Ökumene um jeden Preis? - Gerson Raabe - E-Book

Ökumene um jeden Preis? E-Book

Gerson Raabe

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Beschreibung

In einer Zeit, in der die großen Konfessionen händchenhaltend über den Kirchentag schreiten, ökumenische Stellungnahmen den öffentlichen Diskurs jedoch kaum noch zu befördern vermögen, stellt der Münchner Pfarrer Gerson Raabe eine radikale Diagnose: Die große Koalition der Kirchen hat versagt. Die deutsche Ökumene, einst der Motor kirchlichen und religiösen Lebens vor Ort, hat den Geist aufgegeben. Ökumene erschöpft sich zunehmend in nichtssagenden Absichtserklärungen. Raabe stellt die provokante Frage: Ist das Christentum so in die Defensive geraten, dass wir von Unterschieden nichts mehr wissen wollen? Dass die Grenze nicht mehr zwischen den Konfessionen, sondern nur noch zwischen Christen und Atheisten gezogen werden kann? Der Autor ist überzeugt: Wer konfessionelles Hintergrundwissen für bedeutungslos erklärt, der verwischt das protestantische Profil, der egalisiert, vergleichgültigt und schafft einen christlichen Einheitsbrei, der schließlich niemandem mehr geistige Nahrung bietet.

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Copyright © Claudius Verlag, München 2018

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt, München

Layout: Mario Moths, Marl

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-532-60038-2

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: Krise der Ökumene oder Ökumene der Profile?

1. Probleme der Ökumene aus protestantischer Perspektive

Die Kirchen und die Öffentlichkeit: Anspruch und Wirklichkeit

Kirche der Pluralität, Kirche der Meinungsvielfalt

Ökumene als Komplexitätsreduzierung?

Die Kirchen im Bedeutungsschwund

Christentum und Religion außerhalb der Kirchen

Zwischenbilanz

2. Vier Aspekte eines evangelischen Profils

Zum Verständnis religiöser Gleichheit

Luthers Entdeckung des religiösen Gleichheitsgedankens

Das Amt der Pfarrerin oder des Pfarrers und die religiöse Gleichheit – ein Widerspruch?

Selbstverantworteter Glaube

Religiöse Gleichheit im Blick auf die katholische Kirche

Haupt- und Ehrenamt vor dem Hintergrund religiöser Gleichheit

Zum Verständnis der Kirche

Zum katholischen Kirchenverständnis

Sichtbare und unsichtbare Kirche

Evangelische Kirche als Kirche der Freiheit

Volkskirche

Ortskirchengemeinde

Kirchliches Selbstverständnis und Ökumene

Zum Verständnis des Glaubens

Luthers Entdeckung der religiösen Subjektivität als Ausgangspunkt für ein evangelisches Verständnis des Glaubens

Evangelische Ausdrucksgestalten des Glaubens

Wandlungen der evangelischen Glaubenspraxis seit der Reformation

Zum katholischen Verständnis des Glaubens

Katholische Ausdrucksgestalten des Glaubens

Zum Verständnis der Religion

Religion als Gewissensreligion

Zur Aktualität von Luthers Verständnis des Gewissens

Luthers Verständnis des Gewissens und die katholische Kirche

Luthers Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche aus heutiger Sicht

3. Volkskirche mit protestantischem Profil

Die Schwellensituationen des Lebens

Gottesdienst, Andacht und Gebet

Kirche, Kultur und Bildung

Die Kirche und die Stationen des Lebens

4. Plädoyer für eine Ökumene der Profile

Innerevangelische Ökumene

Interreligiöse Ökumene

Konfessionelle Ökumene

Anmerkungen

VORWORT: KRISE DER ÖKUMENE ODER ÖKUMENE DER PROFILE?

