Ogottogott - Wie glaubt man und wenn ja, warum? - Jan-Christof Scheibe - E-Book

Ogottogott - Wie glaubt man und wenn ja, warum? E-Book

Jan-Christof Scheibe

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Beschreibung

»Mensch, Gott, du kannst ja richtig witzig sein!« (Jan-Christof Scheibe)

Ups – Gott ist weg! Jan-Christof Scheibe ist der Glaube abhanden gekommen und er vermisst ihn. Also sucht er nach Wegen aus seiner religiösen Beziehungskrise. Aber wer kennt eigentlich den Weg zum großen Boss? Die Pfarrerin, der Guru, der Tauchlehrer oder doch Google-Plus? Als Stuntman des Glaubens stellt sich Scheibe seinen Zweifeln am Nichtglauben und stürzt sich in die Abgründe der Weltreligionen. Kein Pilgerpfad ist seinem scharfen Verstand zu schmal, kein Beichtstuhl seinem Witz zu heiß. Ein Buch über den sinnlosen Sinn der spannenden Suche nach Gott – kompakt, kenntnisreich, nachdenklich und überaus witzig.

  • Ein frecher Zweifler auf der Suche
  • Für alle, die sich ihres Unglaubens nicht so sicher sind
  • Wach, tabulos und garantiert gut gelaunt

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Seitenzahl: 276

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Jan-Christof Scheibe

Ogottogott – Wie glaubt manund wenn ja, warum?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Copyright © 2018 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlaggestaltung: Gute Botschafter GmbH, Haltern am See

ISBN 978-3-641-22443-1V001

www.gtvh.de

Meinen beiden Großvätern Hinrich und Günther, ihres Zeichens »Diener Gottes«, sowie meinem Vater, dem Kantor Karl-Günther, ohne deren Input der Autor nicht entstanden wäre, und dieses Buch somit auch nicht.

Gleichzeitig – und nicht minder – meiner Mama Evamarie!

INHALT

1. OGOTTOGOTT, GOTT IST WEG!

2. WILL ICH WIEDER GLAUBEN? – GUTE GRÜNDE GEGEN DIE RELIGION

3. ABER JETZT FEHLT MIR ETWAS. WARUM ICH IHN ZURÜCK HABEN WILL

4. WAS KANN MAN DENN SONST SO ALLES GLAUBEN? – DIE WELTRELIGIONEN

5. WAS KANN MAN DENN SONST SO ALLES GLAUBEN? – GESCHICHTEN AUS DER HALBSEIDENEN WELT DER SPIRITUALITÄT

6. GOTTES WERK UND DER MENSCHEN BEITRAG?

7. DIE GEMEINSAMKEITEN DER RELIGIONEN – SPIRITUELLE BASICS UND WAS DARAUS WERDEN KANN

1. OGOTTOGOTT, GOTT IST WEG!

Ich habe da diesen alten Kumpel. Wir zwei kennen uns schon seit Ewigkeiten, meine ersten Erinnerungen an ihn reichen tatsächlich zurück bis in den Kindergarten. Und irgendwie war er immer da, wenn ich ihn brauchte. Oft hat er mir geholfen, wenn es Krisen gab, zuletzt beim Tod meines Vaters. Gar nicht unbedingt mit neunmalklugen Ratschlägen, eher durch seine Präsenz und die Fähigkeit zuzuhören. Ich konnte mich auf ihn verlassen, er war irgendwie immer dabei. Auch wenn es was zu feiern gab, wie die Geburt meiner Tochter. Zugegeben: Manchmal war er auch wochenlang gar nicht zu erreichen, hatte nicht mal die Mailbox an. Aber plötzlich lief man sich zufällig wieder über den Weg. Oft haben wir einfach nur so dagesessen, an der Elbe, mit einem Glas Wein in der Hand, haben ins Wasser geguckt oder in den Sternenhimmel und Fragen an das Universum gestellt. Aber in letzter Zeit erreiche ich ihn leider irgendwie gar nicht mehr. Die alte Nummer scheint jedenfalls nicht mehr zu stimmen. Und jetzt: Wo finde ich ihn? Vielleicht mit einer Kontaktanzeige?

»Nicht mehr ganz junger Mann, 54, Sternzeichen Löwe, sucht einen alten Freund. Er hieß Gott, oder so. Erinnere mich nicht an sein Aussehen, aber an eine gute Zeit und beiderseitige Zuneigung. Zu mir: Ich bin gerade ein wenig orientierungslos. Und auch nicht sicher, ob ich eine feste Bindung wirklich wieder will. Aber ich schließe das bei gegenseitiger Sympathie nicht grundsätzlich aus.«

Ja, so ist das: Ich wollte mich nach längerer Zeit mal wieder bei IHM melden und musste leider feststellen: ER ist nicht mehr da! Gott, das war für mich lange Zeit wie meine Haftpflichtversicherung: Beide habe ich in meinem Leben bisher nie ernsthaft in Anspruch genommen, aber es war trotzdem unglaublich beruhigend zu wissen, dass sie da sind. Für alle Fälle.

Die Haftpflichtversicherung habe ich noch. Aber IHN habe ich anscheinend irgendwo verloren auf dem Weg zum Erwachsenwerden. Ich habe leider überhaupt keinen Draht mehr zu IHM! Religion funktioniert augenscheinlich nicht wie die Mitgliedschaft beim ADAC: Wagen springt nicht an, kurzes Telefonat und wenig später schwebt ein Gelber Engel zu dir herab, um dir Starthilfe zu geben. Ich scheitere schon beim spirituellen Anruf!

