötzlich vor mir auftauchte. Als wäre er ein Teil der Dunkelheit, ragte ein einzelner schwarzer Grabstein vor mir auf. Er war mindestens doppelt so breit wie die anderen und auch um einiges höher. Zwei verschnörkelte Friedhofslaternen zu jeder seiner Seiten, warfen zittrige Schatten auf den von Moos überwucherten Platz, in dessen Mitte das Tor mit etwas Abstand zu den Reihen an Grabsteinen stand, die von hier aus wie in einer immer größer werdenden Spirale angeordnet waren.

Master Del Gallo trat vor und drückte einen Knopf an seiner Armbanduhr, der eine Art Türöffner sein musste. Denn sofort verfärbte sich das blaue Schimmern der Oberfläche in ein schwaches, weißes Licht. Mit angehaltenem Atem beobachtete ich, wie Mr Lehman und sein Sohn mühelos durch die Steinoberfläche liefen.

»Nun du, Bay«, klang der angenehme Bariton des Masters dicht an meinem Ohr.

In meiner Brust pochte mein Herz hektisch. Auf einmal war mir alles zu viel. Die Tore, die Dunkelheit, die fremden Menschen. Ganz plötzlich war ich mir nicht mehr so sicher, ob ich das hier wirklich wollte. Aber dann kam mir Mum in den Sinn und dass dies womöglich der einzige Ort war, wo ich ihr vielleicht ein kleines bisschen näherkommen konnte. Und ganz von allein machten meine Füße den nächsten Schritt.

Kapitel 2

Ich fand mich in einer engen Höhle wieder. Ringsum zuckte das Licht von Fackeln, die in schmiedeeisernen Haltern steckten und unsere Schatten auf den massiven Steinwänden tanzen ließen. Der einzige Ausweg führte über eine enge Treppe, die uns nach gut zweihundert Metern auf einem Felsvorsprung ausspie. Vor uns tat sich eine gigantische Höhle auf. Von der Decke hingen Stalaktiten, so groß wie ganze Berge. Dazwischen fiel Sonnenlicht in breiten Säulen durch geschickt platzierte Lichtkanäle herein und beleuchtete ein kathedralenartiges Gebilde in der Mitte der Höhle. Zwei Türme, einer zu jeder Seite, verliehen dem Gemäuer etwas Wehrhaftes. Drumherum schmiegten sich dutzende Häuser und bildeten eine kleine Stadt. Eine Stadt in einem ausgehöhlten Berg.

»Das ist Ghâley, dein neues Zuhause.« Del Gallo war neben mich getreten und schaute mit glänzenden Augen hinunter. »Es gibt auch einige Tore, die direkt ins Schloss führen«, sprach er weiter, »aber ich finde, als ersten Eindruck macht diese Aussicht doch etwas mehr her, nicht wahr?«

Ich nickte stumm. Der Anblick verschlug mir die Sprache.

»Domenico«, rief Mr Lehman ungeduldig. »Haben Sie eine Minute?«

»Ich komme«, sagte Del Gallo und berührte in einer vertrauensvollen Geste meine Schulter. »Nimm dir ruhig Zeit. Wir warten unten.« Mit einem Lächeln wandte er sich zu Mr Lehman um und trat mit ihm zusammen langsam den Abstieg über einen breit angelegten Weg an, der sich an der Felswand entlang bis zum Fuß des Schlosses schlängelte.

»Na toll!«, stöhnte Gabriel neben mir und weckte mich damit aus meinem andächtigen Staunen. »Deinetwegen dürfen wir jetzt den ganzen scheiß Berg herunterlatschen«, maulte er. Sein amerikanischer Akzent war deutlich zu hören. Vermutlich kam Mr Beachboy gerade aus der Sonne und litt im Zwielicht der Höhle an Vitamin-D-Mangel.

»Ein bisschen Training würde dir gar nicht schaden«, konterte ich und verfluchte meine Ohren, die wie bei jeder anderen Lüge auch jetzt schlagartig heiß wurden.

Gabriel hingegen ließ kein Anzeichen von Selbstzweifel erkennen. Seine blauen Augen betrachteten mich aufmerksam. Eigentlich war es mehr so ein grau-blau, wie ein Regentag. Im Sommer.

»Du scheinst ja die besten Connections zu haben«, sagte er, ohne auf meine Anspielung einzugehen. »Ich meine, nicht jeder wird vom Grandmaster persönlich abgeholt. Wieso haben deine Eltern dich nicht gebracht?«

»Weiß nicht«, log ich und zog die Schultern nach oben. Es ging ihn nichts an, dass Dad nicht mehr hierherkam, weil ihm die Erinnerung an Mum noch immer schwerfiel. Aber genau das war mein Antrieb. Ich erhoffte mir, etwas von dem zu erhaschen, wovor er zurückschreckte.

»Dann war das heute dein erstes Mal?« Gabriel betonte die letzten Worte und fügte in unschuldigem Tonfall hinzu: »Ich meine, dass du durch ein Tor gegangen bist.«

»O ja«, antwortete ich schnippisch, »und es hat gar nicht wehgetan.«

Hatte ich das jetzt wirklich gesagt? Augenblicklich schwoll mein Kopf zu einem riesigen Ballon an. Einem knallroten.