Es ist merkwürdig still geworden um das, was noch bis vor kurzem ein mitunter emsiger Motor kirchlichen und religiösen Lebens vor Ort war – die vielfältigen und fleißigen ökumenischen Basisgruppen. Es brummte und summte in den Gesprächskreisen konfessionsverschiedener Ehepaare, in gemeinsamen Lektürekreisen, bei liturgischen Feiern und Wallfahrten. Vom Friedensgebet bis zum gemeinsamen Kochen – in der Ökumene vor Ort pulsierte das kirchengemeindliche Leben. Jedenfalls galt dies für die Ökumene zwischen den beiden großen Konfessionskirchen, der katholischen und der evangelischen. Um sie soll es in dem vorliegenden Band gehen, der sich als ein Traktat versteht und zwar im unmittelbaren Sinn des Wortes als „religiöse Flugschrift“, die als „Streitschrift“ verfasst ist.

In nicht wenigen Fällen hatten die ökumenischen Arbeitskreise vor Ort gar die Funktion von kirchlichen Aufsichtsräten. Alles gemeindliche Leben – hier wie dort – stand mit ihnen in Verbindung. Sie koordinierten und organisierten, sie hoben manches besonders hervor und sorgten auch dafür, dass anderes eher im Hintergrund blieb. Vor allem galt es, das Geschehen zu zertifizieren: Nur das sollte realisiert werden, was ökumenisch veranstaltet werden, was mit dem ökumenischen Geist in Einklang gebracht werden konnte. Die Ökumene vor Ort war das Maß aller Dinge.

In einigen Fällen sind diese ökumenischen Organisationszentralen krachend implodiert. Es kam zu Zerwürfnissen auf beiden Seiten. Im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts war es katholischerseits mancherorts zu Aufweichungen bei der Praxis der Eucharistiefeier gekommen. Vor allem auf Drängen konfessionsverschiedener Ehepaare wurde hier und da die Teilnahme des konfessionellen Partners der „anderen Seite“ stillschweigend geduldet. Doch dann kam von römischer Seite die harsche Erinnerung an kirchenrechtlich zementierte Ausschlussformeln. Gelegentlich führte diese Entwicklung auch zu einem geräuschlosen Traditionsabbruch – Ökumene und keinen interessiert’s. Enttäuscht wandten sich die Menschen, die gerade über die gemeinsame Feier des Mahles Hoffnung geschöpft hatten, wieder von der Kirche, von den Kirchen ab.

Wo es vor noch nicht allzu langer Zeit schnurrte und tickte, da sind die Menschen heute ziemlich schnell vor allem eines: genervt. Was soll das mit diesem Hickhack, das ohnehin – wenn überhaupt – nur ausgesuchte Spezialisten verstehen? Otto Normalverbraucher kann mit diesen Debatten schon längst nichts mehr anfangen. Und so oder so haben wir heute doch ganz andere Probleme als diese Diskussionen über Ewiggestriges, und dann auch noch in puncto Religion, womit man heute niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockt.

Immer wieder wird in unseren Tagen auch darauf verwiesen, dass sich religiöses Wissen im freien Fall befinde. Erschreckend sind die Ergebnisse der Umfragen, was denn Pfingsten oder gar der Buß- und Bettag bedeuten. Selbst Weihnachten und Ostern sind in Gefahr geraten. So hörte ich unlängst auf einem Weihnachtsmarkt, wie einer eine andere fragte, warum der Adventskranz eigentlich nicht sechs Kerzen haben könne. Das Wissen in Sachen Religion erodiert dramatisch. Trotzdem schätzen wir uns im Vergleich etwa mit dem laizistischen Frankreich noch glücklich. Muss man nicht dankbar sein für das Wenige, das bei uns noch in einer gewissen Selbstverständlichkeit vorhanden ist? Ist angesichts dieser Misere eine kritische Rückfrage nach dem, was die beiden Großkonfessionen voneinander unterscheidet, nicht Frevel?

Unlängst war ich bei der Verabschiedung eines katholischen Kollegen in den Ruhestand. Ohne jemandem zu nahe zu treten: Es war eine ziemlich bombastische Inszenierung. Mehrere Dutzend Ministranten, zahlreiche Ortsvereine (u.a. Feuerwehr, Schützen, Kaninchenzüchter) mit ihren stattlichen Fahnen, der Gemeinderat, die Kirchenverwaltung, die Pfarrer, auch die evangelischen, und was weiß ich noch alles zogen in einem schier endlos scheinenden Tross in weihrauchgeschwängerter Luft in die Kirche ein – eine für die, die so etwas mögen, gewaltige Inszenierung.

