Odins Insel - Janne Teller - E-Book

Odins Insel E-Book

Janne Teller

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Beschreibung

Der nordische Gott Odin kehrt zurück in ein fiktives Skandinavien und erlebt Erstaunliches. Eine zeitgenössische nordische Saga über religiösen und politischen Fanatismus, über Wahrheit und Lüge, über Konflikte und Demagogie, über Liebe und Freundschaft – eine kluge Zivilisationskritik und Analyse unserer Gesellschaft. Unterhaltsam und zugleich voller Tiefgang wird die Frage nach der menschlichen Natur gestellt

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FÜR ALDO

Inhaltsverzeichnis

WidmungI GinnungagapII Niflheim & MuspelheimIII Ymer & AudhumlaIV Odin, Wili & WeV Midgard, Asgard & UdgardVI Sonne & MondVII YggdrasilVIII Esche & UlmeIX BifröstX Mimers QuelleXI WalhallaXII RagnarökXIII Gimle DämmerungCopyright

I Ginnungagap

Zuerst war das Nichts und das Nichts war ein Garnichts ein Alles, wo nichts Chaos und das Chaos nichts war

Denn so kennen wir Ginnungagap

Es war kalt an jenem Tag, an dem Odin in Smedieby eintraf. Die Erde war schneebedeckt, und die Sonne schien durch einen leichten Nebel hindurch. Links lief eine Gruppe Kinder Schlittschuh auf einem zugefrorenen See, und in einer Einzäunung gegenüber rieben drei langhaarige Pferde sich aneinander, um warm zu bleiben. Weiter den schmalen verschneiten Weg hinunter konnte er undeutlich eine kleine Ansammlung von Häusern mit Tangdächern erkennen, aus deren Schornsteinen Rauch aufstieg. Darüber hinaus gab es nichts als Felder, so weit das Auge reichte.

Odin blickte auf seine beiden Pferde, die neben ihm standen. Aber vielleicht war stehen nicht das richtige Wort, denn während das eine sicher stand, das Gewicht gleichmäßig auf die vier kräftigen Beine verteilt, neigte das andere sich gefährlich nach links, um das rechte Vorderbein, das kraftlos in der Luft hing, nicht mit seinem Gewicht zu belasten. Es war ein trauriger Anblick, ein so kräftiges Pferd, das ein Bein gebrochen hatte und trübselig den Kopf hängen ließ. Odin seufzte tief; was sollte er tun? Noch einmal betrachtete er die Szenerie um sich herum, doch außer den Kindern war keine Menschenseele zu sehen.

»Nun ja, jedenfalls besteht kein Zweifel daran, dass wir heute nicht mehr weiterkommen«, sagte er zu den Pferden und begann sie von dem kleinen grünen Schlitten abzuspannen. Ob Baltazar, der immer noch vier taugliche Beine hatte, den Schlitten wohl alleine ziehen konnte? Nicht, dass Odin Rigmarole zurücklassen wollte. Nein, davon konnte nicht die Rede sein, aber er war gezwungen, Hilfe zu holen. Odin löste das Schlittengeschirr und befreite das hinkende Pferd. Doch wie sollte er jetzt vermeiden, dass Baltazar den Schlitten zu seiner Deichselseite hinzog, unmittelbar in den Graben hinunter? Odin wurde sich schnell darüber klar, dass er auf diese Weise nicht weit kommen würde.

Genau in diesem Augenblick erblickten die Schlittschuh laufenden Kinder den Fremden, der so plötzlich mit seinen zwei Pferden und seinem Schlitten auf dem Weg stand, als wäre er aus der eisblauen Luft aufgetaucht. Einer nach dem anderen blieben die Schlittschuhläufer stehen, bis schließlich alle Kinder am Ufer des Sees versammelt waren, von wo aus sie neugierig den Mann betrachteten, den es an diesen Ort verschlagen hatte. Es waren zwölf Kinder im Alter von drei bis zehn Jahren. Anfangs starrten sie in vollkommenem Schweigen auf den ungewöhnlichen Anblick. Dann begannen sie wie auf ein heimliches Zeichen hin durcheinander zu reden.

»Sein Pferd kippt gleich um«, sagte einer, der Einar hieß.

»Wie lustig sie aussehen, die Pferde. Ich könnte wetten, dass sie mit ihren schweren Beinen nicht annähernd so schnell laufen können wie Rufus«, sagte ein anderer, der Lauge hieß.

»Was ist, wenn er gefährlich ist?«, fragte ein kleiner Junge und begann zu weinen.

»Ich habe noch nie einen Mann mit so einem langen Bart gesehen«, sagte ein Mädchen und trat ein paar Schritte zurück.

»Und mit so einem merkwürdigen Mantel.«

»Jedenfalls kommt er mit dem Pferd nirgendwohin, so viel ist sicher !«

»Wo mag er wohl herkommen?«, murmelte ein Mädchen mit Namen Ida-Anna und kratzte sich nachdenklich hinter dem Ohr. Sie sah aus, als sei sie die Älteste, und wie um ihre Führungsrolle zu demonstrieren, richtete sie sich auf und erklärte mit fester Stimme: »Wir müssen etwas tun.«

»Wir müssen etwas tun! «, echoten die anderen Kinder umgehend und sahen einander an, nicht ganz sicher, was das nun wäre. Dann richteten alle ihre Augen auf Ida-Anna, als erwarteten sie von ihr, dass sie über das Schicksal des Fremden und seiner beiden Pferde entschied.

»Zwei von uns laufen nach Hause und holen Hilfe, zwei andere gehen hin und sehen sich alles näher an, und der Rest wartet hier.«

Ein unzufriedenes Murmeln erklang, doch keiner sagte etwas, und die Mehrzahl der Kinder nickte mit dem nötigen Ernst, den die Situation erforderte.

»Gut«, fuhr Ida-Anna fort. »Lauge und Troels laufen nach Hause. Bittet den Schmied und Onkel Eskild sofort zu kommen. Ingolf, du kommst mit mir. Und Ejner, du bist für den Rest hier verantwortlich.« Äußerst zufrieden mit ihrer eigenen Entschlossenheit, nahm Ida-Anna ihren kleinen Bruder Ingolf an der Hand und ging ohne das kleinste Anzeichen von Bedenken auf den Fremden mit den zwei Pferden zu, von denen eins ein gebrochenes Bein hatte.

Während all dies geschah, war Odin eine Idee gekommen. Er hatte den Schlittenstrang auf Baltazars Seite gelockert und war nun dabei, diesen mit einem Stück Riemen, das er aus Rigmaroles Geschirr gelöst hatte, zusammenzubinden, sodass der Zug auf beiden Seiten gleich stark sein würde, auch wenn nur ein Pferd zog. Doch war das Leder durch den starken Frost steif und widerspenstig geworden, und Odin wollte es kaum gelingen, dass die Riemen ihm gehorchten. Er zog und mühte sich, und bald rann ihm der Schweiß über die Stirn und trübte seinen Blick. Trotzdem ließ sich der widerspenstige Knoten nicht um einen Millimeter fester ziehen. Rigmarole betrachtete die Anstrengungen ihres Herrn mit großen, traurigen Augen, während sie darum kämpfte, auf ihren drei belastbaren Beinen das Gleichgewicht zu halten. So war Baltazar der Erste, der die zwei Kinder entdeckte, die sich dem Schlitten näherten. Er drehte den Kopf, um sie besser sehen zu können, und diese Bewegung veranlasste Odin aufzublicken.

»Sieh mal an, sieh mal an«, murmelte er, ohne sein Tun zu unterbrechen.

Ida-Anna und Ingolf blieben ungefähr zehn Meter von dem Schlitten entfernt stehen. Auch wenn Ida-Anna es nur ungern zugab, war sie bereit, sich augenblicklich umzudrehen und das Weite zu suchen, falls irgendetwas Unerwartetes passieren sollte. Aber es passierte nichts. Der Fremde band nur weiter das Geschirr mit großen unförmigen Knoten zusammen, wobei er eine seltsame Melodie pfiff, und die Pferde standen ganz still. Vorsichtig kamen die Kinder näher, machten einen Schritt nach dem anderen, zögerten dann einen Augenblick, bevor sie es wagten, wieder einen Fuß vor den anderen zu setzen, und erst als sie nur noch wenige Meter von dem Fremden entfernt waren, bemerkten sie, wie klein er war; nicht viel größer als sie selbst. Auch die Pferde, die aus der Entfernung so riesig ausgesehen hatten, waren kaum größer als die Ponys, die auf dem Feld gegenüber spielten. Aber die Pferde des Fremden waren kräftiger als alle Pferde, die Ida-Anna jemals gesehen hatte. Ihre Beine waren so kräftig wie die des Schmieds, ihre Rücken so breit wie der Esstisch ihrer Mutter, und ihr Fell so dicht und abstehend wie ihr eigenes Haar. Doch das Merkwürdigste an ihnen war ihre Farbe. Beide Pferde waren gelb mit schwarzen Mähnen und schwarzen Schweifen. Doch das Gelb glich mehr dem Licht der Sonne als der Farbe Gelb und das Schwarz mehr dem Dunkel der Nacht als der Farbe Schwarz. Ida-Anna schüttelte den Kopf; noch nie hatte sie etwas Ähnliches gesehen.

