Ohne mich - Esther Schüttpelz - E-Book

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Esther Schüttpelz

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Beschreibung

Sie ist Mitte zwanzig, gerade fertig mit dem Studium und genauso frisch verheiratet wie getrennt. Was tun, nachdem eine erste große Liebe krachend gescheitert ist? Die Erzählerin von Esther Schüttpelz' Roman sucht. Nach dem Grund für die Trennung. Nach einem Plan für die Zukunft. Nach Freundschaft und nach Nähe und Rausch und Vergessen. Scharfzüngig, verletzlich und komisch erzählt sie von einem Jahr des Danach und Dazwischen, von der Sehnsucht nach Verbundenheit in einer distanzierten Welt.

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Esther Schüttpelz

Ohne mich

Roman

Diogenes

1

Das Geräusch vom sich in der Tür drehenden Schlüssel klingt nach Heimat, aber hinter der Tür wartet – nichts. Ich betrete den lichtleeren Flur, es stapeln sich Pizzakartons und Pfandflaschen, auch der Wein, den der Ehemann mir zum Geburtstag geschenkt hat, der Gute vom Portugiesen, wurde getrunken. »Hallo, Bebi«, rufe ich, obwohl ich weiß, was dann passiert, nämlich nichts, und ich fange an zu heulen, heule wie ein selbstmitleidiger Teenager, schaue mir dabei im Spiegel zu, es ist nicht schön, und dann höre ich damit auf, atme und beginne, den Müll wegzuräumen.

 

Heulen klappt bei mir besonders gut, wenn ich auch körperlich schwach bin, und das bin ich, aber wie. Weihnachten stellte sich als nicht enden wollender Dauerrausch dar. Darauf bin ich nicht stolz, aber es gibt schließlich Einfacheres, als einer großen Familie und einer kleinen Stadt zu erklären, dass der Ehemann, den man erst kürzlich geheiratet hat, Weihnachten dieses Jahr ohne einen feiert. Und nächstes Jahr auch. Und, na ja, sagen wir, für immer. Er ist weg, der Ehemann, weil ich es so wollte. Ja, wie so was denn sein kann, ihr jungen Leute, wieso habt ihr denn dann geheiratet, was hat er denn Schlimmes gemacht, oder bist du so sprunghaft, so naiv, so böse. Prost. Frohe Weihnachten. Danke, Prost – oh, das sagte ich bereits. Na ja – Prost eben.

Eigentlich kann ich mich über den Umgang meiner Familie mit der SITUATION nicht beschweren. Die zweite Hochzeit zahlst du selber, hat Mama gesagt. Damit kann ich leben. Papa hat eigentlich gar nichts gesagt, und auch das halte ich für eine im Wesentlichen höf‌liche Reaktion. Mir ist klar, dass sie das alles nicht verstehen, aber erstens fängt das mit dem Unverständnis nicht erst bei der Trennung an, sondern schon bei der Hochzeit, spätestens, und zweitens: Wer kann es ihnen verübeln? Ich verstehe hier ja selbst nichts. Habe mir ein paar Antworten zurechtgelegt, je nachdem, wer mich fragt. Auf die Frage, wieso wir denn dann überhaupt geheiratet haben, erzähle ich meiner Tante, Dauersingle, esoterisch, was von »jugendlichem Leichtsinn«, meinem Cousin, schon immer vierzig, SEHR glücklich verheiratet, drei Kinder, »leider nicht so ein Glück gehabt wie du«, und meiner Oma, alt, Oma, habe ich einen kleinen Vortrag darüber gehalten, dass man sich ja heutzutage glücklicherweise scheiden lassen kann, wenn man unglücklich ist, was mir sofort leid tat, weil sie ganz blass wurde und stammelte, »der Opa hatte auch gute Seiten«. Blöde, das heißt vollkommen berechtigte und deshalb unangenehme Fragen kamen also überwiegend aus der sogenannten erweiterten Familie. Meine KERNFAMILIE inklusive meiner zwei jüngeren Geschwister kannte mich gut genug, um sich die Fragen zu sparen, auf die sie sowieso keine befriedigenden Antworten erhalten würde.