»Hey Gabe, ärgerst du schon wieder die Neuen?«

Hinter uns erschien jemand auf der Treppe. Ein Mädchen mit kupferroten Haaren und jeder Menge Sommersprossen kam wippenden Schrittes auf uns zu. Mit ihren strahlendweißen Stoffschuhen trat sie zwischen das staubige Geröll und stützte sich zu meiner Überraschung lässig auf meiner Schulter ab.

»Mach dir nichts draus, das macht er bei jeder«, raunte sie mir zu, laut genug, dass er es mitbekam.

»Ich verwandle nur die Bälle, die man mir zuspielt«, erwiderte Gabriel, das Grinsen war ihm fest ins Gesicht getackert.

»Und jetzt auch noch die obligatorische Fußballmetapher«, konterte das Mädchen und verdrehte die Augen. »Du weißt wirklich, was Frauen wollen.«

»Ich … « Jetzt war es Gabriel, der rot anlief. Sogar im schummrigen Licht der Höhle waren seine purpurfarbenen Ohrenspitzen gut sichtbar.

»Ich übernehm dann jetzt ab hier«, erklärte das Mädchen und zog mich, ohne ihn weiter zu beachten, hinter sich her.

Dies war also der Moment für den coolen Abgang. Ich verkniff mir den Blick über die Schulter und trabte breit grinsend neben ihr den Bergpfad hinunter.

»Ich heiße übrigens Lene«, stellte sie sich vor, während sie sich bei mir einhakte.

»Ich bin Bay«, antwortete ich, »und danke für die Rettung.«

»Ach was«, winkte sie ab. »Der muss sein Fett regelmäßig wegkriegen. Sonst hebt der als Sohn vom Chef noch irgendwann ab.«

»Ich dachte, Master Del Gallo wäre der Leiter?«, fragte ich erstaunt.

»Stimmt auch«, erklärte Lene. »Del Gallo ist der Grandmaster. Aber darunter gibt es noch vier weitere Master und Mr Lehman ist einer davon.«

Beim Gedanken an Gabriels selbstgefälliges Grinsen musste ich die Augen verdrehen. Kein Wunder, dass der sich so aufspielte.

Zusammen mit Lene erreichte ich schließlich die dämmrigen Straßen am Fuß des Schlosses. Der Geruch von gebratenem Fleisch und Rosmarin lag in der Luft. Staunend betrachtete ich die rot-gelben Lampions, die sanft auf und ab wippend die Straßenzüge säumten. Wir kamen an einem Friseur vorbei, einem Kiosk und einer Art Wechselstube, die verschiedene Währungen führte. Zu meiner Überraschung unterschieden sich die Bewohner des Berges kaum von den Großstädtern in London. Der moderne Höhlenmensch trug seinen Einreiher von Armani mit Aktenkoffer und Zeitung unter dem Arm. Aber es gab auch die anderen, ganz normale Menschen in ganz normaler Kleidung, die mit einem Coffee-to-Go-Becher in der Hand (gab es in diesem Berg etwa auch Starbucks?) durch die Straße schlenderten und auf ihr Smartphone starrten.

Das erinnerte mich an etwas. Zoe würde mir ohne Beweisfoto kein Wort glauben. Ich fummelte mein Handy aus der Hosentasche und hielt es in Richtung des Schlosses. Gerade als ich den richtigen Winkel gefunden hatte und auf den Auslöser drücken wollte, legten sich fremde Finger über mein Display.

»Anwärtern sind keine Mobilfunkgeräte gestattet«, erklärte Mr Lehman und wand mir mein Handy mit einer geschickten Bewegung aus der Hand. »Ich werde es in der Zentrale für dich hinterlegen.«

»Hey!«, protestierte ich, während mein Heiligtum in seiner Jacketttasche verschwand.

Hinter seiner Schulter tauchte Master Del Gallo auf und trat zwischen uns.

»Ich weiß, du bist mit unseren Gebräuchen noch nicht vertraut«, sagte er mit einem milden Lächeln, »aber leider ist es eine unumstößliche Regel, dass alle Anwärter ihre Mobiltelefone zu Hause lassen. Das hätte dein Vater dir …« Er stockte. Ein eigenartiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. War das Ärger? Oder Mitleid?

»Wie dem auch sei«, sprach er dann weiter und nickte Lene kurz zu. »Deine Zimmernachbarin hast du ja schon kennengelernt. Unsere Lene wird dir sicher gern alles Weitere zeigen.«

Lene strahlte mich aufmunternd an, aber ich brauchte einen kurzen Moment, um den Verlust meines Handys und damit die einzige Verbindung zu meinem normalen Leben zu verkraften.

»Komm mit, ich zeig dir erst mal unser Zimmer«, Lene zupfte an meinem Ärmel und zog mich vorwärts durch die Gasse. »Mach dir keine Sorgen wegen deinem Handy«, sagte sie, als wir ein Stück entfernt um eine Ecke bogen. »Nach ein paar Tagen fehlt es dir schon gar nicht mehr.«

»Ich werd‘s überleben«, seufzte ich und registrierte verwundert den kleinen Süßigkeitenladen, der auf einer Schiefertafel vor seiner Tür Handgemachte Köstlichkeiten anpries.

