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Warum hängt die adrette Faschingsprinzessin ausgeblutet zwischen Schweinehälften im Kühlraum? Wer schubste den Innenminister vom Hotelbalkon? Warum liefert sich Kroasso eine halsbrecherische Verfolgungsjagd mit der Wurstthekenkraft der Landmetzgerei Graus und kann er die Flüchtige vor dem Grenzübergang Kiefersfelden-Kufstein lebend stellen? Weshalb musste das Kopfballungeheuer sterben? Klaus Schwarzfischer bleibt mit "Ochsenzungenkuss" seinem Stil treu, der ihm den oft zitierten Vergleich mit Quentin Tarantino (Süddeutsche Zeitung) einbrachte. Skurril, amüsant, abwegig, blutig. Ochsenzungenkuss ist eine kurzweilige Persiflage auf das Genre des Regionalkrimis. Kommissar Kroasso: ein seltsamer Mensch. Er schläft bei den Ermittlungen ein, genehmigt sich ein paar Bierchen zwischendurch und bringt auch mal die Wochentage durcheinander. Seine Aufklärungsquote ist trotzdem oder vielleicht gerade deshalb sensationell. Obwohl sein kriminalistisches Fachwissen sich lediglich aus Kinofilmen und TV-Krimiserien speist, löst er Mordfälle am Fließband. Wer ist dieser Kroasso? Woher kommt er? Seine Vergangenheit birgt ein dunkles Geheimnis. So finster nun aber auch wieder nicht, dass es sich nicht bei ein paar gepflegten Hellen beim Frühschoppen lüften ließe. Ochsenzungenkuss lädt ein zu einer Achterbahnfahrt zwischen Irrwitz, Spannung, Schwarzem Humor und Morden zwischen Türstock und Elfmeterpunkt.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Prolog
Frühschoppen
Die Gewichtheberin
Dünnes Blut
Der Innenminister
Das Kopfballungeheuer
Der Schreiber
Klaus Schwarzfischer
Kommssar Kroasso und der Ochsenzungenkuss
Copyright © 2019 Klaus Schwarzfischer/schwafi
Kontext-ks/Bücher, Bogenstraße 2, 93051 Regensburg
www.schwafi.com Alle Rechte vorbehalten.
Hört die Stimmen, wie heiser
sie nach dem Sinn des Lebens fragen,
mit den Jahren morsch und leiser,
doch weiser als in jungen Tagen?
Des Helden Ankunft aus der Fremde
ward flehentlich herbeigesehnt.
Der Anfang birgt ein jähes Ende,
Das Leben wird vom Tod gezähmt.
Ein andrer tritt an dessen Stelle,
will heldenhaft sich nunmehr zeigen,
giert aus der Dunkelheit ins Helle.
Das Hemd scheint weit, der Faden seiden.
Des einen Leid, des andern Glück,
Aufrecht nach vorn. Kein Blick zurück.
Der Karl kann nicht mehr so gut sprechen. Nur wer ihn kennt, weiß, was er will. Erna, die Bedienung, kennt ihn fast gar nicht, bringt ihm aber trotzdem immer gleich ein frisches Bier, wenn er sich ihr gegenüber in lautmalerischer Form äußert. Meistens bewegt er sogar bloß den Mittelfinger leicht vom halb leeren Glas weg und sie reagiert wie ein ferngesteuerter Service-Roboter. Nonverbale Kommunikation auf höchstem Niveau. Freilich kommt das mit dem Nicht-gescheit-sprechen-können zum Teil auch davon, dass eine gute Bedienung die Biere von Haus aus in bemerkenswert hoher Frequenz heranschafft und dass der Karl nicht nachgibt. Aber hauptsächlich liegt es an dem Stromschlag, den sie beide, der Seigner Karl und der Halbleiter Georg, damals abbekommen haben, als sie noch als Inspekteure bei der BAYEV, der Bayerischen Energieversorgung AG gearbeitet haben. Wem 80 Milliampere in den kleinen Finger hinein und aus der großen Zehe wieder herausfahren, der kann froh sein, wenn ihm nur das halbe Gesicht runterhängt. Frühpension. Der Halbleiter Georg wollte den Karl noch wegziehen, obwohl alle Lehrbücher über Starkstrommasten das Thema ausführlich behandeln und sich darin einig sind, dass das keine besonders gute Idee ist. Dem Strom ist es nämlich egal, ob er sich einen oder zwei Menschen hintereinander als Kabel aussucht.
