Ohne Bestand - Michael Esders - E-Book

Ohne Bestand E-Book

Michael Esders

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Beschreibung

Die westlichen Gesellschaften zerstören ihre Bestände rückstandslos. Wo man lange Zeit noch Fahrlässigkeit im Transformationsrausch vermuten konnte, steht Vorsatz nun außer Zweifel. Das Hygieneregime seit 2020 und die "Neue Normalität" im endlos verlängerten Notstand sind nur der verheerendste Angriff in einer langen Reihe. Die Attacken zielen auf das "Herz der Antriebe" (Arnold Gehlen). Sie betreffen die ungeschriebene Grammatik der Gewohnheiten, die tragenden und gründenden Strukturen der Lebenswelt, das Fundament einer bestandserhaltenden Rationalität und den welterschließenden Bedeutungshorizont der Sprache. Und sie gipfeln in einem Angriff auf die uns geläufige Wirklichkeit, deren Maßgeblichkeit außer Kraft gesetzt wird. Lässt sich die ideologisch anvisierte Geschichts- und Herkunftslosigkeit durch digitale Überwachung auf Dauer stellen? Hat der sozialtechnologische Weltumbau, wie ihn globale Oligarchen fordern und vorantreiben, Aussicht auf Erfolg? Kann eine Gesellschaft ohne Bestände Bestand haben? Dies sind die Ausgangsfragen von Michael Esders, der in seinem neuen Buch die Inventur einer Gesellschaft am sozialen Nullpunkt mit einer nuancierten Positionsbestimmung konservativen Denkens verknüpft.

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OHNE BESTAND

Michael Esders

OHNE BESTAND

Angriff auf die Lebenswelt

INHALT

I.BESTAND

II.LEBENSWELTVERLUST

Angriff auf die Üblichkeiten

Ressourcen der Fraglosigkeit

Vernichtetes Sozialkapital

Vor-Urteil

Zerrüttete Gewohnheitsgefüge

New Normal

III.BESTANDSLOSE VERNUNFT

Maßlose Vernunftkritik

Eigenartige Universalität

Zwischen Weltvernunft und Tabula rasa

IV.SPRACHVERLUST

Gesinnungsgrammatik

Monopolistische Wortmacht

Biopolitisches Sprachregime

V.WIRKLICHKEITSVERLUST

Weiche Wirklichkeit

Digitale Ortlosigkeit

Virtualisierte Ökonomie

Virale Selbstbewahrheitung

Krieg aus der Maschine

VI.UNBESTAND

Konservatives Minimum

Digitale Sozialtechnologie

Literatur

Editorischer Hinweis

»Schatten werfen Körper.«

Karl Kraus

I.

BESTAND

Der Einschnitt der »Neuen Normalität« ist keine unvermittelte Zäsur. Ihn so zu verstehen, käme der Selbstauslegung der Sozialtechnologen entgegen, die den Umbruch unter dem Alibi des Wuhan-Virus so groß und tiefgreifend wie möglich erscheinen lassen möchten. Dass die Lesart als historische Zäsur, die einen Weltumbau erzwinge, von allen Seiten nahegelegt wird, sollte Grund genug sein, diese Deutung in Frage zu stellen. Dies gilt umso mehr, als die von globalen Deutungskartellen durchgesetzte Interpretation als epochaler Umbruch eine zirkuläre Struktur aufweist und einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung gleicht.

Die Ereignisse seit Frühjahr 2020 isoliert zu betrachten, wäre auch deshalb verfehlt, weil sie eine Vorgeschichte der Geschichtsvergessenheit haben. Sie stehen in einer Kontinuität der Kontinuitätsverachtung, der Bestandsblindheit und Bestandszerstörung, in der innere und äußere Faktoren nicht voneinander zu trennen sind und sich wechselseitig verstärken. Der zunehmend mit offenem Visier geführte Angriff auf Freiheitsrechte, den Rechtsstaat und seine Institutionen, die Gewaltenteilung, das Bildungssystem, die Freiheit der Wissenschaften, die Wirtschaft und den Mittelstand sowie die Familie ist nur die – vorläufig – letzte Phase einer sehr viel längeren Entwicklung. Diese entzog sich lange Zeit auch deshalb dem Blick, weil sie gründende und tragende Bereiche der Lebenswelt betraf, die latent wirksam sind: die ungeschriebene Grammatik des Üblichen und Gewohnten, die Sprache als Allmende des Bedeutens, die Bestände einer bestandserhaltenden Vernunft und die Vorverständigung über die Maßgeblichkeit des Realen. Es geht um nichts Geringeres als die Grundbestände, von denen nach den Worten Arnold Gehlens alle »Stabilität bis in das Herz der Antriebe hinein, jede Dauer und Kontinuität des Höheren im Menschen«1 abhängen.

Wie im lateinischen Wort »firmitas« ist im deutschen »Bestand« die Vorstellung zeitlicher Dauer mit Festigkeit und Stärke verknüpft. Bestand ist der Inbegriff dessen, was sich als beständig erwiesen und die Probe der Zeit bestanden hat. Mit dem bestandenen Härtetest einer durchlaufenen Vorgeschichte ist ein impliziter Gültigkeitsanspruch verbunden, der nicht umständlich erklärt oder begründet werden muss. Bestand hat etwas, das besteht, existiert. Das Wort verknüpft Wahrheit und Existenz mit zeitlicher Dauer. Obwohl – oder weil – dieser Zusammenhang sich von selbst versteht, ist er zunehmend aus dem Blick geraten. Was besteht, bildet einen Gegensatz zum bloß Scheinhaften, Illusionären, Zweifelhaften und markiert eine Zone unproblematischen Wissens. Dieser Bestand übersteigt die Faktizität und Kontingenz des Bestehenden; er ist mehr als die Gesamtheit der Tatsachen, ohne sich mit diesem Mehr aufzudrängen. Zugleich hat das Wort einen unterschwelligen räumlichen Sinn2. Bestände sind verortet und arrondiert, niemals umfassend und unbegrenzt. Sie sind nicht für jeden gleich oder gleich-gültig und lassen sich nicht verlustfrei auf alle Verhältnisse übertragen.