»Madame Céleste hat die besten Himbeerbonbons!«, schwärmte Lene, als sie meinen Blick bemerkte. »Die letzten zwei Wochen hatte ich richtige Entzugserscheinungen! Da lag ich nämlich mit Fieber im Bett.«

»Wie lange bist du denn schon in Ghâley?«, fragte ich. Während unseres Abstiegs hatten wir festgestellt, dass wir im selben Jahrgang waren und da man die Anwartschaft traditionell an seinem sechzehnten Geburtstag antrat, konnten es maximal ein paar Monate sein.

»Zwölf Wochen«, erwiderte Lene. »Morgen ist meine Zeremonie. Da muss ich mich entscheiden, ob ich dabeibleiben will oder nicht. Aber das ist ja sowieso nur Formsache. Viel wichtiger ist die Fachrichtung.«

»Drei Monate sind aber nicht besonders viel Zeit, um so eine endgültige Entscheidung zu treffen«, bemerkte ich und runzelte die Stirn über das eigenartige Währungszeichen neben den pistaziengrünen Macarons im Schaufenster von Madame Célestes kleinen Laden.

Lene zuckte mit den Schultern. »Die Meisten hier wissen ja vorher schon, was sie später machen wollen. Und selbst wenn nicht, darf man nur einen Fehler nicht machen.«

»Der da wäre?«

»In die Manufaktur zu gehen«, antwortete sie mit einem Augenrollen. »Da ruiniert man sich nur die Hände und muss sein Leben lang ein Vermögen für die Maniküre blechen.«

»Alles klar, ist notiert«, kicherte ich.

Durch einen mit üppigen Steinmetzarbeiten verzierten Torbogen erreichten wir einen großen freien Platz, der mit einem Netz von Girlanden und Lampions überspannt war. Dahinter ragte das Schloss in der Dunkelheit empor. Seine Oberfläche glänzte wie schwarzes Glas, strahlend und doch finster. Für einen Moment verschlug es mir den Atem.

Lene führte mich ein paar Treppenstufen hinauf und durch zwei schwere Holztüren in den Eingangsbereich. Unsere Schritte hallten auf den glatten Bodenfliesen. Wir passierten einen breiten Korridor und durchschritten einen weiteren Torbogen, hinter dem sich ein imposanter Raum auftat. Meterhohe Wände wurden von Bücherregalen verdeckt, davor standen kleine Ledergarnituren und Tische. Es wirkte wie eine öffentliche Bibliothek, wäre da nicht das konstante Stimmengewirr der Menschen, die die Halle durch diverse Ein- und Ausgänge passierten.

Mein Blick fiel auf eine riesige Uhr an der gegenüberliegenden Wand. Das Ziffernblatt war mindestens so groß wie das von Big Ben. Statt Zeigern wirbelten drei goldene Ringe über die mit sonderbaren Symbolen verzierte Oberfläche, die in unbestimmter Reihenfolge aufleuchteten.

»Krasses Teil, oder?« Lene war meinem Blick gefolgt.

»Was ist das?«, fragte ich erstaunt.

»Die Orbis. Aber frag mich nicht, wie die funktioniert. Das ist so eine Art Mischung aus Uhr und Kompass und noch irgendetwas Verrücktem. Damit kann man die Tore steuern und Nachrichten verschicken.«

»Also so eine Art überdimensionales Smartphone«, sagte ein Junge, der neben uns stehengeblieben war. Mit dem rotblonden Haar und seinen tausend Sommersprossen wirkte er wie die männliche Version von Lene, nur ein kleines bisschen größer.

»Da bist du ja!«, rief Lene überschwänglich und fiel ihm um den Hals. »Ich habe dich schon vermisst.«

»Ja ne, ist klar«, antwortete der Junge und wandte sich mit einem Augenrollen an mich: »Hi, ich bin Felix. Der gebeutelte Zwillingsbruder.«

»Bay, hi«, schmunzelte ich.

»Geht‘s dir wieder besser?«, fragte Felix seine Schwester, während er sich aus ihrem Griff löste. »Ich hab keinen Bock darauf, dass du mich ansteckst.«

»Seit zwei Nächten fieberfrei«, winkte Lene ab.

»Wie geht‘s den Alten?«

»Mama lässt schön grüßen und Paps sagt, er kommt morgen zur Zeremonie kurz dazu.«

»Cool«, sagte Felix. Sein Blick flog zu mir. »Und du bist neu hier?«

»Genau«, bestätigte ich.

»Mit dir sind wir jetzt übrigens fünfzehn im Jahrgang«, sagte Lene und warf mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu, den ich mit einiger Verwirrung erwiderte.

Felix lachte. »Lass mich raten, und du bist dann diejenige, die den Orbiskristall zusammensetzen darf?«

Lene zog eine beleidigte Schnute. »Wer weiß.«

»Was ist denn ein Orbiskristall?«, fragte ich und bereute es sofort. Die beiden sahen mich an, als hätte ich den Verstand verloren.