Kennengelernt habe ich IHN damals in der evangelischen Kirche, ich war von Kindesbeinen an Mitglied in dem Verein, denn mein Vater war Organist und meine beiden Eltern sind Pastorenkinder, ich also ein doppelter Pfarrersenkel, aber dazu später mehr. Aber schon bald nach meiner Konfirmation hatte ich den Eindruck, dass ich IHN da irgendwie nicht mehr finde ...

Dennoch ist ER mir auch in meinem weiteren Leben immer mal wieder unverhofft begegnet: Beim Betreten einer italienischen Kirche oder eines buddhistischen Tempels in Thailand, einem Sonnenaufgang in den Alpen oder nach der heilen Landung meines Flugzeugs trotz Sturm und schlimmster Befürchtungen.

Okay, das waren natürlich rein subjektive Erlebnisse, keine objektivierbaren Wahrnehmungen, und schon gar keine Beweise für SEINE Existenz. Aber vielleicht habe ich da eine besondere Antenne und bin eher empfänglich für transzendente Romantik als andere? Jeder Mensch geht ja mit einem ganz speziellen Fokus durch sein Leben: Werdende Mütter sehen plötzlich nur noch Kinderwagen auf der Straße, urlaubsreife Menschen eher Wohnmobile. Manche Männer nehmen schon aus der Ferne das Röhren eines Lamborghinimotors wahr wie sphärische Musik, und ich bin wohl tendenziell ein religiös musikalischer Mensch.

Ja, ich bin durchaus bereit zu akzeptieren, dass es vielleicht etwas gibt, das uns und alles, was es um uns herum so gibt, übersteigt und umfängt. Transzendenz eben. Unser analytischer, menschlicher Verstand, ja, schön und gut, aber wenn ich die Wahl habe, ist mir eine religiös-romantisierte, spirituell bekleidete Sicht auf das Leben lieber, als immer nur die nackte Wahrheit, die ja ungefähr so angenehm ist wie die Aussicht auf einen FKK-Strand an der Ostsee: Das meiste will man gar nicht so genau sehen!

Unter religiöser Anleitung mit IHM kommuniziert, also im Rahmen meiner christlichen Kirche, habe ich allerdings schon längere Zeit nicht mehr. Ich bin sozusagen Protestant mit ruhender Mitgliedschaft. Es geht mir mit der Religion wie mit dem Fitnesscenter: Ich überweise immer noch die monatlichen Beiträge. Denn vielleicht verspüre ich ja irgendwann mal wieder Lust, mich dort zu betätigen. Theoretisch. Aber die Erfahrung zeigt: Es bleibt dann leider bei der Theorie.

Aber mal gesetzt den Fall, der gute alte Petrus würde oben vor der Himmelstür tatsächlich zuerst alle Kirchensteuerzahler zum Boarding ins Paradies aufrufen: Da wäre ich aber ganz vorne mit dabei, beim Christentum! Schlagartig hätte sich der kleine Obolus richtig bezahlt gemacht: Für immer ein Platz im Haus Gottes!? Das wäre ja ein besseres Investment als jede Eigentumswohnung!

Sollte allerdings ein schwer bewaffneter Islamist meinen Nahverkehrsbus kapern und alle Christen nach vorne rufen: Da würde ich schön unauffällig hinten sitzen bleiben, muss ich zugeben. So wichtig ist mir mein Glaube dann auch wieder nicht.

Gut: Ehrlich gesagt glaube ich nicht an die Himmelstür und an verheißungsvolle Landschaften dahinter. Ich zähle mich schließlich zu den aufgeklärten Menschen. Das Problem dabei ist allerdings: »aufgeklärt« heißt eben leider oft auch »ungeklärt«. Denn auf die ewigen Fragen der Menschheit haben Ratio und Wissenschaft leider nach wie vor keine wirklich hilfreichen Antworten parat: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Was war davor? Und was kommt danach!? Und: Was soll das hier eigentlich alles?

Unsere Welt, meine Welt ist kompliziert geworden. Oder warum bemerke ich ausgerechnet jetzt, dass ER nicht mehr da ist? Das ist mir doch früher nicht aufgefallen! Je älter ich werde, desto mehr verspüre ich eine gewisse Dringlichkeit, mich mal wieder mit IHM auszutauschen. Über dies und das. Hauptsächlich so über die Widersprüchlichkeiten und globalen Probleme unserer Zeit, die mir gerade etwas über den Kopf wachsen. Aber auch über rein religiös-organisatorische Fragen: Gibt es nun ein Paradies oder nicht!? Und wenn ja: Welche guten oder schlechten Taten haben eigentlich wirklich Einfluss auf meinen Karma-Kontostand?

Ich hätte einfach gerne mal ein Gespräch mit jemandem, der sich in diesem Wirrwarr noch auskennt. Der noch den Überblick hat. Eben jemand wie Gott, der mir die ein oder andere Paradoxie unserer Welt bestimmt erklären kann, wo ER sie doch geschaffen hat.

Der Klassiker ist ja, dass man sich in dem Moment an Gott wendet, wo man in einer Notsituation steckt:

• Die Katze ist seit Tagen nicht nach Hause gekommen. • Man treibt auf einer Luftmatratze mitten auf dem Mittelmeer und kein Land ist in Sicht. • Ein Mensch im engeren Verwandtenkreis leidet an einer bedrohlichen Krankheit.

