Offensiver Umweltschutz - Dr Jan-Niclas Gesenhues - E-Book

Offensiver Umweltschutz E-Book

Dr Jan-Niclas Gesenhues

0,0

Beschreibung

Seit Jahren beherrscht die Klimapolitik die Umweltagenda. Unterdessen sind Natur-, Arten und Tierschutz in der politischen Wahrnehmung ins Hintertreffen geraten. Errungenschaften der Umweltpolitik werden durch Kriegsfolgen, Inflation und Energiekrise zusätzlich unter Druck gesetzt. Fast alles dreht sich nur noch um den Klimaschutz im Auf und Ab der Ampel- und EU-Kompromisse. Dabei gerät das Rückgrat grüner Politik zunehmend in Gefahr. Sagt Jan-Niclas Gesenhues, der umweltpolitische Sprecher der grünen Fraktion im Bundestag. Er fordert: Rettet den Umwelt- und Naturschutz als Garant für unseren Wohlstand und unsere Sicherheit. Deshalb legt Gesenhues jetzt ein Konzept für einen offensiven, selbstbewussten Umweltschutz vor. Für eine neue, eine breitere Naturschutzbewegung und für eine Stärkung des Kerns grüner Politik – raus aus der Nische und rein in die Mitte der Gesellschaft. Er plädiert für einen Umweltschutz, der Spaß macht und von jungen Aktivisten bis zur Unternehmerin alle motiviert, sich einzumischen mit konkreten Projekten und Ideen, mit inhaltlichen Vorschlägen neuer Umweltgesetze und Renaturierungsmaßnahmen, die nicht länger auf die lange Bank geschoben werden dürfen. Das große Plädoyer für ökologischen Fortschritt ohne Greenwashing-Pathos. Und für eine Rückbesinnung auf die Wurzeln eines Naturschutzes, der Menschen zusammenbringt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 208

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wie wir Natur und Wohlstand retten können

Jan-Niclas Gesenhues

OFFENSIVER UMWELTSCHUTZ

Inhalt

01   Mit Opa ins Moor

02   Wo stehen wir?

Erschütterungen

Folgen

Lehren

03   Womit rüsten wir uns aus?

Klimaanpassung und Wasserpolitik

Natürlicher Klimaschutz

Renaturierung

Globale Partnerschaften

Kreislaufwirtschaft

Ressourcenschutz

Notfallmaßnahmen für Notfallzeiten

04   Wie setzen wir das um?

Wie die Umweltbewegung erneuern?

Ein paar Brutpaare retten oder doch die ganze Welt?

Naturschützer:innen in die Politik!

Der anstehende Generationswechsel

Feminismus in der Umweltpolitik

Wie wäre es mit überraschenden Verbündeten?

Kreativ regulieren

Unternehmen für den Naturschutz gewinnen

Politik wird vor Ort konkret

05   Und jetzt?

Literatur und Quellen

Über den Autor

01 Mit Opa ins Moor

Ich kann mich noch gut an diese Tage erinnern. Es war meistens sehr früh am Morgen. So fünf, sechs Uhr. Mein Opa holte mich zu Hause ab, und wir fuhren versorgt mit Keksen und warmem Kakao los. Ich mochte die kühle morgendliche Luft. Meistens war es etwas diesig, bis die ersten Sonnenstrahlen den Raureif und Nebel vertrieben. Wir fuhren aufs Emsdettener Venn, ein Hochmoor nahe meiner Heimatstadt, oder in den Brook, ein Waldgebiet, in dem mein Opa seine Bienenstöcke stehen hatte.

Mein Großvater kam »vom Hoff«, wie man bei uns sagt, er war also auf einem Bauernhof aufgewachsen, und ging im Herbst zur Treibjagd. Er war es, der mir den Unterschied zwischen Hasen und Kaninchen, zwischen Eiche und Buche beibrachte.

Wir saßen auf dem Aussichtsturm, tranken unseren Kakao und blickten hinab auf die weite Fläche des Moors. Es waren diese Eindrücke im Moor, im Wald oder auch in den nahe gelegenen Flussauen der Ems, die in mir einen Funken entzündeten. Die mir zusammen mit den Erzählungen meines Opas die Natur nahebrachten. Intuitiv begriff ich dadurch den Wert von Natur, ihre Bedeutung für uns Menschen.