»Der Kristall der Orbis«, sagte Lene langsam und fügte, als ich kein Anzeichen von Verständnis erkennen ließ, hinzu: »Der Wächtertrupp sammeln die Einzelteile seit Ewigkeiten zusammen.«

»Es gibt so eine Prophezeiung«, erklärte Felix. »Nach der heißt es, dass einer aus dem Kreis von fünfzehn den Kristall wieder zusammensetzen wird.«

»Und mit dir sind wir jetzt fünfzehn«, grinste Lene. »Als allererster Jahrgang überhaupt!«

»Was ist denn an diesem Kristall so Besonderes?«, fragte ich und ignorierte den irritierten Blick, den die Zwillinge schon wieder austauschten.

Felix zuckte die Schultern. »Das weiß man nicht so genau. Eine riesige Energiequelle oder so.«

»Jedenfalls haben sie jetzt wohl fast alle Stücke zusammen. Also stehen die Chancen gar nicht so schlecht«, meinte Lene und streckte ihrem Bruder die Zunge heraus.

Während die beiden fortfuhren, sich darüber in die Haare zu kriegen, ob Lene überhaupt geeignet war, ein viele hundert Teile großes Puzzle zusammenzusetzen, machten wir uns auf den Weg ins obere Stockwerk.

Auf dem Absatz der polierten Holztreppe standen zwei Mädchen zusammen, deren skeptische Blicke mir die Stufen hinauffolgten. Eine von ihnen trug eine Brille mit auffälligen Katzenaugen, die andere hatte lange blonde Haare, die sie schwungvoll über ihre Schulter warf. Sie war mir auf Anhieb unsympathisch.

Lene ignorierte die beiden mit eisiger Miene, doch als wir ein paar Stockwerke weiter oben in den Westturm des Schlosses wechselten, sagte sie: »Pass auf, mit wem du dich einlässt. Es gibt hier echt falsche Schlangen« und ich wusste sofort, wen sie meinte.

Kapitel 3

Eine Stunde später hatte ich mich in dem engen Zimmer mit den Dachschrägen eingerichtet. Mein Bett stand an der hinteren Wand, ein Stückchen abseits des kleinen Fensters. Neben einem schmalen Kleiderschrank aus den Achtzigern und einer zerkratzten Tisch-Stuhl-Kombi hatte der Raum kaum etwas zu bieten. Immerhin gab es ein eigenes kleines Badezimmer mit Duschkabine.

So langsam ließ die erste Aufregung nach und ich spürte die Müdigkeit in meine Glieder kriechen. Ich war kurz vor Mitternacht durch das Spiegeltor gegangen, daher musste es jetzt circa drei Uhr früh sein (ohne mein Handy konnte ich das leider nicht so genau sagen). Doch zu meiner Überraschung hatte Lene mir eröffnet, dass Ghâley in einer anderen Zeitzone lag und trotz des Dämmerlichts gleich erst Mittag war. Es gab wohl Tageslichtsimulatoren, aber die waren viel zu schwach für die gesamte Höhle, weshalb die Tageszeiten hier nur zwischen schwarz, schwarz-grau, grau und grau-schwarz wechselten.

»Wenn ich dir einen Tipp geben darf«, sagte Lene, der meine zunehmende Müdigkeit nicht entgangen war, »lass das Mittagessen sausen und leg dich lieber für ein paar Stunden hin. Heute Abend treffen sich alle beim Lagerfeuer, also kommen wir sowieso erst spät ins Bett. Morgen wird dann zwar nochmal hart, aber besser als heute völlig durchzuhängen. Ich bin auch total durch, zwei Wochen zu Hause und schon hat man wieder Jetlag.«

»Wo kommst du denn her?«, fragte ich und kickte meine Schuhe von den Füßen. Mit einem zufriedenen Seufzer ließ ich mich auf die viel zu weiche Matratze sinken.

»Deutschland«, antwortete Lene. »Hohenschwangau um genau zu sein, aber das wird dir sowieso nichts sagen.«

Ihr leichter Akzent war mir bereits aufgefallen. Dad hatte mir im Vorfeld erklärt, dass die Mitglieder des Obsidian Castles aus allen möglichen Ländern kamen, weshalb ich angenommen hatte, dass die sprachlichen Hürden größer sein würden für diejenigen, deren Muttersprache nicht englisch war. Lenes Beispiel allerdings belegte das Gegenteil und auch Felix hatte kaum einen Akzent gehabt.

»Und wo kommst du her?«, fragte Lene und zog ihre Bettdecke bis unters Kinn. »Lass mich raten? England, oder?« Sie kicherte. »So käseweiß, wie du bist.«

»Stimmt«, grinste ich. »Ich bin aus Harecastle Hill. Das ist ein Vorort von London.«

»Wow, wie cool!«, rief Lene und setzte sich in ihrem Bett auf. »Dann musst du mich mal zum Shoppen mitnehmen. Hat dein Dad ein eigenes Tor? Paps ist Wächter im Schloss Hohenschwangau, wir können das Tor dort benutzen.«

Während Lene dazu überging, mir alles über ihre Eltern und deren Funktion im Castle zu erzählen, wurden meine Augen immer schwerer. Irgendwann musste ich eingenickt sein, denn gefühlte Augenblicke später rüttelte sie an meiner Schulter und weckte mich mit einem freundlichen »Aufstehen, Schlafmütze«.