Und auf einmal wird ein jahrzehntelang nicht mehr gepflegter Kontakt wieder bemüht: »Hallo, lieber Gott, könntest du nicht mal eben ...« Das ist so ähnlich, als würde man Freunde, die man seit Jahren vernachlässigt hat, auf einmal bitten, beim bevorstehenden Umzug zu helfen.

Wir sitzen in der Patsche, und nun soll eine Instanz, deren Existenz man vorher geleugnet oder zumindest massiv in Frage gestellt hat, es auf einmal richten. Wenn sonst nix mehr geht, ist man plötzlich sogar bereit, an Wunder zu glauben.

Okay, Hilfe brauche ich nicht, im Moment, aber Rat wäre schön! Zum Beispiel auch in der »Sinnfrage«: Hat das Leben einen? Oder nicht? Ich persönlich fände es ja charmant und tröstend, wenn es das gäbe, ein »Wesen aller Dinge«! Oder ist das nur religiöse Romantik? Eine spirituelle Spielform der allgemeinen Harmoniesucht vieler Menschen? Ist meine Suche nach Gott ähnlich niederen Beweggründen geschuldet wie das Bedürfnis der TV-Zuschauer nach einem Happy End in jedem ZDF-Liebesfilm? »Bauer sucht Frau« – »Scheibe sucht Gott«? Wurde Religion erfunden, um diese leicht durchschaubaren menschlichen Sehnsüchte zu befriedigen? Wurden die besten Autoren der Welt Jahrtausende lang beschäftigt, an religiösen Drehbüchern zu schreiben, um die Menschen mit süßen Märchen einzulullen? Oder ist da doch etwas, hinter all diesem Irrsinn unserer Zeit, nach dem es sich zu suchen lohnt, etwas Wärmendes, Menschenverbindendes?

Ich habe mich also auf die Suche gemacht. Ich habe versucht, Antworten zu finden auf Fragen wie:

• Wer genau kennt denn jetzt den Weg zu IHM – Yoga-Guru, Tauchlehrer, Google Plus oder »Grüß Gott, Herr Pfarrer«? • Sind Atheisten wirklich ohne jeden Glauben, oder glauben sie das nur? • Bringt die Ganzkörperverhüllung Segen und wenn ja – warum ziehen das dann so wenige Männer an? • Wo finde ich die Wege aus meiner religiösen Beziehungskrise?

Ich habe gechannelt, gependelt, indianische Sonnen­tänze gemacht, mich gedreht wie ein Irrwisch, tagelang geschwiegen, gefastet und mir einen ganzen Karton voller Bach-Blüten-Fläschchen gekauft. Ich habe Reiki-Kurse belegt und Hypnose gelernt, den Stimmen von Geisterwesen gelauscht und Räucherstäbchen abgebrannt. Und manchmal hatte ich tatsächlich das Gefühl, ein kleines Zipfelchen einer höheren Wahrheit erwischt zu haben …

Gottesglaube und Wiegenlieder – Wie ich religiös musikalisch wurde

Es gab eine Zeit, da war ich Gott sehr nah: meine Kindheit. Sowohl meine Mutter als auch mein Vater stammten aus einem Pfarrerhaushalt, ich bin also doppelter Pastorenenkel. Aber abgesehen von dem obligatorischen Tischgebet vor dem Mittagessen – eher kurz gehalten, sonst wird das Essen kalt: »Herr Gott, segne uns’re Speise, uns zur Kraft und dir zum Preise« – gab es bei uns zu Hause keine religiösen Pflichten. Meine Eltern legten keinen besonderen Wert auf gezieltes religiöses Training ihrer Kinder. Die beiden hatten in ihrer eigenen Kindheit sehr zu leiden unter einer strengen, protestantischen Erziehung und wollten mich nun dankenswerter Weise verschonen mit religiöser Zucht und Angstmacherei. Der »liebe Gott« war also in meinem kindlichen Kosmos tatsächlich lieb, kein strafender Despot, der Blitze vom Himmel schickte, wenn ich den Gehorsam verweigerte. Ich lernte: Alles Gute kommt von oben.

Mein Vater hatte Kirchenmusik studiert, allerdings weniger aus theologischem Interesse als vielmehr aus Liebe zur Musik. Er wollte wohl – als Sohn eines Pfarrers – auf die Interessen seines Vaters Rücksicht nehmen und »irgendwas mit Kirche« machen. Und so wurde er eben Kantor und Organist. Es gab damals auch noch keine wirklichen Alternativen für Berufsmusiker im Bereich Tasteninstrumente: »James Last«, »Einstürzende Neubauten« oder »Deichkind« ..., diese wunderbaren Möglichkeiten einer Musikerkarriere waren Ende der 40er-Jahre noch nicht in Sicht.

Die Arbeitsstelle meines Vaters befand sich in der Christuskirche Othmarschen, einer Gemeinde in den beschaulichen Hamburger Elbvororten, man könnte sagen: dem »Schlumpfhausen« Hamburgs. Denn hier ist es tatsächlich märchenhaft: Der Durchschnittsverdienst liegt dreimal höher als in der restlichen Stadt, die Bewohner gehören also nichtzum klassischen Prekariat, was sich allerdings leider nicht positiv auf das Gehalt meines Vaters ausgewirkt hat.

Dieser kleine, friedliche und von Gott begünstigte Fleck hat in gewisser Weise auch etwas gemeinsam mit dem berühmten kleinen Dorf von Asterix und Obelix: Die unbeugsamen Gallier haben ihren Zaubertrank, die Othmarscher dafür jede Menge Asche. Draußen im übrigen Hamburg toben Konflikte, fremde Kulturen prallen aufeinander. Aber hier: nichts als friedliche Koexistenz der Reichen mit den Superreichen. Die reine Idylle, getrübt nur hier und da von ganz normaler Wohlstandsverwahrlosung und Alkoholismus.