Odin beachtete die Kinder nicht, sondern arbeitete weiter an dem Geschirr, und Ida-Anna und Ingolf kamen noch ein paar Schritte näher. Mit ausgestreckter Hand hätte Ida-Anna Rigmarole nun berühren können, die die beiden Kinder misstrauisch von der Seite beäugte und nicht genau wusste, was sie von der Situation halten sollte. Doch das Pferd hatte ein sanftes Gemüt, und ungeachtet seines beklagenswerten Zustands hob es den Kopf und gab ein freundliches Schnauben von sich. Das Schnauben ließ Ida-Anna ihre Angst vergessen, und sie streckte die Hand flach aus, wie der Schmied es sie gelehrt hatte. Und sie hatte tatsächlich nichts zu befürchten. Das Pferd schnüffelte vorsichtig an ihrer Hand und stieß Luft aus den Nüstern, bis Ida-Annas Hand so kitzelte, dass sie laut lachen musste.

»Sieh mal an, sieh mal an. Du hast also Freunde gefunden.« Odin richtete sich auf und tätschelte seinem Pferd den Hals. Dann sah er zu den Kindern hinüber. Beide waren von Kopf bis Fuß in dicke Sachen gehüllt, und nur ihre rotwangigen Gesichter waren zu sehen. Mit ihren grau-blauen Augen, ihren sommersprossigen Stupsnasen und ihren rotblonden Stirnlocken, die aus ihren grauen Mützen herausguckten, sahen sie sich sehr ähnlich. Nur war das Mädchen einige Zentimeter größer als der Junge, und sie machte unmissverständlich den Eindruck, die Führende zu sein. Odin wandte sich mit aller Höflichkeit, von der er fühlte, dass die Umstände sie erforderten, ihr zu. »Guten Tag, guten Tag.« Er verneigte sich tief und berührte fast mit der Stirn den Schnee.

»Guten Tag«, murmelte Ida-Anna, und weil sie nicht wusste, was man zu einem Fremden sagt und es sehr ungezogen wäre, überhaupt nichts zu sagen, sprach sie ein paar tröstende Worte zu dem Pferd, das ein Bein gebrochen hatte.

Odin trocknete sich die Stirn mit dem Ärmel ab.

»Entschuldigung, mein Fräulein«, sagte er und zog an seinem langen weißen Bart. »Aber wir sind wahrlich ein wenig vom Kurs abgekommen und haben uns verirrt. Wenn ich mir die Freiheit nehmen darf zu fragen, du kannst mir wohl nicht sagen, wo in aller Welt meine beiden Pferde und ich uns befinden?«

Ida-Anna lachte, von plötzlichem Mut überwältigt.

»Wissen Sie nicht, dass Sie in Smedieby sind, der wichtigsten Stadt östlich von Posthusby?« Erst jetzt bemerkte Ida-Anna, dass der Fremde nur ein Auge hatte. Wo das andere Auge einmal gewesen war oder wo es hätte sein sollen, schloss sich das Augenlid stramm über dem Hohlraum. Ida-Anna sah sich den Fremden genauer an. Er war alt, älter als jeder andere, den Ida-Anna je gesehen hatte, und vielleicht noch älter. Sein Haar war lang und weiß und sein Bart noch länger und noch weißer, und die Haut in seinem Gesicht war dunkel und voller Falten und Runzeln, als hätte er sich lange Zeit in der Sonne aufgehalten. Er trug einen langen Mantel aus etwas, das wie Schaffell aussah, und seine unförmigen Stiefel sahen aus, als hätten auch sie einmal einem Schaf gehört. Er war schon ein merkwürdiger Mann, und Ida-Annas Erklärungen schienen ihm nicht im Mindesten zu helfen. Der kleine alte Mann runzelte nur seine eh schon übermäßig stark gerunzelte Stirn und fragte:

»Ob du mir mithilfe der Sterne wohl eine genauere Position angeben könntest? Siehst du, mein Pferd hat sich ein Bein gebrochen, und ich befinde mich in einer höchst misslichen Lage.« Den letzten Satz fügte Odin hinzu, weil er das Gefühl hatte, das freundliche Mädchen um zu viel zu bitten, und er wollte weder aufdringlich noch unhöflich erscheinen.

An diesem Punkt hätte die Konversation leicht fehlschlagen können, da Ida-Anna weder von den Sternen noch von ihren Positionen noch von Pferden mit gebrochenen Beinen eine Ahnung hatte. Doch glücklicherweise waren Lauge und Troels in der Zwischenzeit, so schnell sie konnten, in das Dorf gelaufen und hatten die Erwachsenen benachrichtigt, und jetzt näherten sich der Schmied und Onkel Eskild mit einer aus der ganzen Dorfbevölkerung Smediebys bestehenden Delegation – wenn man von der alten Rikke-Marie absah, die sich alt genug fühlte, um zu meinen, dass die Welt zu ihr kommen konnte, und nicht sie zu der Welt.

Der Schmied war ein imposanter Mann, mindestens einen Kopf größer und viele Zentimeter breiter als jeder andere in Smedieby, und als er ein paar Meter vor Odin stehen blieb, blieben auch alle anderen Einwohner sofort stehen.

»Hm, hm«, räusperte sich der Schmied und versuchte sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen. Mit demonstrativer Ruhe, die nichts mit seinen tatsächlichen Gefühlen zu tun hatte, nahm er seine stark qualmende Pfeife aus dem Mund und räusperte sich noch einmal. »Hm, hm. Ich will nicht unliebenswürdig sein, aber Ihr Pferd hat sich ein Bein gebrochen! «, erklärte er laut und deutete mit dem Mundstück seiner Pfeife auf Rigmarole. Dann sah er seine Mitbürger an, und als alle bekräftigend nickten, fuhr er fort: »Wie alle wissen, rühmen sich die Einwohner Smediebys – wenn ich das sagen darf –, ein sehr gastfreundliches Volk zu sein, und das nicht ohne Grund – wenn ich das sagen darf –, aber wer sind Sie?«

»Ich heiße Odin«, sagte Odin und verneigte sich tief. Da das jedoch keinen großen Eindruck auf die Leute zu machen schien, fühlte er sich gezwungen, weitere Erklärungen abzugeben. »Ich bin weit gereist und habe noch einen weiten Weg vor mir. Aber ich habe mich in einem Meteorsturm verirrt, Rigmarole hat sich das Bein gebrochen, und, ja, hier sind wir also.«

Der Schmied, der sehr wohl wusste, dass es Dinge auf dieser Welt gab, von denen er nichts verstand, der diesen Unverstand jedoch nicht vor den anderen Einwohnern zugeben mochte, beachtete Odins Erwähnung des Meteorsturms nicht weiter, und später am Tag, als ein anderer das Thema aufgriff, bestand er darauf, dass Meteorsturm nur ein anderes Wort für einen sehr starken Schneesturm sei. Für den Moment entschloss er sich, sich auf das Pferd zu konzentrieren, denn niemand in Smedieby hatte mehr Ahnung von Pferden als der Schmied.

»Ich will nicht unliebenswürdig sein, aber ein Pferd mit einem gebrochenen Bein ist genau besehen das Gleiche wie gar kein Pferd«, sagte er feierlich.

»Ja«, nickte Odin. »Ich befinde mich wahrlich in einer höchst misslichen Lage. Sehen Sie, ich bin wahrlich nicht wenig in Eile. Und jetzt muss ich warten, bis Rigmaroles unglückseliges Bein wieder geheilt ist.« Odin sah sein Pferd bekümmert an.

»Ich will nicht unliebenswürdig sein, aber ich weiß, wovon ich spreche. Das Beste wäre, das Pferd zu schlachten.« Der Schmied deutete wieder mit der Pfeife auf Rigmarole, die aus reinem Schreck der Länge nach auf den Bauch fiel.

»Seht euch das an! Seht euch das an!«, rief Odin und legte seine Hand auf den Pferdehals.

»Ja, bereiten Sie seinen Schmerzen lieber ein für alle Mal ein Ende«, tröstete der Schmied.

»Nein, nein. Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Odin zog an seinem Bart, wie sollte er mit nur einem Pferd weiterkommen? »Es muss doch hier oder in der Umgebung jemanden geben, der Rigmaroles Bein behandeln kann?«

Jetzt war der Schmied um Worte verlegen. Er wusste sehr gut, welche Gefühle ein Mann für sein Pferd hegen kann, aber er wusste auch, dass es in Smedieby keinen Arzt gab und dass der Arzt in Posthusby, der manchmal Wunder wirken konnte, sich keinem Pferd näherte und sich auch bis zu seinem Todestag weigern würde, das zu tun. Nein, es nützte nichts, auch nur daran zu denken. Zum ersten Mal, soweit sich alle – er eingeschlossen – erinnern konnten, wusste er nicht, was er sagen sollte. Und während der Schmied nach der besten Art, nichts zu sagen suchte, beschloss Mutter Marie – die Mutter von Ida-Anna und Ingolf –, dass es an der Zeit war, dass der ein oder andere das ein oder andere tat. Mutter Marie fror, und sie hatte eine gut gemästete Ente auf dem Feuer, die bestimmt gewaltig anbrennen würde, wenn sie sie nicht bald herunternahm.