Diese Leidenschaft und diese tiefe Verbundenheit bestehen bis heute. Sie waren der Ausgangspunkt und Antrieb, im Gymnasium den Bio-Leistungskurs zu wählen, das Studium der Umwelt- und Ressourcenökonomik aufzunehmen und schließlich über den Naturschutz zu den Grünen zu gelangen. Den letzten Schritt hätte mein Opa wahrscheinlich nicht wirklich gutgeheißen. Verstand er sich selbst doch nicht gerade als ausgemachten Naturschützer, geschweige denn als Grünenfreund. Erdverwachsen, konservativ, heimatverbunden, CDU-orientiert – das sind eher Kategorien, die ihn kennzeichneten. Tja, und dennoch ist es passiert: Ich landete bei »den Ökos«. Später hat auch mein Opa damit seinen Frieden gemacht, und ich glaube, er hat mich sogar einmal gewählt – bei einer Kreistagswahl. Heute bin ich Mitglied des Bundestags und Sprecher meiner Fraktion für Umweltpolitik. Davor habe ich viele Jahre den Umweltausschuss im Kreis Steinfurt geleitet und im Landesvorstand der Grünen in Nordrhein-Westfalen die Klima- und Umweltthemen verantwortet.

Umweltschutz muss rein in die Offensive.

Nicht erst seit heute blicke ich mit Sorge auf den Zustand des Umweltschutzes. Denn Naturschutz und Umwelt sind stark unter Druck geraten. Gleichzeitig hängt die Sicherung unseres Wohlstands und am Ende unser Überleben auf dieser Erde davon ab, ob wir hier das Ruder noch rechtzeitig herumreißen können. Noch ist es möglich. Wenn wir die Weichen jetzt richtig stellen, können wir die Umweltpolitik raus aus der Nische und rein in die Offensive führen. Dafür braucht es aber definitiv keine Umweltpolitik, die sich darauf beschränkt, das wenige, das noch da und halbwegs intakt ist, zu verteidigen. Was wir dafür dringend brauchen, ist ein Umweltschutz, der in die Offensive geht.

Was aber ist »offensiver Umweltschutz«? Und wie und warum kann uns dieser Ansatz helfen, unsere Natur zu retten? Das zu diskutieren und im besten Fall zu klären ist Gegenstand dieses Buches. Dabei geht es auch um die Stabilität unseres Wohlstands. Denn, so die einfache Formel: Ohne Natur keine erfolgreiche Wirtschaft, keine Ernährungssicherheit, keine Innovation und Weiterentwicklung. Immerhin hängen nach einer Studie der Europäischen Zentralbank über 70 Prozent der Unternehmen von Leistungen der Natur ab. Das sind allein im Euroraum etwa drei Millionen Unternehmen mit zig Millionen Arbeitsplätzen (FAZ 2023).

Warum das Buch?

Die ersten Gedanken zu einem Buch über das Konzept eines offensiven Umweltschutzes kamen mir nach einer langen und anspruchsvollen Zeit voller Sitzungswochen und Gesetzesverhandlungen im Deutschen Bundestag. Auf einer Zugfahrt von Münster nach Kiel, wo eine Podiumsdiskussion zum Thema Meeresschutz stattfinden sollte, fing ich an, diese Gedanken zu Papier zu bringen. Schreiben hilft mir immer, die vielen Überlegungen und Gedanken, die im Kopf herumschwirren, zu sortieren. Einfach mal aus dem Kopf rausschreiben, was sich dort über die Zeit angesammelt hat. Jetzt also, im Zug nach Kiel, erste Notizen dazu, was sich im Laufe meines umweltpolitischen Engagements über die Jahre, vor allem aber in der heftigen Krisenzeit der Jahre 2022 und 2023 angestaut hatte. Das war der erste Schritt zu diesem Buch.

Was mich besonders bewegt hat? Die sogenannte Zeitenwende – Krieg, Inflation, Energiekrise –, die die Umweltpolitik massiv unter Druck zu setzen begann. Ein Druck, zusätzlich verstärkt durch ein Dogma der Planungsbeschleunigung, das allein auf den Abbau von Umweltstandards setzt. Leicht vorstellbar, dass das nicht ohne erhebliche Auswirkungen auf den Umwelt- und Naturschutz in Deutschland und Europa bleiben kann.

Um die Analyse ebendieser Auswirkungen geht es in diesem Buch, das aber vor allem den Blick nach vorne richten und der Frage nachgehen möchte: Wie können wir mit einem offensiven Umweltschutz die Weichen so stellen, dass Naturschutz und Umweltpolitik raus aus der Verteidigungshaltung und rein ins Gestalten kommen?