Der Job meines Vaters bestand darin, bei Gottesdiensten die Orgel zu spielen, einmal in der Woche auf einem nahegelegenen Friedhof Beerdigungen zu begleiten, den Kinder- und Jugendchor sowie die Bachkantorei zu leiten und sich insgesamt um die Gestaltung der Kirchenmusik zu kümmern. Das hieß: kleinere konzertante Aufführungen während der Gottesdienste und zwei große Konzerte im Jahr, einmal zur Passions- und einmal zur Weihnachtszeit. Er war also sozusagen der Troubadix dieses kleinen Dorfes, allerdings mit deutlich mehr musikalischem Talent gesegnet. Wir mussten ihn nie von einem Baum losbinden …

Ich habe meinen Vater gerne zu den Gottesdiensten in die Kirche begleitet. Ich mochte diesen Ort: den Muff der alten Gesangbücher gemischt mit dem Geruch frischer Farbe, wenn wieder einmal renoviert oder umgebaut worden war und man den frischen Kitt aus den Mosaikfenstern pulen konnte. Manchmal durfte ich sogar durch eine kleine Klappe hinten in die Orgel kriechen und mir die Pfeifen von der anderen Seite aus ansehen. War die Kirche für andere Kinder ein unbekanntes, mysteriöses Gebäude mit seinen Kerzen und den unendlich hohen Decken, für mich war sie ein Alltagsort, an dem mein Vater »Dienst« hatte, wie er immer sagte. Ich habe ihn damals immer gern zu seinen »Gigs« begleitet und ihm als sein »Roadie« die Noten getragen. Das konnte allerdings auch schiefgehen: Einmal setzt sich mein Vater an die Orgel, ich gebe ihm die Noten, er intoniert feierlich den Hochzeitsmarsch ... und ein Sarg wird reingetragen. Seitdem weiß ich: Trauernde geben kein Trinkgeld.

Um den Ablauf des Gottesdienstes zu besprechen, traf sich mein Vater vorher immer mit dem Pastor in dessen Amtszimmer. Der war zu diesem Zeitpunkt noch privat und in Zivil, seine Amtswürde – in Form von Talar und weißem Kragen – hing noch am Bügel. Oft war dem Pfarrer eine gewisse Nervosität anzumerken, ob seine heutige Predigt denn wohl von der versammelten Gemeinde auch gut aufgenommen würde. Für mich war dieses religiöse Lampenfieber allerdings nie so ganz nachvollziehbar angesichts der verschwindend geringen Zuschauerzahlen, mit denen an einem durchschnittlichen Sonntag zu rechnen war. Die »versammelte Gemeinde« rekrutierte sich – von den kirchlichen Highlights wie Erntedank, Ostern oder Heilig Abend abgesehen – nämlich hauptsächlich aus einer Handvoll älterer Damen vom benachbarten Altersstift, die mit schwarzen Hüten auf dem Kopf und Tropfen an den Nasenspitzen versprengt in den Bänken saßen und an ihren Hörgeräten spielten. Dazu kamen noch einige Konfirmanden, die im Gottesdienst ihre Pflichtstunden absaßen. Eine sehr übersichtliche Besucherzahl also, die wahrscheinlich aus meiner Vogelperspektive von der Orgelempore noch verlorener aussah als unten im Kirchenraum. Aber Haarausfall bei Männern sieht ja bekanntlich von oben betrachtet auch immer viel drastischer aus, als wenn man von unten schaut. Aber eben wahrscheinlich auch realistischer.

Nach der Besprechung liefen mein Vater und ich dann durch die Sakristei hinauf zur Orgel. Im Augenwinkel konnte ich beobachten, wie der Küster die silbernen Kelche für das Abendmahl vorbereitete und mit Rotwein aus Kartons befüllte.Kartons, deren Etiketten ich vom Billigsupermarkt um die Ecke kannte.

Bedeutete dieser Blick hinter die Kulissen für mich als Kind auf der einen Seite vielleicht eine gewisse Form von Entzauberung – immerhin wusste ich als einer der wenigen, was der Pfarrer »drunter« trug, nämlich Cordhose –, so bildete sich dadurch andererseits in mir eine besondere Form der Verbundenheit mit diesem »Apparat Kirche«: Ich fühlte mich privilegiert, im Besitz eines »Backstagepasses« zu sein für einen Laden, auf den andere so große Stücke hielten.

So ähnlich geht es mir heute auch noch ab und zu, wenn ich als Conferencier in Varieté-Theatern wie zum Beispiel dem HANSA-Theater in Hamburg auf der Bühne stehe. In den Pausen kann ich den Akteuren hinter der Bühne zuschauen, wie sie sich für ihre Nummern warm machen, oder den Zauberer bei den Vorbereitungen seiner Tricks beobachten. Und auch hier empfinde ich eine vergleichbare emotionale Mischung aus Entzauberung – »Ach, so einfach ist das?« – und großer Sympathie und Stolz, zu den »Eingeweihten« zu gehören.