Ich frage lieber nichts, sagte meine Schwester, du gibst mir dann eh entweder eine flapsige oder eine extrem komplizierte Antwort, und ich kann auf beides verzichten.

FLAPSIGE Antwort, dachte ich, bist du 17 oder 37, wie redest du denn. Aber recht hatte sie trotzdem damit. Genau wie mein Bruder, dessen einziger Kommentar darin bestand, dass der Ehemann sowieso nicht zu mir gepasst habe.

Auf eine Art hatte der Ehemann sehr wohl zu mir gepasst. Leider war es genau die Art, mit der man sich in die Scheiße reitet.

 

Zum Heulen habe ich gar keine Zeit. Eigentlich. Echt nicht. Ich habe alles richtig entschieden, das weiß ich – das weiß ich doch, oder? Ja, irgendwo unter all den anderen Dingen, die ich nicht weiß, weiß ich das, ICHWEISSDASDOCH. Also. Aufräumen. Weitermachen. Was ich auch weiß, weil ich ja nicht völlig unbewandert bin im Bereich der Küchenpsychologie, ist, dass ich unsere Wohnung, also meine Wohnung, nicht nur aufräumen, sondern auch umräumen muss. Dabei könnte ich Hilfe gebrauchen, aber Hilfe ist gerade das Letzte, was ich will. Ich bringe also den Müll hinunter, in den Keller zu den Mülltonnen, in die ich den Müll manchmal mit Absicht leicht falsch einsortiere, und dann renne ich ganz schnell wieder nach oben in die Wohnung, damit mich keiner erwischt. Das ist jedes Mal ein bisschen aufregend. Ich bringe auch Flaschen zum Container, so viele ich tragen kann, die anderen stopfe ich in die sofort überfüllte Altglaskiste unter der Bank im Flur. Die Bank hatte der Ehemann selber gebaut.

Dann mache ich weiter, schmeiße in zerstörerischer Genugtuung alle meine Sachen auf den Boden, um sie dann eine nach der anderen schuldbewusst wieder irgendwo hinzuräumen. Dinge müssen ihren Platz haben, ich muss ihn für sie finden, und dann haben sie ihn, ihren Platz, und mein Platz ist dann da auch, unter ihnen oder dazwischen. Unser Schlafzimmer. Ich mag es kaum betreten, aber dann denke ich, was ich mir als Kind manchmal dachte: Dir kann nichts passieren. Ich mache das Schlafzimmer zum Büro und das Büro zum Schlafzimmer.

Beim Ab- und Wiederaufbauen des alten Steckkleiderschrankes bringe ich mich in Lebensgefahr, doch das ist für mich keine angemessene Art zu sterben. »Man fand sie unter einer Kleiderschranktür begraben inmitten von sehr viel Müll.« Nicht mal nackt. Also halte ich durch, und irgendwann steht der Schrank, wenn auch ohne Türen, aber das ist mir egal. Ich betrachte meine Gitarre, die an der neuen Schlafzimmerwand hängt, warte auf einen Impuls, sie zu spielen. Der bleibt aus. Ich nehme sie von der Wand und stelle sie in die Ecke neben dem Schrank. Im Wohnzimmer rücke ich den Esstisch frei in den Raum, so wie ich es von Anfang an besser gefunden hätte, und das Sofa in eine andere Ecke, und einen Fernseher habe ich jetzt nicht mehr. Die Küche lasse ich so.

 

Am nächsten Morgen lade ich meine Freunde, meine Clique aus dem Referendariat, zu mir in die Wohnung ein, zum Brunch. Ich brauche neue Bilder, neue Geschichten, neue Gefühle in diesen Wänden. Außerdem liebe ich Gastgeben und Großzügigsein, im Gegensatz zum Ehemann, der immer beleidigt war, wenn ich Freundinnen zu uns eingeladen habe, als störten sie sein Reich, unser gemeinsames Land, unsere Scheißnation. Es gibt einen richtigen Brunch mit Blumen auf dem Tisch, Blumen, die da sechs Wochen nach ihrem Verwelken immer noch stehen werden, und mit Waffeln und Rührei und Lachs. Die Bemitleidenswertigkeit eines von einer frisch getrennten Ehefrau in der ehemaligen Ehewohnung zubereiteten BRUNCHS bleibt meinen Gästen nicht verborgen, das sehe ich ihnen an, und ebenso sehe ich es dem Brunch an, dem Verräter. Alle geben sich sehr viel Mühe mit mir. Alle außer David, der ist verhalten, scheint sich unwohl zu fühlen, was daran liegen könnte, dass wir uns auf einer Party geküsst haben, da war ich noch eine WIFE, und dann war ich das zwei Tage später nicht mehr. Vielleicht hat er Angst, dass er ein Grund war, vielleicht sogar der Grund, und so war der Kuss jetzt auch wieder nicht gemeint. Ist er natürlich nicht, also der Grund, aber ein Auslöser schon. Ich hatte nämlich nicht den Hauch eines schlechten Gewissens.