Die heute verbreitete Geringschätzung der Bestände hat damit zu tun, dass sie im Hintergrund wirken. Ihre Unauffälligkeit nährt die gefährliche Illusion ihrer Verzichtbarkeit. Unauffällig und unmerklich ist auch ihr similia similibus. Wie in der traditionellen Heilkunde vieler Kulturen bewirkt Ähnliches das Ähnliche: Als Dauerndes verleihen Bestände Dauer. Sie verdanken sich einer Kontinuität, die sie selbst verkörpern und stiften. Sie sind Vorrat und Speicher zugleich.

Dass das Denken von den Beständen auszugehen, sich ihrer zu vergewissern habe, galt seit den Anfängen der Philosophie als nicht zu hinterfragende Voraussetzung. Sein, Idee, Substanz, Geist sind Umschreibungen, ja Synonyme für die aus unterschiedlicher Perspektive gedachten Grundbestände. Wenn Wandel und Geschichte in den Blick genommen wurden, geschah dies immer mit dem Ziel, das Bewegungsgesetz oder das überdauernde Muster zu erfassen. Unter Verdacht gerät das Bleibende und Tragende erst dort, wo die Theorie auf das Heterogene, Differente, Nicht-Identische geeicht und die Abweichung gefeiert wird. Dort trifft der zunehmende Argwohn auch das Denken, das vom Doppelsinn der firmitas als dauernde Festigkeit und festigende Dauer ausgeht oder gar diesem Bestand einen Vorrang einzuräumen wagt. Während der Unbestand überhöht, verklärt und messianisch aufgeladen wird, rückt Identität, als Grundbestand des Denkens und des Seins, mit allen ihren Verkörperungen ins Zwielicht. Dabei ist sie, als verbürgte Selbigkeit3, die Voraussetzung für jede Bestimmung, einschließlich der Prädikation der Differenz. Das Versprechen eines optionalen, fluiden, entfesselten Selbst verschleiert, dass es auf die Auslöschung aller Identitätsbestände, damit auch der Grundlagen des Andersseins zielt. Das Vakuum füllt dann ein globales Konzept digitaler Identität, in dem Selbigkeit und Identität in Feststellung, Kontrolle und Überwachung aufgehen.

Eine Rückkehr zur oder eine Anknüpfung an die philosophia perennis ist für heutige Bestandsdenker keine Option. Die Semantik des »Bestands« verführt dazu, ihn als festen Besitz, als Unverlierbares und Unerschütterliches zu denken. Sie führt auf die falsche Fährte der Substantiierung. In gesellschaftlichen Zusammenhängen ist Bestand kein Ewigkeitswert. Seine Dauer ist nicht zeitenthoben, sondern zeitgebunden. Weil er dem flüchtigen Medium der Zeit verhaftet ist und an zarten Fäden der Überlieferung hängt, ist er in hohem Maße anfällig und gefährdet. Wer den Bestand ontologisiert oder sich seiner auch nur zu gewiss ist, verfehlt ihn, weil er seine Anfälligkeit ausblendet. Nicht der verklärende, sondern der illusionslose Blick auf die eigenen Fehler, Gebrechen, Unzulänglichkeiten wird ihm gerecht. Seine Erkenntnis ist ein schmerzhafter Weg der Ernüchterung. »Erkenne die Lage«, rät der distinguierte »Herr von Ascot« dem Ich-Erzähler in Gottfried Benns Novelle Der Ptolemäer. »Rechne mit deinen Defekten, gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen.«4 Der Ausgang vom Bestand schließt das Bewusstsein seiner Gefährdung, Fragilität und Verlierbarkeit ein, ja setzt dieses voraus. Verorten lassen sich Bestände nur im Gegensatz zu herbeigeredeten Scheinidentitäten, Konstrukten und Bestandssurrogaten, zu voluntaristischen Setzungen von Selbst und Welt.

Die Bestandsblindheit, die immer auch mit Geschichtsblindheit und Kulturvergessenheit einhergeht, ist der erste Schritt zur Bestandsvernichtung. Aber zugleich ist im Bestand eine Undurchsichtigkeit, ein Ausklammern der eigenen Genese, immer schon angelegt. In ihm sind Wissen und Können aufbewahrt, sedimentiert, gespeichert, die nicht in jedem Erkenntnis- und Handlungsvollzug aktualisiert werden müssen. Auch diese präreflexiven, weder satz- noch urteilsförmigen Gehalte müssen heute Anstoß erregen, weil sie die Bestände dem Verdacht aussetzen, unaufgeklärt, »intransparent« zu sein. Der Bestand erscheint als vorurteilsbehaftet und vorurteilsschürend, als exklusiv und differenzvergessen. Er gilt als angemaßter Besitzstand, repressive Struktur, Herrschaftszusammenhang, Manifestation einer illegitimen Macht. Deshalb wurde seine Auflösung, Verflüssigung, Dekonstruktion zum Programm erhoben – zunächst im Denken und in der Auslegung von Texten, dann in der gesellschaftlichen Praxis und Politik.

Im Bezugssystem seiner zeitlichen, räumlichen und qualitativen Bedeutungen wäre »Bestand« neu zu denken. Zum Stachel wird er auch deshalb, weil er als Geortetes, räumlich Begrenztes, Arrondiertes Dauer und Festigkeit verleiht. Er ist an Eigenes gebunden und eigentümlich, wenn auch nicht in einem verengt possessiven Sinn. Diese Eigenschaft wirkt anstößig und erregt Verdacht. Sie ist einer der Gründe dafür, dass der Bestand entweder völlig ausgeblendet und verleugnet oder als Zerrbild bekämpft wird. Der Versuch, ihn ex negativo aus den Leerstellen, blinden Flecken, toten Winkeln und Zerrspiegeln der politischen und sozialwissenschaftlichen Theorien der vergangenen Jahrzehnte zu rekonstruieren, wäre ein lohnendes Unternehmen.