Irgendwer muss den Strom dann abgeschaltet haben, weil sie beide vom Masten runtergefallen sind wie Badfliesen, für die man den Flexkleber mit zu viel Wasser angerührt hat. Dem Halbleiter hat seiner Meinung nach fast nichts gefehlt. Aber als er mitbekommen hat, dass der Seigner mit 48 bei vollen Bezügen in Rente gehen darf, hat er ein bisschen in die Richtung simuliert, dass der Stromschlag auch an seinem Hirn nicht spurlos vorbeiflaniert ist. Am Schluss war er sich selbst nicht mehr sicher, ob er wirklich einen Hau hat oder bloß so tut als ob. Wenn du einmal in Pension geschickt worden bist, spielt die vollumfängliche Hirnfunktion eine nebengeordnete Rolle. Mindestens eine neurologisch ansteuerbare Hand sollte dir geblieben sein, die kräftig genug ist, die vom Nervensystem übertragenen Reize feinmotorisch umzusetzen. Eine Hand, die gar nicht oder so minimal zittert, dass du das Glas zügig und bierverlustfrei vom Tisch zum Mund führen kannst. Und die haben die zwei noch. Also beide haben noch beide Hände. Nur mit dem Sprachzentrum vom Karl ist das wie gesagt so eine Sache.
„Geht noch eine, Seigner?“
„Nononadrimahonoahoiwe.“
Erna steht schon mit dem Sechserkorb am Tisch, stellt zwei frische Bier zwischen Seigner und Halbleiter ab und nagelt mit dem Kugelschreiber zwei neue Latten an die Zäune auf den Bierfilzen.
„So, dann haben wir einmal neun und einmal sieben.“
„Hahumhoduerschiem?“
„Ich muss ein bisschen bremsen, Seigner. Der Doktor hat gesagt, dass meine Leberwerte sich auf außergewöhnlich hohem Niveau eingependelt haben.“
„Dekimmvonschromschloch.“
„Wahrscheinlich. Aber ich find's gar nicht schlecht, dass man mal ein bisschen langsamer tut. Ich trink ab sofort jeden Frühschoppen nur mehr einstellig, bis die Werte wieder passen.“
„Wihilurisn?“
„Kurz vor elf. Dann packen wir's eh, oder? Die Mama schaut immer so grantig, wenn ich zu spät zum Mittagessen heimkomme.“
„Entschuldigen Sie, ist hier noch frei? Darf ich mich kurz dazusetzen.“
„Gern, wir trinken eh bloß noch schnell die Halbe aus. Sie sind aber nicht von hier?“
Der Neue erzählt, dass er heute seinen ersten Arbeitstag hat. Um zwölf wird er erwartet. Und weil der Zug schon um 10:35 Uhr angekommen ist, hat er noch ein bisschen Zeit, und so weiter und so fort.
„Ach so. Dann sind Sie der neue Polizei-Dienststellenleiter.“
„Ihaschauzengatoalenglich.“
„Bitte?“
„Der Karl meint, dass wir uns vom Aussehen her sehr ähneln.“
„Stimmt, jetzt wo Sie es sagen. Darf ich die Herren zu einem Schnapserl einladen? Würde mich freuen. Drei Obstler?“
Seigner und Halbleiter nicken.
Der neue Kommissar will noch einen Toast aussprechen, bevor er den Schnaps wegkippt. Er steht schwungvoll auf und knallt mit dem Hinterkopf an den schmiedeeisernen Rahmen des Hirschgeweih-Hängeleuchters über dem Tisch. Mit hohlem Blick lehnt er kerzengerade an der Tischkante, flüstert benommen „Salut“, schüttet den Schnaps hinunter und fällt wie ein Brett nach hinten um.
„Allonahawedere.“
Seigner steht auf und geht. Er kann nichts dafür, meint es nicht böse. Der Strom hat ihm die Fähigkeit verbrutzelt, Situationen richtig einzuschätzen. Er kann nicht mehr beurteilen, was falsch und was richtig, ob etwas wichtig oder belanglos ist.
„Bis morgen, Seigner“.
