Odyssee ins Ich - Henry Kardel - E-Book

Odyssee ins Ich E-Book

Henry Kardel

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Beschreibung

Der 23-jährige Adrian hat es nicht leicht im Leben: Er kann mit Konventionen nichts anfangen, weiß nicht einmal, warum er überhaupt studiert und wird von Stimmungsschwankungen geplagt, die er nicht zuletzt seinem nachdenklichen Wesen zu verdanken hat. Da kommt ihm die Reise in die schottische Hauptstadt Edinburgh und der Aufenthalt auf der kleinen Hebrideninsel Dearinish gerade recht, um vor dem Alltag und den Erwartungen seiner Mitmenschen zu fliehen. Besondere Menschen kreuzen seine Wege und geben ihm die Hoffnung, dass aus seinem Leben doch noch etwas werden kann. Dass seine Reise aber vor allem auch eine innere Reise ist, begreift er schnell...

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1 - gestrandet

Kapitel 2 - reisekrank

Kapitel 3 - schlafen

Kapitel 4 – nightlife

Kapitel 5 - frédéric

Kapitel 6 – im café

Kapitel 7 - tischgespräche

Kapitel 8 - kate

Kapitel 9 - turbulenzen

Kapitel 10 – eindruck nr. 1

Kapitel 11 – mcintyre's

Kapitel 12 - adoleszenz

Kapitel 13 – ich hasse telefonieren

Kapitel 14 - iona

Kapitel 15 – so simpel?

Kapitel 16 – ein zettel

Kapitel 17 – schwellenlos

Kapitel 18 – zuhause/tod

Kapitel 19 – wiegenfest

Kapitel 20 - beziehungsweise

Kapitel 21 - dramatiker

Kapitel 22 - zwei magneten

Kapitel 23 – fragen über fragen

Kapitel 24 - aphroditen

Kapitel 25 - lewis

Kapitel 26 - schnittstellen

Kapitel 27 – ich, der idealist

Kapitel 28 - donnerwetter

Kapitel 29 – träum' weiter

Kapitel 30 – genesis

Kapitel 31 – das gewicht der welt

Kapitel 32 - vogelfrei

Kapitel 33 – mein vorsprung

Kapitel 34 – zu teilen

Kapitel 35 – was wäre, wenn...?

Kapitel 36 – bis bald, ad

Kapitel 37 – wieder unterwegs

Vorwort

Liebe Lesende, lieber Lesender,

das ist es also, das Vorwort zu meinem ersten Buch. Ich hatte immer schon davon geträumt. Und jetzt, da der Moment gekommen ist, fallen mir keine gescheiten Worte ein. War ja klar. Also halte ich mich mit meinem Hinweis kurz:

Dieses Buch hat einen Soundtrack. Denn ich mochte den Gedanken, dass die Stimmung jeder einzelnen Szene durch ein individuell ausgesuchtes Lied unterstützt wird. Daraus ist eine Playlist entstanden, die etwa 40 Songs umfasst (passend zur Anzahl der Kapitel) und bunter nicht sein könnte.

Die Playlist und die Links zur dazugehörigen Youtube- und Spotify-Playlist finden sich am Ende des Buches.

Ich freue mich über jeden, der diesbezüglich reinschaut.

Viel Freude beim Lesen (und Hören)!

Henry Kardel

05. August 2015, im Flieger von Edinburgh nach Hamburg, irgendwo über Newcastle

kapitel 1 - gestrandet

Ich darf mich vorstellen? Adrian Winter. Aber da dieser Name so unglaublich konservativ klingt und ich eher eine Abneigung gegen allzu konservative Strukturen habe, gehen wir lieber gleich von Beginn an zu Ad über.

Die meisten würden mich als jung bezeichnen, aber ich fühle mich unglaublich alt. Und das mit 23! Nicht schlecht, oder?

An einem Spätsommerabend kam ich an, in Edinburgh. Es war bereits dunkel, die Stadtlichter umso heller, und all das war eine Reizüberflutung für mich.

Dieser erste Moment der Ohnmacht, wenn man an einen fremden Ort kommt, der hell und laut ist. Unzählige Lichter, hektische Menschen, abstruse Straßenzüge. Und während es scheint, als wüsste jeder wo er hin will, ist man der Einzige, der ausrichtungslos umherirrt. So fühlte es sich für mich zumindest an.