Man kann den Job meines Vaters insgesamt als sehr beschaulich bezeichnen. Stress ist was anderes. Außer zu Weihnachten, da war bei uns zu Hause »die Hölle los«. Das gemeine Christenvolk geht ja, wie bereits erwähnt, selten bis nie in die Kirche. Aber wenn sie gehen, dann gleich alle auf einmal, und dann bringen sie auch noch die gesamte Mischpoke mit: am Heiligen Abend. Damit sich die Besucher nicht die Köpfe einschlagen mussten, um einen Sitzplatz zu ergattern, wurde deshalb in unserer Kirche am Weihnachtsabend nicht ein Gottesdienst abgehalten, sondern derer gleich vier! Von welchen mein Vater drei bestreiten musste, jedes Mal unter Mitwirkung des Chores. Das wiederum bedeutete: unter Mitwirkung der Familie, denn wie in jedem guten Handwerksbetrieb werden Frau und Kinder auch bei Kirchenorganisten voll mit eingebunden. Um 15:00 Uhr sang der Kinderchor, da haben meine Schwester und – bis zum Stimmbruch – auch ich mit ausgeholfen. War dieser Gottesdienst nach einer knappen Stunde erfolgreich absolviert, hetzten wir schnell nach Hause: Kaffeetrinken, Stollen essen, Baum schmücken. »Leute, macht doch mal zackig, damit wir es noch ein bisschen gemütlich haben!«, war bei uns am Heiligen Abend eine stehende Redensart. Um 17:15 Uhr saß man dann bereits wieder im Auto zurück in Richtung Kirche, hektische Ankunft, Noten verteilen, vorher alles noch einmal schnell durchsingen, diesmal mit den Erwachsenen der bereits erwähnten Bachkantorei. Der Chor erschien zu diesem frühabendlichen Gottesdienst allerdings nur in sehr ausgedünnter Zahl, die Sänger hatten schließlich alle ihre privaten Verpflichtungen. Familie Scheibe war also beim 18:00 Uhr-Gottesdienst oben auf der Empore so gut wie unter sich, unterstützt, wenn überhaupt, dann nur von einigen vereinzelten Singlefrauen und -männern ohne familiäre Anbindung. Die versprengte Schar wurde dann auf die vier verschiedenen Chorstimmen verteilt: Schwesterlein sang Sopran, Mama Alt, ich Tenor und Papa Bass. Dieser »Chor light« stimmte dann einen relativ dünnen Lobgesang aus Anlass der Geburt des Erlösers an. Aber keine Mannschaft kann glänzen, wenn sie derart in Unterzahl spielen muss!

Danach hatte unsere Familie Freizeit von – mein Vater fuhr sehr schnell Auto – immerhin 19:15 Uhr bis 22:15 Uhr. Gerade mal drei Stunden »Gemütlichkeit« für: Tisch decken, Festessen, Kerzen am Baum anzünden (das Singen haben wir uns meistens gespart), Geschenke auspacken, sich darüber freuen und ein wenig damit spielen. Dann ging es schon wieder hektisch los zum Einsingen des Chores vor dem 23:00 Uhr-Gottesdienst. Jetzt aber: Welch ein Gegensatz zu der spärlich besetzten Empore beim Gottesdienst davor! Zu dieser späten Stunde gab es hier oben fast keine freien Plätze mehr, der Chor erschien in voller Mannschaftsstärke, das Wunder der Weihnacht erfüllte sich nun auch hier auf der Orgelempore. Gutgelaunte Sänger mit vom Rotwein schon leicht geröteten Wangen schmetterten aus voller Brust »Jauchzet, frohlocket«, und jetzt war es ein wirkliches Freudenfest! Besonders in Erinnerung ist mir Herr Kranich, ein kleingewachsener Mann aus dem Tenor, der immer »seine« Stelle hatte, die er Jahr für Jahr mit besonderer Inbrunst sang. Im Bachchoral »Brich an, du schönes Morgenlicht« gibt es einen winzigen Part, in dem die Tenorstimme besonders glänzen kann, und zwar bei der Zeile »... dazu den Satan zwihihihingen ...«. Herr Kranich pumpte sich schon in den Takten davor merklich auf und schmetterte dann diese vier Achteltöne mit einer derartigen Strahlkraft, dass es eine wahre Weihnachtsfreude war. Inwieweit er dabei von christlicher Botschaft erfüllt war oder aber von gutem Rotwein, kann ich nur mutmaßen. Aber das ist ja das Schöne bei den Protestanten: es gehört ja irgendwie beides zusammen. Es kam wahrscheinlich eins zum anderen: die nachlassende Anspannung bei den Sängern nach all den stressigen Weihnachtsvorbereitungen, die Vorfreude auf die bevorstehenden Feiertage und das ein oder andere Glas guten Beaujolais, dieses Konglomerat der Seligkeit – Entspannung, Freude und Alkohol – ließ den Chor jedenfalls einfach wunderbar beseelt singen, um nicht zu sagen: jubilieren. Als Kind half mir das – viel besser als all die salbadernden Predigtworte der Pastoren –, das Wundervolle der Weihnachtsbotschaft umfänglich zu begreifen: Es ist stressig – und das war es bestimmt damals auch für Maria und Josef –, aber eben auch das Fest der Freude!

Damals habe ich tatsächlich noch zweifelsfrei geglaubt. An den Weihnachtsmann, die Zahnfee und überhaupt an alles, was mir Erwachsene oder die älteren Kinder erzählt haben. Von dem größeren Nachbarsjungen nebenan ließ ich mir so ziemlich jeden erdenklichen Bären aufbinden, zum Beispiel dass der Köter am Ende der Straße mal ein Kind angefallen habe. Seitdem machte ich immer einen respektvollen Bogen um diese hinkende, blinde, zahnlose, arthritisgeplagte und objektiv völlig ungefährliche Hunderuine. Durch die Erzählungen der anderen war er in meiner Fantasie zu einem brutalen, alles zerfetzenden Monstrum mutiert. Und das blieb er auch, bis zu seinem Tod.