Erna kommt statt mit dem Bierkorb mit einem Defibrillator zurück. Sie meint, Halbleiter solle das mit dem Wiederbeleben probieren. Halbleiter trägt sein altes, kurzärmeliges Außendiensthemd mit dem gestickten BAYEV-Logo auf dem Kragen. Deshalb geht Erna davon aus, dass er die meiste Ahnung von angewandter Elektrizität hat. Halbleiter kann nicht. Sein Strom-Trauma. Ihm stellt es ja schon die Armhaare auf, wenn er unter Straßenbahnleitungen durchgehen muss. Als der Notarzt mit seinem Köfferchen hereinschnauft, ist es zu spät.
„Verdammt Leute, warum habt ihr nicht defibrilliert? Mit jeder verlorenen Minute sinkt die Lebenserwartung bei Kammerflimmern um 10 Prozent.“ Halbleiter rechnet die Aufgabe im Kopf durch: 220 Prozent.
„Kennt jemand von Ihnen den Toten?“
„Georg Halbleiter“, sagt Halbleiter, „der Tote ist Georg Halbleiter. Er arbeitete früher bei der BAYEV. Ich kannte ihn sehr gut.
Der Notarzt wird angepiepst. Er schaut aufs Display, packt eilig zusammen, läuft demonstrativ gehetzt zum Dienstporsche und brettert mit Pilotensonnenbrille und qualmenden Reifen davon. Der Sanitäter erklärt seinem pausbäckigen Freiwilligen im Sozialen Jahr, dass hier keiner mehr zu retten und von daher nichts mehr für sie zu tun sei. Außerdem sei gleich Mittag und das Cordon Bleu auf der Tageskarte verhältnismäßig günstig. Der Freiwillige lächelt.
„Und wer räumt den weg?“, fragt Erna, deren Frühschichtumsatzbilanz ins Bodenlose zu fallen droht.
„Hat überhaupt schon jemand die Polizei gerufen?“
„Das geht doch normalerweise automatisch“, murmelt ein Kartenspieler beiläufig aus der Tiefe des Gastraums heraus, während er sein Blatt auf einen Herz-Solo zusammensteckt.
Der Schankkellner meldet sich mit dem Handy am Ohr zu Wort: „Da geht keine Sau hin bei der Polizei.“
„Das übernehme ich, sind ja nur ein paar Schritte bis zur Inspektion“, ergreift Halbleiter überraschend die Initiative. Seinen Mantel samt Geldbörse lässt er an der Garderobe hängen. Als hätte eine überirdische Autorität, die es gut mit ihm meint, kurzfristig die Kontrolle über seine Handlungssteuerungsleitzentrale übernommen, schlüpft er in den taubenblauen Trenchcoat des vom Hirschgeweihleuchter niedergestreckten Kommissars. Der passt wie angegossen.
Die Inspektion befindet sich in einem Gebäude aus den 50ern. Automatisch öffnet sich die zweiflügelige Glastür. Er steht im Gang. Die Anmeldung nicht besetzt. Seltsam diese Stille. Er klopft an eine Tür nach der anderen, wirft einen Blick in jedes Büro. Wie ausgestorben. Letzter Versuch. Hinter der Tür mit dem selbst gebastelten Schild „Erstaufnahmelager“ meint er, Geflüster zu hören. Klopf klopf. „Ja, bitte!“, meldet sich ein sehr hohe, an morgendliches Vogelgezwitscher erinnernde Stimme, die erfolglos versucht, einen aufkeimenden Lachanfall zu unterdrücken.
Halbleiter öffnet die Tür. Ein gewaltiges Tschintarassabum setzt ein. Der im Internet als für fröhliche Kindergeburtstage unentbehrlich angepriesene 500 Watt-Karaoke-Verstärker vibriert auf dem Tisch. Volumenregler am Anschlag. „Herzlich willkommen, schön, dass Sie da sind. Wir haben uns schon so sehr auf Sie gefreut. Herzlich willkommen, schön, dass Sie da sind. Wann gibt's schon mal wieder einen Tag so wie heut“, schallt es Halbleiter aus rund zwanzig Kehlen entgegen. Auch wenn sie den Text nicht auswendig können, sondern nur vom Blatt ablesen, berührt das Lied Halbleiter sehr. So einen überwältigenden Empfang hatte er nicht erwartet. Ein „Guten Tag“, ein „Grüß Gott“ oder ein „Mahlzeit“ ja. Aber ein Herzlich-Willkommenslied der kompletten Polizeiinspektion, das ist etwas Anderes, etwas Größeres, etwas von dem er noch zehren können wird, wenn die Zeiten irgendwann wieder schlechter werden sollten. Krieg, Aids, Lungenentzündung. Man weiß nie. Es kann jeden treffen, jederzeit und überall. Der korpulente Sangesbruder aus der ersten Reihe macht den Verstärker aus, der mittlerweile nur noch ein Tsunami-artiges Dröhnen von sich gibt, und geht mit einem freundlichen Lächeln und einem bunten Blumenstrauß unter dem Applaus des restlichen Chors feierlich auf Halbleiter zu.
