Ommas Glück - Chantal Louis - E-Book

Ommas Glück E-Book

Chantal Louis

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Beschreibung

Demenz-WG: Klingt schräg – ist aber eine prima Sache Ein charmantes Plädoyer für eine Wohnform, die Menschen mit Demenz gerecht wird und ihnen ein maximal selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Und ein kleines Denkmal für Omma, deren Erlebnisse in ihrer WG immer auch eine hochkomische und rührende Seite haben.»Wenn man Omma erzählt hätte, dass sie eines Tages in einer WG leben würde, hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit Zeter und Mordio respektive Sodom und Gomorrha geschrien. Wir, meine Mutter und ich, konnten sie nicht mehr fragen. Wir haben es für sie entschieden. Und ich bin ziemlich sicher, dass es eine gute Entscheidung war. Eigentlich sogar eine ausgesprochen gute.« Nach einer bedrückenden Episode im Altersheim zieht Edeltraut Karczewski mit 83 in ihre erste Wohngemeinschaft. Ihre sechs MitbewohnerInnen sind, wie sie, dement. Kann das funktionieren? Oh ja. Ihre Enkelin, die Journalistin Chantal Louis, erzählt aus dem Leben ihrer Großmutter, sprich: Omma, in der Wanne-Eickeler Demenz-WG. Von Walzern im Wohnzimmer und immer neuem Kennenlernen am Küchentisch. Von einfühlsamen BetreuerInnen und dem erstaunlichen Personalschlüssel von eins zu drei. Von Angehörigen, die tags beim Kochen helfen und am Wochenende die WG-Wände streichen. Und von der Entstehung der Demenz-Wohngemeinschaften generell, von denen es in Deutschland inzwischen einige Hundert gibt – und von deren Existenz trotzdem die wenigsten wissen. Das sollte sich ändern.

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Seitenzahl: 249

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Chantal Louis

Ommas Glück

Das Leben meiner Großmutter in ihrer Demenz-WG

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Chantal Louis

> Über dieses Buch

> Impressum

> Klimaneutraler Verlag

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

HinweisWidmungPrologJanuar 2014, WG-KücheNovember 2010, WG, gesamte EtageMärz 2014, WG-WohnzimmerNovember 2010, AltersheimMärz 2014, WG-KücheNovember 2010, AltersheimMärz 2014, WG-WohnzimmerNovember 2010, WG, gesamte EtageApril 2014, WG-WohnzimmerApril 2014, WG-WohnzimmerNovember 2010, WG, gesamte EtageWinter 1968, Gelsenkirchen-ErleNovember 2010, WG-WohnzimmerApril 2014, WG-WohnzimmerNovember 2010, WGDezember 2010, WG-KücheDezember 2010, WGApril 2014, WG-WohnzimmerDezember 2010, WGSeptember 2012, BerlinJuni 2014, Gaststätte in Wanne-EickelJuni 2014, WG-WohnzimmerDezember 2010, WGDezember 2010, WG-KücheJuni 2014, WG-KücheDezember 2010, WG-Wohnzimmer70er-Jahre, Gelsenkirchen-ErleJuni 2014, TelefonDezember 2010, WG-WohnzimmerJuli 2008, Gelsenkirchen-ErleDezember 2010, WG-WohnzimmerJuli 2008, Gelsenkirchen-Erle undKiel-SchönkirchenDezember 2010, WG-WohnzimmerFrühling 2010, AWO-SeniorenzentrumKiel-SchönkirchenDezember 2010, WG-KücheSommer 2010, AWO-SeniorenzentrumKiel-SchönkirchenDezember 2010, Demenz-WGSommer 2010, Klinik, AufenthaltsraumJuni 2014, WG-WohnzimmerSeptember 2012, Köln, Demenz-Wohngemeinschaft »Vergissmeinnicht«März 2012, TelefonatApril 2012, WG-Küche22. Mai 2012, WG-WohnzimmerKöln, 2000Mai 2012, WG-WohnzimmerJuni 2012, WG-WohnzimmerSeptember 2012, WGJuni 2014, WG-BalkonJuli 2014, WG-Balkon10. September 2012, Krankenhaus13. September 2012, Krankenhaus15. September 2012, Krankenhaus30. September 2012, KrankenhausOktober 2012, WG, Ommas ZimmerNovember 2012, WG-WohnzimmerNovember 2012, WG-WohnzimmerDezember 2012, WG-Küche28. Dezember 2012, TelefonateTelefonat, schlechter TagTelefonat, guter TagAdvent 2014, WG-Küche2005, Gelsenkirchen-Erle – BudapestJanuar 2014, WG-KücheInfoteilDie Demenz-WG vor dem GesetzDie FinanzierungSelbst eine WG gründenIn eine bestehende WG einziehenDanksagung
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Die Namen einiger Personen in diesem Buch habe ich – auf Wunsch oder weil wir sie nicht fragen konnten oder wollten – verändert.

