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Es gibt mehr zu entdecken als Ivo, Pivo und Postkarten mit Eseln drauf. Melonenberge am Straßenrand und Schnaps in Plastikflaschen, knatternde Vespas und Zikaden – die dalmatinische Küste verspricht besten Urlaub im Süden. Doch irgendwas ist hier anders. Diese mitunter sehr persönliche Reise führt hinter die touristischen Kulissen von »Zimmer frei« und »Cevapcici« und blickt auf die Überreste der sozialistischen Ferien- und Stadtarchitektur. Lesen Sie, warum die Landschaft hier von verrostenden Panzern und Partisanendenkmälern durchzogen ist. Wo es den besten pršut gibt und woran man exzellentes Olivenöl erkennt. Und wie große Gesten und kleine Übertreibungen zu interpretieren sind, um nicht nur das Essen, sondern auch all die Geschichten zu genießen, die Ihnen die Dalmatiner auftischen. Geschichten über Ein-, Aus- und Dauerwanderer.
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Seitenzahl: 115
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Doris Akrap, geboren 1974 in Südhessen als Tochter eines dalmatinischen Gastarbeiters. In dessen Haus am Meer lebt sie in der Nebensaison und schreibt als Journalistin und Kolumnistin oft über Gesellschaft, Literatur und Politik Kroatiens. Hauptsächlich aber trifft man sie in Berlin, wo sie als Ressortleiterin des Gesellschafts- und Medienressorts der Tageszeitung taz arbeitet. Sie ist Mitgründerin des PEN Berlin.
Doris Akrap
Dalmatien
Die Geschichte Dalmatiens ist sovielschichtig wie der Felsen, aus demder Landstrich besteht. Und jededalmatinische Geschichte hatmindestens 942 Versionen, so vielewie Inseln vor seiner Küste.
Und ich sehe das Meerwie es aufsteigt zu mir
und ich lausche dem Meerund es sagt guten Morgen
und das Meer lauschtmeinem Flüstern
und guten Morgen Meersage ich leise
und wiederhole den Grußnoch leiser
und das Meer lauschtund lacht
und schweigt und lachtund steigt zu mir auf
Aus: Josip Pupačić, Das MeerÜbersetzt von Klaus Detlef Olof
Može! Wir sind hier im Paradies
1 • Die Spuren der roten Zora
2 • Auf Seelenreise
3 • Winnetous Kinder
4 • Die schönste Sardinenbüchse der Adria
IRGENDWO IM SCHÖNEN NIRGENDWO: DIE FJAKA
5 • Eselsmilch im Reisebus
6 • Zu Besuch bei alten Steinstapeln
7 • Geisterstädte im Nationalpark
8 • Im Auge des Drachen
9 • Wie Dr. Pršut den Schinken macht
10 • Die falsche Tür
11 • 2000 Stufen, drei Sänger und ein Golf
12 • Palmina gehört dazu
OB HUND ODER PLASTIKLIEBE: DER DALMATINER IST KURIOS
13 • Zeichne ein Mittagessen
14 • Ivas täglich Brot
15 • Wo die letzten Babas wohnen
16 • Tief singen, verrückt springen
17 • Mila in Utopia
18 • Unterm Zürgelbaum
19 • Sektempfang für den Bagger
20 • Vom Bettlerkönig zum Gastarbajter
21 • Meine Villa Voštanka
SERENADE ZWISCHEN FELS UND FASS: DIE KONOBA
22 • Ein Ufo am Strand
23 • Das durchlöcherte Dach der Adria
24 • Vorsicht, Piraten!
25 • Der Astronaut, der von der Insel floh
FRISCHES GRAS MIT PRICKEL: DAS OLIVENÖL
26 • Die traurige Fatima
27 • Schwankende Schiene
28 • Marx auf Strandurlaub
29 • Insel aus Inseln
30 • Berauschende Brombeeren
31 • Morgenröte mit grünen Wangen
32 • Calypsos Liebesnest
33 • Der dichtende Mondkrater
Mein Vater hätte mich gerne Jadranka – „Die von der Adria“ – getauft. Aber meine Mutter wollte ihre Tochter nicht wie das Schiff nennen, auf dem mein Vater als Matrose über die Weltmeere geschippert war. Heute ist die dalmatinische Adria mein zweites Zuhause.