Die Tram hatte mich ausgespuckt, hinausgeworfen auf eine Verkehrsinsel. Angespült, wie einen Gestrandeten. Ich war der Schiffbrüchige dieser Großstadt.

Und nicht weit von hier thronte das große Castle über der Stadt. Dort oben auf den Felsen liegend, so wohlbeleuchtet und majestätisch. Sofort erkannte ich, dass es für die nächsten fünf Tage meine Orientierung, mein Fixpunkt sein würde. Erhaben, wie es dort liegt, verlangt es regelrecht nach dieser Bedeutung.

Da stand ich also, zwischen den Straßen. Ich starrte auf mein Smartphonedisplay, um meiner kleinen Stadtkarte auch nur den Hauch einer Information zu entlocken. Aus den Augenwinkeln erkannte ich: Es war grün – Zeit, zu gehen.

Weit kam ich jedoch nicht. Denn als ich meinen zweiten Schritt tat, bemerkte ich, dass sich nahe meinem Fuße ein unübersehbarer Steinsockel befand. Es war bereits zu spät.

Ich stolperte mit einem großen Satz nach vorne, konnte mich aber kurz vor dem Boden wieder fangen, ohne gänzlich dem Asphalt meine Anwesenheit zu schenken. Vermutlich sah es unheimlich dämlich aus. Ach, was heißt hier vermutlich?

Wäre ich doch ganz zu Boden gegangen, selbst das hätte eleganter gewirkt. Und gerade dann, als ich wieder auf Augenhöhe mit den anderen Fußgängern war, da lachte mich ein kleiner Junge aus. Er kriegte sich gar nicht mehr ein. Auch Zügelungsversuche seiner Mutter, die seine Hand hielt, waren vergeblich. Was solls?

Ich spürte einfach wie rot mein Gesicht war, so wie das ja jeder irgendwie spürt, ging aber mit einem milden, wenn auch verlegenen Lächeln weiter.

Das war ja ein toller Anfang hier. Per-fekt!

Andererseits, wenn ich dem Jungen damit gerade den Abend versüßt habe, wozu schämen?

In dieser Hinsicht war mein zu Boden gehen eine reine Wohltat. Kommt halt immer drauf an, wie man sowas sieht.

kapitel 2 - reisekrank

Nach einiger Zeit fand ich meinen Weg durch die Stadt, bis hin zu meinem Hotel. Es war eine Art Hybrid aus altem georgianischen Gebäude und einem modernen, glasigen Anbau. Auf meinem Weg hierhin bewunderte ich alte Bauten, passierte pittoreske Gassen. Diese Stadt überrumpelte mich mit ihrer Schönheit. Auch wenn es in mir an jenem Abend nicht so schön aussah. Denn genau das war ja auch der Grund für meine Reise.

Diese Szene der Orientierungslosigkeit bei meiner Ankunft war ein wunderbares Symbol für mein Lebensgefühl. Nur hat mein Leben keinen Stadtplan und ich irre wie ein kaputter Satellit, der unlängst seine Umlaufbahn verloren hat, durchs All.

Für fünf Tage würde ich hier in Edinburgh bleiben, um dann für mehrere Wochen, wer weiß, vielleicht auch Monate, auf eine kleine Hebrideninsel überzusetzen.

Ich dachte, etwas Luft tut mir gut und das Meer mochte ich schon immer. Denn, egal wo ich auf dieser Welt bin: Das Meer ruft ein heimatliches Gefühl in mir hervor.

Genauso wie das Nordische, ist das Meer ein Indiz für meine Heimat, wie ein Initialreiz, auf den ich immer anspringe. Und das ist der Grund für mich, mich dieser normalen, schnelllebigen, verrückten Welt zu entziehen. Wenigstens einmal spüren, dass es einen Ort gibt, an dem die Uhren anders laufen, als in dieser ausnahmslos globalisierten und kapitalistischen Welt.

Natürlich bin ich nicht so naiv zu glauben, dass Dearinish sich jeglicher Globalisierung entziehen kann. Doch hoffe ich einfach, das Leben dort in einer ursprünglicheren Form wiederzufinden. Noch nicht so mitgerissen von der Eile der restlichen Welt.