 

Ein paar Tage später kommt der Ehemann vorbei, der ehemalige, und holt auch noch die letzten Dinge ab, die ich eigentlich gut gebrauchen könnte, aber ich sage nichts. Soll er alles mitnehmen, ich stehe ja irgendwie schon in seiner Schuld. Wir sitzen noch eine Weile zusammen, das erste Mal seit – na ja, in unserer, meiner Küche, und seine Wut scheint abgeklungen, jetzt ist da nur noch Trauer, was es nicht einfacher macht. Wir reden über Belangloses, rauchen, rauchen drinnen und viel. Die Wohnung stinkt sowieso seit Tagen nach Rauch, weil ich es für eine gute, heilsame Idee gehalten habe, in jedem neu eingerichteten Zimmer bei geschlossenem Fenster eine Kippe zu rauchen. Wir hören auch Musik, und dann kommt Goodbye my Lover von James Blunt, und, WERMACHTDENNSOWAS, wir fangen beide an zu heulen, heulen uns so richtig gegenseitig an, hier, friss, trink, ertrink in meinen Tränen, du Arsch, du Liebe. Wir umarmen uns, es wird zu viel, wir sagen: Bis bald, wir sehen uns. Er wohnt ja jetzt immer noch ganz in der Nähe, eine Straße weiter bei Ferdinand. Bis bald also, tschüss.

Vom Küchenfenster aus schaue ich ihm hinterher, aber erst nachdem ich das Licht ausgemacht habe, ich will dabei ungern beobachtet werden. Da schlurft er davon, durch unsere dunkle Straße, die im Frühling sehr schön war, als die Kirschbäume blühten. Damals, im Frühling, habe ich mich gefragt, warum Menschen überhaupt irgendwelche anderen Bäume pflanzen als Kirschbäume, aber jetzt weiß ich, warum, sie blühen nämlich nur sehr kurz, und dann sehen sie nach gar nichts mehr aus, sind öde und kahl. Wenn er an einer Straßenlaterne vorbeikommt, erkenne ich ihn besser, ich weiß gar nicht, wieso ich das überhaupt mache, das Hinterherschauen, wahrscheinlich mache ich es nur, weil ich es kann. Gleich biegt er ab, denke ich, auf die Hauptstraße, die zum Bahnhof führt, und dann biegt er wieder ab, in die hässlichste Straße der Stadt, direkt an den Bahngleisen gelegen. Manche mögen die Straße, weil sie den Müll und die Graf‌f‌iti URBAN finden. Da wohnt er jetzt, der Ehemann. Ferdinand hatte ein Zimmer frei, und sie kannten das ja, das Zusammenwohnen, wir haben ja alle mal zusammengewohnt, es ist gar nicht so lange her. Bevor der Ehemann auf die Hauptstraße biegt, wende ich mich ab und schalte das Licht ein. Dann setze ich mich zurück an den Küchentisch, auf dem der Aschenbecher mit unseren gerauchten Zigaretten steht und zwei leere Gläser. Ich setze mich dahin, wo der Ehemann eben noch saß, und wegen Ferdinands Wohnung und seiner Scheißstraße denke ich jetzt an unsere WG. Daran, wie wir da zu dritt wohnten. Bis wir auszogen, der Ehemann und ich, zusammenzogen, wie ein richtiges Ehepaar, und dann wohnte Ferdinand dort allein. Die WG-Zeit war intensiv, aber kurz. Viel kürzer, als es mir heute vorkommt. Ich sehe die Küche mit dem roten Samtsofa vor mir, und uns alle, wie wir da saßen, jeden Abend mit Zigaretten und Rotwein, so viel Rotwein. Es war eine gute Zeit, eine Zeit lang. Jetzt ist der Moment, in dem du traurig werden müsstest oder melancholisch, denke ich dann, ist schließlich alles vorbei und war irgendwann überhaupt nicht mehr gut, und dann wurde es immer unguter, und hier sitzt du nun allein in deiner Getrenntlebendenwohnung. Bleibt aber aus, das Trauergefühl oder die Melancholie, vielleicht habe ich schon zu viel geweint heute, und, na ja, es ist doch schön, wenn man Zeiten hatte, die gut waren.