„Endlich habe ich einmal Kirche erlebt, wie sie sein soll!“, meinte eine Bekannte nach dem Spektakel zu mir. Endlich war Kirche einmal richtig zeitgemäß, so diese Einschätzung. Nichts war mehr zu sehen von diesen völlig überflüssigen konfessionellen Unterschieden – eine große Inszenierung, die allen gleichermaßen ans Herz ging. Die konfessionellen Spezifika, die das Salz in der Suppe sind, wurden einem konturlosen Einheitsgetue geopfert. Als das Lied „Großer Gott, wir loben Dich“ – mit Pauken unterlegt – gesungen wurde, habe ich gestandene Mannsbilder weinen sehen. „Grad schee war’s!“ Der Kabarettist Christian Springer hat unlängst gesagt, dass man in Bayern katholisch sei, „weil’s grad schee is“.

Mir persönlich war ehrlich gesagt ziemlich unwohl – eine große Inszenierung, am katholischen Ritus orientiert. Aber durch die Anwesenheit zweier evangelischer Pfarrer und durch mehr oder weniger frei formulierte liturgische Texte war es dann doch nicht so wirklich katholisch, sondern irgendwie von beidem etwas und damit nicht das eine und letztlich auch nicht das andere. Mir war nicht wohl bei der Sache.

Ich glaube, es gibt einen Trend: Was soll das noch mit den Konfessionen? Bereits vor Jahren forderte der damalige bayerische Landesbischof Johannes Friedrich (evangelisch), dass sich die evangelische Kirche mit der katholischen zusammentun und den Papst als Sprecher der gesamten Christenheit akzeptieren solle. Männer wie Roman Herzog und Herbert Riehl-Heyse stimmten mit ein. Ich erinnere mich dunkel, dass später auch ein so bezeichnetes „Ökumenepapier“ lanciert wurde, das selbst der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammert – und ich glaube sogar Richard von Weizäcker – unterschrieben haben sollen.

Heinrich Bedford-Strohm und Reinhard Marx auf Kuschelkurs am Tempelberg: Übertreiben wir es nicht mit der „GroKo“, mit der großen Koalition in Sachen Religion und Kirche? Die Stimmen mehren sich, hier wie dort: Können wir angesichts nach wie vor vorhandener Grundunterschiede so tun, als könnte zusammenwachsen, was zusammengehört? Und umgekehrt: Gehört tatsächlich zusammen, was zusammenwachsen soll? Können wir Evangelischen etwa von Luthers Entdeckung des Priestertums aller Gläubigen einfach so absehen und uns einem hierarchischen Kirchenverständnis anschließen, in dem der Priester Mittler zwischen der Sphäre des Heiligen und der des Profanen ist?

Die Lage wird auch dadurch nicht einfacher, dass – ebenfalls hier wie dort – nicht wenige Religionsprofessionelle der Großkonfessionen geradezu neidisch auf „die Anderen“ schielen. Kirchenleitende Funktionäre werden ganz blass, wie widerstandslos bei der konfessionellen Schwesterkirche Anweisungen durchzusetzen sind, weil die straffe Hierarchie keine problematisierenden und vor allem ermüdenden Diskussionsschleifen vorsieht. Und allzu gerne würde sich manche evangelische Kollegin, mancher evangelischer Kollege mit einer Aura priesterlicher Würde umgeben. Stola und Albe sollen dabei mithelfen. Und umgekehrt lässt der lockere, plurale und erfahrungsoffene Umgang mit den ehrwürdigen Beständen einer eindrucksvollen zweitausendjährigen Religion durchaus Neid aufkommen.

