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"Und so lieg ich hier auch und denke: "Verdammt, wär's nur wieder manchmal wieder wie früher." Und sicherlich ist das eng mit Personen verknüpft die meinen Weg gekreuzt haben, vielleicht auch mit einer bestimmten Person, vielleicht auch mit einem besonderen Mädchen, dass wenn du mir auf der Straße begegnen würdest und mich danach fragen würdest, ich vielleicht als gar nicht so speziell bezeichnen würde. Aber wir sind nicht auf der Straße, sondern in meinem Kopf, durch den Blut fließt - mit beträchtlichem Alkoholanteil. Man könnte auch sagen, durch den Alkohol fließt - mit einem beträchtlichen Blutanteil. Und jetzt sind die Gedanken wieder in Richtung In-der-Vergangenheit-leben abgeschweift. Zur Krankheit meiner Generation, unserer Gesellschaft. Wie erwähnt, ich bevorzuge schöne Wehmut. Und Rührei. Es gibt nichts was ich im Moment mehr bevorzugen würde als Rührei. " Am Morgen seines 18. Geburtstages wacht die Hauptperson auf und stellt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Worum dreht sich eigentlich das große Ganze? Er fühlt nur eins: schöne Wehmut. Eine Mischung aus Ziellosigkeit, Sehnsucht, Freundschaft und Liebe. In dem Roman, der einzig und allein die Gedanken des Erzählers wiedergeben, begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Seine Gedanken schweifen mal zu diesem, mal zu jenem Ergebnis. Es ist nicht bewusst, aber vielleicht findet er dort ja eine Antwort. Vielleicht gab es einen Moment, einen Mensch, der alles verändert hat. So erlebt er wieder eine ungeahnte Freundschaft, die erste große Liebe und einen schweren Verlust. Er schweift von Erlebnis zu Erlebnis und versucht eine Antwort auf seine eigene Identität zu erhalten. Mit seinem Romandebüt "Ohne Norden" schafft es Tim-Julian Schneider das Gefühl einer ganzen Generation auszudrücken. Die Authentizität mit der Schneider die Gedanken des Erzählers wiedergibt ist beeindruckend. Manchmal urkomisch, manchmal zum Heulen. Wie das Leben und die Jugend selbst. Schön und wehmütig.
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Seitenzahl: 373
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Hier bin ich. Habe gerade meine Volljährigkeit erreicht. Liege im Bett, aber nicht flach, sondern lehne mich an der Bettkante an. Habe die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Denke ein bisschen nach. Lasse die Gedanken schweifen, wie man so schön übertrieben sagen kann. Aber in irgendeiner Weise stimmt das ja. Sobald einmal die Maschinerie oben angeworfen worden ist, schießen einem Dinge in den Kopf, die zwei Augenblicke davor noch Lichtjahre entfernt waren. Bin irgendwie stolz auf meinen eigenen Gedanken gerade. Zwei Augenblicke davor noch Lichtjahre entfernt, das klingt irgendwie verdammt gut. Das hätte ich meinem schläfrigen und verkaterten Kasten da oben, wenn ich ehrlich bin, eigentlich gar nicht zugetraut an so einem Morgen, an dem der Wodka nach dem Aufwachen leicht gegen die Schläfe pocht und sobald man sich aufsetzt, zu einem Vorschlaghammer wird, der mit einer gnadenlosen Frequenz versucht, sich vom Inneren des Schädels einen Weg nach draußen zu bahnen. Der nächste Gedanke ist, dass Rührei nicht schlecht wäre und wenn man das nicht „Gedankenschweifen“ nennen kann, dann weiß ich auch nicht. Von wodkagetränkter Tiefsinnigkeit zum bevorstehenden Katerfrühstück, das kriegt nur ein achtzehnjähriges Gehirn hin, da bin ich mir ziemlich sicher. Ich versuche aufzustehen, aber ich kapiere schnell, dass der Vorschlaghammer etwas dagegen hat und es wohl noch eine Zeit dauern wird, bis ich dem Traum, in dem eine Pfanne, zwei Eier und ein Schneebesen eine ganz wesentliche Rolle spielen, näher kommen kann. Und so schweife ich weiter. Treffe mich wieder vor ein paar Jahren, mit zwölf, dreizehn, vierzehn vielleicht. Es klingt sehr unlogisch, für mich selbst sogar, aber es kommt häufig vor, dass ich mich selbst nicht verstehe. Also noch einmal: Es klingt sehr unlogisch, dass man mit gerade einmal achtzehn Lenzen auf dem Buckel morgens im Bett liegt und so über sein Leben nachdenkt, reflektiert, beurteilt und vielleicht sogar schon bedauert. Das sollte eigentlich neunzigjährigen Lebemännern auf dem Sterbebett vorbehalten sein, wenn ihr komplettes ausschweifendes Leben noch einmal an ihnen vorbeizieht, ehe sie glücklich und zufrieden den Gang nach Woauchimmer antreten können. Dass das achtzehnjährigen Gymnasiasten passiert, entspricht irgendwie nicht der Regel, aber auch hier gilt wohl festzuhalten: Keine Regel ohne Ausnahme. Und ich weiß, beziehungsweise vermute, oder egal, eigentlich bin ich mir auch ziemlich sicher, dass ich nicht der einzige bin, der hin und wieder, ab und zu daliegt und mal über das nachdenkt, was so war und was vielleicht noch so kommt. Hoffentlich kommt. Ich bin nicht so der Typ, der sich Horrorszenarien in der Zukunft ausmalt, eher der, der die Augen zumacht und sich selbst in einem Ferrari 458 Italia durch Monte Carlo brausen sieht, auf dem Weg zu seiner Yacht, vielleicht auch nur zu einem kleinen Dinner, man will ja bescheiden und realistisch bleiben. In so einem Moment huscht mir dann ein kleines Schmunzeln über die Lippen. Natürlich wird nichts davon passieren und ich werde auch nicht zukünftig in Depressionen verfallen, wenn ich merke, dass dieser kurze Tagtraum sich eines Tages in Luft auflösen wird, aber an solch einem Morgen sehe ich nichts Verwerfliches daran und außerdem lenkt es ein bisschen vom Vorschlaghammer ab. Sich die Zukunft auszumalen, ist auch überhaupt kein Problem. Es ist eher das Problem, das Passierte noch einmal neu durchzugehen und immer wieder zu bewerten. Ich habe es ja eben schon mit dem Sterbebett verglichen, aber mir kommt es so vor, als wäre es eine Krankheit der heutigen Gesellschaft und vielleicht auch meiner Generation, - oh Gott, ich habe nicht nur Gedanken eines Neunzigjährigen, ich rede auch noch so: Meiner Generation. Ich