 

Bald komme ich wieder ganz gut zurecht. Rede mir ein, es sei hauptsächlich Mitleid, hauptsächlich Sorge, die dieses Drücken auslöst in der Brust. Mit mir hat das alles nichts zu tun. Außerdem muss ich wirklich mal lernen. Es sind noch zwei Wochen bis zum Examen.

Es hilft nichts, ich setze mich in die Bibliothek. Jeden Morgen aufs Neue. Schließe meine Jacke und meinen Rucksack in einen Spind, und die Jura-Bücher und anderen Sachen, die ich mit zu meinem Arbeitsplatz nehmen darf, die balanciere ich da hin, und wenn ich endlich da sitze, an meinem Arbeitsplatz, dann muss ich mich dringend erholen. Hier kann man sich aber nicht gut erholen. Hier kommt man her, weil man hofft, dass die eigene Versagensangst geringer wird, wenn man statt zu Hause in der Universität tatenlos auf einen Laptop starrt. In der Luft liegen Unsicherheit und Testosteron, und hier sitze ich nun zwischen all den anderen ganz Normalen, deren Sorgen von A wie Aufstehen bis Z wie Zärtlichkeit reichen, und ballere mir zum hundertsten Mal den Stoff für das erste Examen in meinen nach all dem Rauschmittelkonsum noch erstaunlich leistungsfähigen, traurigen Kopf.

Verbesserungsversuch – ein Wort, mit dem ich mich gut identifizieren kann gerade. Die Klausuren werden im Oberlandesgericht geschrieben. Ein zweites Mal schreibe ich die, weil es beim ersten Mal kacke lief. Kacke lief es – das heißt: zwar bestanden, aber nur knapp –, weil ich zu maßloser Selbstüberschätzung neige und glaubte, im Gegensatz zu all den degenerierten Polo-Ralph-Laurens um mich herum nicht viel, eigentlich gar nicht lernen zu müssen. Na ja, und weil ich es für angebracht hielt, nur zwei Monate vorher eine Hochzeit zu feiern, eine große, bunte, wilde, die Aufmerksamkeit so wunderbar beanspruchende Hochzeit mit einem Mann, den ich erst seit knapp einem Jahr kannte.

 

Wir haben im Schrebergarten gefeiert, weil Schrebergärten heutzutage hip sind. Es gibt Menschen, die schreiben Artikel darüber und nennen das dann NEOBIEDERMEIER. Vielleicht haben sie recht, wir pflanzten da ja wirklich Tomaten und Salat an und auch gemüseförmige Hirngespinste von privater Idylle und Sicherheit. Für das Hochzeitsfest war der Schrebergarten jedenfalls perfekt. Überall hingen bunte Wimpel und Luftballons, und es war offen und draußen und frei. Genug zu trinken gab es und keine unangenehme Sitzordnung. Ich erinnere mich an vieles. An die Bierzeltbänke mit weißen Leintüchern drauf, an die Palettenbänke unter der alten Eiche mit den Schulfreunden vom Ehemann drauf, an den Tanz meiner Eltern vor der Bühne, auf der ich stand und Gitarre spielte im Discokugellicht. An Feel von Robbie Williams. Nur an Gefühle erinnere ich mich nicht. Was habe ich gefühlt, frage ich mich, war das schön? Morgens habe ich hysterisch geweint, ohne wissen zu wollen, warum. Bei unserer Rede fiel mir der Ehemann, der frisch angetraute, ins Wort, da wurde ich still wütend. Im Morgengrauen saß der Ehemann betrunken mit seinen Freunden am Feuer. Ich nahm allein ein Taxi zurück zur WG. Der Mann, der jetzt der Ehemann war, kam ein paar Stunden später dazu. Wir schliefen bis nachmittags und gingen dann frühstücken. Weil nirgendwo anders etwas frei war, frühstückten wir im Extrablatt. Da saßen wir nun, angetraut und verkatert, und wo gestern noch Mut war und Durst, Freude an Provokation und Verwirrung, da waren jetzt eine Etagere mit Käse und Wurst und eine bedrohlich unironische Ratlosigkeit.