Bestände sind geworden und werdend, niemals planbar und geplant. Sie sind etwas Errungenes, aber auch Übernommenes. Sie enthalten einen unverfügbaren Kern, etwas, das der Willkür entzogen und nicht machbar ist. Diese Qualität setzt nicht nur den Veränderern Grenzen, sondern verwickelt die Verteidiger in unlösbare, aber auch unvermeidbare Probleme. Interventionen, Rettungs- und auch Konservierungsversuche lassen die Bestände nicht unberührt. Ein Bestand, dem ideologisch aufgeholfen werden muss, ist keiner, denn die Tragfähigkeit aus sich selbst heraus ist sein Wesenszug. Wenn er unter Kulturschutz gestellt werden muss, wird er zur Folklore. Der Soziologe Hans Freyer wies darauf hin, dass Absichten, auch und gerade gute, den zu schützenden Beständen eher abträglich sind: »Es ist höchst unwahrscheinlich, daß der programmatische Wille, eine menschliche Ordnung, so wie sie ist, zu bewahren, zu ihrer identischen Erhaltung führt, dagegen höchst wahrscheinlich, daß er im guten Fall ein künstlich gestrafftes Gebilde, im schlechten die Neigung, sich sichern zu lassen, und die Angewiesenheit darauf hervorruft.«5 Dies bedeutet zugleich, dass der Konservatismus nicht in der gleichen Weise programmatisch werden kann wie der Progressivismus, womit er in einen argumentativen Rückstand gegenüber den bestandsvergessenen Weltverbesserern und Transformationseiferern gerät. Als weiteres diskursives Handicap kommt die Ortsgebundenheit hinzu, die eine Extrapolation im planetarischen Maßstab ausschließt. In narrativer Hinsicht sieht es kaum besser aus, denn Erzählungen bevorzugen Bewegung, Entwicklung und Aufbruch. Zudem ist das mythische Potenzial im Vergleich zu den utopischen Erlösungserzählungen äußerst begrenzt.

Die Tragik ist, dass mit dem Grad der Konsolidierung von Beständen die Gleichgültigkeit ihnen gegenüber und damit auch das Potenzial der Vernachlässigung und Verwahrlosung, letztlich auch der Zerstörung wächst. Es bedarf keines geschichtsphilosophischen Aufwands, um diesen Übersättigungsprozess nachzuvollziehen. Eine nüchtern-funktionalistische Betrachtung unterschiedlicher Geschwindigkeiten und retardierender Strukturen genügt. Materieller Wohlstand und wirtschaftliche Prosperität, die das Ergebnis kultureller, geistiger Bestände und ihrer Pflege sind, überdauern die eigenen Grundlagen. Von diesen zehren wohlstandsverwahrloste Bestandsvernichter noch zu einem Zeitpunkt, an dem die mentalen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Erfolgs schon längst ausgelöscht sind. Je gefestigter die Grundlage, desto gründlicher und rückstandsloser die Dekonstruktion. Dies gilt umso mehr, als sich der Blick für die ohnehin schon verhüllten Bestandsbedingungen mit dem Grad der Übersättigung trübt. Ein Emblem dieser Haltung liefert die Cartoon-Figur, die über die Klippe rennt und in der Illusion, die Schwerkraft überwunden zu haben, in der Luft weiterläuft. Der unvermeidliche Sturz in den Abgrund tritt mit Verzögerung ein.

Prototypisch für die Bestandsvergessenheit ist der Liberalismus, wie der entschieden Antiliberale Armin Mohler erkannte: »Salopp gesprochen: sechs konservative Jahrhunderte erlauben es zwei Generationen, liberal zu sein, ohne Unfug anzurichten. Sind aber jene Bestände in der permissiven Gesellschaft einmal aufgezehrt, so werden die bestgemeinten liberalen Parolen zu Feuerlunten.«6 Mohler erinnert die Liberalen daran, dass sie insgeheim voraussetzen, wovon sie nichts wissen wollen: ein konsolidiertes Sozialgefüge, gefestigte Institutionen und eine relative Homogenität der Lebensform. Allerdings verkennt er in seiner Schmähschrift, dass Liberalismus, Subjektivismus und Individualismus, als Kinder der Aufklärung, selbst Eigenarten der abendländischen Vernunft und somit Teil des Bestands sind. Mohler sieht im Liberalismus nicht die legitime Erbschaft, sondern nur den unwürdigen Erben, der die übernommene Substanz verspielt und verprasst. An dieser Stelle seiner Kritik droht er zum Opfer seines Feindbilds zu werden. Der Liberalismus ist bestandsvergessen, wo er beständig über seine Verhältnisse lebt; wo er von Voraussetzungen zehrt, die er verleugnet oder negiert; wo er Subjektivität, Autonomie und Freiheit für selbstgesetzt ausgibt und sich im Glanz seiner – nur vermeintlichen – Autarkie sonnt. Politische Dekonstruktion, Genderideologie, Diversity-Kult und minderheitsfixierte Identitätspolitik entstammen nicht nur der Ideenmasse eines kulturalisierten Marxismus, sondern lassen sich mit einiger Berechtigung auch als Exaltationen eines bestandsvergessenen Liberalismus deuten. Kurieren könnte den Liberalismus nur die Rückbesinnung auf die eigenen Grundlagen und Voraussetzungen. Exzessiv wird er immer dort, wo diese Besinnung ausbleibt.