„Na, war das nicht eine gelungene Überraschung zu Ihrem Einstand? Kommissar Kroasso, wir begrüßen Sie herzlich als neuen Dienststellenleiter der Polizeiinspektion Rugsenberg. Mein Name ist Wroblinsky, Werner Wroblinsky. Ich bin Ihr Stellvertreter.“
„Angenehm, Halbleiter“, sagt Halbleiter.
Wroblinsky stutzt. Sein breitmaulfroschiger Mund verkrampft sich kurzzeitig zu einem kleinen o, um sich dann gleich wieder zu entspannen und auf drei Viertel des Kopfumfanges auszudehnen.
„Halbleiter, hahaha, ich verstehe. Wenn Sie der Leiter sind, dann bin ich der Halbleiter. Sehr witzig. Wirklich sehr witzig. Also Humor haben Sie, dass muss man ihnen lassen.“
Halbleiter kann mit sich selbst nicht zufrieden sein. Ein guter Kommissar muss seinen eigenen Namen kennen. Nicht dass seine Untergebenen sich gleich am ersten Tag ein falsches Bild von ihm machen. Wo kämen wir da hin? So geht es nicht. Es muss sich einiges ändern. „Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, vielen Dank für das sehr sehr schöne Lied. Aber jetzt zurück an die Arbeit.“ Beifall, Juchu- und Bravo-Rufe, bevor sich alle Mitarbeiter gut gelaunt an ihre Schreibtische zurückbegeben und die Telefonhörer wieder einhängen.
„Kommissar Kroasso, gerade kam ein Anruf rein. Eine männliche Leiche im Adlerbräu. Wollen gleich Sie oder soll das Herr Wroblinsky übernehmen?“, fragt eine bekannte, piepsige Stimme, als Halbleiter gerade den Mantel an die Garderobe seines schmucken, neuen Büros hängen will.
„Nein, nein, das macht Kommissar Kroasso schon selbst“, wiederholt er den Namen des frisch gebackenen Dienststellenleiters, damit er sich endgültig einprägt. Konrad Kroasso. Ein schöner Name. So hätte er gerne schon immer geheißen.
Bevor er das Präsidium verlässt, massiert er sich die Handcreme, die sein Vorgänger in der Schublade liegen gelassen hat, in die Haare und kämmt sie vor dem kleinen Rahmenlosen Wandspiegel nach hinten. Nur für den Anfang. Heute Nachmittag wird er sich Wellaform Haargel kaufen, die Sache mit dem Äußeren professionell angehen, auch wenn er ehrlich gesagt so schon ziemlich gut aussieht.
Erna kommt ihm entgegen, als er die Wirtsstube betritt. „Ich bin Kommissar Kroasso, meine Liebe“. Die Bedienung glotzt ihn unverwandt an. „Wenn Sie mir nicht glauben, hier die Marke und der Dienstausweis. Wo liegt die Leiche?“
„Da hinten“, deutet Erna ins Nebenzimmer, „da hinten haben sie ihn auf den Tisch geworfen.“
„Gehört der braune da dem Opfer“, zeigt Halbleiter auf den Mantel, der in einem früheren Leben ihm gehört hat. Erna hebt die Schultern teilnahmslos: Dass sie es erstens nicht weiß, dass es ihr zweitens egal ist und dass sie drittens den Nebenraum in einer halben Stunde für die Rentner-Reisegruppe aus Dresden braucht.