Anders gefragt: Ist uns das Profil, dass der Protestantismus in pointierter Weise die Religion der Freiheit ist, gleichgültig geworden? Können wir auf die These von der unsichtbaren Kirche als wahrer Kirche und damit auf die Einsicht eines Christentums außerhalb der Kirche verzichten? Wie ist das mit der Entdeckung, dass jeder seinem Gewissen verantwortlich ist? Vieles mehr ließe sich hier anführen, selbstverständlich auch für die Schwesterkirche.

Oder sehen wir das Christentum so sehr in die Defensive geraten, dass wir von Unterschieden nichts mehr wissen wollen? Veranlasst uns das Minderheitenbewusstsein dazu, die Grenze zwischen den Konfessionen beflissentlich zu übersehen, um sie umso dramatischer zwischen Christen und Atheisten zu verifizieren? Und geraten uns bei diesem Schubladendenken nicht diejenigen aus dem Blick, die ihr Christentum in einer gewissen Distanz zur verfassten Kirche leben, sich aber sehr wohl als evangelisch oder katholisch verstehen? Werden sie nicht unter Generalverdacht gestellt, so richtig jedenfalls nicht dazuzugehören? Verengen wir die Perspektive nicht Zug um Zug auf das, was man Kerngemeinde nennt? Doch nicht die Kerngemeinde, sondern ganz bestimmte Grundeinsichten sind es, die die jeweiligen Konfessionen prägen und unverwechselbar sein lassen.

Wenn überhaupt, dann scheint gegenwärtig eine Ökumene der Profile Sinn zu machen. Das Wissen um die Profile der jeweiligen Konfessionen nenne ich Hintergrundwissen. Es weiß etwa um die Unterschiede beim Verständnis des Abendmahles. Es weiß um die Entwicklung, die zur Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes führte. Es weiß um die Unterschiede, die Gegensätze und auch das Verbindende.

Wer Hintergrundwissen für bedeutungslos erklärt, der verwischt das Profil, und wer Profile unkenntlich macht, der egalisiert, der vergleichgültigt, der rührt eine fade Einheitssoße zurecht, die niemandem Nahrung bietet. Doch wir brauchen dieses Hintergrundwissen, um zu verstehen, warum etwas ist, wie es ist, und warum etwas geworden ist, wie es ist.

Um Heil und Segen in Anspruch zu nehmen, brauche ich dieses Hintergrundwissen nicht. Das ist wie mit der Technik: Um Strom zu nutzen, muss ich nicht um die unterschiedlichsten Weisen der Stromerzeugung wissen. Der Strom kommt aus der Steckdose. Um Auto fahren zu können, muss mir der Unterschied zwischen Diesel und Benziner nicht bis in die letzten Details klar sein. Aber wenn ich verstehen will, kann ich nicht sagen: Hauptsache Autofahren.

Menschen mit Hintergrundwissen sind Menschen, die eher keinen Mehrheiten angehören. Es sind die Minderheiten, die über Hintergrundwissen verfügen. Das kann auch als unangenehm empfunden werden, denn in der Regel wollen wir zu den Mehrheiten gehören. Und so kann es geschehen, dass wir meinen, mit denen auftreten zu müssen, die Hintergrundwissen für unwichtig halten.

Wir können das über Konfessionsgrenzen hinaus ausweiten. Wenn wir die These aufnehmen, dass es den Religionen im Wesentlichen darum geht, das Heil für die Menschen zu befördern und so Humanität realisieren, wahren und sichern zu wollen, dann kann vor allem hinsichtlich der Verantwortung für das Humane ein religionsübergreifender Konsens festgehalten werden. Leider werden Religionen aber auch immer wieder missbraucht, vorzugsweise von politischen Ideologien, wie der Islam etwa vom sogenannten Islamischen Staat. Wer verstehen will, wer Hintergrundwissen haben will, der muss also in die Tiefe gehen, differenzieren und analysieren, und darf nicht bei ideologischen Verkürzungen stehenbleiben.