höre mich an wie mein Uropa, Gott hab‘ ihn selig – dass wir viel zu sehr in der Vergangenheit leben und dabei das Hier und Jetzt vernachlässigen. Krankheit ist vielleicht die falsche Bezeichnung. Ich bin noch nicht dazugekommen, diesen Umstand, der meiner Meinung nach so ist, zu bewerten. Aber was auffällt, ist, dass sich viele Menschen darüber beklagen, dass man zu viel über Dinge nachdenkt, die man sowieso nicht mehr ändern kann, statt in der Gegenwart zu leben. Zu denen ich dann ja wohl auch gehöre, da ich hier liege und meine Vergangenheit begutachte. Wieder ein Schmunzeln. Vor meinem geistigen Auge taucht eine Tafel auf, auf der noch einmal alle wichtigen Ereignisse meines Lebens aufgelistet sind, ich davorstehend mit nachdenklicher Miene, die Tafel begutachtend. Vielleicht war begutachten das falsche Wort. Aber ich habe es halt gedacht. Zumindest denke ich über den letzten Abend nach, meinen achtzehnten Geburtstag. Das ist die Vergangenheit, das ist Fakt. Und auch ein bisschen über mein Leben davor. Aber vernachlässige ich deshalb die Gegenwart? Ich lebe im Hier und Jetzt und versuche alles mitzunehmen, aber noch im Moment des Erlebens zu wissen, dass dieser in der Zukunft, wenn man über die Vergangenheit nachdenkt, was Besonderes sein wird, das ist schwer und auf Anhieb kann ich nicht sagen, ob mir das schon passiert ist. Vielleicht macht erst ein gewisser temporärer Abstand Dinge besonders. So liege ich hier und denke, was für eine geile Zeit es war mit meinen Jungs damals auf dem Bolzplatz. Das ist vielleicht sechs, sieben Jahre her. Und ich bin nicht traurig. Ich lebe in dieser Zeit, nicht in der Vergangenheit. Aber mich jetzt daran zu erinnern, das gibt mir irgendwie ein Gefühl im Bauch - ich kann nicht sagen, dass es unangenehm ist. Am besten könnte man es wohl mit dem Wort Wehmut beschreiben. Aber ich empfinde das nicht als etwas Negatives, sondern als etwas Schönes. Eine schöne Wehmut, ja so könnte man es nennen. Und was soll daran verkehrt sein, wenn man sich schöne Erlebnisse bewahrt und sie ab und zu, wenn der Wodka dann und wann gegen die Schläfe pocht, wieder auftauchen. Ich verwerfe das Wort Krankheit meiner Generation und ersetze es durch Merkmal, hoffe aber irgendwie, noch ein besser geeignetes Wort dafür zu finden. Was damit gemeint ist, mit in der Vergangenheit leben, das ist mir natürlich auch klar: Wenn man über Dinge nicht hinwegkommt oder einfach nicht loslassen kann. Und so lieg ich hier auch und denke: „Verdammt, wär’s nur wieder manchmal wieder wie früher.“ Und sicherlich ist das eng mit Personen verknüpft die meinen Weg gekreuzt haben, vielleicht auch mit einer bestimmten Person, vielleicht auch mit einem besonderen Mädchen, dass wenn du mir auf der Straße begegnen würdest und mich danach fragen würdest, ich vielleicht als gar nicht so speziell bezeichnen würde. Aber wir sind nicht auf der Straße, sondern in meinem Kopf, durch den Blut fließt - mit beträchtlichem Alkoholanteil. Man könnte auch sagen, durch den Alkohol fließt - mit einem beträchtlichen Blutanteil. Und jetzt sind die Gedanken wieder in Richtung In-der-Vergangenheit-leben abgeschweift. Zur Krankheit meiner Generation, unserer Gesellschaft. Wie erwähnt, ich bevorzuge schöne Wehmut. Und Rührei. Es gibt nichts was ich im Moment mehr bevorzugen würde als Rührei.
Im nächsten Moment, den ich aktiv miterlebe, realisiere ich, dass es wohl in nächster Zeit mit meinen Frühstücksplänen nichts wird. Ich bin für eine gute halbe Stunde wieder eingeschlafen und bin gerade im Begriff wieder die Augen zu öffnen. Wenn nach man einer durchzechten Nacht nach dem ersten richtigen Aufwachen wieder unvorsichtig eindöst, kann das zwei Möglichkeiten zur Folge haben: Entweder die halbe Stunde Schlaf gibt dem gerade in Schwung kommenden Kreislauf so richtig schön eins auf die Fresse oder sie tut einem gut und man fühlt sich danach viel besser. Um bei mir zu bleiben: Mein Kreislauf hatte zwölf Runden gegen Klitschko hinter sich, wobei ihm dabei die Arme auf den Rücken gebunden wurden und die Klitschko Brüder sich Runde für Runde abgewechselt hatten. Da ich weiß, dass ruckartiges Aufsetzen zu ungewollten Nebenwirkungen bis hin zum Erbrechen auf den nahegelegenen heiß geliebten Zockersessel führen kann, blieb ich lieber liegen. Beim ersten Mal hatte es vier Tage gedauert, bis der Geruch mein Zimmer zu hundert Prozent verlassen hatte. Immerhin, wenn ich die Augen offen halte, kommt es mir nicht mehr so vor, als würde ich Kettenkarussell fahren und es erfordert noch nicht einmal meine ganze Konzentration. Vielleicht habe ich den Alkohol von gestern doch besser vertragen als zuerst vermutet, aber der nächste Versuch mich aufzurichten, versichert mir auf sehr bestimmende Art und Weise, dass ich meinen achtzehnten Geburtstag mit einer für ein solches Ereignis angemessenen Menge an Alkohol verbracht habe. Deshalb fühlte ich mich auch nicht irgendwie elend oder scheußlich, wie man es manchmal hört, wenn Leute, die vor zwei Stunden noch auf der Theke ihres lokalen Lieblingsclubs mit einem alkoholhaltigen Mischgetränk in der linken Hand Mischung wahrscheinlich 50:50 - ab drei Uhr werden auch die Personen hinter der Theke in dieser Hinsicht erstaunlich lockerer - und die rechte Faust zu einem Mikro geballt, lauthals irgendeinen Oldie, der natürlich nur ihr Lied ist, grölend, drei Stunden später in ihrem Bett aufwachen und sich selbst, den Alkohol und alles auf dieser ganzen Welt verfluchen, sich schwören, nie mehr Alkohol zu trinken, nur um am nächsten Samstag wieder auf derselben Theke zu tanzen, denselben Oldie zu krächzen. In meiner Vorstellung ist es irgendwie ein weibliches Feierbiest, das da auf der Theke versucht, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, aber das ist kein Pauschalurteil. Die Erfahrung hat nur gezeigt, dass die männlichen Nachtschwärmer meistens die sitzende Position eines Barhockers vorziehen, ihren gestörten