Denn das Leben fühlt sich wie ein Zeitraffer an. Alles zieht an mir vorbei. Oder viel schlimmer: Jeder zieht an mir vorbei. Alle Leute in meinem Alter haben blendende Aussichten, Perspektiven für die Zukunft. Doch nicht ich. Ich stehe zwischen den Welten, bin also in keiner so wirklich. Brauche eine Richtung, brauche einen Kompass. Nun gut, vielleicht habe ich ja sogar einen, doch der ist wohl irgendwie Schrott.

Und andererseits, wenn ich ehrlich zu mir bin: Diese Reise sollte eigentlich der Anfang eines neuen Lebens sein. Sozusagen die Reset-Taste des Daseins. Doch viel eher ist sie nur eine Flucht vor meinem alten. Ich bin ein Studierender, der nicht wirklich studiert. Ich bin ein Lebender, der nicht wirklich lebt.

Und jetzt sitze ich hier in meinem komfortablen Hotelzimmer, schreibe diese Worte, das schottische Fernsehen ist eingeschaltet, gelegentliche Gespräche aus dem Nebenzimmer sind zu hören. Niemand, den ich erreichen will, ist erreichbar.

Als ich da draußen war, habe ich das alles nicht gespürt, ich war nur alleine unterwegs, aber jetzt bin ich einsam. Keine Schönheit einer Stadt, kein Luxus eines Zimmers kann dich vor dem Gefühl des Heimwehs bewahren.

Denn Schönheit ist Oberfläche, Gefühl ist Innenleben.

Auch wenn ich müde bin, raffe ich mich auf und zwinge mich, noch einen kleinen Spaziergang zu machen. Was ich zuvor nur beim Vorbeigehen sah, kann ich noch einmal genauer betrachten und mich damit ablenken.

Mein Hotel liegt nah am mittelalterlichen Stadtkern. Und ich muss Ihnen sagen, es sieht hier aus wie im Märchen. Oder wie in Harry Potter. Der erste Teil der Buchreihe wurde übrigens auch hier geschrieben.

Diese Stadt ist durchsetzt von unzähligen dunklen Gassen und Alkoven, die allesamt Close genannt werden. Die heißen dann Fisher's Close oder Advocate's Close oder so. Auf irgendeine Weise gemütlich und doch geheimnisvoll.

Und trotz dieser Gemütlichkeit ist alles total belebt. Vielleicht nicht so belebt wie es hier wohl noch im letzten Monat war, denn im August wird Edinburgh, so hörte ich, zur überrannten Stadt, überrannt von Festivalbesuchern. Dennoch ist es stets belebt genug für Abende der Geselligkeit. Die Pubdichte Edinburghs ist auch sehr hoch. An jeder Ecke kann man verharren und trinken, das Flair genießen. Dieser Stadtteil ist durch und durch verwinkelt und manche Straßen verlaufen sogar orthogonal übereinander. Ist schon schön hier, eigentlich verdammt schön. Nein, jetzt echt. Die Stadt ist ziemlich hübsch.

Mein Heimweh verfliegt nach einiger Zeit etwas. Vielleicht weil es mir so vorkommt, als wenn jemand mit mir hier wäre. Ich staune in mich hinein, murmele Worte der Architekturbewunderung und führe so manches Selbstgespräch. Ich selbst verstehe mich halt immer noch am besten.

Und auch, wenn ich heute Abend nicht mehr zur Frohnatur werde, was ich sowieso noch nie wirklich war, kann ich mich in einen passablen Zustand versetzen, mich beruhigen und Kontakt nach Zuhause vermeiden. Viele empfehlen bei Heimweh das Gegenteil, doch bei mir macht es alles nur schlimmer.

Ich bin angekommen. Mein Körper zumindest. Mein Geist braucht noch ein bisschen.

Es ist an der Zeit, meiner Müdigkeit nachzugeben und mich in meinem viel zu großen Doppelbett schlafen zu legen. Gute Nacht.

kapitel 3 - schlafen

Ich bin aufgewacht, um wieder einzuschlafen.

Und das mindestens dreimal. Ich wachte auf, schlief ein, wachte auf, schlief wieder ein, wachte auf und schlief erneut. Und dann war es 15 Uhr. Schade, das Frühstück hab' ich verpasst. Hätte selbst das Mittagessen verpasst, wenn es eins gegeben hätte. Ich schlief, als wenn ich es ewig nicht getan hätte.