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Für Omma

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Prolog

Meine Großmutter Edeltraut Karczewski gehört einer Generation an, für die das Wort Wohngemeinschaft anrüchig klingt. Als ich vor einigen Jahren gemeinsam mit einer Freundin und drei Freunden ein Haus besichtigte, in das wir als WG einziehen wollten, führte uns die Hausbesitzerin, eine ältere Dame, durch die Räume und erklärte uns freundlich alles, was wir wissen wollten. Dann hatte auch sie Klärungsbedarf. »Darf ich Sie mal etwas fragen?« – »Natürlich«, antwortete ich und lächelte unserer potenziellen Vermieterin aufmunternd zu. »Machen Sie eigentlich Gruppensex?« Ich schluckte kurz, versuchte, Haltung zu bewahren, und erklärte, weiterhin verbindlich lächelnd: »Nein, da kann ich Sie beruhigen, das machen wir nicht.« »Na, das muss ich gleich meiner Bekannten erzählen. Die hat mich nämlich gewarnt: Hol dir keine Wohngemeinschaft ins Haus, die machen Gruppensex!« So viel zum Imageproblem von Wohngemeinschaften bei der Generation 80 plus.

Wenn man Omma erzählt hätte, dass sie eines Tages in einer WG leben würde, hätte sie mit großer Wahrscheinlichkeit Zeter und Mordio respektive Sodom und Gomorrha geschrien. Wir, meine Mutter und ich, konnten sie nicht mehr fragen. Wir haben es für sie entschieden. Und ich bin sicher, dass es eine gute Entscheidung war. Eigentlich sogar eine ausgesprochen gute.

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Januar 2014, WG-Küche

Die Kartoffel ist ziemlich groß. Sie liegt auf dem Küchentisch. Omma wirft ihr einen kurzen Blick zu und befindet: »Dat schaff ich nich!« Die große Kartoffel müsste gut in der Hand liegen, aber Ommas Hände, die in 86 Jahren ganze Kartoffelgebirge geschält, Aufnehmer ausgewrungen und meinen kranken Opa Heinrich, also Oppa, aus der Badewanne gewuchtet haben, haben ihre Kraft verloren. Seit einem großen und zwei kleineren Schlaganfällen hören sie nur noch bedingt auf ihr Kommando, die rechte ist manchmal völlig taub für Befehle von oben.

Im Backofen kommen die Fischstäbchen langsam auf Betriebstemperatur, im Topf auf dem Herd taut das Gefriergemüse und am großen ovalen Tisch sitzen Omma, Hilde und Else vor einem Berg Kartoffeln.

»Edeltraut, versuch’s doch mal!«, sagt Betreuerin Magdalena.

»Nein, dat hat gar keinen Zweck, ich schaff et nich!«

»Dann versuchen wir’s zusammen.«

Magdalena greift Omma unter die Hände, stemmt mit ihr gemeinsam die schwere Kartoffel, und die beiden schrappen die Schalen als Tandem.

Während Else emsig schält und einen ziemlich großen Output hat, spielt Hilde mit dem Gedanken an Streik. »Ich soll arbeiten?!«, moppert sie, aber alle wissen: Ihr Entsetzen ist nur gespielt. Als ob ihre rote Pumucklfrisur Programm wäre, hat Hilde den Schalk im Nacken und eine Menge derber Sprüche auf Lager, die sie in ungebremsten Redeschwallen platziert. Jetzt aber fordert die Kartoffel ihre ganze Konzentration. Sie nimmt das Messer und beginnt, sie sehr langsam in einen Mond mit ausgeprägter Kraterlandschaft zu verwandeln.

Elvira, die beim Kochen normalerweise für das Rühren in den Töpfen zuständig ist, ist heute sehr spät aufgestanden, hat vorhin erst ein Salamibrot gefrühstückt und sich daraufhin wieder in ihr Zimmer zurückgezogen. Elvira ist Friseurmeisterin, führte jahrzehntelang einen eigenen Salon und schnitt, als sie in die WG einzog, einigen Betreuerinnen, die sich auf das Wagnis einließen, die Haare. Inzwischen hat sie vergessen, wie das geht.

»Marianne, leistest du uns Gesellschaft?«

»Dat weiß ich noch nich«, brummelt Marianne, die kein Fan von Hausarbeit ist, aus dem Wohnzimmer mit dem kratzigen Bariton der ehemals starken Raucherin, und residiert vorerst weiter in ihrem Sessel.

Auf einer ihrer Runden durch die Wohnung kommt Edith wieder in der Küche vorbei, macht halt und lächelt die Truppe am Küchentisch liebenswürdig an. Die Narbe an ihrer Nase, die sie sich vor ein paar Monaten bei einem Sturz gebrochen hat, ist kaum noch zu sehen. Dafür fehlen ihr drei Schneidezähne. Wenn sie lacht, und in letzter Zeit lacht Edith sehr oft, sieht die 85-Jährige mit dem dunkelbraunen Pagenkopf, ihren Hängekleidern und ihrer Zahnlücke aus wie ein kleines freches Mädchen. Als sie noch sprach, bekam sie an ihrem 83. Geburtstag einen Lachanfall. 83, diese Zahl sei ja wohl kompletter Unfug. Sie sei schließlich erst 16 Jahre alt. Womöglich hat sie sich in der Zwischenzeit weiter verjüngt. Jetzt spricht Edith nicht mehr. Die einzige ihr verbliebene Vokabel ist: Nein. Wenn man nur noch ein Wort zur Verfügung hat, ist Nein nicht das Schlechteste.