Gleichgewichtssinn durch das Festhalten an der Bar ausgleichen und hin und wieder einen Schluck an ihrem vierten letzten Bier nehmen. Das ist wohl der Kreislauf der Jugend. Ich sage nicht, dass es schlecht so ist, ich sage nur, dass es so ist. Ich komme ganz gut damit klar. Auch, weil ich, wie gesagt, und worauf ich auch eigentlich hinaus wollte, kein Problem mit den Schmerzen im Kopf und dem Scheißgefühl am nächsten Tag habe. Es gehört irgendwie auch dazu und angemessene Nächte verdienen einen angemessenen Kater. Das ist wohl bitterer Fakt, aber man kann nicht viel daran ändern und ohne Alkohol wäre es ja auch irgendwie blöd. Ich habe es zweimal versucht, aber geklappt hat es nicht so wirklich. Um hier vielleicht mal ein bisschen mehr Struktur reinzubringen - insofern das überhaupt möglich ist, wenn man sonntagmorgens halbtot im Bett liegt - müsste man sich vielleicht ein Ereignis herauspicken, mit dem alles angefangen hat. Wieder kommt mir das Bild dieser Tafel oder Pinnwand vor Augen, auf dem die wichtigsten Punkte meines Lebens fein säuberlich dokumentiert sind. Aber anstatt Überschriften oder angepinnten Bildern sieht man ganze Ereignisse vor sich laufen. Ganze Tage und vor allem Nächte sind auf dieser Pinnwand dokumentiert und ich brauche nur länger auf eines zu blicken, bis mir noch einmal alle Einzelheiten bewusst werden. Diese Pinnwand ist mein Gedächtnis. Achtzehn Jahre, aber die Tafel hat sich im Moment etwas komprimiert. Sie bezieht sich mehr auf die letzten zwei, zweieinhalb Jahre und mir kommt der Begriff Zeitalter in den Sinn, aber irgendwie finde ich diesen maßlos übertrieben. Zweieinhalb Jahre - ein Zeitalter? Das Mittelalter, das war ein Zeitalter. Oder das Zeitalter der Renaissance – das sind Epochen die über Jahrzehnte, zum Teil Jahrhunderte andauerten und ich beschreibe die letzten zwei Jahre meines unbedeutenden Lebens als Zeitalter? Scheißegal, ich lasse den Begriff so stehen. Irgendwie gefällt er mir und irgendwie markiert dieser Morgen ja auch das Ende meiner jugendlichen Ära. Ich bin ja jetzt offiziell ein erwachsener Mann, auch wenn ich mich beim Gedanken daran so lächerlich finde, dass ich fast anfange mich selbst auszulachen. Denn wie ich so daliege, fühle ich mich alles andere als reif und erwachsen. Mit fünfzehn sieht man sich selbst in drei Jahren als coolen Typen, der von allem den Plan hat. Bei dem es läuft. Sportlich und erfolgreich bei den Frauen. Das restliche Jahr Schule ist nur noch Zeitvertreib, bis das richtige Leben an der Uni losgeht. Die bittere Wahrheit ist: Mit fünfzehn fühlt man sich genauso planlos wie achtzehn. Und mit einundzwanzig vielleicht auch wie mit achtzehn. Aber das kann ich euch vielleicht in drei Jahren bestätigen. Bisher ist es nur eine Vermutung. Vielleicht hat man mit dreißig den Plan. Aber mit fünfzehn ging mein letztes großes Zeitalter irgendwie los. Ich kann nicht sagen warum, aber wenn ich auf diese Pinnwand, die mein Gedächtnis ist, blicke, dann sehe ich mich selbst mit fünfzehn Jahren und neun Monaten an einer Bierzeltgarnitur unter freiem Himmel sitzen und trinken. Es war kein normaler Himmel an einem normalen Abend. Das damals war der klarste und hellste Sternenhimmel, den ich bis dahin kennenlernen durfte. Vielleicht lag es daran, dass ich alles vierfach sah, das könnte diesen Umstand schon verstärkt haben. Im Endeffekt aber blieb mir dieser verdammt klare Himmel, obwohl sich der Rest des Abends nur noch in Bruchstücken darstellt, in Erinnerung. Passend irgendwie. Ich liege hier, der Pegel steht noch von letzter Nacht und das erste einschneidende Erlebnis, dass mir in den Sinn kommt, ist mein erster Vollrausch. Es war der sechzehnte Geburtstag einer meiner besten Freunde. Um dies kurz zu erläutern: Wenn ich einer meiner besten Freunde sage, schließt das mit ein, dass es mehrere gibt - insgesamt zwei. Wir waren ein Dreiergespann, das durch dick und dünn ging und immer noch geht und hoffentlich immer gehen wird. Ich gebe mir selbst eine gedankliche Backpfeife. Durch dick und dünn gehen. Das klingt so Grundschulfreundebuchmäßig und überhaupt nicht angemessen für das, was wir zusammen ausgestanden haben. Beide waren übrigens an jenem besagten Abend, der den Beginn etwas, von dem ich jetzt noch nicht weiß, was es ist, einläuten sollte, dabei. Thomas Bach – Thommy und später nach Ausstrahlung einer gewissen Fernsehsendung auch noch Der Bachelor genannt, weil es sich aufgrund seines Nachnamens halt anbot und weil ihm ab diesem Tag ein gewisser Schlag beim weiblichen Geschlecht attestiert wurde - hatte an einem Freitag Geburtstag und feierte auf dem Sportplatz seines Heimatdorfes. Ein richtiges Kaff, das sogar mit der Einwohnerzahl aus unserer Kleinstadtgegend negativ hervorstach. Der Sportplatz lag mitten im Wald und war schön weit vom eigentlichen Dorf entfernt. Lautstärkebeschwerden oder Sonstiges würde es also nicht geben. Das war allen klar. Freitags in der Schule unterhielten wir uns schon ein wenig über das bevorstehende Event und klärten ab, wann wir kommen und wie lange wir bleiben würden. Ich nahm Thommys Angebot, in der Wirtschaft des Vereinsheimes zu pennen, dankend an und verabredete mich mit Konstantin Baumgarten, Sohn eines Lehrerpärchens mit alternativem Lebensstil und Haus in einer etwas besser gestellten Gegend unserer Stadt, für sechs Uhr bei mir, um vorher noch etwas zu zocken und dann irgendwann von meiner Mutter zur Party gefahren zu werden. Viele aus der Klasse würden da sein, auch einige Mädels mit denen ich mich gut verstand, aber keine, die mich ernsthaft interessiert hätte, war dabei. Es war ein angenehmer Spätsommertag, es würde also kein Problem darstellen, den ganzen Abend und falls erforderlich die ganze Nacht im Freien zu verbringen. Meine Mutter wies mich aber bestimmt darauf hin, dass ich auf jeden Fall ein „Jäckchen zum Überwerfen“ mitnehmen solle, da es nachts frisch würde. Die Jacke in der rechten und einen Umschlag