Bestandsvergessen ist indes auch ein Antiliberalismus, der sich den Ideen von Freiheit, Selbstdenken und Individuation in der Manier eines Exorzisten nähert. Diese Ideen sind keine Verfallsformen, sondern integrale Bestandteile der abendländischen Episteme. Es sind luxurierende Phänomene – aber so wie Wissenschaft und Philosophie luxurieren. Der Antiliberale erliegt der Suggestion, diesen Überfluss für überflüssig zu halten. Das Problem dieser Haltung wurde im Hygieneregime offenkundig. Die antiliberale Einstellung erwies sich als Hypothek und schwächte den Widerstand gegen einen beispiellosen Angriff auf Freiheit, Selbstbestimmung und körperliche Integrität. Wo konservativer Widerstand zum Ausdruck gebracht wurde und sich zeigte, war er kaum von eigenen Axiomen getragen oder stand sogar im Widerspruch zu ihnen. Gleichzeitig kaperten die Apologeten des Regimes Denkfiguren einer kollektiven Ethik und brachten sie gegen diejenigen in Stellung, die Freiheitsrechte gegen einen zunehmend übergriffigen globalen Leviathan verteidigten. »Solidarität« wurde zum Kampfbegriff; »Freiheit« wurde mit »Egoismus« zunächst schleichend konnotiert, dann direkt in Verbindung gebracht und schließlich weitgehend gleichgesetzt. Im Namen von »Gemeinschaft« und »Solidarität« lösten die Verfechter der »Neuen Normalität« mit der liberalen Substanz des Rechtsstaats auch gemeinschaftliche Strukturen auf und ersetzten sie durch panoptische Kontrollsysteme und willkürlich gesetzte biopolitische Identitätscluster.

Die Forderung nach Freiheit und Selbstbestimmung war wohl zu kaum einer Zeit weniger Phrase als im sich verfestigenden Hygieneregime. Aber die Erfahrung der Unverzichtbarkeit schloss die der Nichtigkeit ein: Freiheitsrechte sind ohne eine Rechtsgemeinschaft, die sie durchsetzt und in der sie einklagbar sind, tatsächlich nur Gemeinplätze für Sonntagsreden und Legitimitätskulisse. Die Lektion aus diesem Dilemma wäre, den abstrakten Gegensatz aufzulösen. Bestandsdenker sollten sich nicht dazu verleiten lassen, Bindung und Autonomie gegeneinander auszuspielen. Zu akzentuieren wäre vielmehr der unlösbare und eigenartige Zusammenhang: Die Geltungskraft universeller Gehalte schöpft aus Quellen und setzt Bestände voraus, die nicht umstandslos universalisierbar sind. Die Verallgemeinerung kann nur aus dem Eigenen heraus gelingen, nur im und mit dem Bestand, niemals gegen ihn.

Für Peter Sloterdijk ist die Sorge um Bestandserhaltung und -pflege – wie auch die um Identität – Ausdruck der Bequemlichkeit und des intellektuellen Spießertums. Der Philosoph bemüht die Metapher des Basislagers beim Gipfelaufstieg, in dem sich die Expeditionsteilnehmer einrichten, anstatt von dort aus zu Höherem aufzubrechen. Wer sich mit dem Erreichten zufriedengibt, verdrängt und tabuisiert den Gedanken an das ursprüngliche höhere Ziel, den Gipfel, um »eine Wertminderung bei den eingelagerten Beständen«7 zu verhindern. »Im Horizont des Basislagers ist jede Identität jede andere wert. Identität liefert folglich den Super-Habitus für alle, die so sein wollen, wie sie aufgrund ihrer lokalen Prägungen wurden, und meinen, das sei gut so.«8 Allerdings ist die Selbststeigerung nicht nur ein ästhetischer oder poetischer Imperativ, wie es der Vers von Rainer Maria Rilke vermuten lässt, der Sloterdijks Buch den Titel gibt. So wie die Erklimmung der Achttausender längst zu einer Touristenattraktion herabgesunken ist, so ist die Selbstoptimierung zur Branche, die Vervielfältigung der Identität zum bürokratischen Standard und zur Pflichtübung geworden. »Im Identitäten-Regime werden sämtliche Energien devertikalisiert und der Registratur übergeben«9, argwöhnt Sloterdijk. Er verkennt, dass mit den lebensweltlichen und institutionellen »Basislagern« zugleich auch alle Möglichkeiten der individuellen und kollektiven Selbsttranszendenz ausgelöscht werden. Ohne konsolidierte Bestände lässt sich keine »Vertikalspannung« aufbauen. Überdies vollzieht sich die Optimierung heute unter biopolitischen, transhumanistischen Vorzeichen und mit stark nivellierender Tendenz: als Selbststeigerung ohne Selbst.

Die bereits erwähnte Tendenz zur Selbstverhüllung erschwert die Bestandsaufnahme, die in den Bereichen Lebenswelt, Vernunft, Sprache und Wirklichkeit zumindest begonnen werden soll. Aussichtslos ist dieser Versuch nur deshalb nicht, weil die Bestände in der Erfahrung des Verlusts Plastizität gewinnen. Als Hohlformen nehmen sie dort Konturen an, wo sie fehlen und vermisst werden. Erschwert wird diese Inventur indes dadurch, dass das Vakuum umgehend und umstandslos mit sozialtechnologischen und -utopischen Surrogaten aufgefüllt wird. Die lebensweltlichen und institutionellen Üblichkeiten werden durch die Usancen einer »Neuen Normalität« ersetzt, die zu einem digitalpanoptischen System ausgebaut und verstetigt werden könnten. Eine schranken- und maßlose Vernunftkritik, die rücksichtslos gegenüber den eigenen Beständen verfährt, mündet in wahnhafte Ambitionen der Welterneuerung und des Weltumbaus (»Build back better«). Die Sprache wird einer Grammatik der Gesinnung, Verwertung und Gedankensteuerung unterstellt. Als Inbegriff geistiger Bestände wird sie zum Vehikel der Bestandsvernichtung. Gleichzeitig entkoppelt sich eine nahezu rückstandslos mediatisierte Wirklichkeit in globalem Maßstab von Empirie und Augenschein. Sie wird nicht nur weich, disponibel und machenschaftlich, sondern auch zunehmend unmaßgeblich.