Das wichtigste Wort in Dalmatien lautet: Može! Es bedeutet so viel wie: „Geht klar“. Es bedeutet aber nicht, dass man sich auf dieses Versprechen verlassen kann. Može! will dem Gegenüber lediglich das Gefühl geben: alles ist möglich, wir sind hier schließlich im Paradies. Merken Sie sich aber unbedingt, dass auch die Frage, ob Sie noch ein Glas Wein möchten, „Može?“ lautet und die einzig richtige Antwort darauf: „Može!“
„Može“ dachte sich wohl auch mein Vater, als er 1974 beschloss, ein Haus am Meer zu bauen. An dem Meer, an dem er aufgewachsen war, der Adria. Noch heute sind auf den Terrassenmauern dieses Hauses zwei Abdrücke von Kinderhänden im Beton zu sehen: Das Haus und ich, wir sind zusammen groß geworden. Es war nicht immer einfach mit uns beiden und keinesfalls immer paradiesisch. Aber als mein Vater starb, schaute mich das Haus an und fragte: „Može?“ Und ich konnte nicht anders als zu antworten „Može!“
Seither verbringe ich Frühjahr und Spätsommer hier, kämme dem Haus die Haare, zieh ihm neue Klamotten an, schneide Oleander, Affenbrot- und Pfirsichbaum, streiche Fensterläden, Terrassengeländer und Küchenstühle und fahre mit meinen R4 durch Dalmatien, wo ich mich inzwischen besser auskenne als in Hessen, wo ich aufgewachsen bin.
Ich meide dabei die Hauptsaison und empfehle allen, die hier vorbeischauen wollen, das möglichst auch zu tun. Dalmatien zeigt seine beste Seite in der Vorsaison von Anfang April bis Anfang Juni und in der Nachsaison von Anfang September bis Anfang November. Zum einen sind die Temperaturen erträglicher, zum anderen weniger andere Tourist:innen unterwegs. Im Frühjahr blühen die Natur und die Einheimischen auf, im Spätsommer wird das karibikblaue Meer ganz ruhig und trägt wieder Fischerboote statt Jetskis, die Tintenfischsaison beginnt.
Wer Dalmatien bereisen will, findet in jedem Reiseführer genug Highlights und kann sich anhand touristischer Straßenbeschilderung orientieren. Zu den Geschichten, von denen ich Ihnen erzählen will, führen meistens keine Hinweisschilder.
Natürlich gebe auch ich in diesem Buch ein paar persönliche Tipps Marke „malerische Bucht“, „antike Ruine“ oder „super Essen“ und selbstverständlich geht die Reise auch zu allen wichtigen Städten an der Küste und im Hinterland. Aber immer wieder bleibe ich an einer Ecke stehen oder biege in eine Straße ab, an der die meisten ahnungslos dran vorbeilaufen. Hier verbergen sich Balladensänger, Partisaninnen oder Bettlerkönige, die man kennen muss, um sie zu finden.
In dalmatinischer Gesellschaft werden nicht nur Schinken, Käse, Oliven, Feigen, Fisch und Fleisch aufgetischt, sondern immer auch große Geschichten. Unterhaltsam zu erzählen ist hier genauso wichtig wie gut zu essen und zu trinken. Die Zivilisations- und Kulturgeschichte ist in Dalmatien so vielschichtig wie der Felsen, aus dem der Landstrich im Wesentlichen besteht. Und so gut wie jede dalmatinische Geschichte hat 942 Versionen, so viele wie es hier Inseln gibt. Darf ich Ihnen einige davon zeigen? Ich freue mich, wenn Sie darauf antworten: „Može!“
Auf dem Hügel der Stadt thront eine riesige Festung. Hier ist die rote Zora zuhause. Als Kind fühlte ich mich der Bandenchefin sehr verbunden: Auch ich hatte rotes Haar, kam von der Adria und hatte eine Kindergang. Zora jedoch war gar keine Dalmatinerin. Wer aber sind die Dalmatiner überhaupt?
Der Roman Die rote Zora (1941) und auch seine weltberühmte Verfilmung als TV-Serie (1979) spielen im kroatischen Küstenort Senj. Geschrieben hat die Geschichte von der rothaarigen Kinderbandenchefin der deutsche Kommunist Kurt Held, der vor den Nazis geflohen war und eine Weile in Senj gelebt hatte. Im Original trägt Helds Buch den Untertitel Ein Roman aus Dalmatien. Dalmatien klang damals wie heute nach Meer, Sonne und wilder Naturschönheit. Das äußerst windige Küstenstädtchen Senj aber liegt gar nicht in Dalmatien, sondern nördlich davon. Dalmatien ist der Süden Kroatiens, der auf der Höhe der Insel Pag und der Grenze der Gespanschaft Zadar beginnt. Ob Helds Verlag einen Fehler gemacht oder mit dem verlockenden Klang Dalmatiens werben wollte, ist unbekannt. Etwas klarer ist, wer die Dalmatiner:innen eigentlich sind.