»Während ihr Männer darüber nachdenkt, was mit dem armen Geschöpf geschehen soll, sollte jemand unseren Gast ins Warme bitten und ihm einen Becher Weihnachtsbier servieren. Schließlich ist heute Weihnachten, das sollten wir nicht vergessen«, sagte Mutter Marie, und alle Einwohner nickten eifrig, um zu bekräftigen, wie gerne die Einwohner von Smedieby den Fremden zu einem Becher Weihnachtsbier einladen würden. Nicht umsonst war Smedieby weit und breit für seine Gastfreundschaft berühmt.

Mutter Marie wartete nicht auf Antwort, sondern griff resolut nach Odins Arm und schlug den Weg Richtung Dorf ein. Ida-Annas Mutter war eine robuste Dame mit einem runden Bauch und zwei langen kräftigen Beinen, und Odin hing mehr an ihrem Arm, die Stiefelspitzen schwebten über dem Schnee, als dass er ging.

Verschreckt angesichts der Aussicht, mit dem Mann allein gelassen zu werden, der es als das Beste ansah, sie zu schlachten – und der sie darüber hinaus für einen Er hielt –, begann Rigmarole ihr Bein so schnell zu bewegen, dass es aussah, als hätte sie acht Beine, von denen nur eins unbrauchbar war. Eine Schneewolke bildete sich in der Luft und ließ die Dorfbewohner zurückweichen, und auf seltsame Weise hob das Pferd von der Erde ab und flog – später würden die Einwohner von Smedieby ihren Nachbarn aus Posthusby gegenüber beschwören, dass sie fliegen meinten, wenn sie fliegen sagten – durch die Luft zu dem Schlitten, wo es sich auf den breiten, dick gepolsterten Sitz gleiten ließ. Und sobald seine Kameradin gut saß, lehnte Baltazar sich vor, bohrte die Hufe tief in den Schnee und setzte all seine Kräfte ein. Seine Muskeln spielten unter dem gelben Fell, die Blutadern in seinem Kopf und an seinen Beinen traten hervor. Mit einem Knall strafften sich die widerspenstigen Knoten, und der Schlitten bewegte sich langsam, aber sicher den Weg entlang hinter Odin her.

Mutter Marie und Odin, die an der Spitze des Zuges gingen, konnten nicht sehen, was hinter ihnen vor sich ging. Aber den übrigen Dorfbewohnern hatte es die Sprache verschlagen. Nie zuvor hatten sie ein Pferd über die Erde schweben sehen. Und nie zuvor hatte auch nur einer von ihnen, einschließlich des Schmieds, der sonst alles wusste, was es von Pferden zu wissen gab, gesehen, dass ein Pferd von einem anderen in einem Schlitten gezogen wurde. Die Einwohner von Smedieby kniffen die Augen zusammen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumten. Dann richteten sie den Blick auf den Schmied. Aber der Schmied sagte kein Wort, und solange der Schmied die Angelegenheit nicht kommentierte, erdreistete sich auch kein anderer, das zu tun. Und in einer Stille, wie sie nie zuvor in Smedieby zu hören gewesen war, folgten die Dorfbewohner, die Kinder zuletzt, Mutter Marie und dem kleinen alten Mann und dem Pferd mit dem Schlitten, der von dem anderen Pferd gezogen wurde, durch den Schnee.

Der Schmied sagte nichts, bis sie die ersten Häuser des Dorfes erreicht hatten, und auch da begnügte er sich damit, einige Worte in Onkel Eskilds Ohr zu flüstern. Glücklicherweise ließ Onkel Eskilds Gehör ein wenig zu wünschen übrig, sodass der Schmied seine Worte fünfmal wiederholen musste und beim fünften Mal so laut, dass der Bäckermeister, der neben Onkel Eskild ging, nicht umhin konnte zu hören, was gesagt wurde.

»Er muss vom Kontinent gekommen sein.«

Sofort wiederholte der Bäckermeister diese verblüffende Äußerung für die Leute um ihn herum, die sie für die hinter sich wiederholten, bis die Worte die Kinder erreicht hatten und zwischen den Reihen hin- und hergingen, und bald wussten alle in Smedieby, was der Schmied gesagt hatte: Der Fremde war vom Kontinent gekommen. Und das war wirklich eine Neuigkeit, denn zum letzten Mal war jemand vom Kontinent gekommen, als die Urururgroßmutter der alten Rikke-Marie noch ein Kind gewesen war, und das lag so lange zurück, dass niemand sich mehr daran erinnern konnte.

Da man jedoch nicht so ohne weiteres darauf vertrauen konnte, was die Erwachsenen sagten, sammelten sich die Kinder um Ida-Anna, die in der Prozession etwas zurückgeblieben war. Seit sie mit dem Fremden gesprochen hatte, war Ida-Anna ungewöhnlich still; sie hatte tatsächlich nicht ein einziges Wort gesagt. Während sie das Pferd des Fremden getätschelt hatte, hatte Ida-Anna etwas Merkwürdiges entdeckt: von den Schlittenkufen war keine Spur im Schnee zu sehen, weder vor noch hinter dem Schlitten, und es gab auch keine Abdrücke von Pferdehufen. Den ganzen Weg zurück ins Dorf hatte Ida-Anna darüber nachgedacht, und jetzt wusste sie, warum das so war. Ida-Anna flüsterte den anderen Kindern zu, dass sie nicht hier reden wollte, wo die Erwachsenen mithören konnten. Aber später am Nachmittag, genau zu dem Zeitpunkt, wenn die Schafe für die Nacht hereingetrieben würden, sollten alle Kinder zu Onkel Josefs Scheune kommen. Dort würde sie ihnen erzählen, was sie herausgefunden hatte.

Die Prozession hatte das Zentrum von Smedieby erreicht, einen ovalen Platz um einen kleinen Ententeich, der zugefroren und bis auf ein nasses Loch an einem Ende ganz mit Schnee bedeckt war. Insgesamt acht Häuser lagen zum Ententeich hin, alle waren aus großen, ungleichen Steinbrocken gebaut, mit schiefen Holzläden vor den Fenstern und tanggedeckten Dächern, die bis zu den Türen hinunterreichten. Nah am Teich stachen ein paar winterkahle Bäume aus den Schneewehen. Mutter Maries Haus lag nördlich vom Ententeich, und direkt hinter dem Haus befand sich ein Stall, der Odin zum Gebrauch angeboten wurde. Mithilfe des Schmieds, Onkel Eskilds und acht anderer Dorfbewohner bekam Odin Rigmarole von dem Schlitten gehoben und in den Stall getragen. Das Pferd wurde so bequem wie möglich auf ein dickes Bett aus Stroh gelegt, und Baltazar wurde neben ihm angebunden. Ida-Anna holte ein wenig Heu, und bald kauten die Pferde ganz zufrieden.

Die Einwohner von Smedieby hatten sich samt und sonders in den Stall gedrängt und stießen und schubsten, um so nah wie möglich an den Fremden vom Kontinent heranzukommen. Aber Odin beachtete sie nicht. Er pfiff eine leise Melodie, als wäre er alleine, beugte sich hinunter und ließ seine Hand vorsichtig über das Bein des unglückseligen Pferdes gleiten. Es war nicht nur an einer, sondern an zwei Stellen gebrochen. Ida-Anna brachte etwas Leinen von ihrer Mutter, das Odin in lange schmale Streifen riss, von denen er einen nach dem anderen um Rigmaroles Bein band. Odin brauchte lange, um sein Pferd zu verbinden, aber die ganze Zeit streiften die Einwohner Smediebys um ihn herum, um zuzusehen. Niemand von ihnen sagte etwas bis auf den Schmied, der in regelmäßigen Abständen zustimmende Laute und Worte von sich gab, um allen klar zu machen, dass der Schmied von Smedieby ganz genau wusste, was man mit dem gebrochenen Bein eines Pferdes zu machen hatte, auch wenn er bis zu diesem Nachmittag daran festgehalten hatte, dass mit so etwas gar nichts mehr zu machen sei. Schließlich war Rigmaroles Bein ganz in Mutter Maries Leinen gehüllt, und Odin tätschelte das Pferd und erhob sich; das musste bis auf weiteres reichen. Im gleichen Augenblick drängte sich Mutter Marie durch die Menge.

»Jetzt, wo die Pferde versorgt sind, ist es an der Zeit, dass auch der Mann versorgt wird! «, erklärte sie nachdrücklich und nahm Odins Arm.

Nachdem niemand, nicht einmal der Schmied – der sonst bestimmt und sehr gerne die Diskussion über Pferde und ihre Krankheiten und über andere Dinge, die einem am Herzen lagen, mit dem Fremden fortgesetzt hätte –, Ida-Annas Mutter zu widersprechen wagte, war Odin bald in ihrem Haus verschwunden. Die Dorfbewohner sahen einander an. Einige traten einen Schritt vor, andere einen zurück, aber es dauerte nicht lange, bis die Neugier über die Erziehung siegte und alle hinter Mutter Marie und dem Fremden vom Kontinent in das Haus drängten.