Viele, viele Menschen sind müde geworden an der Komplexität unserer Wirklichkeit. Sie sind es leid, sich immer und immer wieder neu an der Unübersichtlichkeit unserer Lebenswirklichkeiten abarbeiten zu müssen. Sie wollen, dass die Wirklichkeit einfach und überschaubar ist. Am Rande bemerkt: Daher wählen sie dann auch Parteien, die behaupten, es sei eigentlich alles ganz einfach. Komplexität soll reduziert werden. In Sachen Religion heißt das dann: Die Unterschiede zwischen den Konfessionen und auch zwischen den Religionen sind bedeutungslos.

Komplexitätsreduzierung ist eine Sehnsucht aktueller gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie ist ein Trend, und nicht wenige – wieder: hier wie dort – finden auch das bedenklich, dass nämlich ihre Kirchen sich vielen der Strömungen oder Trends, die unsere Gegenwart bestimmen, regelrecht anbiedern. Man will ja mit der Zeit gehen, will „in“ sein. Auch Fusionen sind „in“. So verwundert es nicht, dass vor allem aus Wirtschaft und Politik Unverständnis für konfessionelle Differenzen kundgetan wird. „Da sieht man mal wieder, wie unprofessionell die Kirchen sind. Hätten wir das Sagen, wären die längst fusioniert.“ Die Reduktion kirchlicher Angebote auf eine hippe Eventkultur, die Forderung der Wiedereinführung der lateinischen Messe als Verlängerung einer larmoyanten Modernitätskritik und eine völlig überzogene Genderpolitik, wie sie in der „Bibel in gerechter Sprache“ ihren Niederschlag findet und die dort zu sinnentstellenden Texten führt, wären weitere Beispiele für eine solche Anbiederung.

Vor solcher Anbiederung bewahrt in erster Linie differenziertes Hintergrundwissen. Wer die Hintergründe kennt, aus denen heraus plausibel wird, warum zentrale Inhalte der großen Konfessionen so geworden sind, wie sie sind, dem erschließen sich diese Inhalte in ihrer je eigenen Bedeutung. Selbstverständlich sichtet solches Verstehen diese Inhalte auch kritisch. Und damit ist natürlich ebenfalls klar, dass solches Verstehen Wesentliches von Unwesentlichem unterscheidet. Nicht nur das: Solches Verstehen ermöglicht auch die Ausscheidung von Inhalten, die für eine gegenwärtige Religionspraxis irrelevant geworden sind. Der Streit, der in den letzten Jahrzehnten etwa um das Verständnis des Todes Jesu geführt worden ist, ist eine Auseinandersetzung, die zwischen Menschen mit Hintergrundwissen geführt wurde. Um sich an solchen Debatten beteiligen zu können, muss man schon über Wissen, über Hintergrundwissen, verfügen.

Träger von Hintergrundwissen sind Religionsprofessionelle, also Menschen, die zur Ausübung ihres Berufes professionell ausgebildet werden. Das sind zunächst Pfarrerinnen, Pfarrer und Priester. Mit Sorge sind in diesem Zusammenhang jüngste Entwicklungen zu beobachten, die den Stand des Berufes der Pfarrerin bzw. des Pfarrers untergraben. Das hat vor allem nach der Einführung des sogenannten Bologna-Prozesses im Theologiestudium begonnen. Was auf eine europaweite Harmonisierung von Studiengängen und -abschlüssen abzielte und so die internationale Mobilität der Studierenden und die Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraumes befördern sollte, bewirkte vor allem eine Verschulung geisteswissenschaftlicher Studiengänge, die letztlich mit einem beträchtlichen Niveauverlust einherging. Den Studierenden ist ein eigenständiger Erwerb geistiger Bildung erschwert worden. An dessen Stelle tritt die schulische Aneignung von Kompendienwissen.

Schon während des Studiums, vor allem aber im Anschluss daran melden die Kirchen ihre Interessen an. Eine von ihnen verordnete „geistliche Begleitung“ droht den freien Bildungsprozess kirchlicher Reglementierung zu unterwerfen. Doch die Studierenden müssen in Ruhe gelassen werden. Es geht darum, die Möglichkeitsbedingungen zur Ausformung eines freien gebildeten Berufsstandes bereitzustellen, der in seiner Bildung zu eigenständigen begründeten Positionen fähig ist, die sich gleichwohl im kommunikativen Austausch bewähren können. Auch hier gilt die Struktur pluraler Vielfalt.