 

Sechs Klausuren also und dazwischen zwanghaft spazieren und telefonieren. Juraklausuren sind ziemliche Fieslinge. Meistens ist man gut, wenn man glaubt, dass es schlecht lief, und schlecht, wenn man glaubt, dass es gut lief. Bisher, glaube ich, läuft es gut. Ich versuche, nicht weiter darüber nachzudenken, schreibe eine Klausur nach der anderen im Gebäude des Oberlandesgerichts. Ein bisschen stolz bin ich, dass ich mir das alles noch mal antue, nur um meine Note zu verbessern. Ich hätte mich ja auch zufriedengeben können nach dem ersten Mal. Stattdessen habe ich das Referendariat angefangen und parallel für den Verbesserungsversuch gelernt. Jetzt allerdings, wo ich mittendrin stecke, frage ich mich, warum zur Hölle und so weiter. Das frage ich auch Mama am Telefon nach der dritten Klausur. Warum zur Hölle mache ich das, und warum habe ich überhaupt Jura studiert – ich frage das rhetorisch und mit passiv-aggressivem Unterton, so wie es sich gehört. Beeindruckend, wie ruhig sie bleibt. Ich verstünde es, wenn sie mich anschreien würde. Doch sie schenkt mir nur einen zwar genervten, aber wohlwollenden Seufzer, und sagt dann, ich solle mich beruhigen, ich wisse doch tief im Innern genau, wieso ich mich dafür entschieden habe. Keine Ahnung, ob sie das wirklich glaubt, also dass ich das weiß, aber es ist schlau, so mit Menschen zu reden. Mir fällt ein, dass ich Jura studiert habe, um niemals von einem Mann abhängig zu sein, der mir weismachen will, dass er mehr draufhat als ich, und dass dieser Plan nur aufgeht, wenn ich das Jurastudium auch ordentlich abschließe, weil ich sonst nicht nur von einem Mann abhängig bin, sondern auch von einem Arbeitgeber, der höchstwahrscheinlich auch ein Mann ist, und dann muss ich mich fragen, ob ich die Abhängigkeit nicht aus logistischen Gründen wenigstens in nur einem Mann konzentrieren sollte, sinnvollerweise dem Arbeitgeber, mit dem ich dann eine Affäre beginnen müsste, und dann würde ich ihn auf ewig hassen und mich auch.

 

Nach der letzten Prüfung, am Freitag, lade ich wieder alle zu mir ein, diesmal nicht nur die sogenannte Clique, sondern noch andere Freunde, über die ich vereinzelt verfüge. Es muss wohl ein gewisser Stress von mir abgefallen sein nach dieser letzten Prüfung, jedenfalls bin ich zu nicht allzu später Stunde schon so besoffen, dass ich gar nichts mehr mitbekomme. Bis ich irgendwann volltrunken und ungebremst auf meine Knie falle, also meine Knie auf die Küchenfliesen knallen, und ein höllischer Schmerz blitzartig durch mein Gehirn schießt. Bevor ich dann schlafe, komatös und friedlich, koche ich noch Nudeln, Lasagneplatten, um genau zu sein, sind ja auch Nudeln, und verteile einen Großteil der pestogebadeten Lappen auf meiner Bluse, neu, versteht sich. Manche von ihnen esse ich aber auch.