Und ich habe an den allmächtigen »lieben Gott« geglaubt – man hatte es mir so erzählt, und welchen Grund hätte ich haben sollen, daran zu zweifeln!? In meiner Welt war Gott einfach der Chef vom ganzen Himmel, und das war herrlich übersichtlich! ER ließ alles wachsen: die Bäume, die Blumen und die Brüste der großen Schwester von meinem Kumpel gegenüber. Gott war in meiner damaligen Vorstellung eine Mischung aus Superman und Jürgen Kachelmann: Er ließ die Sonne scheinen oder es donnern und blitzen. Und wenn der liebe Gott Pipi musste, dann regnete es. Man musste nur zu ihm beten, und dann machte er Opa wieder gesund.

Bald sollte mir diese Zuversicht allerdings verloren gehen!

Die verdammte Pubertät – Wie ich das Zweifeln lernte

Meine naive, kindliche Sicht in religiösen Dingen kann man vielleicht mitdem Götterglauben am Beginn der Menschheitsgeschichte vergleichen. Gut, damals glaubte man noch an ein ganzes Kollektiv von göttlichen Wesen: Zeus, Odin, Jupiter und ihre jeweiligen Mitstreiter kümmerten sich um alle Geschicke der Menschen. Allerdings waren die Götter damals – im Gegensatz zu meinem »lieben Gott« – eben nicht nur lieb, sondern leider auch sehr wankelmütig. Und so konnte es passieren, dass man als »Liebling der Götter« mit einem segensreichen Leben ausgestattet wurde, oder eben mit dem genauen Gegenteil: Krankheit, Missernten, Niederlagen in der Schlacht und dem daraus resultierenden Abstieg des eigenen Volksstammes runter in die Sklavenliga.

Was auch geschehen mochte: die Götter waren schuld. Aber wenn man ihnen nur immer fleißig Opfer darbot, hatte man nichts zu fürchten, außer, dass einem der Himmel auf den Kopf fällt.

Irgendwann aber stellte die Menschheit fest, dass der Himmel da oben doch deutlich besser befestigt ist, als ursprünglich angenommen, und er nicht droht, einem den Schädel einzuschlagen. Und dass man als Seefahrer auch nicht Gefahr läuft, mit seinem Boot am Rande der Erdenscheibe abzustürzen. Vorher schon wurden die alten Götter in Rente geschickt vom Monotheismus, dem Glauben an einen einzigen Gott. Diese neue One-Man-Show war allerdings keine wirkliche Verbesserung, denn auch sie warf leider mehr Fragen auf, als sie beantworten konnte.

Vor allem die Existenz des Bösen wurde jetzt zum Problem. Die alten Griechen, Germanen oder Römer kannten noch keinen Teufel, denn ihre Götter waren zwar einerseits unsterbliche Superhelden, aber andererseits eben auch mit typisch menschlichen Charakterschwächen ausgestattet wie Neid, Reizbarkeit und Ungeduld. Da rutschte einem Zeus im Zorn auch schon mal die Hand aus und er vernichtete ganze Landstriche.

Weil aber der monotheistische Gott als Vater für alles Gute stand, brauchte er einen Gegenpart, der für das Schlechte in der Welt die Verantwortung trägt, den Teufel eben. Trotzdem kommen Anhänger des einen Gottes aber ständig in Erklärungsnot: Wenn Gott den Kosmos erschaffen hat, ist der Teufel dann auch eine Schöpfung Gottes? Wenn er das ist, warum hätte Gott den dann nicht einfach weglassen können? Und wenn Gott allmächtig ist, warum poliert er den Bösen dann nicht einfach die Schnauze? Wenn Gott die Erde in sieben Tagen erschaffen hat, und zwar vor 6.000 Jahren – wie man in der Bibel nachlesen kann –, wo bitte kommen dann die ganzen Saurierknochen her? Und so weiter und so fort.

Die Kirchenführer früherer Zeiten haben diese interessanten und berechtigten Fragen leider nicht als ernstgemeinte Beiträge zu einer offenen Diskussion über das Verhältnis von Mensch und göttlichem Wesen aufgefasst, sondern als Provokation und Ketzerei. Aber sosehr sie auch exkommunizierten und Scheiterhaufen errichteten, es war nicht mehr aufzuhalten: die Menschheit kam in die Pubertät. Womit wir wieder bei meiner Geschichte wären …

Auch ich verlor als Teenager immer mehr meinen einstigen, ungeteilten Glauben an den »lieben Gott«. Denn auch ich fing an zu denken, wie das denn alles so funktionieren soll mit der Allmacht Gottes. Lenkt er tatsächlich alles von da oben und steuert das Leben auf der Erde wie mit einer gigantischen Spielkonsole? Dirigiert Ameisenstraßen und lenkt den Flug von Singvögeln? Und was ist dann mit den bemitleidenswerten Meisen, die regelmäßig gegen die Vollverglasungen unseres Schulgebäudes dotzten und sich dabei das Genick brachen? Hatte Gott da beim Lenken nicht aufgepasst? Musste er vielleicht noch üben, um das nächste Level in seinem kleinen Kosmosspiel zu erreichen?