Mit dem Problem einer Verkirchlichung stoßen wir innerhalb dieser Lageskizze möglicherweise an die Hauptbedrohung gegenwärtiger Religionspraxis. Hier wie dort bedrohen institutionelle Hegemonieansprüche die freie Lebendigkeit pulsierenden religiösen Lebens, indem sie diesem das Korsett kirchlicher Vorstellungen von Religion aufzwängen. So erlahmt und versiegt religiöses Leben in den letzten Jahren immer wieder, und in solchem Erlahmen religiösen Lebens kann selbst wohl wieder ein Grund für das Absterben ökumenischer Interessen ausgemacht werden. Denn das konfessionell geprägte religiöse Leben findet ja keineswegs zwangsläufig innerhalb der vorgegebenen kirchlichen Rahmenbedingungen statt. Beim Katholizismus noch eher als im Protestantismus. Daher dürfte der Blick in die religiösen Profile der Konfessionen lohnen. Er öffnet die Augen für konfessionelle religiöse Lebendigkeit. Evangelischerseits wird solches Leben etwa durch den religiösen Gleichheitsgedanken, die unsichtbare Kirche, die Bedeutung der einzelnen religiösen Individualität und deren Gewissenserfahrung befeuert. Von katholischer Seite wird u.a. die Bedeutung der Kirche und ihrer Ordnung für religiöses Leben entscheidende Impulse freisetzen.

1. PROBLEME DER ÖKUMENE AUS PROTESTANTISCHER PERSPEKTIVE

Zunächst ist der Frage nachzugehen, was eigentlich einen Zwischenruf in Sachen Ökumene aus protestantischer Perspektive veranlasst. Wo und wie können Probleme gegenwärtiger ökumenischer Praxis festgestellt werden, die solch einen Zwischenruf erforderlich machen? Wie lässt sich in grundsätzlicher Weise die gegenwärtige kirchliche Praxis in unserer Gesellschaft beschreiben, und wie wird diese Praxis in der Ökumene aufgenommen und weitergeführt? Antworten auf diese Fragen lassen sich in unterschiedlichen Zusammenhängen ausmachen. Beginnen wir mit der aktuellen Stellung der konfessionellen Großkirchen in unserer Gesellschaft.

Die Kirchen und die Öffentlichkeit: Anspruch und Wirklichkeit

Debatten über die Aufgaben der großen Konfessionskirchen finden in unserer Gesellschaft eher am Rande statt. „Kirche“ – da hält sich das öffentliche Interesse in Grenzen. Wenn es darum geht, ob unser Kind einen Kindergartenplatz bekommt, dann erscheinen solche Fragen von allerdings fast veritablem Interesse. Menschen, die sich nicht als kirchennah verstehen, stehen den konfessionellen Großkirchen in manchen Fällen durchaus wohlwollend, in der Regel aber wohl eher gleichgültig bis ablehnend gegenüber. Die Tendenz dürfte in Richtung Ablehnung gehen.

Schon die Frage danach, wie und vor allem von wem gesamtgesellschaftliche Anliegen auf den Begriff zu bringen sind, wird höchst unterschiedlich beantwortet. Während die Großkirchen selbst zu der Einschätzung neigen, dass ihr Votum hier selbstredend gefragt sei, hält die Mehrheit der Bevölkerung solche Generalstatements eher für verzichtbar. Die gegenwärtige ökumenische Praxis ist auch immer wieder ein Aufbegehren gegen dieses Desinteresse nach dem Motto „Erinnern wir das öffentliche Bewusstsein mit unseren Äußerungen zur gesellschaftlichen Lage daran, dass es uns auch noch gibt!“

Doch die vorzugsweise zu den kirchlichen Hochfesten wie Weihnachten oder Ostern zu Protokoll gegebenen Verlautbarungen sind oft nachgerade peinlich. Wenn der Ratsvorsitzende der EKD meint, dass Weihnachten die beste Medizin in der Zuwanderungsfrage sei, dann wird man mit einigem Recht konstatieren können, dass diese Meinung außer von ihm nur noch von einigen wenigen innerkirchlichen Mitstreiterinnen und Mitstreitern geteilt wird. Die meisten jedenfalls interessieren solche Deutungsofferten kaum oder gar nicht, zumal sie sich oftmals auch noch einer kirchlichen Binnensprache bedienen, die unverständlich bleibt – Weihnachten als Medizin?