Partisanen-Denkmal „Die drei Seemänner“ in der Altstadt von Senj
Gäbe es einen Comic über sie, er könnte so beginnen: Ganz Illyrien ist von Römern besetzt. Ganz Illyrien? Nein! Ein von unbeugsamen Delmatern bevölkerter Landstrich hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.
Nun hat es zwar die rote Zora zu einiger Berühmtheit geschafft, aber nicht die Delmater. Auf sie geht der Name Dalmatien zurück. Delmater waren Krieger, die zu den illyrischen Stämmen zählen, deren Spuren auf dem Balkan bis zu 2.000 v. Chr. zurückreichen. Viele der ältesten Fundamente Dalmatiens, auf denen bis heute Festungen, Kirchen, Gräber und Siedlungen stehen, stammen von diesen Illyrern. Sie sind so etwas wie die Indigenen des Balkans: Mit den Griechen trieben sie noch Handel, unter den Römern und Slawen wurden sie vertrieben, ermordet und versklavt, es erging ihnen also ähnlich wie den Ureinwohnern Amerikas. Karl Mays Romane rund um den Indigenen Winnetou wurden in den 1960er-Jahren aber nicht wegen dieser historischen Parallele in Dalmatien gedreht, sondern wegen der billigen Produktionskosten.
SPAZIERGANG MIT ZORA
Der Themenweg „Die Rote Zora“ führt vom Marktplatz bis zur Festung an die Drehorte der Serie in Senj.
So wie Winnetou kämpfte auch die rote Zora für die Entrechteten. „Wir wollen auch so tapfere Helden werden, wie es die Uskoken waren“, erklärt sie in Kurt Helds Roman.
Wer sind denn jetzt schon wieder die Uskoken?
Ganz genau weiß man auch das nicht, nur, dass es geschäftstüchtige Krieger waren, die im 16. Jahrhundert mit ihren Segelschiffen dem starken Bergwind, den Venezianern und den Osmanen trotzten und 1558 oberhalb der Stadt Senj die beeindruckende Festung Nehaj errichteten.
Delmater, Illyrer, Uskoken – als Kind waren mir diese Figuren so fremd wie wahrscheinlich Ihnen heute. Ich kannte nur Dalmatiner und Dalmatinerinnen. Die rote Zora aus dem Roman war für mich so eine. Eine, wie ich sie so oft in der Heimat meines Vaters kennengelernt hatte: tough, mutig, schlau und die gar nicht so heimlichen Chefinnen der Gesellschaft.
Auch Nada, eine Freundin meines Vaters aus Split, war so eine. Und sie hatte rote Haare, allerdings gefärbt. Immer, wenn sie mich sah, scherzte sie: „Du hast genau die Haarfarbe, die ich will. Wie heißt der Ton?“ Frauen mit rotem Haar galten im sozialistischen Jugoslawien als autonom, unbändig und leidenschaftlich. Erst später erfuhr ich, dass die großen Sonnenbrillen von Nada die Blutergüsse verdeckten, für die ihr Ehemann verantwortlich war.
INFOS
Festung Nehaj: Ausstellung über die Uskoken. Nehajski Put 3, Senj, www.muzej-senj.hr
Souvenirshop Rote Zora: Potok 22, 53270 Senj
Themenweg „Die Rote Zora“:visitsenj.com/de/zora-de-01/
Wer ans Meer oder in die Berge fährt, will die Seele baumeln lassen. Im südlichen Velebit-Gebirge finden sich dazu ganz besondere Orte: Seelenfriedhöfe mitten im Karst. Mirila heißen die mystischen Grabsteine, zu denen man wie auf einer Himmelsleiter immer weiter nach oben steigen muss.
Wer nach Dalmatien fährt, fährt ans Meer. Klar. Praktisch an Dalmatien ist, dass man ganz bequem einen Tag in den Bergen verbringen und abends nochmal in die Adria springen kann, denn der Großteil der Küste wird von steil aufragenden Gebirgen begleitet. Anders als es für Sommerurlaubende aussieht, ist das Leben an der Küste wesentlich jüngeren Datums als das in den Bergen. Bevor in der Antike die griechischen, römischen und später venezianischen Eroberer die Küste befestigten, bestand Dalmatien aus Menschen, die Vieh hüteten, Kräuter sammelten und Körbe flochten. So richtig von oben runter kamen sie erst mit der Modernisierung, der Industrialisierung und dem Tourismus – als sich herumsprach, dass das Leben am Meer einfacher war als das in den kargen Bergen. Aus Ziegenhirten wurden Fischer, aus Kleinbauern Apartmentvermieter.