Ein weiterer sehr konkreter Umstand verstärkte tendenziell meine Zweifel in Glaubensfragen. Im kleinen Dorf von Asterix und Obelix gibt es nur einen spirituellen Führer, den Druiden Miraculix. In unserem beschaulichen Dorf Othmarschen hingegen hatten wir derer gleich zwei: An der Christuskirche gab es nämlich zwei Pastoren, die sich die Arbeit in der Gemeinde teilten und abwechselnd die Sonntagsgottesdienste bestritten. Und be-»stritten« ist hier leider absolut wörtlich zu verstehen. Über die theologische Qualität der beiden – nennen wir sie mal Pastor X und Pastor Y – kann ich nicht viel sagen, außer dass mein Vater sonntags bei dem einen immer ein Buch dabei hatte, um sich die Zeit bei dessen etwas langwierigen Predigten zu vertreiben, während er bei dem anderen durchaus auch mal zuhörte. Aber miteinander streiten, das konnten diese beiden Hirten sehr gut. Es ging dabei allerdings weniger um theologische Dispute als vielmehr um sehr weltliche Dinge: Machtproben, Ränkespielchen und den Wettstreit um die Schäfchen: Wer ist beliebter in der Gemeinde? Wie schön und interessant hätte man diesen Schlagabtausch inszenieren können, zum Beispiel in Form eines Schlammcatch-Wettbewerbes auf dem Gemeindehof. Das wäre doch ein Event gewesen, von dem alle Gemeindemitglieder und sogar noch die Kirchenkasse auf das Herrlichste profitiert hätten: Man hätte Fanschals, Würstchen, Zuckerwatte und Limonade verkaufen und Wettbuden aufbauen können, um die Einnahmen dann für einen guten Zweck zu spenden. Aber nein, der Stil der Pastoren war nicht der eines ehrlichen, offenen Fights, sondern eher der von versteckten Fouls und gegenseitiger Diffamierung. So begann ich mich als Pubertierender zu fragen, wie denn das Gebot der Feindesliebe unseres Herrn Jesus Christus mit diesem infantilen Gezanke und Gezicke der beiden Pastoren in Einklang zu bringen sei. Und nicht nur das unchristliche Verhalten unserer beiden Hirten irritierte mich.

Auch in Bezug auf meine ganz privaten Glaubensfragen tauchten bei mir immer mehr Zweifel auf. So zum Beispiel beim Erlernen des Glaubensbekenntnisses: »... geboren von der Jungfrau Maria ...«?! Für mich schien es ein völlig unwesentliches Detail zu sein, ob Maria nun Jungfrau war oder nicht. Abgesehen von der Frage: Jungfrau nur vor der Geburt oder auch noch danach!?

Aber auch mit den folgenden Sätzen hatte ich so meine Schwierigkeiten: »... er sitzt zur Rechten Gottes, von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und die Toten ...«

Wieso zur Rechten? Vielleicht sitzt er auch zur Linken? Oder er sitzt überhaupt nicht, sondern liegt oder steht. Und sind diese ganzen menschlichen Begriffe wie »links / rechts / oben / unten / Zeit« in einem himmlisch-göttlichen Kontext nicht irgendwie falsch!?

Unglücklicher Weise tauchten diese ersten Zweifel genau zu dem Zeitpunkt auf, als ich mich anschickte, den Konfirmationsunterricht zu besuchen. Dieser soll ja – wie das lateinische Wort »confirmatio« es ausdrückt – den jungen Menschen in seinem Glauben befestigen und bekräftigen.

Tat er aber nicht.

Irritationen bei der Konfirmation

Meine Konfi-Stunden, zwei Jahre lang dienstags von 15:30-17:00 Uhr, haben in mir mehr Zweifel aufgehäuft, als dass sie mir welche genommen hätten. Es war, als hätte der Pastor eine stillschweigende Verabredung mit uns: »Ihr habt keine Lust, ich habe keine Lust, lasst uns das Ding hier einigermaßen stressfrei durchziehen, dann kriegt Ihr hinterher Eure Geschenke und ich habe meine Ruhe.« Kann man vielleicht verstehen: Pubertierende zu unterrichten ist echt kein Zuckerschlecken. Wie soll man Menschen für geistige Dinge interessieren, deren gesamter Energiehaushalt für die hormonelle Entwicklung draufgeht!? Da sind die Katholiken schlauer, die den Kommunionsunterricht und die Firmung ihres religiösen Nachwuchses in einem Alter vornehmen, wo noch nicht mit großen pubertären Widerständen zu rechnen ist.

In meiner Konfi-Gruppe hat – wenn man das Thema mal angeschnitten hat – eigentlich keiner richtig geglaubt! Ich auch nicht. Wir haben also durch das Bekennen unseres nicht vorhandenen Glaubens nicht nur falsch Zeugnis abgelegt, sondern für Geldgeschenke und – bei einigen sogar für ein in Aussicht gestelltes Mofa – uns selber verraten. Jeder Konfirmand ein Judas – meinte zumindest mein damaliger Kumpel Bernd, der sich aus ideologischen Gründen nicht hatte konfirmieren lassen und dem sein Vater, ein bekennender Altlinker und Atheist, darum ähnlich wertvolle Geschenke versprochen hatte. Tja, geschmiert wird eben überall, im Monotheismus wie im Atheismus.