Die Deckenbeleuchtung flammte auf und ließ mich die Augen unwillig zusammenkneifen.

»Wie spät ist es?«, fragte ich und setzte mich auf. Ich trug noch immer meine Jeans und das T-Shirt, mit dem ich angekommen war.

»Schon nach sieben«, antwortete Lene. Sie war offenbar bereits vor einer Weile aufgestanden und hatte die Zeit genutzt, um sich frischzumachen. Obwohl sie genauso wenig wie ich geschlafen hatte, strahlte sie wie der junge Frühling. Sie trug ein gelbes Sommerkleid, das ihre zarte Silhouette ganz zauberhaft in Szene setzte und hatte die Wimpern dunkel geschminkt. Der pinkfarbene Lipgloss passte eigentlich überhaupt nicht zu ihren hellroten Sommersprossen, aber irgendwie stand er ihr trotzdem. Die Haare hatte sie in einem ordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden, der in einer eleganten Welle ihren Nacken streifte. Ich bezweifelte, dass ich irgendetwas unternehmen könnte, um auch nur annähernd so frisch auszusehen wie sie. Trotzdem, oder gerade deswegen, wälzte ich mich aus den Laken und sprang unter die Dusche. Zwanzig Minuten später hatte ich mir schwarze Jeans und ein lilafarbenes Top herausgesucht, womit ich zwar nicht besonders elegant, aber immerhin einigermaßen gepflegt aussah. Meine schwarzen Locken waren noch nass, als wir die Treppe hinunterliefen, und hinterließen dunkle Wasserflecken auf meinem Oberteil.

Obwohl wir schon etwas spät dran waren, schlugen wir einen kleinen Umweg über die Cafeteria ein. Ein irrer Lärm schlug uns entgegen, als wir in den Saal im ersten Stock traten. Stühle wurden gerückt, Besteck klapperte auf Porzellan und ein ohrenbetäubendes Stimmengewirr lag in der Luft. Der Raum war wesentlich größer, als ich erwartet hatte. Tatsächlich füllte er fast die gesamte Etage aus. Direkt neben dem Eingang war ein Büffet aufgebaut, das wie am Laufband von Mitarbeitern in grünen Schürzen nachgefüllt wurde. Ich warf einen sehnsüchtigen Blick auf einen formschönen grünen Wackelpudding, aber Lene und ich versorgten uns nur schnell mit ein paar Sandwiches, womit wir eilig weiter die Treppe hinab und auf den Innenhof des Schlosses eilten. Die Lampions schaukelten träge vor und zurück und warfen ihr warmes Licht in die gigantische Höhle, deren Decke so hoch oben war, dass sie wie ein tiefschwarzer, sternenloser Himmel wirkte.

»Dürfen wir das denn?«, fragte ich und richtete meinen Blick auf das große Spiegeltor vor uns, das in eine der Mauern eingelassen war. Dads Warnung war mir in den Sinn gekommen, dass ich die Tore nicht allein betreten sollte. Ich war mir nicht so sicher, ob Lene als adäquate Begleitung durchgehen würde.

»Natürlich«, erwiderte Lene. Sie zückte ihre Armbanduhr und drückte auf einen kleinen Knopf oberhalb des Ziffernblattes. Kurz darauf blinkte etwas an dem Spiegeltor blau auf. Eine Art Kristallsplitter, der in einer üppig dekorierten Einfassung mittig über dem Tor saß.

»Was ist das für ein Ding?«, fragte ich und bewunderte die merkwürdige Aufteilung des Ziffernblattes ihrer Uhr. Master Del Gallo hatte ein ähnliches Modell besessen.

»Mein Orbisator«, erklärte Lene. »Damit kann ich das Tor zum Friedhof öffnen, alle anderen Tore sind leider für Anwärter gesperrt.«

»Verrückt«, sagte ich und versuchte mir einzureden, dass es völlig normal war, per Knopfdruck durch ein magisches Tor zu gehen. Eine Art Wurmloch, das uns an einem anderen Ort im Universum ausspuckte. Durchgangspunkt war ein geheimnisvoller Friedhof in einer Zwischendimension. Völlig normal eben!

»Morgen früh holen wir deinen in der Manufaktur ab«, sagte Lene und lief voraus. Mit angehaltenem Atem folgte ich ihr durch das Tor. Die Spiegeloberfläche streifte kühl meine Haut. Vor meinen Augen tanzten kleine Lichter, als ich in das Zwielicht des Friedhofs trat. Der Himmel hatte sich von Schwarz zu Anthrazit verfärbt, eine dünne Nebelschicht waberte um unsere Beine und ein kühler Windhauch blies mir ins Gesicht.

»Und wir sind hier wirklich richtig?«, fragte ich mit einem unsicheren Blick in die verlassene Umgebung.

»Jep«, antwortete Lene gut gelaunt. »Wir sind nur etwas spät dran. Jetzt komm!«

Wir liefen an Hunderten namenloser Grabsteine vorbei. Zwischen den Reihen wuchsen großblättrige Pflanzen und Moos war über die Fußplatten gewuchert.

»Hier kommt wohl nicht so oft jemand lang«, rief ich Lene zu, die ein Stück vorausgelaufen war.