Die Aussicht, dass keinen Bestand haben wird, was seine Bestände verleugnet und zerstört, ist ein letzter Trost. Dieser kann darauf bauen, dass Bestandslosigkeit Dauer ausschließt und nicht lebbar ist; dass sie eine Besinnung auf das Tragende und Gründende – damit auch eine Umkehr – erzwingt. Allerdings ist auch diese Gewissheit erschüttert. Mit zunehmender Deutlichkeit zeichnet sich ab, dass die Auslöschung der Bestände nur ein Zwischenziel ist. Megalomane Sozialtechnologen sind darauf aus, den gesellschaftlichen Nullpunkt auf Dauer zu stellen und die soziale Tabula rasa als neuen Standard zu verfestigen. Sie unternehmen einen neuen Anlauf zur Posthistoire, diesmal unter transhumanen Vorzeichen. Dazu ersetzen sie gewachsene Bestände durch ort-, geschichts- und herkunftslose Äquivalente, die digital reproduzierbar sind und kein geteiltes Leben, keine gemeinsame Geschichte mehr voraussetzen. Es ist der Versuch, die Bestandslosigkeit, den Unbestand zu konsolidieren. Die Frage, ob dieses globale Experiment gelingen kann, ist Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen.

1 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, S. 6.

2 Vgl. dazu und zu den anderen Bedeutungsschichten den Artikel »Bestand«, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm [1854]. »Bestand« sei unter anderem eine »räumliche vorstellung und so meint bestand das woraus ein grundstück besteht« (Sp. 1652).

3 Martin Heidegger deutet Identität als »Bürgschaft« der »Selbigkeit« des Gegenstands, ohne welche Wissenschaft nicht möglich wäre (Martin Heidegger, Identität und Differenz, S. 35 f.).

4 Gottfried Benn, Der Ptolemäer, S. 214.

5 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 202.

6 Armin Mohler, Gegen die Liberalen, S. 11.

7 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern, S. 297.

8 Ebd.

9 Ebd.

II.

LEBENSWELTVERLUST

Angriff auf die Üblichkeiten

»Bleib gesund!« Diese unscheinbare Abschiedsfloskel bekam im Verlauf des ersten Jahres der Coronakrise einen zunehmend bedrohlichen, mitunter auch gebieterischen Unterton. Die Allgegenwart und Unausweichlichkeit dieser Formel, ein sprachliches Pendant der Maske, verstärkten diesen beklemmenden Eindruck – zumindest bei denjenigen, die den neuen Ritualen misstrauten. Den Gruß mit einer Floskel ohne Gesundheitsbezug oder gar nicht zu erwidern, konnte als Zeichen der Dissidenz ausgelegt werden. Umgekehrt ließen sich Konformismus und Treue zum Hygieneregime verlässlich an einer prompten und ähnlich lautenden Antwort ablesen. Ein Abschiedsgruß war binnen weniger Wochen zum sozialen Prüfstein geworden. Die Grußverweigerung gab zu verstehen, dass man nicht bereit war, »Gesundheit« als höchstes Gut anzuerkennen oder die staatlichen Maßnahmen zu ihrem Schutz missbilligte. Damit konnte bereits der Verzicht auf die Formel zum Zeichen moralischer Verworfenheit werden. Üblich wurde in dieser Zeit auch ein Gruß mit der Faust oder dem Ellenbogen, beides Zeichen der Konfrontation. Später dienten die Grußäquivalente »Schon geimpft?« und »Schon geboostert?« der Taxierung des Gegenübers. Die Inversion des Sozialen nahm ihren Lauf. Das Robert-Koch-Institut sprach im Oktober 2020 von »Modifikationen des Miteinander-Seins«10, die auch dann noch nötig seien, wenn ein Impfstoff zur Verfügung stehe. Das Beispiel der Grußformel zeigt, wie rasch sich die Regeln des Hygieneregimes dem Alltag einprägten und wie tiefgreifend sie das feinmaschige Netz der Umgangsformen, Verständigungsverhältnisse und Kommunikationsroutinen veränderten, modifizierten.

Die »Neue Normalität«, die sich in einem biopolitischen Klassifizierungssystem mit schikanösen Nachweispflichten und Zugangsvoraussetzungen verfestigte, ist der bislang machtvollste und in seiner Wirkung verheerendste Angriff auf die Lebenswelt, aber bei weitem nicht der erste. Vorangegangen sind ihm unter anderem der gegen nahezu alle hergebrachten Lebensformen westlicher Gesellschaften gerichtete Rassismus-, Kolonialismus- und Diskriminierungsverdacht sowie die gezielte Desorientierung der Geschlechtsidentität.

Der schwerwiegendste Vorstoß vor der Notstandsnormalität war die erzwungene Diversifizierung der Lebenswelt durch ungesteuerte, ungebremste Migration – insbesondere seit der Grenzöffnung 2015. Unser Zusammenleben müsse täglich neu ausgehandelt werden, schrieb Aydan Özoguz im September 2015 in einem Strategiepapier11 zur Integration von Flüchtlingen. Der Satz der damaligen Staatsministerin und Integrationsbeauftragten der Bundesregierung wurde zu einem geflügelten Wort der Migrationskrise und nahm den Charakter einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung an. Man sah in dieser Bemerkung eine Anerkennung von Parallelgesellschaften und eine Unterhöhlung des Rechtsstaats. Dieser hat mit seinen Institutionen dafür zu sorgen, dass das Zusammenleben nicht ständig neu ausgehandelt werden muss. Als Partei unter Parteien, Stamm unter Stämmen könnte er diese Funktion nicht erfüllen. Aber selbst dort, wo seine Institutionen äußerlich intakt und durchsetzungsfähig blieben, hätte die von Özoguz nicht nur beschriebene, sondern auch begrüßte Entwicklung weitreichende Folgen. Eine Gesellschaft im permanenten Verhandlungsmodus wäre weder lebenswert noch lebbar. Die Verständigung über die Fragen des Zusammenlebens kann nur gelingen, wenn nicht alles Verhandlungsmasse oder Verhandlungsgegenstand ist, wenn nicht jeder jederzeit dem Gegenüber als Unterhändler in eigener Sache begegnet. Verständigung setzt ein implizites Vorverständnis voraus, Gewohnheiten und Usancen, deren Tragfähigkeit und Bindungskraft darin bestehen, dass sie nicht fortwährend thematisiert und problematisiert werden müssen.