Mutter Marie fühlte sich sehr geehrt, dass der Fremde sie als Erste in Smedieby besuchte. Andererseits fand sie es nur recht und billig, denn Mutter Marie hatte ihren Mann an das Meer verloren, als die Kinder noch klein waren, und seit dieser Zeit hatte sie sehr hart gearbeitet, und heute gehörten ihr mehr Schafe, mehr Ziegen und mehr Hühner als jedem anderen im Dorf.

Auch wenn es noch mitten am Nachmittag war, begann es langsam dunkel zu werden, und Mutter Marie hatte fünf kleine Kerzen angezündet, um sicherzugehen, dass der Fremde vom Kontinent den Reichtum und die Gemütlichkeit ihres Heims auch richtig zu würdigen wusste. Im Kamin flackerte ein lebhaftes Feuer, und der Geruch von gebratener Ente und starkem Weihnachtsbier verbreitete sich von der Küche aus im restlichen Haus. Mutter Marie führte Odin zum größten und besten Lehnstuhl in der Stube, schenkte ihm ein großes Weihnachtsbier ein und drängte ihn, es zu trinken. Doch sobald Odin sich hingesetzt hatte, fiel er in einen tiefen Schlaf, noch bevor er nach dem Becher greifen konnte.

Die vielen Dorfbewohner, denen es gelungen war, sich in Mutter Maries Haus zu drängen, waren nicht wenig enttäuscht und – obwohl sie es nicht ganz zugeben wollten – auch ein wenig gekränkt, dass der Fremde vom Kontinent so abrupt das wache Leben verlassen hatte. Sie hatten noch so viele Fragen, was Leben und Gewohnheiten auf dem Kontinent anging, und jetzt mussten sie sich damit begnügen, das Äußere des Fremden zu betrachten.

Da es Mutter Maries Haus war, hatte sie das Vorrecht. Die stattliche Frau sah nach der Ente, trocknete sich die fettigen Hände an der Schürze ab und drängte sich durch die Dorfbewohner in ihrer Stube zu dem Lehnstuhl mit dem schlafenden Odin. Dann beugte sie sich vor, bis sie Odins Gesicht so nahe war, dass sie die Wärme seines Atems spüren konnte. Der Fremde vom Kontinent hatte sein bestes Alter bereits überschritten. Seine Haut war rau, fast lederartig, sein Gesicht faltig und runzlig, und sowohl sein langes Haar als auch sein Bart waren so weiß, wie etwas nur weiß sein kann. Aber wenn man von seinem kleinen Wuchs, der dunklen Haut und dem fehlenden linken Auge absah, sah er nicht so furchtbar anders aus als die Einwohner von Smedieby. Mutter Marie war ein bisschen enttäuscht. Und vielleicht waren die wenigen ungewöhnlichen Züge nicht einmal ungewöhnlich, sondern ganz gewöhnlich für die Bewohner des Kontinents. Mutter Marie wollte jedenfalls nicht diejenige sein, die sich über etwas wunderte, das für jemanden, der ein wenig herumgekommen war, bestimmt ganz normal war. Als sie sich satt gesehen hatte, trat sie zurück, um die anderen vorzulassen, und nachdem alle Dorfbewohner ihre Neugier befriedigt hatten, bat sie sie freundlich zu gehen, damit der Fremde vom Kontinent in Ruhe und Frieden schlafen konnte.

Kaum hatte der letzte Einwohner Smediebys Mutter Maries Haus verlassen, als auch schon die Schafe vorbeitrabten. Ida-Anna zog sich einen dicken Pullover über den Kopf, schlang sich ein Tuch um den Hals und lief quer durch das Dorf zu Onkel Josefs Scheune. Sie öffnete die schwere Tür, drückte sich hinein und sah, dass alle anderen Kinder bereits da waren. Onkel Josefs Scheune war groß und dunkel, und es roch hier nach altem Heu und etwas Undefinierbarem, wie eine Mischung aus Melasse, Vogelkot und muffigem Brot. Das Dach schien sich ebenso hoch wie der Himmel über ihnen zu erheben, der Wind flüsterte durch die vielen Risse in den Wänden, und die Mäuse quiekten und raschelten in den Querbalken. Ein schmaler Streif grauen Dämmerlichts drängte sich durch ein Dachfenster, aber es war viel zu wenig, um die Dunkelheit in die Flucht zu schlagen. Die Kinder wussten nur zu gut, dass die Scheune bei Vollmond von Geistern heimgesucht wurde, und im Normalfall wagte sich keines von ihnen in ihre Nähe, aber genau deshalb hatte Ida-Anna diesen Ort als Treffpunkt gewählt.

Ida-Anna überhörte die gedämpften Proteste und führte ihre Freunde in den hintersten Teil des großen Raumes. Hier bildeten Heuballen einen natürlichen Halbkreis, und Ida-Anna drängte die anderen sich hinzusetzen, während sie selbst einen Ballen in die Mitte zog und darauf kletterte.

»Heute ist etwas Großartiges passiert«, sagte sie in rauem, feierlichem Flüsterton, und die jüngeren Kinder krochen sofort näher zu den älteren hin. »Ein Mann ist aus einem anderen Ort als Posthusby nach Smedieby gekommen!« Ida-Anna ließ den Blick forschend über die Gesichter vor sich wandern, um sicherzugehen, dass die Wichtigkeit dieser Begebenheit voll erfasst worden war. »Der Mann sagt, dass er Odin heißt.« Sie senkte die Stimme, und ein kleines Mädchen begann zu weinen. »Ssst!«, flüsterte Ida-Anna leicht irritiert, und Bodil nahm ihre kleine Schwester auf den Schoß. »Der Mann sagt also, dass er Odin heißt«, wiederholte Ida-Anna. »Aber Odin ist nicht sein richtiger Name.« Wieder sah Ida-Anna im Halbdunkel die Gesichter prüfend an. »Ihr müsst alle schwören, nicht ein Wort von dem zu erzählen, was ich euch jetzt sage, sonst erzähle ich euch nichts«, sagte sie.

»Komm schon!«, rief Ejner ungeduldig und schnitt eine Grimasse.

»Schwör !«, beharrte Ida-Anna und zeigte auf das erste Kind im Kreis. »Schwör bei der Seele der Urururgroßmutter der alten Rikke-Marie. Heb deine rechte Hand und schwöre: Nie, nie, nie werde ich ein Wort zu jemandem sagen. Nie, nie, nie, sonst lande ich in der Schlange Magen!«

Troels stand auf, hob die rechte Hand und flüsterte den Eid. Und einer nach dem anderen standen die Kinder auf, hoben ihre Hände und schworen.

»Komm schon, weiter!«, drängte Ejner. Er war nur sechs Monate jünger als Ida-Anna, und es irritierte ihn fürchterlich, dass sie immer bestimmen musste.

»Ruhe!«, fertigte Ida-Anna ihn ab und wartete, bis alle sich wieder hingesetzt hatten. »Heute Abend ist Weihnachtsabend!«

»Ja! Ja!«

»Aber was hat das mit dem Fremden zu tun?«, fragte Lauge und wechselte ungeduldige Blicke mit Ejner.

»Wir alle wissen, dass der Weihnachtsmann uns am Weihnachtsabend Geschenke bringt«, fuhr Ida-Anna fort, ohne Notiz von den Jungen zu nehmen. »Und wir wissen auch, dass der Weihnachtsmann ein alter Mann mit weißem Haar und weißem Bart ist und dass er am Weihnachtsabend mit seinem Schlitten über den Himmel fährt.«

Langsam begann den Kindern zu dämmern, was sie sagen wollte, und mehrere erhoben sich mit strahlenden Augen.

»Und heute, nur ein paar Stunden bevor der Weihnachtsmann nach Smedieby kommen soll, kommt ein Fremder an. Er hat einen Unfall gehabt, eins seiner Pferde hat sich ein Bein gebrochen, und deshalb musste er vor der Zeit kommen. Das ist doch klar wie Kloßbrühe: Der Fremde ist der Weihnachtsmann und niemand anderer!«

Alle Kinder sprangen und tanzten und vergaßen vor lauter Erregung, still zu sein. Sie riefen und schrien durcheinander, und Ida-Anna brauchte lange, um wieder Ruhe herzustellen.

»Einer nach dem anderen!«, rief sie. »Einer nach dem anderen! «

»Aber wenn der Fremde der Weihnachtsmann ist, warum sagte er dann, dass er Odin heißt?«, wandte Ejner ein.

»Weil Odin der geheime Name des Weihnachtsmanns ist, du Dummkopf!«

»Aber der Weihnachtsmann fährt mit Rentieren, und der Fremde hat nur Pferde«, warf Lauge ein.

»Das haben die Erwachsenen doch nur gesagt, damit wir ihn nicht erkennen, wenn er kommt«, erwiderte Ida-Anna sofort. »Und das beweist doch nur, dass man den Erwachsenen nicht trauen kann.«

»Aber wo sind die Geschenke?«, fragte der kleine Palle bekümmert.

»Das ist ganz einfach«, sagte Ida-Anna. »Der Weihnachtsmann war auf dem Weg zum Spielzeugberg auf dem Kontinent, um die Geschenke zu holen, als er sich in dem schlechten Wetter verirrt hat. Sein Pferd hat sich ein Bein gebrochen und Schluss.«

Einen Augenblick war es still, dann stand Ejner auf.