mit zehn Euro in der linken Hand stieg ich um halb neun an besagtem Sportplatz aus dem Auto. Es fing langsam an zu dämmern und die Sonne war schon hinter den Bäumen, die die Anlage umrundeten, verschwunden. Der gesamte Eindruck des Platzes war - nett ausgedrückt - ein Desaster. Es war ein in die Jahre gekommener Aschenplatz, aus dem an einigen Stellen schon Unkraut wucherte und der mit einem einzigartigen Höhenunterschied von der linken zur rechten Eckfahne aufwarten konnte. Selbst im Halbdunkel konnte ich erkennen, dass es mindestens vier Meter Gefälle waren, die der Platz aufwies. Die meisten der eingeladenen Gäste saßen schon an langen Bierzeltgarnituren neben der zugehörigen Grillhütte. Einige hatten schon Biere vor sich stehen und aßen Würstchen und Nudelsalat. Ich begrüßte meine Freunde per Handschlag, nahm mir auch einen Teller und schlug ordentlich am Grill zu. Damals mit noch wenig Feiererfahrung war ich der Ansicht, dass Grillen der Inbegriff einer Sommerfete war. Diese Ansicht hat sich bis heute nicht geändert. Der Abend plätscherte so vor sich hin. Wir unterhielten uns, machten Scherze. Es war eine lustige Runde mit vielen Leuten, die ich mochte und ich war eigentlich ganz zufrieden mit dem bisherigen Verlauf des Abends. Um halb zehn kam das Geburtstagskind zu mir und Konstantin und verkündete mit einer Stimme, die keine Widerrede duldete: „Wir trinken jetzt einen zusammen.“ Weder Konstantin noch ich waren bisher besonders erprobt in dieser Disziplin, aber ich fühlte auch kein Unbehagen als Thommy drei Becher voll mit irgendeinem süßlichen Likör schüttete, mit uns anstieß und wir alle unsere Becher in einem Zug leerten. Es brannte in der Kehle, aber schmeckte nicht schlecht. Ich hustete ein bisschen und Thommy lachte. Er ging weiter zu den nächsten Gästen, um auch mit diesen auf sich selbst anzustoßen. Die Flasche ließ er jedoch bei Konstantin und mir stehen und im Laufe des Abends wurde sie immer leerer. Meine bisherige Alkoholkarriere beschränkte sich bis dato auf einen Radler bei meiner Firmung oder einen Sekt anlässlich der Silberhochzeit meiner Eltern. Aber es fühlte sich gut an und ich hatte nichts dagegen, immer mehr zu trinken, da mein Zustand sich vorerst auch nicht verschlechterte. Ich war verdammt gut drauf, hatte Spaß mit allen Leuten. Nach einer Weile konnte ich mich nicht mehr in dem Maße verständlich machen, in dem ich es eigentlich geplant hatte. Aber das tat der ganzen Sache keinen Abbruch. Jetzt, wenn ich so rückblickend drüber nachdenke, stelle ich fest, dass man immer zwei Möglichkeiten hat, wenn man zum ersten Mal trinkt. Möglichkeit eins: Erst einmal ein Gefühl dafür bekommen und sich selbst und seine Grenzen austesten. Möglichkeit zwei: Alles hinunterkippen was geht, bis es vorne doppelt und dreifach wieder herauskommt. Der Entschluss für eine dieser beiden Möglichkeiten fällt nicht mit dem dritten oder vierten Likör. Nein, dieser Entschluss fällt mit dem ersten. Und mein Entschluss fiel deutlich für Möglichkeit zwei aus. Das letzte, an das ich mich erinnern kann, war, wie ich über der Reling des Sportplatzes hänge und abkotze, was das Zeug hält. Zuvor war es schon ziemlich schwer gewesen, wenn ich aufstand, um im Wald meine Blase zu entleeren. Relativ schnell war das nur noch möglich, indem ich mich am nächsten Baum abstützte und vor mich hin pfiff. Keine Ahnung wieso, aber pfeifen hilft mir irgendwie immer, wenn mir schwindlig ist. Meine nächste Erinnerung ist, dass ich mit einem abscheulichen Gefühl in Mund, Bauch und Kopf in einem eiskalten Sportheim aufwache. In diesem Moment wollte ich sterben. Aber wenn ich daran zurückdenke, finde ich es irgendwie amüsant. Es war kein schönes Erlebnis und es ist auch nichts Bedeutsames passiert an dem Abend, außer dass ich mich zum ersten Mal königlich besoffen und danach übergeben habe, aber das als bedeutsam zu bezeichnen wäre vielleicht etwas überzogen. Aber trotzdem habe ich mir selbst diesen Abend irgendwie ausgesucht. Als den Beginn von etwas, von dem ich noch nicht einmal selbst weiß, was es ist und irgendeinen Grund muss das ja haben. Es fühlt sich beim Zurückdenken gut an, auch wenn die Übelkeit bei diesem guten Gefühl keine Beachtung findet. Ich erinnere mich einfach gerne an diesen Abend. Und irgendwie macht das diesen Abend bedeutsam. Auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wie er mit dem, was danach passiert ist, in Verbindung steht, er taucht doch als erster auf meiner Pinnwand auf und vielleicht nur deshalb, weil ich gern noch einmal dieses Gefühl haben wollte, welches ich an diesem lauen Sommerabend empfand, weil es ein schönes war. In derselben Nacht oder am Tag danach hätte ich mir sicher nicht ausmalen können, am Morgen nach meinem achtzehnten Geburtstag dazuliegen und wieder mit einem guten Gefühl über diese Nacht nachzudenken. Und was er mit dem ganzen großen Rest zu tun hat, ist mir in diesem Moment - ehrlich gesagt - ziemlich egal. Auch wenn die Art Party zu feiern sich geändert hat, die Getränke härter geworden sind und die Nächte länger, so kann ich sagen, dass ich vor ungefähr zweieinhalb Jahren am sechzehnten Geburtstag von Thommy, dem Bachelor, eine unvergessliche Nacht hatte. Das fühlt sich irgendwie gut an. Ich grinse. Schöne Wehmut. Die angebliche Krankheit meiner Generation.