Auch wenn man das erwähnte Aushandeln als Diskurs, in jenem anspruchsvollen Sinn, den etwa Jürgen Habermas diesem Begriff unterlegt, und nicht als das Verhalten auf einem Basar verstünde, wären die gesellschaftlichen Konsequenzen zerstörerisch. Ein entgrenzter, auf Dauer gestellter Diskurs würde mit den lebensweltlichen Ressourcen des Vorverständnisses gleichzeitig auch seine eigenen Grundlagen und Voraussetzungen verzehren. Zum Ziel der Verständigung führt nur ein begrenzter Diskurs, der das Licht des jeweils Thematischen bündelt und sparsam mit ihm umgeht. Das vorthematische, implizite, unausgesprochene Einverständnis, dessen er sich bei Bedarf vergewissern kann, wird in der Regel nicht – oder zumindest nicht vollständig – ausgeleuchtet.

Das Vorverständnis, das die intersubjektive Dimension der Vorverständigung einschließt, wird hier nicht in dem anspruchsvollen hermeneutischen Sinn eines Vorgriffs auf Ganzheit, auf eine Totalität von Bezügen oder einen umfassenden Sinnhorizont aufgerufen. Eher handelt es sich um Verstehens- und Verständigungsroutinen, die jeder Thematisierung und Objektivierung vorausgehen und sich tagtäglich im Kleinen wie im Großen bewähren. Sie sind nicht generalisierbar, sondern kulturell geprägt, ohne dass sie Bestandteil eines Curriculums werden könnten oder in Crashkursen für interkulturelle Kompetenz vermittelbar wären. Vorverständnis und Vorverständigung sind Institutionen des Nichtinstitutionalisierbaren. Diese machen das Verhandeln des Zusammenlebens nicht überflüssig, aber zur Ausnahme einer Regel, die unausgesprochen bleibt und sich eindeutiger oder abschließender Kodifizierung widersetzt. Wo die Tragweite dieser nicht selten halb- oder vorbewussten Routinen erfahrbar wird, bilden sich Vertrauen und Gemeinsinn. Aus dieser Quelle speist sich auch jene »tragende, homogenitätsverbürgende Kraft«, auf die laut Ernst-Wolfgang Böckenförde der freiheitliche, säkularisierte Staat angewiesen ist, »nachdem die Bindungskraft aus der Religion für ihn nicht mehr essentiell ist und sein kann«.12

Der politischen Rechten wird gemeinhin vorgeworfen, diese Fraglosigkeitszonen zu starr, zu ausschließlich zu denken und sie in Begriffen wie »Volk«, »Nation«, »Gemeinschaft« oder »Leitkultur« mit unzulässigen oder willkürlichen Zuschreibungen kollektiver Identität zu versehen. Die Kritik zielt gewöhnlich auf die gefährliche, weil exklusive und ausgrenzende Tendenz identitärer Zuschreibungen. Was Bindungen ermöglicht und Zusammenhalt stiftet, erscheint in dieser Perspektive als Bedrohung. Allerdings ignorieren diejenigen, die das Schreckensbild des Kollektivsingulars zeichnen, nicht nur die geschichtlichen und kulturellen, sondern auch die lebensweltlichen Quellen sozialen Zusammenhalts. Die Verständigung über Fragen des Zusammenlebens – grundsätzliche, aber auch ganz alltägliche und situative – setzt eine intakte Vorverständigung voraus, die sich nicht in der Akzeptanz diskursiver Spielregeln, Verfahrensweisen und Formalien erschöpft. »Weil wir zu schnell sterben für totale Änderungen und totale Begründungen, brauchen wir Üblichkeiten«, sagt Odo Marquard und spricht von einer »sterblichkeitsbedingten Unvermeidlichkeit von Traditionen«.13 Die Üblichkeitszonen sind hochgradig gefährdete Bezugssysteme. Sie sind sozialer Bestand, aber als solcher niemals gefestigt und auf Dauer gesichert. Man kann ihrer nicht habhaft werden. Sie sind eine ungegenständliche Allmende wie die Sprache und unverfügbar wie sie. Ein Eigenes und Eigentümliches sind sie insofern, als sie die Geschichte einer geteilten Lebensform voraussetzen und ohne Vorstellung eines kollektiven Selbst nicht denkbar wären.

Was schon lange so war, wie es ist, muss darum nicht notwendigerweise gut, richtig oder wahr sein. Aber umgekehrt sind die Üblichkeiten des Vorverständnisses nicht schon deshalb verdächtig oder verwerflich, weil sie überdauert haben. Was unterschiedlichen Menschen in verschiedenen Zeiten als bewahrenswert erschien, was Loyalität verdiente und begründete, hat einiges für sich. Zu einem nicht geringen Teil sind Üblichkeiten auch das Ergebnis eines evolutionären Prozesses, einer kulturellen Selektion, was sie gegen den Eifer normativer Letztbegründer ein Stück weit abschirmen sollte. »Zumindest Argumente von der Art, etwas könne nicht mehr hingenommen werden, weil es schon sehr lange ungeprüft hingenommen worden sei, haben nicht die rationale Plausibilität, die ihnen zeitweise zugebilligt wird«14, notiert Hans Blumenberg, der unter »Institution« vor allem eine »Regelung von Beweislastlagen« versteht. »Wo eine Institution besteht, ist die Frage nach ihrer Begründung nicht von selbst ständig akut und liegt die Beweislast immer bei dem, der gegen die mit ihr gegebene Regelung aufsteht.«15 Auf das Gesellschaftsexperiment16 der Multikulturalisierung bezogen, bedeutet dies: Die Beweislast haben die »Veränderer« (Marquard) zu tragen, nicht die zu Probanden degradierten Kritiker des sozialen Experiments. Sie müssten zudem ausweisen, worin das Ziel der Integration besteht, die sie auch – mitunter vor allem – der einheimischen Bevölkerung abverlangen möchten. Können sie dies nicht oder nennen sie als Ziel nur das Experimentierfeld einer fragmentierten Lebenswelt, sollten sie das Wort »Integration« nicht mehr in den Mund nehmen.