Habe eine Menge geträumt, wobei mich nur wundert, dass ich von so vielen komischen Leuten geträumt habe. Man fragt sich, was einem das Unterbewusstsein sagen will, wenn man von Lehrern aus der 8. Klasse träumt oder meinetwegen von einer Kindergartenliebe, als die Welt noch so unbeschadet war. Manchmal, da zieht das Gehirn Menschen einfach an die Oberfläche und macht sie zu den Protagonisten deiner Träume.

Ich lag in weißen Laken, blickte an die ebenso weiße Decke und war mir das erste Mal darüber im Klaren, wo ich mich befand: Edinburgh. Die Hauptstadt und der kulturelle und touristische Mittelpunkt Schottlands. Der Austragungsort des Edinburgh Military Tattoo. Der Geburtsort von Sean Connery (oder sollte ich doch lieber James Bond sagen?), den bekannten Schriftstellern Sir Arthur Conan Doyle (Sherlock Holmes) und Robert Louis Stevenson (Dr. Jekyll & Mr. Hyde, Die Schatzinsel) und auch die Geburtsstadt von Tony Blair, dem britischen Ex-Premierminister. Mehr fiel mir nicht ein.

Der erste Morgen ist immer besser als der Abend zuvor. Er ist der Neustart im Ankommen. Auch, wenn ich das Frühstücksbuffet, auf das ich mich eigentlich schon gefreut hatte, verpasste: Es war ein schöner Morgen. Naja, Mittag. Also, eigentlich Nachmittag.

Mein Weg aus dem Bett war mühsam, aber erfolgreich. Eine Dusche später entschloss ich mich dann, meine Lungen mit frischer Luft zu beschenken. Und langsam machte sich mein Magen bemerkbar. Da stand ich also draußen, nicht sonderlich orientierter als noch am Abend zuvor und nahm den erstbesten Laden, um ihn nach Essbarem zu durchforsten. Ich begang den furchtbaren Fehler, mit Hunger einzukaufen. Mit fast schon weichen Beinen stand ich also in diesem Tesco-Express und musste mich dermaßen zurückhalten. Letztendlich habe ich dann für acht Pfund Sandwiches gekauft. Mit Bacon! Wie zauberhaft! Man sollte jede Speise mit Bacon verzieren.

Der (etwa mir gleichaltrige) Verkäufer wollte mir dann noch irgend so ein dämliches Angebot andrehen, ich lehnte natürlich ab. Ich würde sparen, meinte er. Vor allem wollte ich aber Aufwand sparen und nur wieder raus aus diesem bedrückenden Umfeld.

Die meisten Läden waren von außen mit blauen oder roten Holzstreben verkleidet. Allesamt Läden, in denen man für Kleinigkeiten, die es vermutlich nicht mal wert sind, viel Geld lassen kann. Souvenirs, Kaschmir, Toffee oder drei ganzjährig geöffnete Weihnachtsgeschäfte. Anschaulich, aber irgendwie doch überflüssig. Eine besondere Ader für Kitsch eben.

Dann betrat ich die legendäre Royal Mile. Die Hauptstraße Edinburghs. Ja, man könnte schon fast sagen, dass es die Hauptstraße Schottlands ist. Und wenn man Edinburgh auf eine Straße reduzieren könnte, dann auf diese. Sie verläuft vom Castle abwärts, bis zum schottischen Parlament, das irgendwie aussieht wie eine Kreuzung aus futuristischer Architektur und einem Kindergarten-Kunstprojekt.

Ich muss sagen, die Stadt hat am Tag eine andere Schönheit. Sie zeigt sich im Licht viel offener aber auch kühler. Ich bevorzuge sie im Dunkeln, denn die Dunkelheit erweckt sie zum Leben, macht sie geheimnisvoll. All die Tiefe, die ich ihr gestern abgewinnen konnte, hatte sie durch die Dunkelheit.

Diese Stadt, um die sich so viele Mythen ranken. Sei es die Erzählung „Dr. Jekyll & Mr. Hyde“ oder unzählige Geistergeschichten, die alle in Edinburghs Unterwelt oder im Castle spuken sollen. Ein kopfloser Trommler, der Geist eines Dudelsackspielers oder die Geister von Burke & Hare, die 1828 in einer Mordreihe 17 Menschen umbrachten. Oder die Tatsache, dass früher die Leichen von den Friedhöfen geklaut wurden, um sie an die medizinische Fakultät zu verkaufen.

Diese Stadt ist genau die richtige, um schaurige Geschichten zu beheimaten.