Meine Beziehung zum Fußball war immer schon eine sehr besondere. Ich kann mich an keine längere Periode meines Lebens erinnern, während der ich nicht Fußball gespielt oder geschaut habe. Von Kindesbeinen an kickte ich, sah mir am Samstagnachmittag die Bundesligakonferenz an und diskutierte auf dem Schulhof über die schönste Nebensache der Welt. In den Sommerferien verging kein Tag, an dem ich nicht meinen Jungs zum Bolzplatz gezogen wäre und von morgens bis abends gekickt hätte. Wir waren die Messis und Ronaldos unserer Stadt, in jüngeren Jahren vielleicht noch die Ballacks, Beckhams und Zidanes, aber kein Tag verging ohne Lederkontakt, egal welches Wetter draußen war. Ich erinnere mich an eine ganz besonders intensive Schlacht, in einem prasselnden Gewitterregen, aus der meine Mannschaft als knapper Sieger hervorging. Auch heute noch spiele ich Fußball. Mein letztes Jahr in der Jugend neigt sich langsam dem Ende entgegen, aber wie alles im Leben ist auch der Fußball mit mir älter geworden und die epischen Schlachten auf dem Bolzplatz sind vorbei. Es war eine herrliche Zeit mit der einzigen Sorge, die Schmach einer Niederlage zu kassieren, was gleichbedeutend mit Unehrenhaftigkeit war, aber wenn ich daran zurückdenke, war es die wohl mithin glücklichste Zeit meiner Kindheit. Und rückblickend betrachtet bin ich sehr froh, ein Teil dieses Bolzplatzgefühls gewesen zu sein. Ich war und bin kein professioneller Kicker. Ich spiele für mein Leben gern, aber ich werde nie über den Status des Amateurs hinauskommen und irgendwie ist das einem auch mit dreizehn schon klar, aber auf diesem Schotterplatz mit den Toren ohne Netze und den Dornen dahinter, aus denen der Spieler, der den Ball weggeschossen hatte, ihn auch wieder holen musste, weil wie immer der „Schütze läuft“. Auf diesem Platz waren wir unsere eigenen Idole und Stars. Ich hoffe, dass dieses Gefühl für die, die noch kommen, bestehen bleibt, denn das gönne ich jedem, der schon einmal gegen einen Ball getreten hat und mir würde was fehlen, wenn ich mir hier jetzt darüber keine Gedanken machen könnte.
Seit der Grundschule war ich glühender Anhänger des FC Bayern, hatte es aber noch nie geschafft ins Stadion zu gehen, weil es immer eine Riesenentfernung nach München war und Karten für die Allianz Arena auch schwer zu bekommen sind. Ich verfolge jedes Spiel und bin auch von Herzen Bayern-Fan, aber wenn ich sage, dass ich mir meinen Verein nicht so richtig aussuchen konnte, dann steckt da wohl schon ein bisschen Wahrheit drin. Sowohl mein Vater als auch mein Opa und mein Onkel waren ebenfalls Anhänger der Münchner und somit wurde mir das Mia san Mia quasi mit der Muttermilch eingeflößt. Später sollte noch eine besondere Vorliebe zur Stadt entstehen, die mich bis heute prägt und begleitet. Zum Geburtstag bekam ich von meinen Eltern einmal ein komplettes Wochenende in München geschenkt, inklusive zweier Übernachtungen im Hotel Kempinski und Karten für ein Spiel der Bayern in der Allianz Arena. Es wurde langsam Frühling und der Wetterbericht für dieses Wochenende sah extrem gut aus. In München war ich schon einmal gewesen, aber das fühlte sich Jahrzehnte entfernt an und richtig erinnern konnte ich mich nicht mehr an die Stadt. Aus rein sportlicher Sicht betrachtet, war es eine ernüchternde Saison und sollte auch noch viel schlimmer kommen. Wir schrieben nämlich das Jahr 2012 und der große FC Bayern sollte in allen drei Wettbewerben jeweils auf der Zielgerade scheitern. Unvergessen bleibt für mich der wohl bitterste Moment meines ganzen Fandaseins: Das Finale dahoam 2012 als der FC Bayern im eigenen Stadion die Chance hatte, die Champions-League, den renommiertesten Klubwettbewerb der ganzen Welt zu gewinnen - als erstes deutsches Team seit 2001. Neunzig Minuten lang war man drückend überlegen und schaffte es schließlich durch Thomas Müller kurz vor Schluss in Führung zu gehen. Der lang ersehnte Triumph nachdem man eine Woche zuvor das Pokalfinale gegen den Rivalen Borussia Dortmund verloren hatte und zwei Wochen nachdem ebenfalls Borussia Dortmund die zweite Meisterschaft in Folge feiern konnte und Bayern auf Platz zwei in der Bundesliga verwies. Ich erinnere mich an den 19. Mai als wäre es gestern gewesen und noch heute zieht sich mein Magen zusammen, wenn ich an diese Nacht denke. Ich war mit Konstantin, den ich schon seit der Wiege kannte und der wie auch ich ein ebenso glühender Anhänger des Rekordmeisters war, mittags schon ein bisschen Kicken gegangen, um mich auf den Abend einzustimmen. Die Ausgangssituation war eindeutig: Unser FC Bayern war favorisiert, da beim Gegner aus England, dem FC Chelsea, wichtige Stammkräfte wie beispielsweise Abwehrchef John Terry aufgrund von Sperren fehlten. Für uns war klar, dass nur durch einen Triumph in der Königsklasse die Schmach, in zwei Wettbewerben vom BVB demontiert worden zu sein, wettzumachen war. Außerdem verbreitete die Champions League eine so eigene und spezielle Atmosphäre, dass uns dieser Wettbewerb schon von Kindesbeinen an elektrisiert hatte. Hinzu kam natürlich noch der Umstand, dass der FC Bayern die Möglichkeit hatte in seinem eigenen Stadion, in seinem Wohnzimmer, den Triumph zu feiern - und das sollte doch eine Extraportion Motivation frei machen, wenn das überhaupt nötig ist in so einem Spiel. Während drinnen die Vorberichterstattung lief und sich verschiedene Experten, wie beispielsweise Bayern-Legende Franz Beckenbauer, deren Äußerungen in der Vorberichterstattung allesamt sehr optimistisch für unseren FCB ausfielen, grillten wir bei meinem Kumpel im Garten und tranken Radler. Während die Sonne langsam unterging und die Mannschaften endlich aufs Feld liefen, konnte ich mich vor Aufregung kaum noch zurückhalten. Der brutzelnde Grill, die sommerliche Atmosphäre, das alles hatte etwas Besonders an sich und es fühlte sich in diesem Moment so an, als würde es eine magische und unvergessliche Nacht werden. Wurde es auch. Aber in diesem Moment lag das was noch kommen würde weit außerhalb meiner Vorstellungskraft und selbst wenn ich heute darüber nachdenke, kann ich immer noch nicht begreifen, dass es wirklich so abgelaufen ist. Die Bayern waren von Beginn an klar überlegen und vergaben klarste Chancen. Mario Gomez, der Inbegriff eines Stoßstürmers und eiskalten Torjägers, vergab klarste Tormöglichkeiten kläglich. Die Taktik von Chelsea war auch nicht schwer zu durchschauen. Solange wie möglich ein 0:0 halten und dann irgendwie vorne Didier Drogba, den Stoßstürmer von der Elfenbeinküste, einsetzen. Drogba besaß eine unfassbare