Es zeigt sich hier eine strukturelle Ähnlichkeit mit den späteren Attacken auf die Lebenswelt im Hygiene- und Gesundheitsregime, die auf »totale Änderungen« zielen. Der Angriffspunkt ist vergleichbar. Den Nachweis des Gesundheitsstatus zur Zugangsvoraussetzung zum sozialen Leben zu machen, berührt nicht nur die »Beweislastlagen«, von denen Blumenberg spricht, sondern stellt diese auf den Kopf.

Die Metaphorik des Angriffs ist indes insofern einseitig, als sie die endogenen, hausgemachten Formen der Entüblichung verdeckt. Beispiele für eine fortgeschrittene kulturelle Bestandsvergessenheit sind Weihnachtsfeiern vor dem Totensonntag oder bunter Osterschmuck in der Fastenzeit, der seit einiger Zeit auch in oder im Umfeld von kirchlichen Gebäuden zu finden ist. Erscheinungen wie diese sind Anzeichen einer geschwächten lebensweltlichen Widerstandsfähigkeit. Eine Tradition, die sich nicht mehr von selbst versteht und beliebig wird, die sich bis zur Unkenntlichkeit konsumistisch verformen und abwandeln lässt, bietet keine Kristallisationspunkte für Übliches und Gewohntes mehr. Die verbreitete kulturelle Indifferenz macht wehrlos. Sie fordert eine kulturelle Kolonialisierung geradezu heraus und ermöglicht eine kampflose Übernahme des symbolischen Bestands.

Ressourcen der Fraglosigkeit

Der symbolische Ort, an dem die Tragfähigkeit des Vorverständnisses, der Vorverständigung, alltäglich auf die Probe gestellt und zugleich erneuert wird, ist die Lebenswelt. Edmund Husserl charakterisierte sie als das vorwissenschaftliche »Reich ursprünglicher Evidenzen«17. Eine so gedachte Lebenswelt ist kein Ort – schon gar nicht mit festen Koordinaten. Auch wäre es verfehlt, sie als verlorenen Urzustand natürlicher Evidenz, als soziale Idylle oder gesellschaftliche Utopie zu denken. Ihre Verklärung wäre nicht nur unangebracht, sondern gegenstandslos. Sie bietet keinen Anlass zu Heilserwartungen gleich welcher Art. Vielmehr ist Lebenswelt in der Phänomenologie ein heuristischer Grenzbegriff, der eine vortheoretische, prämodale Schicht des Erkennens bezeichnet, die allem thematischen Wissen zugrunde liegt und in ihm mitgegenwärtig ist. Prämodal heißt, dass Wirklichkeit, Möglichkeit und Notwendigkeit in dieser Zone fragloser Gegebenheiten noch nicht auseinandertreten. Kontingenz wird erst dort erfahrbar, wo diese Sphären auseinanderklaffen oder jedenfalls nicht mehr deckungsgleich sind.

In sozialen Zusammenhängen ließe Lebenswelt sich als stets bedrohte, erneuerungsbedürftige Ressource der Selbstverständlichkeiten beschreiben. Die immer gegenwärtige Erfahrung ihres Verlusts ist zugleich der Antrieb, neue Fraglosigkeitszonen in Gestalt von Institutionen zu schaffen und zu etablieren. Diese Zonen der Latenz sind heute suspekt geworden. Der Verdacht gegen sie wird systematisch genährt. Dabei lähmt die Sicherung dieser Fraglosigkeitszonen nicht die Fähigkeit, Fragen zu stellen und in Frage zu stellen, sondern fördert sie sogar. Für Husserl ist der Boden des selbstverständlich Gegebenen Ausgangsposition und Absprungbasis des theoretischen Wissens. Diese Einsicht lässt sich auf die soziale Wirklichkeit übertragen: Der Fundus latenter Selbstverständlichkeiten schont die Kapazitäten der Problematisierung, die dank der gesicherten Üblichkeiten gezielt und effizient eingesetzt werden könnten – auch zur Problematisierung der Üblichkeiten selbst.

In einem Text aus dem Nachlass bezieht Blumenberg seine Überlegungen zur Verteilung der Begründungslasten auf eine noch zu entwerfende Theorie der Lebenswelt. Wer die sich in der Lebenswelt erhaltende und erneuernde Ressource der Selbstverständlichkeit von außen antasten möchte, braucht dafür sehr gute Gründe. Umgekehrt bedürfen die Anstrengungen zur Erhaltung der lebensweltlichen Reproduktionsbedingungen so wenig einer Rechtfertigung wie die zur Bewahrung des Lebens selbst. »Zur Selbstvernichtung oder Selbstgefährdung kann es so wenig Pflicht geben wie zur Selbstkritik«, betont Blumenberg. Diese bleibe »so lange des Masochismus verdächtig […], als sie nicht im Dienst der Selbsterhaltung steht, im Grenzfall auch als List der Gefügigkeit den stärkeren Umständen oder Aussichten gegenüber«.18