»Das stimmt nicht, denn die Trommel, die ich zu Weihnachten bekommen soll, habe ich schon im Schrank meines Vaters gesehen«, sagte er triumphierend.

Daran hatte Ida-Anna nicht gedacht, aber sie brauchte nicht lange, um eine Erklärung zu finden.

»Das ist klar, denn diese Trommel ist von deinen Eltern und nicht vom Weihnachtsmann«, lachte sie. »Der Weihnachtsmann kommt nämlich nicht jedes Jahr. Er ist in der Tat noch nie in Smedieby gewesen und in Posthusby, nicht zu vergessen, auch nicht. Und das kommt daher, weil der Weg so schwer zu finden ist. Das hat er mir selbst erzählt, als ich mit ihm gesprochen habe.« Ida-Anna sah sich siegessicher um.

Einige der Kinder nickten, andere waren noch immer skeptisch. Aber als Ida-Anna ihnen erzählte, dass im Schnee keine Spuren von den Kufen und den Pferden zu sehen gewesen waren, war kein Platz mehr für Zweifel: Der Weihnachtsmann war nach Smedieby gekommen!

»Aber«, fuhr Ida-Anna fort, »das Pferd des Weihnachtsmanns wird lange lange Zeit keinen einzigen Schritt mehr tun können. Und der Weihnachtsmann hat selbst gesagt, dass er ohne dieses Pferd nirgendwohin fährt. Wenn uns also nichts einfällt, wie das Bein des Pferdes geheilt werden kann, bekommen wir keine Weihnachtsgeschenke. Und nicht nur dieses Jahr, sondern auch nächstes Jahr und das Jahr darauf und das Jahr darauf. Und im schlimmsten Fall, wenn das Pferd des Weihnachtsmanns geschlachtet wird, wie der Schmied gesagt hat, wird es nie mehr Weihnachten!«

»O nein!«, riefen die Kinder erschrocken.

»Ihr seht selbst«, sagte Ida-Anna leicht überheblich. »Wir müssen alles tun, was wir können, um dem Pferd des Weihnachtsmanns zu helfen!«

»Ja, ja«, echoten die Kinder eifrig. »Wir wollen alles tun, was wir können. Wir müssen dem Weihnachtsmann helfen!«

»Aber was können wir tun? Wir wissen nichts über Pferde und gebrochene Beine. Und du hast selbst gehört, was der Schmied gesagt hat«, protestierte Ejner.

»Hier hast du einmal Recht, Ejner«, sagte Ida-Anna fast freundlich. »Aber während ich herausfinde, was wir tun können, müssen wir das Pferd des Weihnachtsmanns auf jeden Fall im Auge behalten, damit der Schmied es nicht schlachtet.«

»Lasst uns abwechselnd vor dem Stall Wache stehen«, schlug Bodil vor.

»Ja. Und wenn jemand kommt, blasen wir in Lauges Flöte«, fügte Ingolf hinzu.

Jetzt dachten sich die Kinder einen Plan aus und einigten sich darauf, den Stall Tag und Nacht im Auge zu behalten und sich jeden Tag in der Scheune zu treffen, nachdem die Schafe für die Nacht hereingetrieben worden waren. Troels sollte die erste Wache übernehmen, weil sein Vater im Posthaus in Posthusby arbeitete und spät nach Hause kam und Troels Familie deshalb das Weihnachtsessen später einnahm als alle anderen in Smedieby. Sobald die Kinder die Einzelheiten festgelegt hatten, konnten sie nicht schnell genug aus der düsteren Scheune hinauskommen, doch bevor Ida-Anna sie gehen ließ, ließ sie sie erneut den Eid der Urururgroßmutter der alten Rikke-Marie schwören.

»Nie, nie, nie werde ich ein Wort zu jemandem sagen. Nie, nie, nie, sonst lande ich in der Schlange Magen!«

Der Duft von warmem Essen und einem starken Gebräu, das er nicht kannte, weckte Odin. Mutter Marie stand in der Tür; es war an der Zeit, dass der Fremde vom Kontinent sich frisch machte, damit das Weihnachtsessen serviert werden konnte. Mutter Marie führte Odin in ein kleines Zimmer im ersten Stock, das mit einem schmalen Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem Schrank ausgestattet war. In der Ecke prasselte ein warmes Feuer in einer Feuerstelle, und ein Tongefäß mit Wasser und Seife war für den Gast auf den Tisch gestellt worden.

»Das Essen ist gleich fertig, seien Sie so freundlich und vergessen Sie nicht zu kommen, sobald Sie fertig sind«, sagte Mutter Marie und verließ das Zimmer.

Als Odin wenige Minuten später in die Stube trat, waren die anderen Gäste bereits eingetroffen. Mutter Marie stellte Odin jedem Einzelnen vor. Da waren der Schmied und Onkel Eskild, die Odin bereits kannte, Ida-Anna und Ingolf natürlich, sowie Tante Maren, die nicht nur Onkel Eskilds Frau, sondern auch Mutter Maries Schwester war. Und dann war da die alte Rikke-Marie, die älteste lebende Person in Smedieby und Mutter des Schmieds. Die Frau des Schmieds saß neben ihrem Mann, aber sie war klein und zaghaft und sprach kein Wort, und wie meist merkte man gar nicht, dass sie da war. Odin verneigte sich und sagte, dass es ihm eine Ehre sei, die Bekanntschaft aller zu machen.

Dann bat Mutter Marie zu Tisch, und als der Schmied das Federvieh transchiert und Mutter Marie die Beilagen herumgereicht hatte, aßen alle stumm. Odin war sehr hungrig und bediente sich mit einem Mordsappetit, während er ab und zu mit Weihnachtsbier nachspülte, als sei es Wasser. Er war so mit Essen beschäftigt, dass er die verstohlenen Blicke nicht bemerkte, die die anderen Anwesenden ihm zuwarfen. Was Odin nicht wissen konnte, war, dass während er geschlafen und die Kinder Ida-Anna in Onkel Josefs Scheune zugehört hatten, die Erwachsenen zum Schmied geeilt waren, um zu beratschlagen, wie man sich zu dem unerwarteten Besuch des Fremden vom Kontinent verhalten sollte. Nach langen Erörterungen, um nicht von einer erregten Diskussion zu sprechen, waren sich die Dorfbewohner einig geworden, dass es am nettesten und gastfreundschaftlichsten sei, den Fremden zu behandeln, als wäre er einer der ihren. So hatte der Schmied darauf bestanden, dass sich niemand über das, was der Fremde sagte oder tat, auch nur das kleinste bisschen überrascht zeigen sollte, da der Fremde sich sonst wie ein Fremder vorkommen würde – abgesehen davon, dass so ein Verhalten die Unwissenheit der Dorfbewohner über die Verhältnisse in dieser Welt enthüllen würde.

Odin aß lange lange Zeit, und da die Dorfbewohner es als sehr unhöflich betrachteten, einen Mann beim Essen zu stören, war der Schmied genötigt, seine Ungeduld zu zügeln. Doch als kein Essen mehr auf dem Tisch stand und nur noch ein paar abgeknabberte Beine auf Odins Teller lagen, trocknete sich der Fremde vom Kontinent die Hände und lehnte sich im Stuhl zurück. Die Unterhaltung konnte beginnen.

»Hm, hm«, räusperte sich der Schmied und versuchte, seine Gedanken zu ordnen, während er seine Pfeife stopfte und anzündete. »Hm, hm. Ich möchte in keiner Weise unliebenswürdig sein, Herr Odin, aber es will mir einfach nicht aus dem Kopf, was Sie mit dem Pferd mit dem hm, hm gebrochenen Bein und alles anfangen wollen.« Der Schmied nickte mit dem Kopf zu Mutter Maries Stall hin.

»Ich befinde mich wahrlich in einer höchst misslichen Lage«, sagte Odin und wickelte sich den langen weißen Bart um die Finger. »Wahrlich in einer höchst misslichen Lage.« Er überdachte die Situation einen Augenblick. »Habe ich richtig verstanden, dass es hier niemanden gibt, der weiß, wie man das gebrochene Bein eines Pferdes behandelt?«

»Ja«, sagte der Schmied. »Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber ich befürchte, dass Sie weder in Smedieby noch in Posthusby oder irgendwo dazwischen jemanden finden, der ein Pferdebein behandeln kann, wenn es erst einmal gebrochen ist.« Es war immer besser, die Wahrheit zu sagen, aber es war Weihnachtsabend und der Schmied hielt es nicht für passend, dem Gast an so einem Abend den Mut zu nehmen. Was wusste man schon von den Gepflogenheiten, an die die Leute vom Kontinent und ihre Pferde sich hielten? Nach einer kurzen Pause klopfte der Schmied Odin tröstend auf die Schulter und fügte hinzu: »Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber besser reisen Sie zurück auf den Kontinent, um dort nach jemandem zu sehen, der diese Arbeit übernehmen kann.«

»Auf den Kontinent?«

»Ja, wo Sie herkommen.«

»Oh. Oh, ja, der Himmel.« Odin gestikulierte leicht, um zu verbergen, was ihm gerade klar geworden war: In dem Meteorsturm hatte er wahrlich nicht nur die Orientierung, sondern auch jegliche Erinnerung, wo sich sein richtiges Zuhause befand, verloren.