Wir bleiben also bei der Analyse nicht stehen, sondern beschäftigen uns insbesondere mit Werkzeugen und Instrumenten, die es braucht, um einen offensiven Umwelt- und Naturschutz zu verfolgen. Kein Nischendasein mehr, kein Rechtfertigungszwang mehr: Es ist an der Zeit, dass der Natur- und Umweltschutz aus sich selbst heraus selbstbewusst und selbstverständlich für ökologischen Fortschritt agiert. Es wird also darum gehen, zu diskutieren, wie der Natur- und Umweltschutz seine Bedeutung für Wirtschaft und Wohlstand besser vermitteln kann. Wie die Umweltpolitik offensive und durchdachte Forderungen stellen kann. Wie wir eine stärkere Verknüpfung von Natur- und Klimaschutz erreichen können. Diese Diskussionen werden zeigen, dass wir unsere Klimaziele niemals ohne echten Fortschritt beim Naturschutz erreichen werden. Denn klar ist: Nur CO2-Moleküle zählen reicht nicht. Nicht nur die Klimakrise bedroht das Leben auf diesem Planeten. Auch das globale Artensterben, das Kollabieren von Ökosystemen und die absurde Verschmutzung der Umwelt stellen eine extreme Gefährdung dar.

Unsere Klimaziele sind niemals ohne echten Fortschritt beim Naturschutz zu erreichen.

Besonders eindrücklich zeigen dies die Studien des Nachhaltigkeitsforschers Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. Demnach haben wir sechs der neun sogenannten planetaren Belastungsgrenzen bereits überschritten, am krassesten bei der Zerstörung der Natur und der biologischen Vielfalt sowie bei der Verschmutzung unserer Umwelt (Richardson et al. 2023). Im Hinblick auf den Zustand der Ökosysteme werden die Risiken für uns erheblich ansteigen, stärker noch als derzeit durch die globale Erwärmung. Selbst das Weltwirtschaftsforum, also die Runde führender Wirtschaftslenker, Politiker, Wissenschaftler, die sich Jahr für Jahr im verschneiten Davos trifft, listet die Biodiversitätskrise als eine der größten Gefahren für das Leben und Wirtschaften auf diesem Planeten (World Economic Forum 2023).

Das sind also keine abstrakten Themen mehr für theoretische Debatten. Was wir sehen und erleben, ist das Kollabieren der Natur vor der eigenen Haustür. Deutlich zu sehen zum Beispiel an dem massiven Verlust von Insekten in Deutschland, den der Krefelder Verein für Entomologie (Insektenforschung) quantifiziert hat: Rund 75 Prozent der Gesamtmasse an Insekten sind in wenigen Jahren weggestorben, selbst in Schutzgebieten (Hallmann et al. 2017). 1800 Arten sind bereits ausgestorben, 2000 weitere sind kurz davor. Bei Vögeln, Säugetieren, Fischen oder Pflanzen sieht es nicht besser aus.

»Bei der Artenvielfalt verwalten wir eigentlich nur noch den Niedergang.«

Besonders in Erinnerung geblieben ist mir ein Satz des Leiters der biologischen Station des Kreises Steinfurt. Er sagte im Rahmen einer Umweltausschusssitzung des Kreistags Steinfurt, zu der ich ihn als Experten geladen hatte: »Bei der Artenvielfalt verwalten wir eigentlich nur noch den Niedergang.« Ein Satz, der im Kopf bleibt und Fragen auslöst. Wie können wir die Leistungsfähigkeit und Vielfalt unserer Natur erhalten? Was können wir konkret tun? Von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft aus?

Was allgemein klar sein dürfte: Wir müssen es schaffen, die ökologische Krise in ihrer Gesamtheit zu bewältigen, und können uns nicht nur auf die Klimakrise als Teilbereich fokussieren. Zugegebenermaßen stellt sich uns damit eine gigantische Herausforderung. Aber, und das ist die gute Nachricht, wir haben die Natur als unsere Verbündete an der Seite – sowohl im Hinblick auf unsere Ernährungssicherheit wie auch unsere Wirtschaft. Denn Böden, Mikroorganismen und Insekten sichern unsere Ernährung und unsere Wertschöpfung basiert auf den Leistungen der Natur. Allein 70 Prozent aller Krebsmedikamente zum Beispiel sind pflanzlichen Ursprungs oder synthetische Nachahmungen der Natur (FAZ 2023), und Wälder und Moore stellen riesige CO2-Speicher dar, zu unserem Vorteil.