Zum okzidentalen Vorverständnis, das durch Aufklärung und Säkularisierung hindurchgegangen ist und geformt wurde, gehören die Fähigkeit und die Bereitschaft, die Zonen der Fraglosigkeit punktuell zu verlassen, sofern eine Vorannahme mit guten Gründen in Zweifel gezogen wird. Das reflexive Potenzial im Umgang mit Üblichem, Überkommenem und Gewohntem ist längst integraler Bestandteil der Üblichkeiten selbst – und nicht etwa nur Gebot einer entkulturalisierten Vernunft. Dabei sind die Thematisierung und Problematisierung allerdings nur die zeitlich wie inhaltlich begrenzte Ausnahme einer Regel, die ungeschrieben ist und vorthematisch bleibt. Die Reflexivität verlangt keine Generalrevision. Das von Aydan Özoguz vorgetragene Postulat des Aushandelns setzt voraus, dass auch die Neuankömmlinge dazu in der Lage und bereit sind, aus problematisierten Üblichkeiten herauszutreten und diese zum Gegenstand einer diskursiven Erörterung zu machen. Dies anzunehmen, wäre angesichts der traditionalen oder archaischen kulturellen Prägung der meisten Einwanderer illusionär. In der Realität der »Willkommenskultur« wurde und wird ihnen ein reflexiver Umgang mit den eigenen Einstellungen auch nicht abverlangt und zugemutet. Die Kritik an den Üblichkeiten ignoriert in ihrer Maßlosigkeit nicht nur die von Blumenberg herausgestellte Verteilung der Beweislasten und kehrt diese um, sie ist auch hochgradig selektiv. Sie trifft die Lebenswelten einer autochthonen Mehrheit, während die Üblichkeiten der ethnischkulturellen Minderheiten nicht nur verschont, sondern geradezu gepflegt und kultiviert werden. Diese dürfen die Unverhandelbarkeit ihrer Üblichkeiten selbstverständlich für sich reklamieren, was der vernachlässigten Mehrheit, die viel eher dazu berechtigt wäre, ebenso selbstverständlich verwehrt wird. Mehr noch: Ihre Alltagsevidenzen werden trotz ihres reflexiven Potenzials, das sie vor anderen tradierten Üblichkeiten auszeichnet, als vorurteilsbehaftet kritisiert oder gar als hassgeleitet und fremdenfeindlich kriminalisiert.

Gelingen konnte die kontraintuitive Umkehr der Begründungs- und Rechtfertigungspflichten auch deshalb, weil den lebensweltlich verankerten Üblichkeiten nicht nur jede gesellschaftliche, sondern auch jede philosophische Lobby fehlt. Ein menschenrechtlicher Universalismus, der sich seit geraumer Zeit in der hypermoralischen Offensive befindet, lehnt sie als nicht verallgemeinerbar, partikularistisch und revisionsbedürftig ab. Den poststrukturalistischen Differenzdenkern und ihren identitätspolitischen Vollstreckern sind diese Üblichkeiten schon deshalb verdächtig, weil sie in jeder Form gesellschaftlicher Konsonanz eine Überwältigung, einen Gewaltakt gewahren. Die Systemtheorie hat die Fragmentierung der Lebenswelt entlang ethnisch-kultureller Bruchlinien nicht in ihrem Blickfeld. Und im Kommunitarismus eines Charles Taylor, bei dem am ehesten eine Nähe zum lebensweltlichen Ethos zu erwarten wäre, finden die Üblichkeiten der autochthonen Mehrheit keinen Fürsprecher, weil er seine Politik der Anerkennung vor allem als Schutz- und Förderprogramm unterdrückter oder bedrohter Minderheiten versteht.

Schon lange vor der Ausrufung der »Neuen Normalität« wurde der Lebensweltverlust in Erscheinungen wie Hochzeitskorsos auf Autobahnen, Massenschlägereien in Freibädern, marodierenden Jugendbanden auf Stadtfesten, Messerstechereien und der zunehmenden Babylonisierung der Innenstädte augenfällig. Weit weniger greifbar und plakativ, aber noch einschneidender waren und sind die Folgen für die soziale Kohäsion, politische Kultur und Ökonomie einer Gesellschaft. Dem eklatanten Sicherheitsverlust im öffentlichen Raum ist nicht mehr allein mit polizeilichen, rechtlichen und sicherheitspolitischen Maßnahmen zu begegnen. Er betrifft längst auch die Mikrostruktur der Verständigungs- und Vertrauensverhältnisse, nährt Entfremdung, Misstrauen, Argwohn und Angst in einer Sphäre, in der sich Vertrauen nur bildet, sofern es zugleich auch vorausgesetzt werden kann.

Jürgen Habermas möchte die »Mehrheitskultur aus der gewachsenen – historisch erklärbaren – Fusion mit der von allen Staatsbürgern geteilten politischen Kultur lösen«19. Diese Entkopplung sei die Voraussetzung dafür, dass »innerhalb desselben demokratischen Gemeinwesens verschiedene kulturelle, religiöse und ethnische Lebensformen gleichberechtigt neben- und miteinander existieren«20 könnten. Der Theoretiker des kommunikativen Handelns lässt außer Acht, dass die kulturell imprägnierte Substanz der lebensweltlichen Vorverständnisse weder unbegrenzt diversifizierbar noch verlustfrei rationalisierbar ist. Die Annahme, sie sei beliebig transformierbar, ist Kern des Problems und hat zur fortgeschrittenen Üblichkeitserosion entscheidend beigetragen. »Ein vorgängiger, durch kulturelle Homogenität gesicherter Hintergrundkonsens ist nicht nötig«, schreibt Habermas, »weil die demokratisch strukturierte Meinungs- und Willensbildung ein vernünftiges normatives Einverständnis auch unter Fremden ermöglicht.«21 Der Kommunikations- und Diskurstheoretiker überschätzt die Explikations- und Begründungskapazität der in der Lebenswelt handelnden Akteure bei weitem. Dass er die Bindungskräfte eines kulturell geprägten Vorverständnisses für verzichtbar hält, aber als integrativen Ersatz nur das rechtstaatlich-demokratische Prozedere selbst sowie allenfalls noch eine gemeinsame Interpretation der Verfassungsprinzipien, also seinen anämischen Verfassungspatriotismus, anzubieten hat, zeigt das Ausmaß seiner politischen Naivität.

Dies ist die wohlwollende Deutung der leichtfertigen Preisgabe lebensweltlicher Üblichkeiten. In der weniger wohlwollenden Interpretation wäre seine Theorie einer kommunikativ aufgefächerten, differenzier- und