»Omma, es gibt Fischstäbchen. Die magst du doch gern!«

»Oh ja, dat stimmt!«

Omma hat ihr Leben lang gern gegessen, und sich davon weder von ihrem Alter noch von ihrer Demenz abbringen lassen. Der dazugehörige Verlust der Impulskontrolle bringt zwar mit sich, dass sie gelegentlich mit ihrer Gabel Essen vom Teller ihrer Tischnachbarn abgreift, Appetitlosigkeit aber gehört definitiv nicht zu ihren Symptomen. Während viele Frauen im Alter entsinnlicht hager oder zerbrechlich dünn werden, hat Omma die gemütliche Rundlichkeit behalten, mit der ich sie kennengelernt habe. Als ich geboren wurde, war sie 42, und schien bestrebt, immer einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu den 49 Kilo (sie sagte: »98 Pfund«) zu halten, die sie nach dem Krieg gewogen hatte. In der »schlechten Zeit«, wie sie die Hungerjahre im fast vollständig zerstörten Ruhrgebiet nannte. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je eine Diät gemacht hätte. Ihre einzige diesbezügliche Maßnahme war, den Zuckergehalt ihrer Torten und Kuchen, die sie regelmäßig buk, ein wenig zu reduzieren. »Ich tu ja reduziern!«, pflegte sie dann zu sagen, als ob sich ihre Struwwelpeter-Torte dadurch in einen Salatkopf verwandelt hätte. Vor meinen Besuchen war ein telefonisches Vorgespräch über das Essen obligatorisch.

»Schätzchen, wat soll die Omma kochen?«

»Iss egal, Omma, ich ess alles gerne, was du kochst!«

»Soll ich Hühnerfrikassee machen?«

»Au ja, Hühnerfrikassee!«

»Oder lieber Bratwurst und Kohlrabi?«

»Bratwurst und Kohlrabi ist auch super.«

»Ich könnte auch Mehlpfannekuchen machen, du weißt ja, die besten von ganz Nordrhein-Westfalen.«

»Ja, toll!«

Wenn ich dann kam, gab es Bratwurst mit Rotkohl, Seelachsfilet mit Bratkartoffeln oder Spinat mit Spiegeleiern. Oder irgendwas anderes, auf das sie gerade Appetit gehabt hatte. Meist hatte sie ihre Portion schon aufgegessen. »Ich musste ja probieren«, sagte sie dann.

Seit mein Opa nach einer Hirnhautentzündung das Gehör verloren hatte, führte Omma ausgiebige Selbstgespräche und das auch, wenn andere Menschen als mein Opa anwesend waren. Ich erfuhr auf diese Weise viel Aufschlussreiches über ihr Leben. Und so kommunizierte sie auch mit ihren Kartoffeln, ihren Kohlrabi und ihren Koteletts. »Und da hab ich zu dem zweiten Kotelett gesacht: ›Eigentlich wollt ich dich ja für morgen verwahren. Aber Scheiß, hab ich gesacht, heute biss frisch!‹ Und dann hab ich et mir auch noch reingehauen.« Die für mich vorgesehenen Koteletts, Würste und Fische tastete Omma aber nie an.

Else hat inzwischen in der Küche der Demenz-WG den Kartoffelberg quasi im Alleingang bewältigt. Der Topf ist voll.

»Muss da nich Wasser rein?«, fragt Omma streng.

Inzwischen hat auch Hilde ihre Krater-Kartoffel fertig.

»Da iss noch ein Auge dran!«, sagt Omma missbilligend.

Flecken, Fusseln und andere Winzigkeiten, die ihre Ordnung stören, erkennt sie mit der Präzision eines Zielfernrohrs. Else entfernt das Auge aus der Kartoffel. Betreuerin Magdalena stellt den Topf auf den Herd und deckt den Tisch. Zwanzig Minuten später sitzen sie hier in ihrer Wohnküche zusammen, startklar zum Mittagessen: Omma, Else, Hilde, Marianne, Edith und Elvira. Die Pfanne steht in der Mitte, die Kartoffeln fehlen noch.

»Ich probier schon mal eins«, sagt Omma und angelt sich mit zittriger, aber zielstrebiger Hand ein Fischstäbchen.

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November 2010, WG, gesamte Etage

»Schockeladenpuddinck!«, hatte die Antwort des alten Mannes auf die Frage nach seiner Lieblingsspeise gelautet: Schokoladenpudding. Was er gern isst, hatte ihn schon lange niemand mehr gefragt. In dem Altersheim, in dem er lebte, stellte man ihm ohnehin nicht viele Fragen und wenn, interessierte man sich nicht sonderlich für seine Antworten. Er tat, was er noch konnte: Er verweigerte das Essen. Das Heim schoss zurück: Zwangsernährung. Schließlich holte ihn seine Tochter aus dem Heim und brachte ihn in eine Demenz-Wohngemeinschaft in Dortmund. Da wollten die Betreuerinnen gern wissen, was ihm schmeckt. Er sagte: Schokoladenpudding. Den kochten sie ihm. »Und von da an hat er wieder gegessen«, erzählt Herr Köhler, während er meine Mutter und mich durch die Räume der Wohnung in Wanne-Eickel führt, die womöglich Ommas neuer – und wohl auch letzter – Lebensort sein werden.