Dieses Buch wird den Zustand und die Bedeutung unserer Natur noch genauer beleuchten und Antworten suchen auf die Frage: Was können wir tun? Wer sind unsere Partner? Was sind unsere Instrumente? Daran anschließend geht es um die wichtige Frage: Wie können wir gesellschaftlich, politisch und kommunikativ so auftreten, dass offensiver Umweltschutz sich in die Tat umsetzen lässt? Um es vorweg zu sagen: Der Umweltschutz braucht als Aufgabe und Bewegung Erneuerung. Er muss sich öffnen und vielfältiger werden, und er muss kampagnenfähiger werden. Er muss seine ökonomische Bedeutung klar herausstellen und sie endlich offensiv kommunizieren. Er muss neue und überraschende Verbündete gewinnen. Und das politische Gewicht der Umwelt- und Naturschutzpolitik muss größer werden. Noch einmal: Er muss raus aus der Nische und rein in die Offensive. Wir brauchen einen offensiven Umweltschutz.

Der Umweltschutz braucht Erneuerung, er muss sich öffnen und vielfältiger werden.

Was hier folgt, ist also der Blick von innen in den Maschinenraum der Politik und der Umweltbewegung, aber auch eine kritische Perspektive von außen auf den Zustand des Umwelt- und Naturschutzes in Deutschland und international. Dabei ist dies ein Buch der nächsten möglichen und nötigen kleinen Schritte, die den Umweltschutz im Interesse von uns allen voranbringen. Gezeigt wird, wo jede und jeder mitmachen kann – beruflich, ehrenamtlich, in Gruppen, Verbänden oder Unternehmen.

Heute gehe ich selbst mit meiner sechsjährigen Tochter gerne ins Moor oder in den Wald. Mir geht das Herz auf, wenn ich sehe, wie begeistert sie ist, wenn sie einen Baum erkennt oder ihren Lieblingsvogel, das Rotkehlchen, entdeckt. Ich möchte, dass sie auch mit ihren Kindern und Enkelkindern diese Erfahrungen machen und sich an einer reichhaltigen, gesunden Natur erfreuen kann. Um das weitergeben zu können, brauchen wir jetzt einen offensiven Umweltschutz.

02 Wo stehen wir?

Erschütterungen

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat vermeintliche politische Gewissheiten grundsätzlich infrage gestellt. Ich kann mich noch sehr gut an die Sondersitzung des Bundestags wenige Tage nach Kriegsausbruch erinnern. Alle waren erschüttert von den Bildern. Erschüttert durch diesen unfassbaren Zivilisationsbruch Putins. Russische Panzer und Bomben, die in ein souveränes Land eindringen, Verwüstung, Zerstörung, gefolterte und vergewaltigte Menschen hinterlassen. Die Abgeordneten waren stiller, nachdenklicher, besorgter als sonst. Im Plenum des Bundestags war deutlich spürbar: In den kommenden Monaten und vielleicht Jahren wird nichts mehr so bleiben, wie es war.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Regierungserklärung in ebendieser Sondersitzung die Folgen dieses massiven Völkerrechtsbruchs als »Zeitenwende« beschrieben. Auch ich bin überzeugt, dass wir alle Zeugen eines grundlegenden Epochenumbruchs sind – ob wir es wollen oder nicht. Die Wahrnehmung der Realität, der Blick auf Politik, Gesellschaft, auf die Welt insgesamt ist ein anderer geworden – ausgelöst durch eine massive Erschütterung.

Zwar treten mehr oder weniger grundlegende Umbrüche in unserer Entwicklung regelmäßig auf. So werden etwa die 68er-Bewegung oder die deutsche Wiedervereinigung mit dem Zusammenbruch der UdSSR als Zeitenwenden beschrieben. Und auch die Klimakrise, die Finanzkrise und die Coronapandemie gelten zumindest als Vorboten eines grundlegenden Wandels. Aber erst der russische Angriff auf die Ukraine setzte dem Lebensgefühl des späten 20. Jahrhunderts wohl endgültig ein Ende.

Die Geschichte wird zeigen, ob es sich bei der Zeitenwende, die infolge der Erschütterungen durch den russischen Überfall erklärt wurde, tatsächlich um einen Epochenumbruch handelt. Als solcher wurden die Ereignisse in der Bundesregierung und im politischen Raum insgesamt jedenfalls gedeutet. Immerhin kam es in der Folge zu einschneidenden politischen Umwälzungen, die die meisten Menschen noch kurze Zeit davor für undenkbar gehalten haben dürften: umfangreiche Waffenlieferungen einschließlich Kampfpanzer in ein Kriegsgebiet, Verstaatlichung von Energieunternehmen, drastische Erhöhung der Rüstungsausgaben, Energiesparvorgaben für Wirtschaft und Bürger:innen, Abschöpfung von wirtschaftlichen Kriegsgewinnen und Entlastungspakete in dreistelliger Milliardenhöhe zur Abfederung der Kriegsfolgen.