Die Menschenmassen der Royal Mile erschlugen mich dermaßen schnell, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Nichts als überfüllte Bushaltestellen, Menschenströme und Reisegruppen. Ich ergab mich letztlich dem Drang, zurück ins Hotel zu gehen.

Nicht, dass ich eine Agoraphobie hätte, oder wie man das nennt. Aber ich kann nicht so richtig mit vielen Menschen umgehen. Ich bin kein Menschenfeind oder Misanthrop, vielleicht eher ein wenig menschenscheu. Ich fühle mich schnell beengt, brauche meine Freiheit. Und dennoch brauche ich meinen kleinen Kreis an Menschen ungemein. Das sind dann immer so fünf bis zehn Personen.

Aber im Moment... Ich habe meine etwas verrückte Familie und ein paar Freunde, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überhaupt behalten will. Lieber falsche Freunde als gar keine oder lieber keine Freunde als die falschen?

Ich bin Single.

Ob freiwillig oder nicht, das ist von Tag zu Tag verschieden. Ich habe zwar ein paar Beziehungen hinter mir, aber nie war etwas dabei, das mich durch und durch, auf lange Zeit, erfüllte.

Und seitdem jage ich den Produkten meiner Nostalgie hinterher. Mein Herz fixiert sich auf jemand Vergangenen, projiziert Wünsche auf diese Eine und lässt mich glauben: Sie war damals die Richtige. Ich rede mir ein, vor langer Zeit etwas gefunden zu haben, etwas Einzigartiges. Ich bin verliebt in die Abwesenheit, verliebt in jemanden, den ich noch nicht kenne, in ein Mädchen, das ich noch nicht getroffen habe.

Es macht meine jetzigen Stunden angenehmer, wenn ich mir sagen kann, dass ich lediglich an einer bestimmten Stelle falsch abgebogen bin, mich von meinem ewigen Glück entfernt habe.

An manchen Tagen gibt es nichts Schöneres, als in alten Erinnerungen zu schwelgen. Sich vorzustellen, wie eine bestimmte Person war, als man noch um ihre Gunst kämpfte, wie man sich zum Affen gemacht hat, nur für ein wenig Aufmerksamkeit und Zuneigung.

Ich hab da mal etwas falsch gemacht. Traurig, aber wahr und nicht wieder rückgängig zu machen. Diese Sätze nehmen mir die Verantwortung ab (sind obendrein fatalistisch) und sind mir ein Vorwand, mich nicht mehr bemühen zu müssen. Mir ist oft ein Songtext im Ohr, der etwas besagt wie: Ich entschuldige mich für all das, was ich hätte machen sollen.

Was wäre doch gewesen, wenn ich es gemacht hätte, wenn ich es noch mehr versucht hätte, wenn ich es richtig gemacht hätte?

Ich glaube, das fragen wir uns alle, wenn wir mit etwas nicht ganz glücklich sind. Und das Einzige, das unser Bedauern brechen kann, ist, dass wir es besser machen. „All' unsere negativen Erfahrungen können nur durch positive Erfahrungen aufgewogen werden.“ Das sagte mir ein Freund neulich. Da ist bestimmt was dran. Die einzige Möglichkeit eine traumatische Erfahrung zu kompensieren, sei es ein Liebestrauma, sei es sonst was, ist, ein Gleichgewicht herzustellen. Wenn mir was Schlechtes passiert ist, muss ich auf dem Gebiet etwas Gutes erfahren. So weit die Theorie. Aber davon bin ich meilenweit entfernt. Und solange das so ist, tritt an diese Stelle das stille Bedauern. Und ich genieße die nostalgischen Tage, an denen ich mich in romantische Erinnerungen vergangener Tage zurückversetze. Vergangene Tage, vergangene Stunden, vergangene Minuten.

All' diese haben gemeinsam, dass sie mir, trotz aller Enttäuschung, gut genug erscheinen, um mich von meinem Jetzt abzulenken.

Merken Sie auch, dass mein Gerede über das Bedauern, mit meinen 23 Jahren, viel eher von einem 80-Jährigen stammen sollte?

Wie ein Holzfäller, der seinen letzten, schlechten Schlag in einen Baum betrauert, obwohl er in seinem Leben noch tausende Schläge schlagen wird. Holzfällerhemden standen mir noch nie.

kapitel 4 – nightlife

Ich sollte mich lieber mit meiner schlechten Stimmung zurückhalten. Nachher hören Sie noch auf zu lesen, weil es selbst Sie depressiv macht. Das wollen wir doch beide nicht.