„Wenn Sie mir bitte ein gut eingeschenktes Bier im Halbliterglas bringen könnten“, formuliert Halbleiter einen besonders langen Satz, wie er ihn nie zuvor bei einer Bestellung verwendet hat, damit Erna nicht auf die Idee kommt, Kroasso mit Halbleiter in Verbindung zu bringen. Man muss ja nicht gleich alles umstellen. Die guten Dinge aus dem alten Leben will er im jetzigen beibehalten. Sie lediglich neu interpretieren. Warum sollte einem exzellenten Kriminalisten das Bier weniger schmecken als einem pflichtbewussten Energieversorgungsbetriebsangestellten im vorgezogenen Ruhestand. Er schnäuzt zur Sicherheit in sein bereits stark verkrustetes Papiertaschentuch und steckt es dem Toten in die Hosentasche. Für die Spusi. Die Spurensicherung wird eine DNA-Analyse vom Taschentuch machen und den Toten als Georg Halbleiter identifizieren. Jetzt ist Kroasso in seinem Element. Eindeutig Mord, stellt er fest, als er ein paar Tropfen Blut am Hinterkopf des Toten entdeckt. Erna kommt mit dem Bier zurück: „Sonst noch was?“
„Setzen Sie sich bitte. Was können Sie mir zum Tathergang erzählen?“
Erna verdreht genervt die Augen und setzt sich missmutig an den Tisch mit der Leiche.
„Was heißt Tathergang? Schnaps hat er gesoffen und dann ist er umgefallen.“
„Geht das vielleicht ein bisschen genauer?“
„Obstler.“
„Na also. Warum nicht gleich so? Und das Blut am Hinterkopf?“
„Keine Ahnung, vielleicht Ketchup. Weiß nicht.“
„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Hat sich jemand verdächtig verhalten?“
„Hm. Da war schon so einer. Den hat man ganz schlecht verstanden. Ein Ausländer wahrscheinlich. Der hat sich sofort aus dem Staub gemacht, nachdem der da aus den Latschen gekippt ist.“
„Würden Sie den Mann wiedererkennen?“
„Denke schon. Dem hing ja das halbe Gesicht runter.“
Erna darf aus Halbleiter-Kroassos Sicht als ideale Zeugin bezeichnet werden: Weil sie nur mittwochs im Adlerbräu bedient. Weil der Karl und der Georg normalerweise nie am Mittwoch im Adlerbräu saufen, bloß diesmal wegen den Bakterien oder Viren in der Schankanlage vom Goldenen Anker. Weil sie demnach die beiden nur flüchtigst kennt und zwar ein wenig blöd schaut, wenn der Gast mit sieben Halbe als Halbleiter den Raum verlässt und eine halbe Stunde später vom Kopf her nach Lavendel-Handcreme stinkend als Kommissar wieder auftaucht, sie aber dann doch nicht hundertprozentig sagen kann, wer wer ist und wer wer war.
Die Idee mit dem Taschentuch ist super: Frische flüssige und eingetrocknete alte DNA. Eindeutiger geht es nicht. Oder doch? Nicht dass die Gerichtsmediziner die Leiche unbedingt obduzieren wollen, einen Abstrich aus der Nase des Opfers mit dem gebrauchten Tempo vergleichen und feststellen, dass die Erbmassen außer dem Ypsilon-Chromosom nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Lieber auf Nummer sicher gehen.
Kommissar Kroasso fragt die Bedienung, ob er sich eine Sackkarre ausleihen darf. Die große. Nur für eine Stunde. Erna meint, sie müsse erst den Chef fragen. Sie kommt, ohne den Chef konsultiert zu haben, im Laufschritt mit der Karre zurück, nachdem Kroasso angedeutet hatte, dass er andernfalls den Nebenraum sperren und versiegeln lassen müsse. Kroasso nimmt das Schweinshaxenmesser aus dem Besteckkrug. Er schneidet seinen früheren Mantel in Streifen und bindet die Leiche damit auf die Sackkarre. Tischdecke drüber. Hinterausgang. Die Leute im Krematorium sind schlecht bezahlt. Gut, dass im Geldbeutel aus dem neuen Mantel ein paar Hunderter stecken.