2

Kaum wieder nüchtern, finde ich mich in einem Gerichtssaal wieder. In Borken befindet der sich, der Saal, und ich – ich bin hier die Staatsanwältin. Man erkennt die Staatsanwältin an ihrer Staatsanwältinnenrobe, mich an der ausrangierten Robe eines pensionierten Staatsanwaltsriesen, Größe 52, sehr lange Ärmel, grenzwertiger Geruch. Ich sehe lächerlich aus, doch das bin ich ja auch. Schließlich bin ich gar keine Staatsanwältin, sondern übe das nur, und dann trägt man eben die alten Roben aus dem Gerichtsfundus.

Für eine Beweisaufnahme muss ich nach vorne treten, zum Richter, und mir die Zeichnung von einem Verkehrsunfallschauplatz ansehen. Natürlich gebe ich gern meine fachmännische Beurteilung ab: Die Kratzer am rechten Außenspiegel des Geschädigtenmobils sind – anders kann es gar nicht sein – angesichts dieser Straßenführung definitiv durch das Angeklagtenmobil verursacht worden. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Und dann schlurfe ich zurück zu meinem Staatsanwältinnenplatz, stolpere nur beinah über den Robensaum und frage mich, was nur aus meinen alten Träumen geworden ist. Beim ersten Mal Robe-Tragen nichts drunter! Zu spät jetzt. Dann eben beim letzten Mal.

Ein Großteil der anderen Referendare findet das Staatsanwaltsspiel ganz fein. Endlich Verantwortung, endlich wird man mal ernst genommen. Und diese Robe, dieser stattliche Fetzen Staatsgewalt und Bürgerlichkeit. Ich fühle mich unwohl. Würde mich vielleicht wohler fühlen, wäre ich ein wenig kompetenter, denke: Hoffentlich ist dem zugedröhnten Angeklagten nicht klar, dass die Frau Staatsanwältin bloß hofft, keinen Fehler zu machen. Aber das ist es nicht allein.

Einer Frau wird vorgeworfen, der alten Dame, die jetzt tot ist, eines friedlichen Todes gestorben, ihren letzten Groschen aus der kiefernen Altersheimschublade gestohlen zu haben, und wie findet man so etwas, schlimm findet man das! Die Frau hat die Dame gepflegt, die Dame der Frau vertraut, wenn sie das wüsste, die Tote, es täte ihr weh, das kann sich jeder nur allzu gut vorstellen.

In der Hauptverhandlung am Amtsgericht Dülmen – wir Referendare werden durchs ganze Münsterland geschickt, Achtung, Achtung, hier kommt die Staatsrepräsentanz mit dem R73-Schnellbus von Münster bis Meppen –, in der Hauptverhandlung also zeigt sich: Die Beweise sind dünn. Wer soll es sonst gewesen sein, so im Wesentlichen das Argument. Ich plädiere auf Freispruch an diesem Februarmorgen und fühle mich gut.

Eine andere Frau, recht alt, recht dick, recht ausländisch, hat die freundliche Jobcentermitarbeiterin Schlampe genannt oder Fotze, zumindest aber sikdelan oder so ähnlich, da ist sich das Gericht auch nicht sicher, wie man dieses sikdelan schreibt oder was das jetzt heißt, aber böse war das und kein Zeichen von Dankbarkeit als Gast in unserem so hübsch entnazifizierten Land. Es stellt sich heraus, dass die Jobcentermitarbeiterin eigentlich zwei Jobcentermitarbeiterinnen ist, und jede von ihnen behauptet nun, die jeweils andere sei sikdelan genannt worden. Wieder plädiere ich auf Freispruch – diesmal befinde ich mich in Rheine –, und so langsam beginnt mir die Sache Spaß zu machen.

 

Ein paar Tage später im Büro des Staatsanwalts, der sich mein Ausbilder nennt, sagt der, aus mir werde wohl keine Staatsanwältin, bei mir werde ja jeder freigesprochen, was denn da los sei. Ja was nur, denke ich, wünsche ihm ein schönes Wochenende und lächele beim Verlassen der Staatsanwaltschaft Münster den Justizbeamten an der Pforte ein bisschen zu fröhlich an.

Und gehe nach Hause. Ich gehe immer, das heißt immer, wenn ich mich fortbewegen möchte. ENTSCHLEUNIGUNG nenne ich das an schwachen Tagen.