Physis und konnte aus allen Lagen Tore erzielen. Wenn ich ehrlich bin, konnte ich mir nach der ersten Halbzeit nicht vorstellen, dass an diesem Abend irgendetwas schiefgehen konnte. Es war eine sternenklare Nacht, es roch nach Sommer, die Bayern waren klar überlegen, Chelsea hatte nicht den Hauch einer Chance, Bayern spielte im eigenen Stadion und der einzige Spieler der Blues vor dem ich wirklichen Respekt hatte, verbreitete vorne bisher noch kein Fünkchen Torgefährlichkeit. Dennoch mussten wir bis zur 83. Minute warten, ehe Thomas Müller, der Urbayer, uns erlöste und den FCB rechtmäßig in Führung brachte. Wir schrieen auf, rannten in den Garten, jubelten, jauchzten unsere Freude hinaus, umarmten uns und hüpften im Kreis. Als wir wieder reingingen, konnte ich mich nicht hinsetzen, ich war viel zu nervös und lehnte mich deshalb an die Tür, um von dort den Rest des Spiels zu verfolgen. Ich ging auf und ab, nuckelte hin und wieder an meinem Bier, während mein Kumpel mit seinem Bein wippend auf der Couch saß und stoisch in den Fernseher blickte. Innerlich bereitete ich mich schon auf die Siegesfeier vor und versuchte zu begreifen, was für ein wahnsinniger Erfolg das war, den wir da heute feiern würden und wie glücklich mich das machen würde, doch in diesem Moment konnte ich das noch nicht realisieren. Mein Verein würde gewinnen, daran gab es keinen Zweifel, aber das Ausmaß war mir noch nicht klar und so beschäftigte ich mich eher damit als über mögliche Wendungen im Spiel nachzudenken. Zu dominant war man heute aufgetreten. Zu schwach und ideenlos schien der FC Chelsea an diesem Abend. Um 23.31 Uhr bekamen die Blues ihren ersten Eckball in der Partie. Bayern hatte davor sechzehn Eckbälle ohne Erfolg ausgeführt. Zwei Minuten vor Ende der Partie sehe ich, wie der ausführende Schütze Juan Mata an- und gleichzeitig Didier Drogba ohne Gegenspieler in den Sechzehner läuft. Didier Drogba, vier Jahre zuvor im Champions League Finale mit Rot vom Platz geflogen, das ganze Spiel nicht zu sehen, hatte wahrscheinlich seitdem nur auf diesen einen Moment gewartet. Er wuchtete den Ball mit einer Gnadenlosigkeit unter die Latte, die mir einen Schauer über den Rücken laufen ließ. Ich hatte immer Leute von einer lauten Stille reden hören. Jetzt wusste ich, was damit gemeint war. In der AllianzArena hörte man die Blues-Anhänger, Galaxien entfernt jubeln. Im Wohnzimmer der Baumgartens hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Konstantin blickte weiter stoisch in den Fernseher, hatte aber aufgehört mit dem Bein zu wippen. Ich bemerkte, dass mein Mund leicht und ungläubig geöffnet war. Es ging in die Verlängerung. Hatte ich mich vor drei Minuten noch damit beschäftigt, wie man solch einen Triumph angemessen feierte, war jetzt zum ersten Mal an diesem Abend der Zeitpunkt gekommen, an dem ich zu zweifeln begann. Und das ist kein schönes Gefühl. Die fünfzehn Minuten Verlängerung waren mit die längsten meines Lebens und je mehr Zeit verstrich, umso nervöser und unsicherer wurde ich. Dieses Gefühl schien sich kurz in Luft auszulösen, als Pedro Proenca, der portugiesische Referee, Elfmeter für die Bayern gab. Das Finale dahoam schien doch noch einmal gerettet zu werden. Es war ein klarer Elfmeter, da gab es keinen Zweifel und Konstantin hatte zum ersten Mal seit dem Führungstreffer durch Thomas Müller, der sich mittlerweile Jahrhunderte entfernt anfühlte, seine Sitzposition verlassen und stand nun mit hinter dem Kopf gefalteten Händen vor dem Sofa. „Nicht Robben, nicht Robben“, murmelte er immer wieder vor sich hin und ich wusste sofort was er meinte. Arjen Robben, wichtiger Bestandteil der Bayern-Elf hatte im entscheidenden Spiel der Rückrunde in Dortmund einen wichtigen Elfmeter für die Bayern verschossen. Auch damals stand das Spiel auf der Kippe und hätte Robben getroffen, wäre die Meisterschaft vielleicht ganz anders ausgegangen. Aber das zählte jetzt nicht mehr. Bei seinem Anlauf hielt ich den Atem an. Damals hatte er - vom Schützen aus gesehen - nach rechts unten gezielt. Das war der letzte Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, ehe die Nummer zehn gegen die Kugel trat. Wieder rechts unten. Cech, Keeper der Blues, hatte das Eck - und hielt den Ball fest. Ich ging raus in den Garten und ließ einen Verzweiflungsschrei hören. Als ich zurückkam, stand Konstantin immer noch unverändert vor dem Sofa und fixierte die Decke. War ich mir vor einer Viertelstunde noch sicher, dass nichts mehr schiefgehen konnte, hatte ich jetzt das Gefühl, dass gar nichts mehr für meine Mannschaft sprach. Und das Zweifeln war wieder da. Und das Zweifeln lässt dich nicht einfach nur wissen, dass es schlecht ausgehen wird. In irgendeinem Teil deines Gehirns lässt es noch ein Fünkchen Resthoffnung, der sich nicht erfüllen wird, aber der, wenn es endgültig vorbei ist, dir den letzten Rest gibt. Es kam wie es kommen musste: Showdown im Elfmeterschießen. Nachdem Schweinsteiger, ausgerechnet Schweinsteiger, der im Halbfinale noch den entscheidenden Elfmeter gegen Real Madrid, gegen die Königlichen, eiskalt verwandelt hatte, die Nerven versagten, musste der folgende Schütze der Londoner treffen, dann hätte Chelsea die Champions League 2012 gewonnen. Ich sah es beim Anlauf in Didiers Augen, dass er sich das nicht nehmen lassen würde. Vier Jahre lang hatte er gewartet. Und nun würde er, wie ein Skorpion zustechen, allen Bayern mitten ins Herz. Seinen Jubellauf durch die Allianz Arena sah ich nur noch verschwommen. An diesem Abend ist etwas in mir kaputtgegangen und es hat lange gedauert, bis ich diesen Moment wirklich aufarbeiten konnte. Das letzte Mal, dass ich so eine Leere nach einem Fußballspiel fühlte, war nach der WM 2006, als Deutschland im Halbfinale gegen Italien rausgeflogen ist, aber rückblickend kann ich jetzt dazu sagen, dass die Zeit für einen WM-Titel damals für Deutschland noch nicht reif und Italien wirklich die bessere Mannschaft war. Aber dieses Spiel, dieses Finale im eigenen Stadion, indem man solange dominant und überlegen war, solange den Ton angab, Chancen hatte, einen Elfmeter verschoss, kurz vor Schluss mit dem ersten Eckball den Ausgleich kassierte, dieses Spiel bereitete mir noch lange Magenschmerzen, die sich erst 2013 mit Wembley wirklich vollständig aufgelöst hatten.