Herr Köhler, ein robuster Ruhrgebietler Mitte sechzig, hat noch mehr solcher Geschichten aus der Welt der Demenz-WGs auf Lager. Zum Beispiel die von der alten Dame, die partout unter ihrem Bett schlafen wollte. Jeden Abend weigerte sie sich aufs Neue, sich auf ihre Matratze zu legen, und kroch stattdessen unter den Lattenrost. Sie war wieder im Krieg und tat, was man tun muss, wenn die Tiefflieger kommen und Decken einstürzen und zersplitterte Scheiben durch die Gegend fliegen. »Und wat ham die gemacht? Die haben ihr das Bett hochgebockt und ihre Matratze druntergelegt.« Von da an schlief die Frau in Ruhe. »Und dat hat kein Arzt und kein Professor rausgefunden. Dat warn die Pflegekräfte«, sagt Herr Köhler.

Oder der kleine drahtige Mann, der die Nacht weder in noch unter seinem Bett verbrachte, sondern auf dem Sofa im Windfang. »Der war früher Boxer gewesen und meinte jetzt, er müsste auf seine Leute in der WG aufpassen. Der postierte sich an der Tür, damit an seine Truppe keiner drankam.« Und er durfte das auch. Oder der alte Herr, der nachts nicht auf die Toilette ging, sondern in die Zimmerecke pinkelte. Die Betreuer, die zunächst dachten, er fände sich nachts auf dem Flur nicht zurecht, versuchten es mit einer Klorolle an der Toilettentür. Es half nichts. Schließlich wurde ihnen die Sache klar: Ihr Bewohner lebte wieder in alten Zeiten, in denen das Klo auf halber Treppe lag und man besser daran tat, nachts nicht schlotternd in den eiskalten Hausflur zu stapfen, sondern stattdessen einen Nachttopf zu benutzen. Der alte Herr bekam seinen Nachttopf. Problem gelöst.

Die originellste von Herrn Köhlers Geschichten ist die von einem ehemaligen Wirt im rustikalen Dortmunder Norden. Der servierte seinen WG-Mitbewohnerinnen und -Mitbewohnern im Wohnzimmer jeden Abend die Getränke. Wenn gegen neu. a.le schlafen gegangen waren, rief der Exkneipier die Sperrstunde aus. Dann sagte er zum Betreuer: »Hömma, gezz kommt keiner mehr. Wir können ins Bett gehen!« Und der junge Mann brachte den alten Herrn in sein Zimmer, wo er, zufrieden über sein vollbrachtes Tagwerk, einschlief.

Herr Köhler weiß, wovon er spricht. Sein Vater hat seine letzten Jahre in einer Demenz-Wohngemeinschaft verbracht. Sein Sohn ist seither von dem Konzept Demenz-WG vollauf überzeugt und zeigt nu. a.deren Angehörigen, die noch auf der Suche nach einem passenden Ort für ihre dementen Großmütter, Väter oder Tanten sind, wie diese sehr speziellen Wohngemeinschaften funktionieren. Seine Geschichten klingen vielversprechend.

Ganz anders als die, die meine Mutter und ich in dem Altersheim erleben, in dem Omma jetzt seit zwei Monaten wohnt. Eine kleine, aber aufschlussreiche Geschichte geht zum Beispiel so: Omma kann nicht mehr laufen, was, wie sich später herausstellen wird, vor allem eine Folge der Psychopharmaka ist, die sie bekommt. Sie sitzt also jetzt im Rollstuhl. Als meine Mutter sie besuchen kommt, steht Ommas Rollstuhl im Aufenthaltsraum, einer Ansammlung von weißen Resopaltischen und -stühlen auf Linoleumboden plus Fernseher. Mit ihr im Raum befindet sich eine zweite Frau, ebenfalls im Rollstuhl. Die beiden Rollstühle stehen an zwei getrennten Tischen. Keine der vorbeirauschenden Altenpflegerinnen dreht die beiden Frauen zueinander. Es würde nur zehn Sekunden dauern.

Oder so: Es gibt Abendbrot. Ich rolle Omma an einen der Resopaltische im Speiseraum zu den anderen, die rechts und links des langen Heimflures wohnen. Es sind vielleicht 25. Zwei Altenpflegerinnen verteilen Teller mit fertig belegten Broten. Omma bekommt zwei Mortadellabrote. In der Mortadella sind Paprikastückchen. Omma hasst Paprika. Sie isst nicht.

»Omma, soll ich fragen, ob du ein anderes Brot kriegen kannst?«

»Nee, brauchss nich.«

»Aber du magst die Wurst doch nicht. Ich frag, ob du ein Brot mit Leberwurst kriegst.«

»Nee, dann schmeißen die dies hier weg. Dat geht doch nich! Man darf kein Essen wegschmeißen. Für ne Scheibe trocken Brot wärn wir früher zu Fuß nach Horst gelaufen.« Von unserer Bergmannssiedlung in Gelsenkirchen-Erle bis zum Stadtteil Horst sind es etwa acht Kilometer. Ich versuche dennoch, mich bei einer der eiligen Damen bemerkbar zu machen, die die ersten Teller schon wieder abräumen. Mit nicht unerheblicher Phonstärke gelingt es mir beim zweiten Anlauf, und Omma bekommt ihr Leberwurstbrot. Omma liebt Leberwurst. Als ich gehe, frage ich mich, ob sich das hier irgendjemand gemerkt hat. Und vor welchem Problem sie morgen Abend sitzen wird. Einem Joghurtbecher, den sie nicht aufbekommt? Einer Tasse mit Hagebuttentee, die für ihre zittrigen Schlaganfallhände zu schwer ist und die nur halb gefüllt werden dürfte, damit sie das Gewicht bis zum Mund schafft? Für das Tempo, das hier herrscht, ist Omma zu langsam geworden. Und zu leise.