Beim Gehen rauche ich und höre Musik. In letzter Zeit höre ich viel Musik, mehr als sonst und lieber, was daran liegen könnte, dass ich meinen Musikgeschmack genussvoll habe verkommen lassen. Die Musik, die ich bisher so gehört hatte, konnte ich nicht mehr hören, also nicht mehr, ohne zu heulen. War ja jetzt alles belegt mit Erinnerungen, die nicht mir allein, sondern UNS gehörten. Zu Tocotronic den Hochzeitstanz gestolpert, zu Stereophonics geknutscht, Bright Eyes gecovert, jeder eine Gitarre in der Hand, zu Gisbert geschwiegen, zu Ton Steine Scherben Risotto gekocht, ja sogar Robbie Williams war belegt und Paolo Nutini, ich gebe es zu. Und jetzt auch noch James Blunt. Und Herbert Grönemeyer. Ja und Udo sowieso, und das war richtig fies, denn das war eigentlich mein Udo Lindenberg, der Ehemann hatte den vorher gar nicht gehört und nicht meinem, sondern dem Geschmack von Stuckrad-Barre getraut.

Auf jeden Fall: Mein Musikgeschmack war damit weg. Und weil Spotify ein gefühlloses Monster ist und dir ohne jede Barmherzigkeit immer neue Playlists ins Gesicht spuckt, die auf deinen alten beruhen, dich, als traute es dir nicht die geringste Weiterentwicklung zu, mit dem siebzehnten Best of 2018 emotional belästigt, deshalb, und nur deshalb, begann ich, Miley Cyrus zu hören. Ja, und da bin ich dann hängengeblieben.

 

Der Ehemann ist nicht hängengeblieben. Jedenfalls nicht in dem befürchteten Maße.

Es ist ein Mittwoch oder ein Donnerstag, als ich ihn im Spritt treffe. Das Spritt ist eine Kneipe mit der Eigenschaft, mich zu verschlucken, wenn ich eigentlich nur nach Hause will. Sie ist immer auf dem Weg, egal, wo ich war, und saugt mich an ihren hölzernen Tresen. Ich bin nicht die Einzige, der es so geht. MANKENNTSICH im Spritt. Da treffe ich also zufällig auf den Ehemann, es ist das erste Mal, dass die Statisten uns wieder gemeinsam auf der Bühne sehen. Er ist gut drauf, der Ehemann, denn er hat, und ich bin so erleichtert, als ich das höre, er hat seine Masterarbeit abgegeben.

Was habe ich mir Sorgen gemacht. Das Thema Masterarbeit war beim Ehemann sowieso schwierig. Unsere Trennung hat es nicht leichter gemacht. Schließlich musste er danach ganz viel trinken und schlafen und grübeln, und ich sah schon, wie er sie nicht abgab und sein Leben zerstört war, ruiniert, nicht von ihm, sondern von mir höchstpersönlich.

Tja, er hat es getan, einfach geschrieben, abgegeben. Und hier steht er jetzt, feiert und nimmt mich in den Arm. Ich weiß nicht, wie ich das finde, ob gut oder schlecht. Es fühlt sich vertraut an, es blendet. So wie die Sonne sich immer warm anfühlt und blendet, egal, ob man in einem hübschen Garten sitzt oder am Bochumer Hauptbahnhof. Was er als Nächstes vorhat, frage ich ihn, was hast du vor nach dem Studium? Ich frage ihn das mit der freundlichen Distanz zweier Bekannter, Freundesfreunde, die sich um einen netten Plausch bemühen. Es passt nicht zu dem vertrauten Gefühl, nicht zu den nah aneinandergerückten Barhockern.

Was man halt macht als fertiger Umweltwissenschaftler, sagt der Ehemann, erst mal bleibe ich Barkeeper. Aber dann will ich nach Berlin, das weißt du ja, hat sich nichts dran geändert.

Mir fährt ein Stich durch die Brust, kurz und tief, wir wollten einmal zusammen dahin. Das sage ich aber nicht, das weiß er ja auch.

Prost, sage ich, obwohl das Bier vom Ehemann bereits leer ist, und trinke einen kräftigen Schluck.