In dieser Knappheit nicht verständlich, so allgemein wie richtig, an Floskelhaftem nicht mehr überbietbar … Die Liste ließe sich fortschreiben. Die zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verlautbarten ökumenischen Stellungnahmen befördern offensichtlich den gesamtgesellschaftlichen Diskurs wenig bis überhaupt nicht. Das lässt sich für alle ökumenischen Akteure sagen, eben auch über Leitsätze des Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, ja selbst über die Weihnachts- oder Osterbotschaften des Heiligen Vaters.

Aus dem Alten Testament wissen die Kirchenrepräsentanten über das Prophetentum im alten Israel. Eine der Aufgaben dieses Berufstandes bestand darin, das Wort Jahwes an sein Volk weiterzugeben. Und dieses Wort enthielt nicht selten klare Direktiven, wie nämlich in dieser und jener Angelegenheit im Sinne Jahwes zu verfahren sei. Schon damals stand hinter dieser Botschaft allerdings keineswegs eins zu eins die Meinung der Gottheit. Zu Recht wird man daher schon für die damalige Zeit argwöhnen dürfen, ob die Absicht Jahwes in diesen Kontexten überhaupt so eindeutig vorlag, wie von den Protagonisten behauptet. Bestimmte politische Interessen, Überzeugungen von Meinungsführern und manches mehr hatte Eingang gefunden in das Wort des Propheten, dessen Amt als Wächteramt gebraucht und auch missbraucht wurde.

Unsere gesellschaftliche Wirklichkeit ist gegenüber der Zeit der Propheten um ein Vielfaches komplexer geworden. So gibt es heute so gut wie keine Situation, in der mit eindeutiger Klarheit in knappster Form Wegweisendes gesagt werden könnte. Die Dinge liegen in der Regel vielschichtiger, sind komplexer. Stammtischparolen – als welche man solche groben Vereinfachungen ja auch bezeichnen könnte – helfen da nicht weiter, auch wenn sie im Gewand einer in Anspruch genommenen höheren Weihe feilgeboten werden.

Verbale Kraftmeiereien sind sowohl von kirchlicher Seite als auch von politischen, ökonomischen, gewerkschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Playern wenig hilfreich. Sie bedienen einen die Sachdiskussion beschädigenden Populismus. Begegnet solcher Populismus etwa von politischer Seite, so entzündet sich – wie man sagen muss auch zu Recht – Kritik, die vor allem darauf hinweist, dass Differenzierung gegenüber unsachlicher Vereinfachung Not tue. Gerade die Kirchen tun sich bei solcher Kritik gerne besonders hervor. Umso unverständlicher ist der leider auch bei ihnen immer wieder zu beobachtende Hang zur Simplifizierung, oftmals dann noch dazu in der Sprache Kanaans, die – wie gesagt – ohnehin keiner versteht.

Hinzu kommt, dass sich die Moderne, in der wir nach der Aufklärung leben, auch dadurch auszeichnet, dass die einzelnen Bereiche der gesellschaftlichen Wirklichkeit eigenständig geworden sind. Sie funktionieren sozusagen nach ihrer jeweils eigenen Logik. So darf für den Teilbereich der Wirtschaft etwa vermutet werden, dass Vorstände von Banken sich über die Allmachtsphantasien nur wundern konnten, die so manche kirchliche Verlautbarung etwa zur Diskussion um den Grexit deutlich werden ließ. Hier muss die Devise lauten: „Schuster, bleib bei deinen Leisten.“

Auch sind Geschichten aus der Religion jedenfalls nicht geeignet, Probleme etwa der nordamerikanischen Steuerpolitik zu lösen. Aber ausgerechnet dort können Fundamentalisten ausgemacht werden, die in besonderer Weise in der Gefahr stehen, hier Grenzen zu verwischen. Gerade sie sind häufig der Meinung, die Bibel enthalte direkte Handlungsanweisungen, die unmittelbar in politische Münze übersetzt werden können. Von solchen Fundamentalismen sind die konfessionellen Großkirchen – Gott sei Dank! – (in der Regel jedenfalls) weit entfernt.