»Natürlich, aus Himmel.« Der Schmied nickte eifrig. »Aus Himmel, natürlich.« Er lachte laut über seine eigene Torheit. Himmel war bestimmt eine bedeutende Stadt auf dem Kontinent.

»Und Sie sind in Eile, wie ich verstanden habe?«, fragte der Schmied, vor allem um die Konversation in Gang zu halten, während er versuchte, ein besseres Thema zu finden.

»Ich war unterwegs, um Unheilsbotschaften zu überbringen.« Erst jetzt merkte Odin, dass er nicht nur vergessen hatte, an wen er sie überbringen sollte, sondern auch, was noch schlimmer war, wovon diese Unheilsbotschaften kündeten, und er zog bekümmert an seinem Bart.

Oh, ein Postbote, dachte der Schmied, und sofort war ihm der volle Umfang des Unglücks klar, das den Fremden getroffen hatte. Ohne den Postboten von Smedieby sowie den Postboten von Posthusby, nicht zu vergessen, kam man weder im Alltag noch bei Feierlichkeiten oder zu anderen Zeiten des Jahres aus. Der Schmied beeilte sich, Odin zu versichern, dass alles, was möglich war, getan würde, um ihm zu helfen. Ja, schon am nächsten Tag würde der Schmied alle Einwohner Smediebys und natürlich alle Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, herbeizitieren und sie bitten, mit Herz und Hirn darüber nachzudenken, wie Herr Odin so schnell wie möglich und ohne weitere Verzögerung zum Kontinent zurückkommen konnte.

Der restliche Abend verlief wie jeder andere Weihnachtsabend in Mutter Maries Haus. Alle mit Ausnahme der alten Rikke-Marie sangen Weihnachtslieder, die Kinder erhielten die Erlaubnis, von den Bonbons zu essen, die unter dem Tisch versteckt waren, und der Schmied rauchte seine Pfeife, während Mutter Marie laut die schöne Erzählung aus der Bibel vorlas, wie Gottes Kind vor langer Zeit geboren wurde. Und zum Schluss, ganz zum Schluss, wurden die Geschenke verteilt, und es gab eines für jeden. Und da es sehr unhöflich gewesen wäre, kein Geschenk für Odin zu haben, hatte Mutter Marie den Schmied gebeten, aus der Schmiede ein Hufeisen mitzubringen.

»Das wird Ihnen all das Glück bringen, das Sie brauchen«, sagte sie und überreichte Odin das Hufeisen.

»Ja, es gibt wahrlich kein Unglück, dem ein wenig Glück nicht abhelfen kann«, antwortete Odin und dankte Mutter Marie herzlich, während er das Hufeisen in der Hand hin- und herdrehte. Es war ein etwas ungewöhnliches Hufeisen; es war aus Holz geschnitzt, und in seine Unterseite war ein Rand aus Feuersteinen genagelt. Odin steckte es in die Brusttasche und entschuldigte sich, dass er keine Geschenke für seine Wirtsleute hatte. »Aber sobald Rigmaroles Bein geheilt ist, werde ich euch genau das bringen, was ihr euch am allermeisten wünscht.«

Ida-Anna zwinkerte dem Weihnachtsmann zu, um ihm zu verstehen zu geben, dass sie seine Verlegenheit verstand und über die Verspätung nicht böse war.

Es war spät geworden, der Abend war vorbei, und alle erhoben sich. Die alte Rikke-Marie, die sehr froh war, endlich jemanden getroffen zu haben, der ebenso alt war wie sie, hatte Odin den ganzen Abend angestarrt, ohne ein Wort zu sagen. Aber jetzt, nach den vielen Bechern Weihnachtsbier und nachdem scheinbar alle gesagt hatten, was sie zu sagen hatten, legte sie Odin eine Hand auf den Arm und fragte ihn in ächzendem Flüsterton, ob er jemals einen rotblonden Mann mit Namen Richard getroffen habe. Dieser Mann, Richard der Rotblonde, war der Vater der alten Rikke-Marie – aber das war eine Geschichte, die zu lang und zu persönlich war, um an einem Weihnachtsabend erzählt zu werden –, er hatte die Insel vor vielen Jahren, noch bevor sie selbst zur Welt gekommen war, verlassen und war nie wieder zurückgekehrt.

»Nein, nein, leider nicht. Ich glaube nicht«, antwortete Odin langsam und zog bei der beunruhigenden Erkenntnis, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, wen er getroffen oder von wem er gehört hatte, bevor er nach Smedieby gekommen war, an seinem Bart. Ein trauriger Schatten fiel über das Gesicht der alten Rikke-Marie, und Odin dachte nicht länger über seine eigene Situation nach, sondern fuhr freundlich fort: »Von jetzt an bis in alle Ewigkeit werde ich mich wahrlich gerne nach ihm erkundigen, wo immer ich hinkomme.«

»Wenn mein Körper nicht so alt und steif wäre, würde ich selbst mitkommen«, sagte die alte Frau und lächelte zahnlos, als wäre sie trotz allem nicht ganz so unzufrieden mit dem Zustand der Dinge und dem ihres eigenen Körpers.

»Wenn Rigmaroles Bein geheilt ist, fahren wir zusammen hinaus und suchen nach Ihrer Familie«, versprach Odin und drückte die Hand der alten Rikke-Marie und wünschte ihr eine gute Nacht.

Am nächsten Morgen rief der Schmied, genau wie er es versprochen hatte, alle Einwohner Smediebys und natürlich alle Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, zu einem Treffen in der Schmiede zusammen. Die Schmiede war groß, und normalerweise passten mehrere Pferde und Wagen gleichzeitig hinein, doch an diesem Morgen war es sehr eng darinnen. Jeder hatte eine Meinung zu dem Fremden vom Kontinent vorzubringen, und der Krach war ohrenbetäubend. Erst als der Schmied auftauchte, wurde es still.

»Hm, hm.« Der Schmied zierte sich mit leicht gespreizten Beinen. »Hm, hm.« Er nahm die Pfeife aus dem Mund. »Gut, gut. Ja, ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber ich fange lieber mit dem Anfang an.«

Odin war hinter dem Schmied in die Schmiede getreten und stand jetzt direkt neben einem großen Haufen grauer Steine und einem Stapel Rundhölzer. An der Wand hingen ein paar hölzerne Hufeisen mit einem Rand aus Feuersteinen, die genauso aussahen wie das, das Mutter Marie ihm am vorigen Abend geschenkt hatte. Darüber hinaus konnte Odin nichts sehen als den breiten Rücken des Schmieds.

»Ich habe euch heute hier zusammengerufen, ich habe alle Einwohner Smediebys und alle Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, in meiner Schmiede zusammengerufen, weil etwas getan werden muss, das ehrenvoller ist als alles andere Ehrenvolle, das jemand sich an diesem hochheiligen Weihnachtstag zu tun vorgenommen haben kann.« Der Schmied ließ die Augen über sein Publikum wandern. »Wie ihr alle wisst, ist gestern ein Mann aus einem anderen Ort als Posthusby in Smedieby eingetroffen! «

Die Dorfbewohner flüsterten miteinander und erzeugten ziemlich viel Lärm, indem sie stießen und schubsten, sich auf ihre und die Zehen der anderen stellten, nur um einen kurzen Blick auf den kleinen fremden Mann vom Kontinent zu erhaschen, der versteckt hinter dem Rücken des Schmieds stand.

»Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber dieser Mann, Herr Odin …« Hier drehte der Schmied sich um und hob Odin mit einer schwungvollen Bewegung hoch und stellte ihn auf den Arbeitstisch, sodass alle ihn sehen konnten.

Sofort wurde es ruhig in der Versammlung.

»Dieser Mann ist weit gereist, um einen sehr wichtigen Bescheid zu überbringen. Aber er ist in einem gewaltigen Schneesturm stecken geblieben, und eins seiner Pferde hat sich ein Bein gebrochen.« Um nichts zu vergessen, zog der Schmied ein Blatt Papier aus der Tasche, auf das er alles geschrieben hatte, was er gerne sagen wollte; er war jetzt bei dem komplizierteren Teil der Rede angekommen. »Im Namen aller Einwohner Smediebys sowie aller Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, habe ich Herrn Odin eingeladen, so lange in Smedieby zu bleiben, wie er mag. Doch ist der Auftrag von Herrn Odin von solcher Beschaffenheit und Eile, dass er ihn umgehend und ohne weitere Verzögerung ausführen muss. Deshalb, und ich bin sicher, dass ihr alle einig mit mir seid, ist es von allergrößter Wichtigkeit, dass das Bein von Herrn Odins Pferd so schnell wie möglich heilt.« Der Schmied musterte die Dorfbewohner mit scharfem Blick, als wollte er sie warnen, zu erwähnen, dass er bisher und bis gestern erklärt hatte, dass ein gebrochenes Bein nicht zu heilen war. »Gut, ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber da es eine unglückliche Tatsache ist, dass niemand von Smedieby bis Posthusby und wieder zurück das Bein von Herrn Odins Pferd heilen kann, besteht keine andere Möglichkeit als die, dass Herr Odin zum Kontinent reist, um den Veterinär zu holen, damit er diese Arbeit erledigen kann.« Der Schmied hob die Stimme und wiederholte das fremde Wort. »Den Veterinär!« Er wusste genau, dass keiner seiner Zuhörer dieses großartige Wort kannte. Er hatte es selbst erst spät in der Nacht entdeckt, als er in einem zerfledderten Wörterbuch geblättert hatte, das noch aus der Zeit der Urururgroßmutter der alten Rikke-Marie stammte und auf dem Speicher aufbewahrt wurde. Durch den Gebrauch dieses großartigen Wortes hoffte der Schmied seinen Ruf als gelehrtester Mann Smediebys trotz des kurzfristigen Missverständnisses bezüglich des gebrochenen Beins von Herrn Odins Pferd wiederzugewinnen.