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März 2014, WG-Wohnzimmer

»Guten Tag, die Damen! Hallo Omma!«

»Schätzchen! Schön, dat du mich besuchen kommss. Und du hass die Haare schön«, freut sich Omma und stellt mich, wie jedes Mal in den nun schon über drei Jahren, die sie jetzt hier wohnt, den anderen vor. »Dat iss meine Enkelin«, erklärt sie, und es schwingt Stolz in ihrer Stimme mit. Früher konnte dieser Stolz bisweilen zu etwas peinlichen Situationen führen, wenn Omma wildfremden Menschen wie Bäckereiverkäuferinnen oder Pommesbudenbesitzern unaufgefordert erklärte, dass ich ihre Enkelin sei. Aus Köln. Und jetzt hier zu Besuch bei ihr, ihrer Omma. »Und sie ist Journalistin!«, verkündete sie mit triumphalem Strahlen und straffte ihren krummen Rücken. Die Angesprochenen sagten dann so etwas wie »Ah ja« oder »Wie schön«.

»Wat?«, fragt jetzt Elvira.

»Meine Enkelin!!«, sagt Omma, jetzt lauter und mit einem Hauch Ungeduld in der Stimme.

Elvira blinkert mit verständnislosen Augen durch ihre Goldrandbrille.

Ich probiere es auch noch mal, um Ommas wachsenden Unmut über so viel Begriffsstutzigkeit im Zaum zu halten. »Ich bin die Chantal, die Enkelin von der Edeltraut.«

»Ach so. Ja, dat hab ich schon spitzgekricht.« Es pfeift ein bisschen, wenn Elvira spricht, weil sie ihr Gebiss nicht mehr tragen möchte.

»Deine Enkelin heißt Kathrin, nicht, Elvira?«

Aber Elviras Blick ist schon wieder abgedriftet. Sie antwortet nicht mehr.

Es ist Kaffeezeit. Doch auf dem ovalen Küchentisch stehen heute weder Kuchen noch Plätzchen, sondern ein großer Obstteller. »Gestern war Sonntag, da haben sie beim Kaffee ziemlich reingehauen. Deshalb dachten wir, wir machen heute mal einen auf gesund«, erklärt Betreuerin Sabrina grinsend, die heute zusammen mit Kollegin Katharina die Nachmittagsschicht hat. Der Obstteller stößt auf begrenzte Begeisterung. Niemand greift zu. Das kann an der Enttäuschung liegen, dass es nach dem gestrigen Kuchengelage heute keine Fortsetzung gibt, aber das ist unwahrscheinlich, weil sich hier ohnehin niemand mehr daran erinnern kann, was gestern war. Es könnte auch sein, dass der Obstteller zu weit weg steht, um im dementen Gehirn einen Impuls auszulösen. Oder an anderen Dingen: Die hagere Marianne ist keine große Esserin. Edith isst liebend gern, muss ihr Essen aber immer angereicht bekommen. Nur Kekse oder andere Süßigkeiten, die sie besonders gern mag, nimmt sie sich selbst. Sabrina und Katharina holen fünf kleine Teller. Katharina setzt sich neben Edith, piekst ein Obststück auf eine Kuchengabel und hält sie Edith vor den Mund.

»Kann die dat nich alleine?!«, mosert Elvira.

»Nein, Elvira, die Edith braucht Hilfe beim Essen. Edeltraut, welches Obst möchtest du?«

»Von allem etwas!«

Omma bekommt eine Ladung Bananenstücke, Apfelscheiben und Mandarinenschnitze aufgeschaufelt und vor sich hingestellt. Die beigelegte Kuchengabel ignoriert sie und nimmt sich das Obst mit den Fingern. Ihre Fingernägel sind lackiert, in einem schönen Dunkelrot.

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November 2010, Altersheim

Das Heim, ein Achtzigerjahre-Kasten mit sechs Stockwerken und roten Klinkern, sieht von außen einigermaßen passabel aus, drinnen unterscheidet es sich praktisch nicht von einem Krankenhaus. In Ommas Zimmer stehen zwei Pflegebetten, mehr passt nicht in den schlauchförmigen Raum. Nicht ihr flauschiger brauner Sessel, den sie in den 60er-Jahren blau-grün-meliert gekauft und ein Vierteljahrhundert später noch einmal hatte beziehen lassen, nicht ihr genauso betagtes und mit Möbelpolitur sorgsam gepflegtes Sideboard, in dem sie immer mehrere Tafeln Schokolade für mich deponiert hatte. Noch nicht einmal eine ihrer selbst bestickten Tischdecken, die sie früher jedem Besucher ihrer Wohnung stolz zeigte, denn selbst ein kleines Tischchen wäre hier ein Hindernis. Wenn ich sie besuche, sitzen wir an einer der beiden Sitzgruppen im langen Flur, die jeden Feng-Shui-Berater in den Wahnsinn treiben würden, weil Durchrausch-Energie herrscht. Weißbekittelte Altenpflegerinnen hasten an uns vorbei. Eine Freundin meiner Mutter, die Altenpflegerin ist, aber aus psychischen Gründen und wegen ihres kaputten Rückens nicht mehr als solche arbeitet, erzählt, dass bei diesem großen Heimträger alles, was hier einmal Gemütlichkeit in die Krankenhausatmosphäre gebracht hatte, eines Tages aus Sicherheitsgründen entfernt wurde: Teppiche, Sofas, Sessel. Alles, was brennbar ist, musste laut irgendeiner Verordnung in die Verbannung geschickt werden. Seither herrschen hier Linoleum und Resopal.