Mir war von meinem Vater als Konfirmationsgeschenk ein neues, marineblaues Holland-Fahrrad versprochen worden, das ich nicht durch allzu offene Glaubensrebellion riskieren wollte. Es galt also, für mich persönlich einen Weg zu finden, wie ich mich konfirmieren lassen konnte, ohne die eigene Selbstachtung allzu sehr zu strapazieren. Die Lösung dieses Dilemmas bestand dann schlicht und ergreifend darin, die mir prekär erscheinenden Stellen des Glaubensbekenntnisses einfach nicht mitzusprechen. Im Prinzip folgte ich also der Logik, die Fußballnationalspieler Mesut Özil in punkto Singen der Nationalhymne vor Länderspielen so zum Ausdruck bringt: »Ich stehe hier – für jedermann sichtbar – im deutschen Trikot, aber die deutsche Hymne singe ich trotzdem nicht mit, denn schließlich fühle ich mich ja gleichzeitig irgendwie auch als Türke!«

Mein inhaltlich perforiertes Glaubensbekenntnis hatte eine ähnliche Botschaft: »Okay, ja, ich glaube theoretisch an ein höheres Prinzip, das wir jetzt hier mal Gott nennen, sowie daran, dass Jesus auf Erden gelebt hat und ein ziemlich cooler Typ war. Aber über den Rest: das Mäntelchen des Schweigens. Es kann schließlich jeder glauben, was er will. Und ich persönlich glaube unter anderem, dass mir ein marineblaues Herrenfahrrad richtig gut steht.«

Und so ging es dann immer weiter. Nicht, dass ich der Kirche den Rücken kehrte. Konnte ich ja auch nicht, ohne den Ernährer der Familie in Schwierigkeiten zu bringen. Aber mein Verhältnis zu dem Laden entsprach jetzt eher dem einer »offenen Beziehung«: Ich empfand schon noch ein gewisses Maß an Zuneigung, aber ohne mich auf zwingende Verpflichtungen einlassen zu wollen.

Eines der absolut positiven Dinge war für mich z.B. das »Haus Hannah« am Plöner See. Ehemals die hochherrschaftliche Residenz einer angesehenen Familie, war das Gebäude in den 50er-Jahren zum Kinderheim umfunktioniert worden und stand nun – dem unglaublichen Organisationstalent von Pastor Y sei Dank – unserer Gemeinde offen.

Ich hatte mich sofort schockverliebt in dieses herrliche Gebäude mit seinen vielen Gängen, Treppen und Winkeln. Mein Märchenschloss. Am Bootssteg wartete ein Ruderboot, mit dem man auf eine kleine Insel mitten auf dem See rudern konnte, es gab einen Bolzplatz und eine Grillstelle, »Haus Hannah« war in meinen Augen ziemlich nah dran am Paradies.

Alle Sommerfeste, Konfirmandenfreizeiten, Chorwochenenden und Pfadfinderlager fanden dort statt. Und nach meiner Konfirmation gehörte ich dann auch zu den »Großen« und hatte die nötige Reife erlangt, um als Helfer auf sogenannten »Konfi-Reisen« mitzufahren. Meine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, nachts die Besuche der Jungs in den Schlafgemächern der Mädchen zu unterbinden. Aber ich war gleichzeitig auch Funktionär und Schiedsrichter bei der Haus-Hannah-internen Olympiade, Überwacher und Qualitätsmanager bei den Geschirrsäuberungsarbeiten, Heimwehtröster, Lagerfeuerbeauftragter, Rettungsschwimmer und – last, but not least – wurden wir Betreuer auch als Lehrkräfte in den Konfirmanden-Unterrichtsstunden eingesetzt. Diese waren an solchen Wochenenden ebenfalls Teil des Programms. Schließlich durfte man es nicht übertreiben mit dem Spaß und etwas ernsthafter, theologischer Unterbau musste schon sein. Nicht, dass ich – von meinem eigenen Konfirmationsunterricht abgesehen – in dieser theologisch-pädagogischen Hinsicht irgendwelche Qualifikationen mitgebracht hätte. Aber das war auch nicht so wichtig: Paulus, der große Verkünder des Christentums, ist seinem Heiland auch nie persönlich begegnet, und das Neue Testament hatte er auch nicht gelesen, weil es ja erst nach seinem Tode geschrieben wurde, also was soll’s.

Da saß ich also nun mit einer Handvoll meist weiblicher Jugendlicher in einem Gruppenraum versammelt und ließ reihum aus der Bibel lesen. Das ging mit vielen falschen Betonungen und ausgesprochen stockend vonstatten, aber mir kam das durchaus zupass, denn so verstrich die Zeit, ohne dass mir Fragen theologischer Natur hätten gestellt werden können, Fragen, die meinen eigenen religiösen Horizont im Zweifel weit überstiegen hätten. Irgendwann hatte sich unsere kleine Gruppe endlich durch die vorher von Pastor Y festgelegten Teile der Apostelgeschichte hindurch gequält. Nun sollte ich mich erkundigen, ob noch Fragen wären, hatte mir Pastor Y aufgetragen. Also tat ich, wie mir geheißen, inständig betend, dass ich jetzt nicht vor unlösbare theologische Grundsatzfragen gestellt werden würde. Keine Hand hob sich, ich atmete durch. Puh, das war ja noch mal gut gegangen.

Dann aber stieg doch die Hand einer schüchternen Othmarscher Konfirmandin zaghaft empor. Es ging ihr allerdings nicht um Lukas oder die Apostel, sondern um ... mich. Ihr Interesse galt einer mir eigenen optischen Auffälligkeit: einer Narbe auf meiner Stirn, vielleicht daumennagelgroß und – relativ offensichtlich – ein Kreuz.