Der Umwelt- und Naturschutz gerät unter Druck

Die Angst der Menschen vor kalten Wohnungen wegen ausbleibender Gasimporte aus Russland, die Angst der Industrie vor fehlenden Rohstoffen und Zwangsabschaltungen und ein gesteigertes Bedürfnis nach militärischer Verteidigungskraft drängten sich mit Macht in den Vordergrund – in Schulen, am Küchentisch, im Seniorenheim wurde über die schrecklichen Kriegsbilder gesprochen. Verstärkt wurden die Sorgen durch die Verknappung von Lebensmitteln und die Steigerung der Lebenshaltungskosten infolge des Kriegs gegen die Ukraine, die ja ein wichtiger Exporteur von Agrarerzeugnissen ist. Somit war für die Bundesregierung, aber auch für große Teile der Gesellschaft klar: Neben der Erhöhung der Rüstungsausgaben hatte die Sicherung der Nahrungs- und Energieversorgung sowie der Arbeitsfähigkeit von Handwerk und Industrie oberste Priorität.

Ausgerechnet der Umwelt- und Naturschutz wird zum Bremsklotz erklärt.

Eine Hürde für diese Vorhaben war schnell ausgemacht: Sowohl in konservativen Teilen der Politik wie in Teilen der Wirtschaft ernannte man ausgerechnet den Umwelt- und Naturschutz zum hinderlichen Bremsklotz. In den Fokus gerieten insbesondere die Möglichkeiten zur Entscheidungsbeteiligung von Bürger:innen, Verbänden und Initiativen, aber auch artenschutzrechtliche Prüfungen, Naturschutzvorgaben, Umweltverträglichkeitsprüfungen und Grenzwerte bei Lärm, Luft oder Wasserverschmutzung. Solche Regelungen wurden nun als entscheidende Ursache für die Verzögerung von Planungen und die Behinderung von Projekten beschuldigt.

Das bedeutete extremen Druck für die Umweltpolitik. Erzeugt durch den Handlungsdruck, zügig Standards abzubauen, um den Bau von Stromnetzen, Wind- und Solarparks sowie LNG-Terminals massiv zu beschleunigen und eine größere Umweltbelastung durch die Industrie zu akzeptieren, wenn Betriebe ihre Energieversorgung von Gas auf Öl umstellten (sogenannter Fuel Switch). Dieser Handlungsdruck löste einen starken Rechtfertigungsdruck aus angesichts von Forderungen, dass in solch einer dramatischen Situation noch viel mehr Standards im Naturschutz-, Immissionsschutz-, Umwelt- oder Wasserrecht abgebaut werden müssten. Bei vielen politischen Entscheidungsträger:innen setzte sich das Narrativ fest, der Umweltschutz sei eine Hürde, die aus dem Weg zu räumen sei. Obgleich empirisch nicht haltbar, wurde er als der Faktor ausgemacht, der für viel zu langwierige Planungs- und Genehmigungsverfahren maßgeblich verantwortlich sei.

Das Umweltrecht zu schleifen ist scheinbar einfacher, als zuständige Behörden schnell mit ausreichend Personal auszustatten.

Dass es viel wirksamere Hebel zur Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung gegeben hätte – bessere Personalausstattung der zuständigen Behörden, konsequente Digitalisierung und Optimierung von Prozessen sowie Priorisierung von dringenden Vorhaben nur als Beispiele –, wurde dabei geflissentlich übersehen. Denn diese Aufgaben hätten wohl deutlich komplexere, schwierigere und zeitintensivere politische Prozesse erfordert, als »mal eben ein paar Umweltstandards zu schleifen«.

Bei solchen Änderungen geht man immer das Risiko ein, dass ein Weniger an Beteiligungsrechten für Naturschutz- und Umweltverbände und der Abbau von Schutzstandards zu mehr Rechtsunsicherheit führen. Denn Genehmigungen werden so schlicht klageanfälliger – insbesondere auch wegen möglicher Konflikte mit dem Europarecht. Unter Umweltschützer:innen, aber auch Rechtswissenschaftler:innen gibt es einen Satz, der diesen Zusammenhang auf den Punkt bringt: »Der Abbau von Schutz- und Beteiligungsrechten macht Genehmigungen nicht schneller, aber schlechter.«

Ganz Europa befand sich in einer Krise, wahrscheinlich der schwersten seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

So kritisch man diesen Druck auf die Umweltpolitik sehen kann – Deutschland befand sich im Jahr 2022 in einer als existenziell empfundenen Bedrohungslage. Welche Bundesregierung hätte sich vorhalten lassen wollen, nicht alles dafür getan zu haben, um die Abhängigkeit von Russland bei fossilen Energieträgern schnellstmöglich zu beenden und die Energieversorgung der Bürger:innen, insbesondere für den Winter 2022/2023, zu sichern? Hier wurde zu Recht ein Kriseninstrumentarium angewandt, denn das Land befand sich in einer Krise. Ganz Europa befand sich in einer Krise, wahrscheinlich der schwersten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Starke Argumente also dafür, dass eben auch die Umweltpolitik ihren Beitrag zur Krisenbewältigung leisten muss.