»Ach, eigentlich schon. Aber nicht so oft wie die Wege nach Ghâley und die internen Tore.« Ihr Gesicht schien weiß im Licht der Friedhofslaternen.

»Interne Tore?«, fragte ich.

»Ja, Durchgänge, die direkt ins Schloss führen«, erklärte sie und lief ohne zu zögern in einen dunklen Gang aus Geäst hinein. Ich kam mir unheimlich mutig vor, als ich ihr mit einem tiefen Atemzug folgte. »Es gibt ein Tor im vierten Stock, dann braucht man nicht die ganzen Treppen hochzulatschen. Und die hohen Herrschaften aus dem Ostturm haben natürlich alle ihr eigenes Tor direkt ins Büro. Voll unheimlich, wenn man sich vorstellt, dass die Räume keine Türen, sondern nur Spiegeltore haben. Was, wenn mal einer aus Versehen so ein Tor kaputtmacht? Dann sitzen die da fest wie Rapunzel.« Lene kicherte und blieb so abrupt stehen, dass ich fast in sie hineingelaufen wäre.

»Wir sind da«, sagte sie leise. Mit der Hand schob sie das Gestrüpp zur Seite, das sich an der Friedhofsmauer entlanggehangelt hatte und legte damit einen schmalen Durchgang frei. Mit einem mulmigen Gefühl folgte ich ihr durch die Maueröffnung. Auf der anderen Seite gab es keine Beleuchtung, weshalb das kleine Lagerfeuer einige Meter weiter vorn besonders hell erschien.

»Pass auf, dass du nicht zu nah an den Rand kommst«, warnte Lene mich. »Da geht‘s steil runter.«

Ich sah nach rechts, doch außer Schwärze war nichts zu erkennen. Hinter uns knackten einige Äste und kurz darauf erschien ein Kopf mit Igelfrisur in dem Mauerloch.

»Hey, Lene!«, grinste der Junge, der zu dem Kopf gehörte und schob den Rest seines Körpers hinterher. »Heute noch ein letztes Mal wildes Camping, bevor morgen der Ernst des Lebens losgeht?«

»Na klar«, erwiderte Lene cool und legte ihre Hand auf meine Schulter. »Kennst du schon Bay? Bay, das ist Ruben.«

»Freut mich.« Ich setzte ein krummes Lächeln auf und hielt ihm die Hand hin, doch anstatt sie zu schütteln, zog er mich an sich und drückte mir je einen Kuss auf beide Wangen. Dabei spürte ich, wie sich seine Hand auf meinen unteren Rücken legte und riss mich irritiert los.

»Ich freue mich auch«, grinste Ruben.

Lene verdrehte die Augen. »Lass den Quatsch«, stöhnte sie und stieß ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. Zusammen liefen wir die wenigen Meter vor zum Lagerfeuer, wo sich bereits eine beachtliche Anzahl Jugendlicher versammelt hatte. Einige Pärchen belegten die hinteren Reihen, wo sie sich scheinbar ungestört fühlten, die anderen saßen in Gruppen zusammen und unterhielten sich. Mir fiel sofort die Katzenaugenbrille aus der Eingangshalle ins Auge. Lene sagte, ihr Name sei Sofia und sie war das giftige Anhängsel ihrer Tuschel-Freundin Alice, die auch jetzt mit ihr und ein paar anderen Mädchen zusammenstand und ihren gelangweilten Blick durch die Gegend schweifen ließ.

»Für welche Fachrichtung willst du dich entscheiden?«, fragte Ruben Lene.

»Management«, antwortete sie mit einem Augenzwinkern.

Ruben lachte. »Das glaube ich dir sofort!«

»Siehst du! Aber ich muss ja den Dienstweg einhalten. Also werde ich erstmal Finanzen machen.«

»Bäh!« Er verzog das Gesicht. »Damit könntest du mich jagen.«

»Was willst du denn nehmen?«

»Wächter«, antwortete er und zog eine kleine Musikbox aus seiner Tasche. Er drückte auf den Tasten herum, woraufhin ein hektischer Pitbull Party-Song erklang. Sein Blick glitt zu zwei Jungen, die etwas abseits an der Friedhofsmauer standen und er verabschiedete sich, um sich den beiden anzuschließen.

»Hier hängt ihr also abends rum?«, fragte ich und ließ mich neben Lene auf dem moosigen Gras nieder. Die Wärme des Feuers jagte mir eine wohlige Gänsehaut über den Körper.

»Hier oder im Dusk«, erklärte sie, während sie unsere Sandwiches aus ihrer Handtasche holte und mir eines davon reichte. »Ich zeige dir das die Tage alles, wenn uns der Stundenplan etwas Zeit dafür lässt«, sagte sie.

Tatsächlich wusste das Obsidian Castle den Tag gut auszufüllen, wie ich mit einem Blick auf meinen persönlichen Stundenplan festgestellt hatte, den man an einem elektronischen Infobrett neben der großen Treppe abrufen konnte. Es gab zwei Working-Units, eine tagsüber und eine in den Abendstunden. Dazwischen waren Essens- und Schlafenszeiten eingeplant, auch wenn ich es befremdlich fand, Mittagsschlaf zu halten, und stark bezweifelte, dass mein Körper sich so schnell darauf einstellen würde.