Omma hat eine offene Wunde am Fuß, die nicht heilt. Der sogenannte Krankenhauskeim MRSA wird festgestellt. Das bedeutet: Sie muss isoliert werden. Für einen Menschen, der im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist, ist das, je nach Vorliebe, unangenehm oder angenehm still. Für Omma, die keine Zeitschrift und schon gar kein Buch mehr lesen kann, die keine Ahnung hat, welche Taste der Fernbedienung sie warum drücken soll, ist es eine Katastrophe. Es müssen lange, einsame und auch verzweifelte Tage sein. Sie hat keine Ahnung, warum man sie so allein lässt. Wenn man es ihr erklärt, vergisst sie es innerhalb von Minuten wieder. Kein Gips, kein Tropf, keine Narbe erinnern sie daran, dass sie krank ist, die Bakterien sind unsichtbar. »Wat hab ich denn?«, fragt sie. »Ich hab doch nix!« Stunden um Stunden sitzt sie allein in dem Zimmer, aus dem ihre bettlägerige Zimmernachbarin verlegt werden musste. Manchmal macht sie sich auf gefühllosen krummen Beinen auf den weiten Weg zur Tür, hält sich an Betträndern und Wänden fest, passiert den Resopaleinbauschrank und öffnet die schwere Tür zum Flur. Wenn sie Glück hat, dauert es ein paar Minuten, bis es jemand merkt. Wenn nicht, wird sie von einer Altenpflegerin sofort wieder zurückgeführt in den Raum.

Nie sitzt jemand bei ihr, wenn ich zu Besuch komme. Sicher, man hat zu tu. a.f einer Station mit mehreren bettlägerigen BewohnerInnen, hinzu kommt, dass alle, die in Ommas Zimmer wollen, sich zuerst gegen die Bakterien wappnen und umständlich in grüne Schutzkleidung einpacken müssen: Kittel, Haube, Gummihandschuhe, Mundschutz. Allein diese Prozedur dauert ein paar kostbare Minuten. In der Tat sind die Vorschriften für Altenheime und Krankenhäuser in Sachen MRSA äußerst streng. Die Kleidung muss im infizierten Raum verbleiben und wird dann in Plastiksäcken entsorgt. Hier aber werden die abgelegten Kleidungsstücke absurderweise in einem Korb in der Gemeinschaftstoilette auf dem Gang gesammelt. Als ich der Stationsleiterin sage, dass so die ganze Isolation eine Farce ist, weil der Keim in der Toilette lustig au. a.le Klogänger hüpfen kann, zuckt die mit den Schultern. »Wir haben halt woanders keinen Platz«, sagt sie.

Omma bleibt allein. Als ich sie besuchen komme und mit dem Fahrstuhl in den sechsten Stock fahre, klagt eine junge Frau aus dem vierten Stock, offenbar eine Auszubildende oder Praktikantin, einem bärtigen Mann, offenbar ein Altenpfleger, ihr Leid: Ihr sei too-taal langweilig, den ganzen Tag habe sie nichts zu tun gehabt. »Na, Gott sei Dank hast du ja jetzt Feierabend«, tröstet der Mann. Als ich aus dem Fahrstuhl auf den langen Flur komme, an dessen Ende Omma alleine in ihrem Zimmer sitzt, komme ich an dem Stations-Zivi vorbei, der es sich auf einer der Sitzgruppen gemütlich gemacht hat. Er löst Kreuzworträtsel.

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März 2014, WG-Küche

»Marktbude mit fünf Buchstaben?«

»Weiß ich nich.«

»Wenn du auf dem Markt Obst kaufen willst, dann gehst du an den Obst...«

»...«

»Oder wenn du Fisch haben willst, dann gehst du an den Fisch...«

»Ich weiß dat doch nich!«

»An den Fischstand.«

»Ach, so wat Einfaches!«

Betreuerin Sabrina hat das dicke Rätselheft an den Küchentisch geholt und versucht, die Damenrunde zum Kreuzworträtselraten zu animieren. Omma kommt nur schleppend in Gang, ist aber bekannt als Rätselkönigin der WG. Mein Opa, der nach Gehörverlust und Schlaganfall nicht mehr viel konnte, löste Kreuzworträtsel im Akkord. Stunden um Stunden brütete er im – damals noch blau-grünmelierten – Wohnzimmersessel über seinen Rätselheften. Seine Schrift war so krakelig geworden, dass niemand außer ihm selbst, und selbst das galt als unsicher, entziffern konnte, was er schrieb. Dennoch kaufte Omma ihm ein Lösungsbuch, sodass schließlich jedes Kästchen mit einem Buchstaben gefüllt war, mit welchem auch immer. Da Omma ihm bei der Suche nach dem richtigen Wort oft behilflich sein musste, bekam sie trotz Oppas geheimnisvoller Hieroglyphen eine Menge Nebenflüsse, Gottheiten und Volksstämme mit. Und als sie später allein lebte, wurde sie selbst passionierte Kreuzworträtsellöserin. Obwohl sie heute keine Information länger als eine halbe Minute behalten kann, wirft ihr Gedächtnis immer noch die Gemahlin des Zeus oder das Wickelgewand indischer Frauen aus, die an einem anderen, offenbar unantastbaren Ort lagern als das Wissen um den aktuellen Wochentag.