Gut auch, dass der Brennmeister gemeint hat, er muss sich ein Haus bauen. Jetzt hockt er da auf seinem Rohbau und hundertdreißigtausend Euro Schulden. Da ist es vollkommen egal, welches Märchen ihm Kommissar Kroasso auftischt. Geld her und rein in den Ofen mit Halbleiters Vergangenheit. Anstandshalber hat sich Kroasso eine einigermaßen glaubwürdige Geschichte für den Brennmeister ausgedacht, damit der mit einer positiven Grundhaltung an die Arbeit herangehen kann und nicht nachher stundenlang über das Warum und Wieso sinnieren muss. Irgendetwas mit neuzeitlicher, aggressiver Form der Pest und mit „zum Schutze der Bevölkerung“. Er impft dem Rohbauherrn absolutes Stillschweigen ein. Kein Wort zu niemandem. Massenpanik verhindern. Brennmeister und Kommissar verabschieden sich mit einem festen Händedruck und blicken sich tief in die Augen. Die Gewissheit, dass sie nicht mehr und nicht weniger als die Welt vor dem Untergang gerettet haben, es da draußen aber niemand je erfahren wird, verbindet sie mit dem reißfestesten Band, das sich zwischen heterosexuellen Männern spannen kann: dem Band des stillen Heldentums. Nicht einmal seiner Frau wird der Brennmeister vom heroischen Feldzug zur Rettung der Volksgesundheit erzählen, wenn sie gegen Mitternacht von ihrem Zweitjob als Putzhilfe heimkommt. Er wird die fünfhundert Euro auffächern und sie ihr aufs Kopfkissen legen. Sie wird erschöpft und glücklich einschlafen, mit der beruhigenden Erkenntnis, dass sie den Elektriker mit einer Abschlagszahlung besänftigen kann und der seine Drohung, alle Kabel wieder raus zu reißen, nicht wahrmachen wird.
„Sie haben doch bestimmt eine kleine Plastiktüte für mich?“
„Wie, Herr Kommissar?“
„Na, so eine wieder verschließbare fürs Zahngold oder fürs Flugzeug.“
„Ach so, solche. Zehn, zwanzig oder wie viele?“
„Eine. Und eine Pinzette.“
Kroasso steckt das wichtigste, weil einzig verbliebene, Beweisstück in die Folie. Gut dass er noch dran gedacht hat, bevor es in der Hosentasche des Mordopfers ein Raub der Flammen geworden wäre.
„Möchten Sie kein frisches“, meint es der Brennmeister gut. Kroasso lächelt. Gerade setzt er dazu an, ihm zu erklären, dass es viele Dinge zwischen Himmel und Hölle gibt, die ein einfacher Krematoriumsofenbeschicker nicht versteht. Doch die Unsicherheit, ob es nicht „zwischen Himmel und Erde“ heißen müsste, lässt ihn schweigen und den Anflug von Überheblichkeit allmählich aus seinen Gesichtszügen weichen.
Dass sich die Ereignisse an einem einzigen Tag dermaßen überschlagen, damit kann keiner rechnen. Nicht einmal ein mit allen Wassern gewaschener Kommissar wie Kroasso. Er setzt sich auf die Gartenbank vor der Brennerei, will die Vorkommnisse noch einmal in Gedanken durchgehen. Nein, er will sie Revue passieren lassen. Das hört sich von der Wortwahl her besser an. Er will auf einem Niveau nachdenken, das dem leitenden Beamten der Polizeiinspektion Rugsenberg gerecht wird.
Als er an das Gespräch mit dem Seigner Karl beim heutigen Frühschoppen denkt, wird es im heiß und kalt und heiß und kalt. Es hört gar nicht mehr auf; nicht so extrem, dass er mit Erfrierungen und Verbrennungen dritten Grades dasitzen würde. Aber schon so heftig, dass er abwechselnd unter den Achseln einen Schoppen Warmwasser verliert und sein Zähneklappern die Amseln aus ihrem Nest im Efeu an der Krematoriumsbacksteinwand aufschreckt. Wie konnte ihm dieser Fauxpas passieren? Da kommt davon, wenn man sich mehr überlegt, wie man über etwas nachdenkt, als über was man nachdenkt. Revue, Niveau und Fauxpas: der ganze französische Scheiß bringt dich nicht weiter, wenn es um existenzielle Dinge geht. Und wer oder was ist das Existenziellste überhaupt? Ohne wen oder was würde kein Mensch auf der Welt existieren? Ohne die Mama. Fünf nach drei ist es jetzt. Und die Mama wartet seit zwölf mit dem Semmelschmarrn auf ihn. Mmmmh. Semmelschmarrn und Apfelkompott. Mit Äpfeln aus dem Garten von Onkel Hans. Onkel Hans, der im Ruhrgebiet jahrzehntelang unter Tage gearbeitet und Kohlestaub eingeschnauft hat, dem sie gesagt haben, dass er froh sein kann, wenn er 50 wird. Und jetzt ist er 85 und steht immer noch höchstpersönlich auf der Leiter, um die Äpfel für Mamas Kompott zu pflücken. Oft fährt er sogar von Düsseldorf mit dem Auto runter. Das sind 550 Kilometer. Und das mit 85.