Allerdings rief diese politische und gesellschaftliche Stimmung auch Akteure auf den Plan, die sich kurzfristige politische Geländegewinne auf Kosten der Umwelt versprachen. Insbesondere die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europäischen Parlament, flankiert durch die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, hatte die Umwelt- und Naturschutzpolitik als willkommenen Sündenbock identifiziert. Damit startete die EVP-Kampagne gegen einen großen Teil der noch im Rahmen des Green Deals anstehenden Umweltgesetzgebung. Die Fraktion forderte ein Ende von Vorhaben in den Bereichen Renaturierung, Pestizidminderung und Schutz vor Schadstoffen aus der Industrie.

Über Wochen dominierte der Protest gegen das Vorgehen der EVP die EU-Berichterstattung und den Diskurs in der europäischen Zivilgesellschaft, sodass selbst Großunternehmen, der Europäische Jagdverband und Tausende Wissenschaftler:innen sich gegen diesen Kurs stellten (BfN 2023). Aktivist:innen demonstrierten zusammen mit zahlreichen Mitstreiter:innen vor dem Europäischen Parlament (Politico 2023) – diesmal nicht schwerpunktmäßig für Klimaschutz, sondern für das europäische Renaturierungsgesetz.

Im EU-Parlament formieren sich konservative Mehrheiten für kurzfristige politische Geländegewinne auf Kosten der Umwelt.

Dass die EVP mit dieser Kampagne auch offen gegen die Vorhaben der eigenen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen agierte, bekanntermaßen ebenfalls aus der konservativen Parteienfamilie, wurde wohl nicht nur in Kauf genommen, sondern war vielmehr Teil des Kalküls in einem internen Machtkampf. Unterstützt wurde diese Kampagne der EVP von der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, die mehrfach Anträge stellte, der Bundestag möge sich gegen die geplanten Umweltschutzvorhaben der EU positionieren. Mit Unterstützung von Teilen des Fraktionsvorstands setzten Abgeordnete, die für Umwelt- und Wirtschaftspolitik zuständig sind, gar einen Brief an die Kommissionspräsidentin auf, sie möge die Umweltgesetze stoppen.

Auch wenn die Konservativen mit ihrer Kampagne die umweltbewegte Zivilgesellschaft aufweckten, hatte ihr Gebaren unterm Strich einen verstärkenden Effekt auf den Druck, unter dem die Umweltpolitik im Jahr 2023 ohnehin bereits stand. Unterstützt wurde die Aktion gegen Umwelt- und Naturschutz natürlich von der AfD beziehungsweise Rechtsextremen im EU-Parlament. Mit ihnen organisierte die EVP sogar gemeinsame Mehrheiten in den Fachausschüssen des Europaparlaments, um gegen die Umweltgesetzgebung, insbesondere beim sogenannten Nature Restoration Law, Front zu machen. Dies brachte der EVP die Kritik ein, sie hielte die so oft zitierte Brandmauer nach rechts nicht aufrecht. Da sich EVP-Fraktionschef Manfred Weber im Frühjahr 2023 dann auch noch öffentlichkeitswirksam mit Georgia Meloni, der italienischen Ministerpräsidentin von den faschistisch geprägten Fratelli d’Italia, porträtieren ließ, deutet einiges darauf hin, dass der Schulterschluss nach rechts kein Zufall, sondern Strategie war.

Diese Strategie ging bei einigen Etappensiegen auch auf. So wurden Umweltgesetze verzögert und erhielt beispielsweise das europäische Renaturierungsgesetz zweimal keine Mehrheit in den zuständigen Fachausschüssen für Landwirtschaft und Umwelt. Eine Mehrheit aus EVP, Rechtsextremen und Liberalen stand dagegen, bis dieses Gesetz dann im Juli 2023 nur mit hauchdünner Mehrheit im Plenum des Europaparlaments dann doch verabschiedet wurde.

Der Wind blies also unmittelbar nach der erklärten Zeitenwende kräftig von vorn gegen die Umweltpolitik und flaute auch im Jahr 2023 nicht wirklich ab. Ein politisches Momentum für wegweisende umweltpolitische Vorhaben sieht so jedenfalls nicht aus. Diese Stimmungslage blieb natürlich nicht ohne Auswirkungen auf das Umweltrecht und die finanzielle Ausstattung dieses Politikfelds.