»Windseite?«

»Lee!«

»Mit L-e-h oder L-e-e?«

»Mit e.«

»Stimmt das?«, fragt Sabrina.

»Stimmt«, sage ich.

»Gut, Edeltraut!«

»Toll, Omma!«

»Tja. Dat hab ich mir gemerkt.«

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November 2010, Altersheim

Eines Tages waren Ommas Pullover verschwunden. In die Kleidungsstücke müssen kleine Schilder mit dem Namen der Besitzerin eingenäht werden. Meine Mutter hatte einen Koffer mit Pullis, Blusen und Röcken mitgebracht, und sie auf Anweisung des Personals aus- und auf die Stühle im Flur vor dem Stationszimmer gepackt, da die Sachen vom Heim noch gekennzeichnet werden mussten. Nach einigen Tagen fiel ihr auf, dass etliche Kleidungsstücke fehlten. Das eine oder andere Teil fand sich in der Fundstelle für namenlose Kleidungsstücke wieder. Der Rest blieb verschollen. Obwohl Omma zu verwirrt ist, um diese Schlamperei zu bemerken, ist dieser Verlust für uns fast noch schlimmer als die Isolierung. Jeden dieser Pullover oder Röcke hatte Omma sich abgespart von dem immer knappen Geld, der Invalidenrente meines Opas, der 1966 nach einem Verkehrsunfall zuerst arbeitsunfähig und dann zum Pflegefall wurde. Trotzdem achtete sie immer auf gute Qualität. Die meisten Pullis hatte sie beim »Modehaus Scheidgen« gekauft, einem Erler Familiengeschäft, in dem Frau Scheidgen die von Klarsichtfolie geschützten Strickwaren aus einem Regal zog, auf ihrer Verkaufstheke auspackte und ihrer Kundin zeigte. Omma hasste Schulden und legte so lange Geld in der Küchenschublade zurück, bis es für den gewünschten Pullover reichte. Nur wenn es gar nicht anders ging, kaufte sie auf Raten. Andere der verschwundenen Pullis hatte sie selbst gehäkelt oder gestrickt. Meine Mutter weinte um diese Pullover. Dann begann sie, sich nach Alternativen zum Altersheim umzusehen.

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März 2014, WG-Wohnzimmer

»Nachkriegs-Hilfssendung der USA?«

»Weiß ich nich.«

»Doch, Omma, das kennst du. Die Pakete, die die Amerikaner euch damals nach dem Krieg geschickt haben.«

»Nee, dat weiß ich nich.«

»Na, die Kare-Pakete.« Ich sage: Kare, wie Krake.

»Ach so. Karee-Pakete.« Omma sagt: Karee, wie Idee.

»Ja, genau. Karee-Pakete.«

Omma weiß, wie man ein Karee-Paket packt. Als meine damalige Lebensgefährtin sich nach fast fünf Jahren von mir trennte und ich schwer angeschlagen aus der gemeinsamen Wohnung für zwei Monate zu Freundinnen flüchtete, verlor Omma am Telefon nicht viele Worte um die Sache. Aber eines Tages kam ein Paket an. Die Adresse musste sie bei meiner Mutter erfragt haben, jedenfalls hatte sie sie mit ihren typischen zittrigen Buchstaben auf die Paketkarte gemalt und den Karton eigenhändig zur Erler Post gebracht. Der Inhalt: ein Päckchen Dallmayr Prodomo, Ommas Lieblingskaffee, zwei Nylon-Strumpfhosen und eine Tafel Schokolade.

Ich schreibe C-A-R-E.

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November 2010, WG, gesamte Etage

Von der Existenz einer Demenz-Wohngemeinschaft hatte ich noch nie gehört. Ich hatte von Altenheimen gelesen, die sich auf Menschen mit Demenz spezialisiert haben. Aus beruflichen Gründen hatte ich auch mal eins besucht. Es hatte seine Flure mit farbigen Streifen beklebt und einen »Sinnesgarten« angelegt, in dem die BewohnerInnen an Kräutern riechen und Steinskulpturen betasten konnten. Aber eine WG?

Um 15 Uhr treffen wir uns also mit Herrn Köhler in Wanne-Eickel. Die Wohnung der WG liegt im Herzen der Stadt, drei Minuten entfernt von der Fußgängerzone, in einem Backsteingebäude, das früher Bergmannsfamilien beherbergte.