Als ich im Frühling meinen Koffer packte, um ein Wochenende in der Stadt meines Vereines zu verbringen, wusste ich noch nichts von der im Mai bevorstehenden Schmach und der bitteren Pille, die ich als Fan zu schlucken haben würde. Man war in allen drei Wettbewerben noch sehr gut dabei und selbst ein Triple war nicht ausgeschlossen. Ich war extrem aufgeregt, endlich mal die Allianz Arena live miterleben zu dürfen und konnte in der Nacht vor der Reise vor lauter Aufregung nicht einschlafen. Das holte ich aber dann auf den fünf Stunden Fahrt in die Hauptstadt Bayerns nach. Eine längere Autofahrt wirkt auf mich immer wie eine Art Betäubungsmittel und das ist keine Übertreibung. Die fünf Stunden, die ich alleine auf der Fahrt nach München, durchgeschlafen habe, waren nichts im Vergleich zu meinem längsten Marathon-Nickerchen. Unvergessen und nie mehr erreicht war mein 14-Stunden-Schlaf während der Fahrt nach Barcelona. Während meine Eltern zwischendurch fünfmal Rast machten, sogar eine Stunde zu Mittag aßen und mich dabei im Auto ließen, zweieinhalb Stunden im Stau standen und meine ganzen Naschvorräte, die ich von meiner Oma für die Fahrt geschenkt bekommen hatte, verzehrten, schlief ich seelenruhig auf der Rückbank und schlug erst wieder die Augen auf, als wir das Ortsschild von Barcelona passierten. Viele Erklärungsversuche, von der Vermutung, dass die Rückbank einfach zu bequem sei, was, wie ich aus eigener Erfahrung berichten konnte, sicherlich nicht der Fall war, bis zur Unterstellung, ich hätte eine seltene Schlafkrankheit, woraufhin mich sogar ein Arzt nach beharrlichem Drängen meiner Mutter untersuchte, stellten sich als Fehleinschätzungen heraus und irgendwann akzeptierten meine Eltern, dass ich sobald mein Vater auf die Autobahn auffuhr, in einen komatösen Tiefschlaf versetzt wurde, der solange anhielt, bis das angepeilte Ziel erreicht wurde. Ich persönlich sah es als Gabe an, langweilige und zermürbende Autofahrten mit einem kleinen oder im Falle Barcelona auch größeren Nickerchen überbrücken zu können. Ein weiterer positiver Nebeneffekt war, dass ich nach längeren Fahrten ausgeruht und fit wie ein Turnschuh war, während meine Eltern den ersten Tag jeder Reise damit verplemperten, sich von der langen und kräftezehrenden Fahrt zu erholen. Aber in München würde das nicht laufen. Nicht mit mir. Das hatte ich ihnen schon klargemacht. Wir hatten nur ein Wochenende und an dem wollte ich alles erleben, was es in München nur zu erleben gab. Außerdem hatte ich ihre Besorgnis über meinen ungewöhnlichen Schlafrhythmus, sobald eine Reise anstand, sowieso noch nie verstanden. Während andere Kinder permanent unruhig in ihrem Kindersitz hin und her rutschen und alle fünf Minuten die berühmt berüchtigte Frage Wann sind wir da? quengelten, war ich stets ein sehr ruhiger Begleiter und stellte meine Erzieher nie vor eine nervliche Zerreißprobe, worüber andere Eltern froh gewesen wären, aber wie man es als Kind macht, macht man es verkehrt. Das ist bitterer Fakt. Ich wachte indem Moment auf, indem man aus dem Autofenster von der Autobahn aus schon die Allianz Arena sehen konnte und ich brauchte einige Augenblicke, um zu realisieren, dass ich nicht mehr schlief und das hier kein Traum war, sondern dass ich inzwischen aufgewacht war und nun das gigantische Rund und die ganze Aura dieses Stadions miterleben durfte - war es auch nur für einige Momente und aus beträchtlicher Entfernung. Nachdem wir sie passiert hatten, verrenkte ich mir noch lange den Hals, um sie nicht aus meinem Blickfeld zu verlieren. „Na, ausgeschlafen?“, fragte meine Mutter und grinste mich vom Beifahrersitz aus verschmitzt an. Ich nickte verschlafen und rieb mir die Augen. Auf dem Weg zu unserem Hotel, das Kempinski Hotel Airport München, fuhren wir am Herz einer jeden Großstadt, dem Flughafen, vorbei. Dass unser Hotel quasi zum Flughafen dazugehörte fand ich besonders spannend, da Flughäfen mich von je her faszinierten. Sie strahlen eine Freiheit und Vielfältigkeit aus, die einem die komplette Welt greifbar und erreichbar machte. Leute aus aller Herrenländer und Kulturen, die vor ein paar Stunden noch am anderen Ende der Welt verweilten, tummelten sich plötzlich tausende Kilometer von ihrer Heimat weg und es ist scheinbar das Normalste der Welt. Dieses Gefühl faszinierte mich irgendwie und während meine Eltern noch auspackten, machte ich mich direkt auf den Weg zur Besucherterrasse, von der aus man einen guten Blick auf die Start- und Landebahn hatte. Ich stand mindestens eine halbe Stunde lang einfach nur so da und beobachtete, wie eine Maschine nach der anderen abhob. Die eine vielleicht nach Los Angeles, die nächste wiederum vielleicht nach Johannesburg. Während ich weiter durch den Flughafen streifte und das geschäftige Treiben der Menschen genoss, die sich bald alle mit ihren Koffern und Taschen irgendwo in der Welt zerstreuen würden, faszinierte mich vor allem die große Videoleinwand, auf der die Informationen über die Abflüge und Ankünfte eingeblendet wurden. Und als ich so dastand und mein Blick von New York nach Singapur schweifte, bekam ich diese Lust, die mich seitdem immer an Flughäfen überkommt: Am liebsten in den nächsten Flieger steigen und einfach ganz weit wegfliegen. Vielleicht hätte ein Flugzeug sogar denselben Effekt auf mich wie ein Auto und im Handumdrehen wäre ich in den USA. Auch als ich den Terminal zurück in Richtung des Hotels verließ, blieb das Gefühl und vermischte sich mit der Vorfreude auf die Stadt, in der ich gerade war. Ich stellte mir vor, wie irgendein anderer