Es ist mein zweiter Tag hier.

Ich war nach dem Frühstück, welches ich heute mal nicht verpasst habe, im Holyrood Park. Ein Park, mitten in der Stadt, der sich um einen großen Berg ziert. Dem Arthur's Seat. Ein riesiger Haufen alten Vulkangesteins.

Der Vormittag war etwas kühler als die Tage zuvor, wenn auch die Sonne nur von wenigen Wolken gehindert wurde, zu scheinen.

Ich genoss den atemberaubenden Blick über die Stadt, aus 250 Metern Höhe. Herausstechend natürlich das Castle, unweit das Meer, in der Ferne eine alte, rote Eisenbahnbrücke aus dem

19. Jahrhundert, die Forth Bridge, die sich über die buchtartige Flussmündung Firth of Forth streckt. Beim anstrengenden Aufstieg denkt man die ganze Zeit, man sei weit weg von der Stadt, doch wenn man oben ist, merkt man: Man ist mittendrin.

Ich mag diese kühlen Morgen, wenn der Tau auf dem Gras liegt, Jogger die eigenen Wege kreuzen oder junge Eltern mit einem Kinderwagen spazieren gehen.

Und als ich oben ankam, schwitzte ich. Dafür wurde ich mit der starken Brise verwöhnt, die sich wohl öfter dort oben austobt. Die restliche Helligkeit des Tages nutzte ich dann, um ein wenig herum zu streunern.

Zum Glück denke ich nach einiger Zeit nicht mehr so viel über das Alleinsein nach. Mittlerweile ist der einzige Unterschied, der mir auffällt, dass es am Ende der Reise keine Reisebilder von einem gibt. Keine Bilder, auf denen man lässig vor Attraktionen, schönen Ausblicken oder atmosphärischen Naturbeschaffenheiten posiert.

Heute Abend wird es endlich mal Zeit sein, Edinburgh (Aussprache: Edinbrah oder Edinberra, wie ich lernte) bei Nacht zu erkunden. Ich bin kein Partylöwe, dafür aber eine Nachteule.

Ich habe reichlich gegessen, ziehe meine Schuhe und meine braune Lederjacke über und verlasse mein mild beleuchtetes Hotelzimmer.

Auf meinem Weg hinaus grüße ich den netten Rezeptionisten, der mich ein bisschen an den Bassisten der Red Hot Chili Peppers erinnert, lasse einer Dame an der Tür den Vortritt und lächle jeden Passanten an, der mir in die Quere kommt. Heute Nacht ist niemand vor meiner erstaunlich guten Laune sicher.

Dass ich alleine unterwegs bin, ist kein Grund, um keinen Spaß zu haben. Diese Art, wie ich die dämmrigen Gassen herabgehe, ruft in mir ein fantastisches Gefühl hervor, auch wenn ich mich ein bisschen wie Jack the Ripper fühle. Wenn ich mich lässig fühle, dann lässt das mein, von Natur aus niedriges Selbstbewusstsein explodieren.

Abends ist auf der Royal Mile immer noch viel los, aber angenehm viel. Ich gehe also Richtung Castle, biege aber nach links, lasse es also auf der rechten Seite liegen. Die Victoria Street ist eine meiner Lieblingsstraßen. Sie besteht aus kleinen bunten Läden, ist eine einzige Kurve und sehr abfällig.

Und auch wenn es hier super schön ist, spüre ich doch, dass die Stadt mehr ist, als diese schöne, aber einseitige touristische Fassade. In den nächsten Tagen werde ich nach abgelegeneneren Ecken suchen. Aber jetzt ist der erste Pub angesagt, direkt unterhalb der Victoria Street am Grassmarket. Die Namen der Pubs sind allesamt kreativ, wie die der Filling Station oder The World's End. So auch dieser Pub: The Last Drop. Der letzte Tropfen.

Der Türsteher fragt mich nach meinem Ausweis. Sehe ich mit meinem erwachsenen Bart nicht alt genug aus? Sie müssen wissen, eigentlich schätzen mich die Leute immer sogar weit älter, als ich bin.

Ich bin drin. Es ist voll und laut. Viele junge Leute essen, unterhalten sich. Es dauert einen Moment, bis ich mich zum Tresen vorarbeiten kann und bestelle ein Lager.