Umwelt- und Naturschutz wird wieder als Hürde wahrgenommen

Irgendwo zwischen dem stockenden Ausbau der erneuerbaren Energien und dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden der Naturschutz und auch die Beteiligungsrechte von Bürger:innen sowie Umweltverbänden mehr und mehr zur Wurzel des Übels langwieriger Planungs- und Genehmigungsverfahren erklärt.

Sicher, schon immer gab es diejenigen, die den Feldhamster dafür verantwortlich machen, dass ein Gewerbegebiet nicht ausgewiesen wird, oder den Rotmilan als Sündenbock heranziehen, um den stockend verlaufenden Ausbau der Windenergie zu begründen. Aber die standen weitgehend für Einzelmeinungen, die sich in substanziellen gesetzlichen Änderungen zum Abbau von Artenschutz- oder Beteiligungsstandards nicht niederschlugen. Zudem wurden solche Ressentiments eher von Lobbyverbänden oder Politiker:innen mit marktradikaler Agenda vertreten, die ohnehin begrenztes Verständnis dafür hatten, dass nun ausgerechnet das Bachneunauge wichtiger sein sollte als die Verlängerung der Startbahn eines Flughafens. Als Armin Laschet noch als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident im Jahr 2018 forderte, man möge endlich die Beteiligungsrechte der nervigen Bürgerinitiativen und Umweltverbände einschränken (Niejahr 2018), erntete er viel öffentliche Empörung. Und es blieb ein Sturm im Wasserglas, zu einem nennenswerten Abbau von Beteiligungsrechten kam es deswegen nicht.

Vielmehr arbeiteten Umweltverbände, ökologisch denkende Politiker:innen und Unternehmen an dem Narrativ, dass Umwelt und Wirtschaft in enger Verbindung stehen. Umweltschutz wurde auch als Standortvorteil beschrieben, als Ausweis von Lebensqualität und als Innovationsmotor. Einprägsam auf den Punkt brachte Cem Özdemir dieses Narrativ mit seinem Plakatspruch zur Bundestagswahl 2017: »Zwischen Umwelt und Wirtschaft gehört kein Oder«.

Im Jahr 2022 drehte sich der Wind. Bereits im Bundestagswahlkampf 2021 ging es oft um die Frage, wie Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden können. »Die Genehmigung eines Windrads darf nicht mehr sieben Jahre dauern, sondern nur noch zwei« war einer dieser Sätze, die oft zu hören waren. Gleichzeitig wurde der verschleppte Ausbau der erneuerbaren Energien immer augenfälliger. Nicht zuletzt durch die zunehmende Aufmerksamkeit, die die starke Klimabewegung rund um Fridays for Future für dieses dramatische politische Versäumnis erzeugte.

Plötzlich war die Energiewende nicht mehr »nur« Klimaschutz, sondern Geopolitik.

Die bereits drängende politische Forderung, Genehmigungen zu beschleunigen, wurde schließlich durch den russischen Angriff und die folgende Energiekrise zum zentralen Bestandteil von akuten Notfallmaßnahmen. Als einigermaßen schnell verfügbarer Ersatz für Öl, Kohle und Gas aus Russland war und ist LNG-Gas nur eine teure Akutlösung. Für eine bezahlbare Energieversorgung musste vor allem der Ausbau der weitaus günstigeren Energieträger Wind und Sonne angekurbelt werden. Die Energiewende war plötzlich nicht mehr »nur« Klimaschutz, sondern Geopolitik, weil erkannt wurde, dass nur durch eine deutlich beschleunigte Energiewende die Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern erreicht und nur so Putins Kriegskasse der Finanzstrom abgeschnitten werden konnte.

Das überragende öffentliche Interesse

Die Lösung: Der Bau von Windenergieanlagen, Solarparks und Netzen wurde gesetzlich als »im überragenden öffentlichen Interesse« und »im Interesse der öffentlichen Sicherheit« definiert. Somit galt ab sofort die Regelvermutung, dass erneuerbare Infrastruktur Vorrang hat. Andere Dinge mussten zurückstehen, so auch der Natur- und Artenschutz.