Halbleiters Arzt meinte damals, es sei eine vorübergehende Folge des Stromschlags, dass er immer vom Hundertsten ins Tausendste kommt. Aber daran könne, solle und müsse er arbeiten. Sich auf das Wesentliche konzentrieren. Er könne sich das so vorstellen, dass er das Hirn zusammenkneift, um besser denken zu können wie andere die Augen, wenn sie etwas unscharf sehen. Wo waren wir? Beim Wesentlichen. Beim Existenziellen. Bei der Mama. Bei der Mama und dem Semmelschmarrn mit Apfelmus aus den Äpfeln aus dem Garten vom Onkel Hans. Von Düsseldorf aus sind es 550 Kilometer zu uns her. So, das war schon kürzer. Geht doch. Jeder muss an sich arbeiten. Stillstand bedeutet Rückschritt. Ein guter Kommissar und Dienststellenleiter bekommt das hin. Wann geht der Bus?
„Mahlzeit, Mama.“
„Schorschi, wie schaust du denn aus?“
„Wieso?“
„Die fettige Frisur. Und was ist das für ein Mantel?“
Sie nimmt ihm den Mantel ab und wuschelt ihm die Haare.
„Du, Mama, Entschuldigung, dass ich … “
„Setz dich hin, Bub, ich wärm dir den Schmarrn auf.“
„Mmmmh, ist der gut. Mmmmh und das Apfelkompott erst.“
„Weißt du, woher die Äpfel sind, Schorschi?“
„Nein. Woher denn, Mama?“
„Na, dann rate mal? Wenn du nah dran bist, sag ich heiß und wenn du ganz falsch liegst, sag ich kalt.“
Kann sein, dass es dem früheren Halbleiter deshalb immer heiß und kalt wird, wenn er an seine Mama denkt, weil sie jedes Mittagessen das Heiß-kalt-Spiel mit ihm macht. Seit über 50 Jahren. Dass das auf die innere Verfassung eines Menschen abfärbt, kann dir jeder Psychologe wie aus der Pistole geschossen bestätigen. Kroasso kennt die Vorurteile genau, die Seelenklempner gegen Mütter haben, die mit 83 noch bei ihren Söhnen wohnen. Dass diese sich möglichst lange für die unerträglichen Geburtswehen revanchieren wollen. Sie fügen im Gegenzug dem Kind seelische Schmerzen zu, indem sie Anforderungen stellen, die es nicht erfüllen kann. Ängste, Schuldgefühle und Selbstzweifel sind die Folge. Kroasso kann jedem Psychotherapeuten dringendst empfehlen, einmal den Semmelschmarrn mit Apfelmus aus den Äpfeln vom Onkel Hans aus Düsseldorf zu probieren. Dann wird er sich eingestehen müssen, dass seiner Theorie im Hause Halbleiter jegliche Grundlage entzogen wird. Die Mama bleibt bloß da, weil ihm sonst niemand so gut kochen kann.
„Und in der Bank alles in Ordnung, Schorschi?“
„Mhm.“
Eigentlich wäre es eine passende Gelegenheit gewesen, sie darüber aufzuklären, dass er jetzt als Dienststellenleiter arbeitet und nicht mehr als Bank-Chef. Aber seine Mama ist so stolz auf ihn, dass er es nicht übers Herz bringt, sie zu verunsichern oder gar schon wieder zu enttäuschen. Außerdem: Worüber willst du beim Essen reden, wenn du Stromprüfer bist oder warst? Ein Bankchef erlebt viel mehr: Überfälle, Börsencrash, größere Geldautomaten, Bonuszahlungen. Solche Dinge will eine stolze Mutter hören und nicht, dass die neuen Strommessgeräte kaputt geliefert worden sind.
„Wann kommst du heim?“
„Kann heute später werden. Jahreshauptversammlung der Finanzdirektion. Bussi, Mama.“
Zurück ins Büro. Nein, erst noch in die Drogerie. Die Haare. Er will ja künftig mehr Wert aufs äußere Erscheinungsbild legen.