Zu Recht gilt jenen Fundamentalismen unsere Kritik. Fruchtbringend bleibt demgegenüber nach wie vor die häufig mühsame Auseinandersetzung mit den in der Regel komplexen Problemlagen und den daraus generierten Diskussionsbeiträgen, die sich weniger in Direktiven ausdrücken, als sich mit der Entfaltung von Alternativen an die Diskussionspartner wenden. Leider – und auch das gehört zu den Ausgangsproblemen gegenwärtiger ökumenischer Praxis – beteiligen sich die Großkirchen selten an solcher Ausdifferenzierungsarbeit. Eine Ausleuchtung von Tiefenbezügen bestimmter Debattenlagen kann jedenfalls sachdienlicher und hilfreicher sein als simplifizierte Direktiven.

Die großen Konfessionskirchen haben also kein Wächteramt in unserer Gesellschaft, so gerne sie dies hier wie dort in Anspruch nehmen mögen, und zwar nicht nur, um bei jeder passenden und eben auch unpassenden Gelegenheit ihren ungefragten Kommentar abzugeben. Solche Kritik am leider immer wieder missbräuchlich ausgeübten, falsch verstandenen Wächteramt muss selbst allerdings auch Maß halten. Denn es darf natürlich nicht übersehen werden, dass sich die Konfessionskirchen in diesen Zusammenhängen in einem Dilemma befinden, das sie mit anderen gesellschaftlichen Akteuren teilen. Die Medialisierung unserer Gesellschaft fordert regelrecht eine Unkultur der kraftmeierischen Ansage. Sie fordert das eindeutige, richtungsweisende Votum.

Gewerkschaften, Parteien, Kirchen und Sozialverbände sind deshalb geradezu dazu gezwungen, „klare Ansagen“ zu machen. Wer sich an solchen Direktiven nicht beteiligt, wie redundant und damit wie wenig sachlich und hilfreich diese auch immer sein mögen, begibt sich in die Gefahr, sich aus dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu verabschieden und so unkenntlich zu werden. Trotz dieses Mechanismus kann mit einiger Mühe Maß, Ausgewogenheit und vor allem Angemessenheit sichergestellt werden. Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Ausgewogenheit wird darauf zu achten sein, dass ein gebotenes Maß an Differenzierung eingehalten wird.

Kirche der Pluralität, Kirche der Meinungsvielfalt

Dass Kurzbeiträge zu den jeweiligen gesellschaftlichen Debatten durchaus hilfreich sein können, zeigen etwa die Weihnachtsansprachen des Bundespräsidenten oder das Wort der Bundeskanzlerin zum Neuen Jahr. Beiden gelingt es weit überwiegend über Partei- und Personengrenzen hinaus die Gefahren von Komplexitätsreduzierung und Populismus zu umgehen. Was in diesen Beiträgen zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs anderen Akteuren zum Vorbild gereichen könnte, ist, dass sie es vermögen, gewissermaßen „mehrheitsfähig“ zu formulieren. Wohltuend ist hier die Vermeidung simplifizierender Direktiven und populistischer Vereinfachungen.

Gerade für die evangelische Kirche – in welcher der über das Modell des Priestertums aller Gläubigen gewonnene religiöse Gleichheitsgedanke gilt – ist eine Positionierung, die keine Einzelmeinung repräsentieren soll, natürlich besonders schwierig. Kein Bischof, kein Oberkirchenrat oder wer auch immer hat das Recht, „protestantische Positionen“ aufgrund seiner Stellung qua Amt zu legitimieren. Aufgrund des religiösen Gleichheitsgedankens gilt zudem, dass eine Position immer nur eine