Aber wieso eigentlich? Hieß es nicht zuvor noch, der Natur- und Artenschutz sei gar nicht die entscheidende Hürde für Innovationen? Und zwischen wirtschaftlichen Fortschritt und Umwelt gehöre kein Oder? Gab es nicht ganz andere Gründe für den viel zu langsam laufenden Ausbau der Erneuerbaren? Es lässt sich eine ganze Reihe von Ursachen für die stockende Energiewende anführen: an erster Stelle die Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes unter den Wirtschaftsministern Gabriel und Altmaier, die den Ausbau deckelte und bremste – später berühmt geworden als »Altmaier-Delle«; dann fehlendes Personal in Genehmigungsbehörden und ineffiziente Prozesse. Aber wie so oft in der Politik entscheiden Wahrnehmungen, politisches Gewicht und Narrative. Und das Narrativ der Stunde war: Naturschutz, Artenschutz und Beteiligungsrechte sind Hürden. Hürden für den Ausbau der Erneuerbaren. Hürden für den Ausbau der Netze. Hürden für den Brennstoffwechsel. Hürden für LNG-Terminals. Und Hürden müssen weg.

Befeuert wurde dieses Narrativ von Verbänden und Thinktanks aus der Energiebranche, Chemieindustrie und Baugewerbe. Sie versuchten, der Bundesregierung unmissverständlich klarzumachen: Gemessen werdet ihr daran, wie viele Stromnetze und Anlagen gebaut werden, nicht daran, wie viele neue Schreiadler oder Schweinswale sich in Deutschland heimisch fühlen.

Ich habe in meiner politischen Arbeit immer wieder Gespräche mit Projektierern und Planerinnen von Windparks geführt. Die Entstehung einzelner Windparks habe ich persönlich kommunalpolitisch begleitet. Ich habe noch die Worte eines mir gut bekannten Windenergiepioniers im Kopf, Gründer und seit Jahrzehnten Geschäftsführer eines Planungsbüros für erneuerbare Energien in Münster. Angesprochen auf den Zielkonflikt zwischen Windparks und Artenschutz, meinte er: »Weißt du, es ist doch so. Die erneuerbaren Energien sind angetreten, um unsere Erde zu retten. Nicht, um sie weiter kaputt zu machen.« Folgerichtig entwickelte sein Büro regionale Karten, gemeinsam mit den lokalen Naturschutzverbänden, auf denen Gebiete ausgewiesen wurden, die geeignet für die Windenergie und aus naturschutzfachlicher Sicht vertretbar sind. Er verfolgte ganz klar den Ansatz, dass die Energiewende naturverträglich gestaltet werden muss. Was auch, wie er mit seiner Arbeit zeigt, möglich ist!

Das Framing von »Hürde und Verhinderung« treibt den Naturschutz in die Defensive.

Der Pflock war eingeschlagen: Natur- und Artenschutz galten erst recht nach der Zeitenwende genauso wie Beteiligungsrechte für Bürger:innen als Hindernis für den Ausbau von Infrastruktur und für die Versorgungssicherheit. Was folgte, war eine umfassende Anpassung von Standards bei Pflichten zur Durchführung von Umweltverträglichkeitsprüfungen oder Artenschutzprüfungen, Abstandsregelungen für etliche Vogelarten und bei Beteiligungsrechten. Durch das neue »Framing«, wie es auf Politisch heißt, wurde die Wahrnehmung von Umwelt- und Naturschutz allmählich in Richtung »Hürde« gelenkt. Also nicht nur die konkreten gesetzlichen Änderungen setzten den Naturschutz unter Druck, auch der deutliche Wechsel in Verständnis und Einstellung brachten ihn immer stärker in Rechtfertigungszwang.

Statt Begriffen wie Lebensqualität, Wirtschaftsfaktor, Lebensgrundlage, Nahrungsmittellieferant, Erholungsort stand nun dieser eine Begriff »Hürde« ganz vorne. Entgegen der bis dahin geltenden Ausgangsposition, dass Umweltprüfungen und Beteiligungsverfahren Genehmigungen besser, ausgewogener und rechtssicherer machen, setzte sich die Erzählung fest, dass Beteiligung vor allem Verlangsamung bedeutet. Tatsächlich liegt diese Wahrnehmung einer fatalen Fehleinschätzung auf. Umweltprüfungen und Beteiligungsverfahren waren und sind kein Instrument, um Vorhaben zu verhindern. Sie dienen im Gegenteil dazu, Planungen so zu optimieren, dass das beantragte Vorhaben ermöglicht und gleichzeitig die Eingriffsintensität minimiert wird. Obwohl also solche Prüfungen nicht verhindern, sondern optimieren, setzte sich durch die politische Debattenlage genau die gegenteilige Wahrnehmung fest. Und weil solche Wahrnehmungen und »Frames« in der Politik so wirkmächtig sind, können sie eine offensive Umwelt- und Naturschutzpolitik erheblich erschweren. Deswegen gilt Umweltschutz inzwischen wider besseres Wissen vor allem als Bremsklotz.