Mein Magen gab ein verärgertes Grummeln von sich und erinnerte mich daran, dass ich seit Stunden nichts gegessen hatte. Während ich den ersten Bissen meines Sandwiches nahm, kam Felix auf uns zu geschlendert. Er hatte einen schmalen, weißblonden Jungen dabei, der mich neugierig musterte.

»Hey ihr zwei«, sagte er und stellte mir dann seinen Freund vor. »Bay, das ist Jasper.«

»Du bist neu hier, oder?«, fragte dieser ohne Umschweife und ließ sich direkt an meiner Seite nieder.

»Genau«, lächelte ich und packte das Brot zurück in die Serviette.

»Wo kommst du her?«, fragte er weiter.

»Jetzt quetsch sie doch nicht sofort aus«, stöhnte Lene und nahm einen großen Bissen von ihrem Sandwich, doch dann erstarrte sie mitten in der Bewegung. Mit großen Augen blickte sie an Jasper vorbei, hinüber zu dem Jungen, der gerade mit einer Gruppe älterer Anwärter angekommen war. Seine kurzen, aschblonden Haare waren nach oben gegelt und er wirkte trotz des Poloshirts irgendwie lässig.

»Wer ist das denn?«, fragte ich niemand Bestimmtes und brach heimlich eine Ecke des Sandwichbrotes ab, um sie mir in den Mund zu schieben.

»Marcus Eschbach«, antwortete Jasper und warf einen dürren Ast in das Feuer, der knisternd in Flammen aufging. »Er ist sowas wie der Schülersprecher hier. Also wenn irgendwas los ist, musst du dich an ihn wenden.«

»Und hätten wir eine Fußballmannschaft, wäre er der Captain«, ergänzte Felix mit einem Augenrollen.

Quasi-Mannschaftskapitän Marcus Eschbach und sein Gefolge schlugen sich weiter durch bis zur Friedhofsmauer, wo sie die anderen Jungs begrüßten, darunter niemand geringeren als Gabriel, dem er mit der flachen Hand gegen den Hinterkopf schlug. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Scheinbar war dieser Marcus ein ganz cleveres Kerlchen.

»Du willst wirklich Finanzen nehmen, Lene?« Neben uns waren zwei Mädchen aufgetaucht. Eine war groß und hatte kurze, straßenköterblonde Haare, die andere etwas untersetzt und trug die braunen Haare in einem langen, geflochtenen Zopf.

»Immer noch besser, als mir die Hände in der Manufaktur zu ruinieren«, antwortete Lene spitz, doch ihre Augen flogen unruhig zu der Gruppe Älterer, in die nun wieder Bewegung gekommen war.

»Ich mache gern etwas mit den Händen«, verteidigte sich die Blonde und glitt hinter uns auf die Wiese. Im Feuerschein blitzte der Metalldraht einer Zahnspange auf, als sie sich mit einem Lächeln vorstellte. »Hi, Ich bin Eve und das hier ist Mia. Sie ist auch erst seit gestern dabei.« Sie nickte in Richtung ihrer Freundin, die gerade ihre Beine in einem Schneidersitz verknotete. Doch noch bevor sie richtig saß, hatte sich eine Hand um ihren Oberarm gelegt und sie wieder auf die Füße gezogen. Sie gehörte zu Marcus Eschbach, Mr Quasi-Mannschaftskapitän höchstpersönlich. Aber noch bevor ich realisierte, was geschah, hatten mich ebenfalls zwei Hände gepackt und an seine andere Seite verfrachtet. Perplex sah ich mich zu Lene um, doch sie zuckte nur ratlos mit den Achseln.

Dann brüllte Marcus laut: »Leute!«, womit er augenblicklich alle Gespräche zum Erliegen brachte. Auf einmal waren alle Augen auf uns gerichtet.

»Ich, als Dienstältester und gleichzeitig Vertreter der Anwärter möchte hiermit bekanntgeben, dass wir vollständig sind!«, fuhr Marcus in feierlichem Tonfall fort. Ein zustimmendes Gemurmel ging durch die Menge, begleitet von einigen Rufen. »Hiermit begrüßen wir die letzten beiden Neuankömmlinge im Obsidian Castle.«

Das musste das Stichwort gewesen sein, denn von jetzt auf gleich sprang die gesamte Gruppe auf die Füße und brach in tosenden Beifall aus. Hilfesuchend schaute Mia zu mir und den anderen, die sich ebenfalls erhoben hatten und nun unsicher an unserer Seite standen. Der Lärm ebbte langsam ab. Marcus betrachtete uns abschätzend, dann legte er seinen Arm um Mias Schultern und flüsterte: »Wie heißt du?«

»Äh, Mia«, antwortete sie, ein hellrosa Schimmern war auf ihre Wangen getreten.

»Mia!«, rief er in die Runde. »Du wirst die Ehre haben, stellvertretend für deinen gesamten Jahrgang den feierlichen Aufnahmeritus zu vollziehen. Dafür stellen wir dir natürlich jemanden an die Seite.« Seinen Blick schweifte über die Umstehenden und verharrte schließlich bei – »Gabe!«, verkündete er und winkte Gabriel zu, der mit finsterer Miene näherkam.