Eines der wenigen bis heute besiedelten Bergdörfer heißt Ljubotić, am nördlichsten Rand Dalmatiens gelegen. Es ist als Vrata Velebit, als Tor zum Velebit-Gebirge bekannt. Von hier aus gibt es etliche Wanderrouten, die immer höher und tiefer hineinführen in das „Große Wesen“, was Velebit übersetzt bedeutet. Abseits vom Küstentrubel bieten in Ljubotić ein kleiner, hübscher Campingplatz unter Bäumen und eine Handvoll alter dalmatinischer Steinhäuser idyllische Übernachtungsmöglichkeiten. Von hier aus lässt sich in einer Tageswanderung etwas entdecken, was lange zwischen all den grauen Steinen verborgen war: Steine. Aber besondere: die Mirila, Grabmale für die Seelen der Toten.
Jahrhundertelang hatten die Menschen des Velebit sie aufgestellt, um ihrer verstorbenen Angehörigen zu gedenken, aber nicht dort, wo die Körper begraben wurden, sondern wo die Seelen der Verstorbenen gen Himmel flogen.
Woher aber wusste man, an welcher Stelle die Seelen die Toten verließen? Ganz einfach: Dort, wo die Sargträger auf den steilen Wegen zum Friedhof in Ljubotić das erste Mal die Toten absetzten, um sich auszuruhen. Meist war das auf Hügeln, Satteln, Lichtungen, also an Orten mit Weitblick, Oasen inmitten des kargen Geländes. In diesen Pausen – so glaubte man – gingen die Seelen auf Himmelfahrt.
KREUZE
Die Markierung der Wanderwege zu den Mirilas besteht aus einer menschlichen Gestalt mit Kreuz auf der Brust und Kreuzen über beiden Schultern. Das Motiv stammt von einem mittelalterlichen Mirilo in Starigrad.
Als Seelengrabsteine wurden die hier wie Sand am Meer herumliegenden kleinen, rundlichen Felsblöcke genutzt, in die christliche Motive wie Kreuze, vorchristliche wie Sonnenkreise oder mystische Ornamente wie Rosetten und Spiralen, seltener auch die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen geritzt wurden. Die Kulturgeschichte der Mirila ist zwar weitestgehend unerforscht, Historiker glauben aber, dass es sie an vielen Orten Dalmatiens gegeben hat. Allein hier, im südlichen Velebit, wurden die Seelendenkmäler noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts gepflegt, anderswo von der Macchia überwuchert und wie so vieles in dieser Region vergessen.
Die Wanderung zu den sechs noch erhaltenen Seelenfriedhöfen von Ljubotić dauert zwei bis drei Stunden, zum am höchsten gelegenen (Renjevac) geht es über natürliche Felsstufen steil nach oben Richtung Himmel. Der atemberaubende Blick über den Velebit-Kanal bis zum Archipel von Zadar ist die Mühe wert.
Nach dem Besuch der Seelenabflugorte empfiehlt sich ein erfrischendes Bad im Meer, um die eigene Seele wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Die winzige Bucht samt Strandbar in Tribanj-Kruščica ist dazu bestens geeignet.
INFOS
Camping Vrata Velebit: Put Ljubotića 50, Tribanj, [email protected]
Mirila-Lehrpfade in Ljubotić und im wenig südlicher gelegenen Starigrad-Paklenica: mirila.org/en/mirila/instructive-path/
In Bergen, an Flüssen und unter Wasserfällen Dalmatiens wurden die legendären Winnetou-Filme gedreht. Dreißig Jahre nach Kriegsende lässt sich wieder gefahrlos zu einem der berühmten Drehorte wandern, dem bizarren Gipfel Tulove Grede. Als Kind dachte ich, mein Vater stamme von den dort lebenden „Indianern“ ab.
Jeden Sommer fuhren wir mit dem Auto von Frankfurt nach Dalmatien. Jedes Mal erzählte mein Vater von Winnetou, kaum tauchten vor uns die ersten Karstgebirge auf. Mein Vater war in einem dieser winzigen Bergdörfer inmitten der weißgraublauen Felsen geboren, die die meisten Deutschen aus Filmen wie „Der Schatz im Silbersee“ kannten. Auch das Haus, das mein Vater am Meer gebaut hat, steht unter einem solchen Karstgebirge. Wenn ich auf dem Rücken in unserer Bucht liege, sehe ich dort oben auf dem Grat Indianer auf Pferden sitzen. Zwar weiß ich seit geraumer Zeit, dass es Bäume sind, die nur so wirken, als wären sie Winnetou und seine Apachen, aber wer weiß, vielleicht haben sie sich nur Grünzeug als Tarnung umgehängt.