gerade am anderen Ende der Welt stand, auf so eine Tafel blickte und dachte, wie toll es jetzt wäre, einfach mal nach München zu fliegen und ich selbst war in München, in dieser Weltstadt. Ich fühlte mich als Teil davon und als ich die Hotelhalle mit den in die Höhe ragenden Palmen, die fast die Decke zu berühren schienen, betrat, während beschäftigt wirkende Geschäftsleute in den roten Lounge-Sessel saßen, die New York Times lasen und Espressi tranken, verstärkte sich dieser Eindruck noch. Ich machte es mir in einem der Sessel gemütlich, tat so als würde ich geschäftig die sich ständig aktualisierenden Ankunft- und Abflugzeiten studieren und wartete auf meine Eltern, die sich auf unserem Zimmer noch schnell für unseren Trip in die Innenstadt frisch machten. Es dauerte nicht lange, bis eine charmante junge Dame von der Bar aus zu mir geschwebt war und mich mit ihrem schönsten Zahnpastalächeln fragte, ob ich denn gerne etwas zu trinken hätte. Wenn ich charmante junge Dame sage, meine ich, dass sie verdammt heiß war. Ich blickte sie einen Moment perplex an, lehnte dann jedoch dankend ab. Sie schwebte zurück zur Bar, hatte offenbar gemerkt, dass ich ihr nachgesehen hatte und grinste noch einmal. Schade, ich hätte zu gerne was bei ihr bestellt, irgendwas um verdammt cool und seriös zu wirken. Vielleicht einen Martini, geschüttelt, nicht gerührt, à la James Bond. Oder einen alten Whiskey - schön lässig. Sie war zwar gut und gerne fünf Jahre älter als ich, aber dieser Umstand hinderte mich nicht daran, München immer besser zu finden. Und die eigentliche Stadt hatte ich noch gar nicht gesehen. Meine Eltern ließen jedoch nicht lange auf sich warten. Der Plan war, heute ein bisschen die Innenstadt zu erkunden, was für meine Mutter hieß: Eine Boutique nach der anderen unsicher machen. Für mich und meinen Vater hieß es, mein Erspartes im FCB-Fanshop auf den Kopf zu hauen, danach in irgendeinem großen Biergarten Weißbier zu trinken und schön deftig zu essen- typisch bayrisch eben. Wir fuhren mit dem Auto zu einem der Park&Ride-Plätze, die überall im Großraum München verteilt waren und von denen man bequem mit den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Innenstadt fahren konnte, in der die Chance, einen Parkplatz zu finden, ungefähr so hoch war, wie eine WM-Teilnahme von San Marino. Mein Vater hatte geplant am Park&Ride im Münchner Vorort Daglfingen den Wagen abzustellen, von wo es gerade einmal zwei S-Bahn Stationen zum Marienplatz waren. Während wir durch Daglfingen fuhren, kam mir der Gedanke, dass, wenn ich vorher ein bisschen eingedöst wäre, ich hätte denken können, dass wir München verlassen hatten und durch eine mittlere Kleinstadt in irgendeinem beschaulichen Landkreis fahren würden. Kleine, beschauliche Anwesen mit gepflegten Vorgärten und einer Doppelgarage. Kinder im Grundschulalter, die Roller und Fahrrad fuhren. Ein paar Jugendliche, die eventuell so alt waren wie ich, saßen an einem Kiosk in Strandstühle, solche, wie man sie von der Nord- oder Ostsee kennt, ließen sich die Sonne auf den Pelz scheinen und tranken Bier aus Dosen. Es war Freitagnachmittag. Wenn ich hier wohnen würde, wäre ich einem ähnlichen Start ins Wochenende nicht abgeneigt. Nichts deutete darauf hin, dass sich nur zwei S-Bahn Stationen weiter das Zentrum einer Millionenstadt befand. Es hätte gut und gerne einen Ort von meiner öden Kleinstadt entfernt sein können - es wäre mir nicht aufgefallen. Aber irgendwie, dachte ich, während ich an der S-Bahn Station saß und auf der anderen Seite des Gleises einen Mann erblickte, der neue Plakate an einer riesigen Werbetafel anbrachte, irgendwie machte das gerade dieses Fleckchen aus. Daglfingen war halt nicht in irgendeinem unbekannten Landkreis, mehrere Autostunden von München entfernt. Es lag mitten in München, tagsüber am Kiosk in der Sonne relaxen und abends zwei S-Bahn Stationen in die Innenstadt – dahin, wo die Action stattfand. Nicht schlecht. Die S-Bahn kam und spätestens dann wurde mir noch einmal klar, dass ich zum Glück nicht zu Hause, sondern in einer pulsierenden Metropole war. Männer in Anzügen und einem Macbook auf dem Schoß, sprachen in fast akzentfreiem Englisch mit anscheinend niemandem, bis ich bemerkte, dass der eine ein Headset im Ohr hatte. Eine Frau las Zeitung, eine andere hörte Musik. Ein Junkie in zerrissener Hose, Nietengürtel und oberkörperfrei schniefte permanent - wahrscheinlich Koks. Arme Socke. Aber die Möglichkeit hier auf die schiefe Bahn zu geraten, war wahrscheinlich höher als auf dem Land. Und in gewisser Weise gehörte auch dies leider zum Charakter einer Weltstadt dazu. In jedem Bahnhof, in den die Bahn einfuhr, drängelten sich mindestens hundert Leute - die einen Richtung Ausgang, die anderen Richtung Bahn. Während meiner Mutter das hektische Treiben nicht so gefiel, fand ich es ja irgendwie spannend. Das alles war so fremd für mich und für diese ganzen Leute doch so normal, dass ich mich in gewisser Weise unwohl fühlte, weil ich nicht wusste, ob man mir diese Unwissenheit ansah. Der Dorftrottel in der großen Stadt. Das würde doch jedem auffallen. Es war als würde es auf meiner Stirn stehen. Aber auf der anderen Seite, fand ich es so toll, ein Teil dieses Ganzen zu sein, dass das unwohle Gefühl sich ziemlich schnell in ein unbekümmertes und fasziniertes verwandelte. An der Haltestelle zum Marienplatz kam die Hektik dann zum Höhepunkt. Aber irgendwie hat Hektik so einen negativen Touch - ähnlich wie Melancholie oder Wehmut, deshalb nenne ich es auch einfach hier schöne Hektik. Für mich war es so. Menschenmassen, die einerseits in die Züge, andererseits zu den zahlreichen Ausgängen strömten, ein Stimmengewirr, gemischt mit dem hallenden Geräusch einfahrender und ausfahrender Züge, ich mittendrin, durchschlendernd, auf der Rolltreppe nach oben, das alles noch einmal beobachtend und festhaltend, was für die anderen stupider Alltag war. Eine echt schöne Hektik