»Was soll der Mist?«, fragte er leise. »Ich dachte, das wollten wir nicht mehr machen.«

»Machen?«, fragte Mia ängstlich. »Was denn machen?«

»Jeder Jahrgang hat seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft bewiesen, indem er sich Onkel Kong vorgestellt hat«, erklärte Marcus. »Und du bist nun die Auserwählte für deinen Jahrgang.«

»Aber … aber wieso ich?«, stammelte Mia, die plötzlich ganz grün um die Nase geworden war. Ihre Hände zitterten und ich hatte das Gefühl, sie würde jeden Moment kollabieren.

Auf einmal war ich stinksauer. War ja klar, dass sie sich Mia rausgepickt hatten, die Schüchterne, die locker als vierzehn durchging. Bevor ich näher drüber nachdenken konnte, hatte mein Mund sich bereits selbstständig gemacht: »Lass sie in Ruhe. Ich werd‘s machen.«

Für einen Moment starrten mich alle an. Rubens Musikbox hörte auf zu spielen und nur noch das Knistern des Lagerfeuers war zu hören. Mia riss sich aus Marcus‘ Umarmung als hätte man sie gerade auf dem Schafott begnadigt, und klammerte sich an Eves Seite.

»Bist du dir sicher?«, flüsterte Lene, doch ich bewegte keinen Muskel. Tatsächlich war ich mir so sicher wie noch nie. Ich hatte mich im Obsidian Castle angemeldet, ohne zu wissen, was mich erwartete, da würde ich mich jawohl bei so einem schlabberigen alten Onkel vorstellen können, egal wie abstoßend der wohl sein würde.

»Sehr cool«, sagte Marcus anerkennend. »Wie heißt du?«

»Bay«, antwortete ich, laut genug, dass es alle mitbekamen.

»An deiner Stelle würde ich mir das noch mal überlegen«, bemerkte Gabriel und blickte so abschätzig auf mich herab, dass ich gar nicht anders konnte, als trotzig zurückzustarren. Unterdessen brachen die Umstehenden erneut in Jubelrufe aus.

Marcus klopfte seinem Freund auf die Schulter und flüsterte: »Jetzt sei kein Spielverderber. Du bringst sie hin.«

Genau Gabe, sei kein Spielverderber!

In einem Anflug von Kühnheit verschränkte ich die Arme vor der Brust und sah ihn abwartend an. »Also, wo ist jetzt dieser Onkel?«

Gabriel stieß genervt die Luft aus. »Wie du willst«, sagte er und bahnte uns einen Weg durch die Menge, die angefangen hatte, mich lautstark anzufeuern. Ich spürte, wie sich das Adrenalin in meinen Venen sammelte und mein Herzschlag sich beschleunigte. Aber ich wollte mir nichts anmerken lassen. Mit gleichgültiger Miene folgte ich Gabriel, der mich hinter die Friedhofsmauer führte. Wir passierten einige Reihen Grabsteine und kamen schließlich neben einer Art Mausoleum zum Stehen, auf dessen Dach ein steinerner Rabe saß und mit seinen toten Augen auf uns herabblickte.

»Ist er da drin?«, fragte ich und ärgerte mich über den schrillen Unterton in meiner Stimme.

Gabriel schüttelte den Kopf und deutete auf einen Grabstein, der in die Mauer des kleinen Hauses eingelassen war. »Er ist in dem Tor«, sagte er mit undurchdringlicher Miene. Hinter mir hörte ich Getuschel. Ein Blick über die Schulter bestätigte, dass die anderen uns mit etwas Abstand gefolgt waren.

»Ich … ich soll durch das Tor?«, fragte ich ungläubig und fügte in Gedanken hinzu: Allein?

»Jep.« In Gabriels Blick schlich sich ein Grinsen, das eine Welle trotzigen Selbstvertrauens in mir aufwirbelte. Was bildete der sich eigentlich ein?

»Alles klar«, erwiderte ich einigermaßen fest, trat an ihm vorbei und hielt auf das schwache weiße Leuchten des Tores zu.

»Onkel Kong wartet!«, rief jemand hinter mir. Dann begann die Menge mich erst leise und dann immer lauter anzufeuern: »Bay! Bay! Bay! Bay!«

Es war absolut surreal. Ich kam mir vor wie ein Torwart beim entscheidenden Elfmeter. Meine Hände waren schwitzig, das Adrenalin jagte durch meine Adern. Mit angehaltenem Atem machte ich einen Schritt auf den rauen Granit zu. Jetzt waren es nur noch zwei Meter, vielleicht drei. Am besten, ich würde mich einfach davorstellen und … Wuuuusch!

Ein riesiger, rosa-blau-gestreifter Affenarm schoss aus der schimmernden Oberfläche des Grabsteins und fuchtelte blind umher. Dabei ertönte ein irres Gebrüll, eine Mischung aus tiefem Gegrunze und frustriertem Geschrei, das alle Härchen in meinem Nacken sich aufrichten ließ. Ich taumelte rückwärts und stolperte über eine Bodenwelle. Dabei stieß ich gegen Gabriel, dessen Hände nur darauf gewartet zu haben schienen, mich aufzufangen. Seine Finger krallten sich in meine Schultern.