„Und, Herr Kroasso, wie war's im Adlerbräu?“
„Schwieriger Fall, Wroblinsky. Aber schon so gut wie gelöst.“
„Echt?“
„Der Getötete heißt beziehungsweise hieß Georg Halbleiter. Ein gut aussehender Mann im besten Alter. Ich konnte sein Taschentuch für die DNA-Analyse sichern.“
„Ist die Leiche schon in der Gerichtsmedizin?“
„Das Opfer wurde leider bei der Überstellung von einem Terroristen geraubt und vernichtet.“
„Nirgends mehr ist man vor denen sicher. Nicht mal als Leiche. Sind die Angehörigen schon informiert?“
„Ja. Das Opfer lebte allein in einem Haus mit seiner lieben Mutter. Der Tod ihres Sohnes hat sie nicht so hart getroffen, weil er lediglich ein frühpensionierter BAYEV-Mitarbeiter war.“
„Und gibt es schon einen Verdacht?“
„Ziemlich konkret sogar. Die Bedienung im Adlerbräu sagte aus, dass ein Mann mit arabischem Aussehen und herabhängender Gesichtshälfte fluchtartig den Tisch verlassen habe, als Halbleiter im Begriff war, sein heldenhaftes Ringen mit dem Tod zu verlieren.“
„Fahndung! Oder?“
„Langsam, Kollege Wroblinsky. Ich habe bereits intensivst recherchiert. In meinem privaten Verbrecherdatenarchiv bin ich fündig geworden.“
„Echt?“
„Dringend tatverdächtig ist der 55-jährige Karl Seigner, Anführer einer internationalen Terrorgruppe. Er hielt sich mit falscher Identität hier im Ort auf und vermittelte den Anschein, ein Einheimischer zu sein.“
„Ein Schläfer?“
„In der Tat, Wroblinsky. Vor sieben Jahren wurde Karl Seigner, der in Terroristenkreisen 'die Fresse' genannt wird, mit einem menschenverachtenden Terroranschlag auf das bayerische Überland-Stromnetz in Verbindung gebracht, aber nie gefasst.“
„Eine Bestie!“
„Gott sei Dank wurde die Bedienung im Adlerbräu sofort hellhörig, als sie den Mann einen äußerst seltenen maghrebinischen Dialekt sprechen hörte.“
„Und dann?“
Kroasso verliert den Faden. Was wollte er eigentlich erzählen? Dass sich das Maghrebinische vom Hocharabischen in der Bildung der 1. Person Singular und Plural des Imperfekts unterscheidet? Nein, es war etwas anderes.
„Und dann? Und dann. Ja und dann hat die Bedienung gehört, dass er laut „Allonahawedere“ in den Raum gebrüllt hat, als er geflüchtet ist. Und was das zu bedeuten hat, wissen wir ja alle.“
Wroblinsky regt sich ein bisschen darüber auf, woher die Asylanten das Geld haben, dass sie sich schon vormittags ein paar Bier reinpfeifen können, während er als unterbezahlter Staatsdiener und guter Deutscher pflichtbewusst seine Arbeit verrichte. Kroasso macht Wroblinsky mit strengem Blick darauf aufmerksam, dass es einen gewaltigen Unterschied zwischen Terroristen und Asylanten gebe. Das dürfe er nicht über einen Kamm scheren. Sogar rechtliche Schwierigkeiten könne er bekommen, wenn er weiter so gedankenlos mit falschen Begriffen um sich werfe. Einer seiner vielen Freunde, fabuliert Kroasso, habe einen Asylsuchenden einmal beiläufig Flüchtling genannt. Der habe ihn angezeigt, weil das „ling“ am Wortende grundsätzlich eine Verkleinerungsform bilde und er sich nicht als Zwerg beschimpfen lasse. Als Wroblinsky nachhakt, ob der Pygmäe den Prozess gewonnen habe, beschleicht Kroasso das Gefühl, dass es angebracht wäre, wieder zum Kernthema zurückzukehren.
„Der Terrorist muss das ahnungslose Opfer und seine Vorliebe für Spirituosen gekannt haben. Jedenfalls scheint er davon ausgegangen zu sein, dass dieser die Einladung auf eine Runde Obstler nicht ausschlagen würde. In einem unbeobachteten Moment muss er Halbleiters Schnaps blitzschnell ausgetrunken und das Glas mit dem Gift des australischen Inlandtaipans gefüllt haben.“
„Oxyuranus microlepidotus, die giftigste Schlange der Welt!“
„Genau, Wroblinsky. Wir haben es hier also mit einem absoluten Profi zu tun.“
„Und wie konnten die Terroristen die Leiche stehlen.“
„Darüber darf ich zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen noch nichts sagen.