Mit dem Ziel, viele und günstige Wohnungen für die Bergleute zu schaffen, die damals in Massen ins Ruhrgebiet strömten, war die Wohnungsbaugesellschaft THS bei ihrer Gründung 1920 angetreten, und ein knappes Jahrhundert später scheint sie immer noch eine soziale Ader zu haben, auch wenn sie heute nicht mehr »Treuhandstelle für Bergmannswohnstätten im rheinisch-westfälischen Steinkohlenbezirk GmbH« heißt, sondern den geschmeidigeren Namen »Vivawest« trägt. Auf dem obersten Klingelschild steht »Wohngemeinschaft«.

Uns öffnet eine junge zarte Frau mit langen blonden Haaren, die aber sofort von einem großen weißen Hund verdrängt wird, der in Aussehen und Ausmaßen Ähnlichkeit mit einem Eisbären hat. Nach abgeschlossener Begutachtung der Eindringlinge nimmt der Eisbär auf einem Wohnzimmersessel in der Ecke Platz. Offenbar ist das sein gutes Recht, jedenfalls scheint keine der drei alten Damen, mit denen das Tier jetzt in trauter Runde um den Couchtisch sitzt, in irgendeiner Form irritiert. »Ich bin Isabell«, stellt sich die junge Frau vor, der zweite Betreuer, ein junger Mann, heißt Kai. Wie wir erfahren, handelt es sich bei dem großen weißen Tier um Senta, den Hund von Marianne, einer Bewohnerin. Wir sind begeistert, denn Omma liebt Tiere im Allgemeinen und Hunde im Besonderen. Auch große.

Einige Jahre lang hat sie Sammy, die schwarz-weiß gefleckte Dogge meiner Mutter, ein paar Tage die Woche tagsüber gehütet und das riesige, herzensgute Tier in ihrer winzigen Wohnung beherbergt. Dort konnte es sich kaum drehen, was Omma mit der steten Zufuhr von Wurstscheiben zu kompensieren versuchte, worauf Sammy bei jeder neuen Leckerchenübergabe mit seinem gewaltigen Schwanz Ommas Einrichtung in Grund und Boden wedelte. Sie versuchte sich in Schadensbegrenzung: Möbelpolitur. Omma fluchte, in erster Linie auf meine Mutter, die die Unverfrorenheit besäße, ihr diesen Hund zuzumuten. Den sie natürlich eigentlich abgöttisch liebte.

»Wat bringt die Mami mir auch immer den Hund hierher? Sie geht arbeiten und ich hab hier den Ärger!«

»Omma, dann musst du ihr sagen, dass du das nicht mehr willst.«

»Nee, ich sach schon nix.«

»Soll ich es der Mami sagen?«

»Nein, sach nix, ich will keinen Ärger.«

»Aber du musst es doch sagen, wenn dir der Sammy zu viel Arbeit ist.«

»Ja, dann sach ich et ihr. Morgen.«

Sie sagte es nie, so wie sie sich überhaupt nie traute zu sagen, was sie wollte und was nicht. Bis sich der viele runtergeschluckte Ärger in einem Wutanfall manifestierte und an der Person, um die es ging, kein einziges gutes Haar mehr blieb. Die vielen ungeheuerlichen Vergehen von Tante Anni, Tante Lore, Tante Hilde oder eben meiner Mutter zählte sie mir auf, die Täterinnen hingegen blieben in der Regel völlig ahnungslos. Sie wurden aber mit eisigem Schweigen und einer Kontaktsperre gestraft, die Omma bestenfalls temporär, schlimmstenfalls lebenslänglich verhängte. Schon als junge Frau hatte Omma Magengeschwüre. Mit Anfang sechzig musste ihre Gallenblase entfernt werden. Und es schien so, als ob sich die Bitterkeit, die ihren Aufbewahrungsort im Innern des Körpers verloren hatte, sich nun immer öfter in ihren Gesichtszügen zeigte.

Ich sagte es meiner Mutter natürlich trotzdem. Sie erklärte mir, dass sie Omma mindestens dreimal die Woche fragen würde, ob sie Sammy auch wirklich zu ihr bringen dürfe. »Klar, bring dat Schätzken zu mir!«, antwortete sie jedes Mal.

Omma ging auch mit Sammy spazieren. Die mit ihren Osteoporose-Knochen und ihrem krummen Rücken auf eins fünfundfünfzig geschrumpfte Omma und der gigantische Rüde brachten es in Erle zu einer gewissen Berühmtheit. »Da kommt die kleine Omma mit dem großen Hund«, sagten die Leute, oder jedenfalls erzählte Omma bei jedem meiner Besuche, dass sie das sagten. Es war einer ihrer sich stetig wiederholenden Dauerschleifensätze, die schon früh ahnen ließen, dass es mit ihrem Gedächtnis eines Tages speziell werden würde.

Meine Mutter und ich finden die Aussicht auf einen Hund in der WG also großartig. »Vielleicht möchte sie ja hier selbst einen Hund haben?«, fragt Isabell. Wir sind verblüfft. Hier scheint vieles zu gehen. Auch ein zweiter Hund, womöglich in einem zweiten Wohnzimmersessel.

Überhaupt: Dass es hier ein Wohnzimmer gibt, ein echtes Wohnzimmer mit den dazugehörigen Sofas und Sesseln, ist nach der aseptischen Resopalatmosphäre der Heimstation ein positiver Schock. Dies ist eine Wohnung. Eine gemütliche Wohnung. Ich wusste bis dato nicht, dass das möglich ist: dass demente Menschen gemeinsam betreut in einer gemütlichen Wohnung wohnen.