»Wie wir alle wissen, hat niemand diese Insel verlassen, seit Rikke-Maries Mutter jung war. Und bisher und bis gestern ist seit der Schlacht zwischen den Ausländern, die noch vor der Zeit, als die Urururgroßmutter der alten Rikke-Marie jung war, stattgefunden hat, niemand hierher gekommen. Und wie wir auch alle wissen, machen es die Klippen unmöglich, von unseren Küsten abzulegen oder an ihnen anzulegen, selbst wenn jemand das wollte, wozu jedoch niemand in Smedieby oder Posthusby und zurück seit unzählbaren Jahren Lust gehabt hat. Deshalb – und weil Herr Odin seine guten Pferde aus offensichtlichen Gründen nicht benutzen kann – müssen wir alle mit Herz und Hirn nachdenken, um einen Weg zu finden, auf dem Herr Odin zum Kontinent zurückreisen kann.«

Langsam und sorgfältig faltete der Schmied den Zettel zusammen und steckte ihn zurück in die Tasche. Es war ganz still in der Schmiede. Der Schmied schien alles gesagt zu haben, was zu sagen war: Der Fremde musste zum Kontinent und wieder zurück, aber dahin konnte er nicht kommen. Jedes Kind wusste das. Doch wie der Schmied das gesagt hatte; die Dorfbewohner waren voller Ehrfurcht. Alle wussten, dass der Schmied seine Rede einzig und allein zu Ehren des Fremden gehalten hatte, um den guten Willen und den Diensteifer zu demonstrieren, der nicht nur die Einwohner Smediebys, sondern ganz besonders auch die Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, kennzeichnete. So großartig hatte der Schmied gesprochen, dass die Dorfbewohner zu klatschen und ausgewählte Bruchstücke der Rede zu wiederholen begannen, nachdem die Worte sich gesetzt hatten.

»Wir müssen alle mit Herz und Hirn nachdenken! «, rief der Bäckermeister.

»Kann seine guten Pferde nicht benutzen!«, schrie der lange Laust aus Posthusby und hüpfte auf und ab.

»Muss zurück zum Kontinent! «, rief ein anderer.

»Muss den Veterinär holen! «, brüllte Onkel Eskild, um zu unterstreichen, dass er genau wusste, was der Schmied meinte, obwohl er eigentlich keine Ahnung hatte.

»Veterinär! Veterinär!«, klang es jetzt taktfest aus allen Ecken der Schmiede, als meinten die Dorfbewohner, dass die pure Kraft ihrer Stimmen das Wunder bewirken konnte, über dessen Natur sie sich noch immer unsicher waren.

Nach kurzer Zeit hob der Schmied die Hand, und der Lärm verebbte.

»Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber angesichts der Eile der Sache ist es umso besser, je schneller eine Lösung gefunden wird. Und diese Lösung muss auf jeden Fall keinen Augenblick später als morgen früh gefunden sein, sodass Herr Odin keinen Augenblick später als morgen Abend sicher auf dem Kontinent ankommen und keinen Augenblick später als übermorgen Abend zusammen mit dem Veterinär wieder in Smedieby sein kann.«

Die Stille hallte wider. Alle Dorfbewohner schienen zur gleichen Zeit den Atem anzuhalten. Nur das schwache Knistern des Feuers im Herd der Schmiede war zu hören. Nein, dieses Mal war der Schmied zu weit gegangen, das wussten alle. Es war nicht möglich, eine Lösung zu finden, und deshalb war es noch weniger möglich, bis morgen früh eine Lösung zu finden. Aber die Dorfbewohner wussten auch, dass der Schmied das genauso gut wusste. Was wollte er also? Die Dorfbewohner sahen sich fragend an, und allmählich verstanden sie, einer nach dem anderen. Hatte es schon einmal irgendwo einen so fabelhaften Schmied gegeben? Langsam breitete sich auf ihren Gesichtern ein Lächeln aus; sie konnten dem Fremden vom Kontinent nicht helfen, aber solange der Fremde glaubte, dass sie es konnten, und solange er glaubte, dass sie alle ihr Bestes taten, um ihm zu helfen, würde er froh und geduldig warten und sie für ein hilfreiches und dienstbereites Volk halten. Und eines schönen Tages, wenn der Fremde einsah, dass er nie zum Kontinent zurückkehren konnte, würde er sich so an das Leben auf der Insel und die Einwohner von Smedieby und die Einwohner von Posthusby, nicht zu vergessen, gewöhnt haben, dass er nicht mehr den Wunsch verspüren würde, woanders hinzureisen.

»Hoch lebe der Schmied!«, rief jemand, und alle anderen stimmten sofort mit ein. »Er lebe hoch! Er lebe hoch!«

Der Schmied ließ sich ein paar Minuten feiern, bevor er dazwischenfuhr.

»Die Arbeit ruft«, sagte er.

»Die Arbeit ruft! Die Arbeit ruft!«, klang es von allen Seiten aus der Schmiede, und die Dorfbewohner eilten hinaus, um ihren guten Willen und ihren Diensteifer gegenüber dem Fremden vom Kontinent zu demonstrieren.

»Wie soll ich Ihnen jemals danken?«, fragte Odin, der immer noch auf dem Tisch stand.

»Keine Ursache. Überhaupt keine Ursache«, antwortete der Schmied erfreut. »Ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber die Einwohner Smediebys und die Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, sind immer gerne bereit, einem Mann zu helfen, seine Arbeit zu tun.«

Odin lächelte und sagte, dass er das Gefühl hatte, dass er und der Schmied alte Freunde seien, auch wenn sie sich noch nicht lange kannten. Dazu lachte der Schmied herzlich und zufrieden, überzeugt, dass seine Strategie bereits Früchte trug und dass es nicht lange dauern würde, bis der Fremde vom Kontinent selbst den Wunsch verspürte, sich in Smedieby niederzulassen. Die beiden Männer drückten einander herzlich die Hand. Dann hob der Schmied Odin vom Tisch herunter, nahm sich ein Stück Holz und begann es mit einem scharfen Messer zu bearbeiten, während Odin zu Mutter Maries Stall hinüberging, um nach seinen Pferden zu sehen.

Baltazar kaute auf etwas Heu, und Rigmarole lag still auf der rechten Seite, das unglückselige Bein ruhte auf dem Stroh.

»Wir sollten besser sehen, dass wir etwas mit diesem Bein machen, damit du ihm keinen weiteren Schaden zufügst, bis ich den Veterinär gefunden habe«, murmelte Odin und sah sich nach etwas um, das er benutzen konnte.

Ida-Anna, die Odin in den Stall gefolgt war, hob einen alten Besenstiel auf und reichte ihn ihm ohne ein Wort. Sie war schlechter Laune. Alle Kinder hatten gehört, wie ihre Eltern die großartige Idee des Schmieds gelobt hatten, und sie glaubten nicht länger daran, was Ida-Anna ihnen am Vortag in der Scheune von Onkel Josef erzählt hatte. Die Wache vor dem Stall wurde abgeblasen; die anderen Kinder hatten das Interesse an dem Fremden verloren und wollten lieber mit ihren Weihnachtsgeschenken spielen.

Ida-Anna rieb Baltazars Fell nach Leibeskräften mit Stroh ab, und langsam und mit zunehmendem Glänzen des Fells hob sich ihre Stimmung. Was kümmerte es sie, dass sie sich über sie lustig machten? Und was kümmerte es sie, dass sie ihr nicht glaubten? So hatte sie den Weihnachtsmann ganz für sich allein. Ida-Anna arbeitete sich stückweise vorwärts, bis sie genau neben Odin stand, der sich an Rigmaroles Kopf zu schaffen machte. Sieh mal an, jetzt hatte sie die Gelegenheit dem Weihnachtsmann zu erzählen, wie sehr sie sich ein eigenes Pferd zu Weihnachten wünschte. Aber zuerst musste sie daran denken zu schwören, dass sie den richtigen Namen des Weihnachtsmannes keinem Erwachsenen verraten würde. Ida-Anna hob ihre rechte Hand.

»Nie, nie, nie werde ich ein Wort zu jemandem sagen. Nie, nie, nie, sonst lande ich in der Schlange Magen«, sagte sie aufrichtig.

Merkwürdige Gewohnheiten haben sie an diesem Ort, dachte Odin. Und da er sich höflich und korrekt verhalten wollte, hob er, genau wie er gestern fröhliche Weihnachten gewünscht hatte, als die Dorfbewohner das getan hatten, und genau wie er die Weihnachtslieder mitgesungen hatte, obwohl er die Worte nicht kannte, jetzt seine rechte Hand und wiederholte den Eid der Urururgroßmutter der alten Rikke-Marie. Ida-Anna lachte; sieh mal an, als hätte sie nicht die ganze Zeit Recht gehabt. Doch gerade als sie dem Weihnachtsmann von ihrem Wunsch erzählen wollte, tauchte ihre Mutter in der Stalltür auf und sagte, dass das Mittagessen fertig sei.

Am gleichen Abend kam der Schmied wieder zu Besuch zu Mutter Marie, gefolgt von der alten Rikke-Marie, die beschlossen hatte, dass sie einmal auch zu der Welt kommen konnte, wenn die Welt nicht zu ihr kommen wollte.

»Hm, hm«, räusperte sich der Schmied und kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife. »Hm, hm, Herr Odin, ich möchte nicht unliebenswürdig sein, aber ich bin äußerst froh, Ihnen sagen zu können, dass alles für Ihre Abreise bereit ist.« Der Schmied streckte den Rücken, um zu unterstreichen, dass er die Situation voll im Griff hatte. »Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, können Sie sicher morgen früh bei dem allerersten Zeichen des Tagesanbruchs aufbrechen, Herr Odin.«

Odin dankte dem Schmied und sagte, dass er den Einwohnern Smediebys und den Einwohner Posthusbys, nicht zu vergessen, immer dankbar sein werde. Dann erwog er, sich zu erkundigen, welche Maßnahmen getroffen worden waren, aber da der Schmied von sich aus nichts über die Einzelheiten sagte, wollte Odin nicht so taktlos sein und nach etwas so Unwesentlichem fragen. Jedenfalls hielt die alte Rikke-Marie die Zeit plötzlich für gekommen, den Rest ihrer Geschichte zu erzählen, und ohne Einleitung begann sie dort, wo sie am Abend zuvor aufgehört hatte.

»Es war ein kalter stürmischer Septembermorgen.«

Alle drehten den Kopf in Richtung der alten Dame, obwohl sie ausschließlich zu Odin zu sprechen schien. »Richard, der Rotblonde, suchte meine Mutter auf und sagte, dass der Tag gekommen sei. Er küsste sie zum Abschied, versicherte sie seiner ewigen Liebe und versprach bald zurückzukehren. Er glaubte eine Fahrrinne zwischen den Klippen hindurch gefunden zu haben und wollte beweisen, dass es möglich war, zum Kontinent und wieder zurück zu segeln. Niemand weiß, ob er je den Kontinent erreicht hat, aber es ist gewiss, dass er nie zurückgekehrt ist. Und erst nach seiner Abreise verriet meine Mutter, dass sie das erwartete, was eines Tages ich werden sollte.« Die alte Dame lehnte sich im Stuhl zurück und schlief bald ein, überwältigt von ihrer eigenen Geschichte.

Mutter Marie erhob sich; es war an der Zeit, dass alle ins Bett gingen. Es war bereits später Abend, und Herr Odin hatte eine lange Reise vor sich. Sie zwinkerte dem Schmied zu, als wollte sie dem Fremden vom Kontinent noch einmal versichern, dass er sicher und ruhig schlafen konnte, dass kein Zweifel daran bestand, dass er den Kontinent bis zum Abend des nächsten Tages erreicht haben würde.

Nun traf es sich so, dass in dieser Nacht die größte Kälte nach Smedieby und Posthusby kam, so weit man zurückdenken konnte. Der Dezember war bereits kalt gewesen, kälter als jeder andere, den die alte Rikke-Marie je erlebt hatte. Aber nie war es so kalt gewesen wie in der zweiten Nacht, die der Fremde vom Kontinent in Smedieby verbrachte. Als Odin lange vor dem Morgengrauen aufstand, war nicht nur das Wasser in dem Tonkrug auf dem Tisch gefroren, sondern das Eis auf der Innenseite der Fensterläden war so dick geworden, dass man nicht mehr hinaussehen konnte.

Beim Frühstück trugen alle dicke wollene Jacken, Schals und Handschuhe, obwohl sie direkt neben der Feuerstelle saßen. Mutter Marie bestand darauf, dass Herr Odin sich einen Schal lieh, der einmal ihrem verstorbenen Mann gehört hatte; sonst könnte er sich auf seiner Reise nicht warm halten, nicht zu vergessen. Da sie nicht wusste, wie der Schmied dem Fremden erklärten wollte, dass er an diesem Tag nicht reisen konnte, und um ihren guten Willen und Diensteifer zu zeigen, hatte Mutter Marie Odin ein riesiges Proviantpaket gepackt, das entgegenzunehmen sie ihn ebenfalls drängte. Ingolf war schnell mit seinem Frühstück fertig und ging nach draußen, um zu spielen, aber Ida-Anna blieb am Tisch sitzen und wartete ungeduldig darauf, dass ihre Mutter die Stube verließ. Einen einzigen kurzen Augenblick, mehr brauchte sie nicht. Sie brauchte nicht einmal eine halbe Minute, um dem Weihnachtsmann von ihrem Wunsch zu erzählen. Doch gerade als ihre Mutter endlich in die Küche gegangen war, um warmes Wasser zu holen und Ida-Anna sich vorbeugte und leicht räusperte, wie sie es vom Schmied gelernt hatte, kam der lange Laust aus Posthusby, ohne zu klopfen, durch die Tür gestürmt.

»Das Meer ist zugefroren! Das Meer ist zugefroren! Heute kann der Fremde zum Kontinent gehen. Das Meer ist zugefroren! «, rief der lange Laust atemlos vor Erregung und von dem langen Lauf von Posthusby nach Smedieby.

Der lange Laust war nicht mehr so jung, wie er es einmal gewesen war, aber er hatte noch immer den Verstand eines Kindes. Erst als er an die zwanzigmal das Meer ist zugefroren gerufen hatte und vor lauter Begeisterung herumgehüpft war, entdeckte der lange Laust, dass der Schmied nicht da war. Und erst als Mutter Marie ihm eine dampfende Tasse Suppe reichte, während sie ihn unauffällig in den Arm kniff, ging ihm auf, dass er dem Fremden vielleicht nichts von dem zugefrorenen Meer hätte erzählen sollen, bevor der Schmied ihm nicht die Erlaubnis dazu erteilt hatte.

Doch jetzt war es zu spät. Nachdem Odin die Worte des langen Laust gehört hatte, war er sofort aufgestanden, hatte sein Proviantpaket genommen und Ida-Anna und ihrer Mutter für ihre Gastfreundschaft gedankt. Es wurde langsam hell, und es war an der Zeit, dass er sich auf den Weg machte. Das Hufeisen sicher in der Brusttasche verstaut, zog Odin seinen dicken Mantel an und ging hinaus. Er hatte bereits dafür gesorgt, dass Ida-Anna in seiner Abwesenheit nach Baltazar und Rigmarole sah, und jetzt musste er sich nur noch von den Pferden verabschieden.

Als er aus dem Stall kam, traf Odin den Schmied. Er ergriff die Hand des großen Mannes und drückte sie warm.

»Tausend, tausend Dank«, sagte er und verneigte sich. »Was sind die Einwohner von Smedieby und die Einwohner von Posthusby, nicht zu vergessen, doch für phantastische Leute. Ich werde Ihnen nie genug danken können!«

»Keine Ursache, überhaupt keine Ursache«, antwortete der Schmied fidel. Er hatte die Neuigkeit von dem zugefrorenen Meer noch nicht gehört und winkte dem Fremden vom Kontinent munter zum Abschied, als der sich auf den Weg nach Posthusby und der Küste machte.

Odin ging schnell Richtung Westen und näherte sich Posthusby in weniger als zwanzig Minuten. In allen Türen standen Leute und winkten dem Fremden vom Kontinent zu, der zurückwinkte und auf seinem ganzen Weg durch das Dorf, das aus nicht mehr als einer Ansammlung von Häusern, einem Geschäft und einem kleinen, aber sehr gepflegten Postamt mitten im Dorf bestand, danke für die Hilfe rief. Im Laufe von noch einigen weiteren Minuten erreichte Odin die Küste und das Ende der Insel, wo das Meer sich vor ihm erstreckte. Oder besser gesagt, wo das Meer sich hinter einer Reihe gewaltiger Klippen erstreckte, die vollkommen den Horizont verbargen.

Odin setzte den einen Fuß auf das zugefrorene Wasser, dann den anderen. Das Eis knackte und krachte, aber es hielt. Vorsichtig machte er noch ein paar Schritte! Der Gedanke, durch das Eis in das dunkle Wasser zu fallen, gefiel ihm ganz und gar nicht. Aber das Eis schien sicher zu sein, und bald schritt Odin in schnellem Tempo aus, ohne sich um etwas anderes Gedanken zu machen, als um seine baldmögliche Ankunft auf dem Kontinent, wo er den Veterinär für Rigmarole ausfindig machen wollte.