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Die Multiple Sklerose (MS) hat sich in den vergangenen Jahren wie kaum eine andere neurologische Erkrankung im Hinblick auf Weiterentwicklung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten und einer fundamentalen Neugestaltung der Versorgungsstruktur verändert. Diagnostische und therapeutische Entscheidungsprozesse – basierend auf aktuellen und zuverlässigen Informationen und Kenntnissen – verlangen die Einbeziehung (informierter) Patienten und Patientinnen. Verständliche, transparente und evidenzbasierte Informationsmaterialien zu allen Aspekten der Multiplen Sklerose stellen die unverzichtbare Grundlage für eine erfolgreiche Kommunikation zwischen Patient/Patientin und Arzt/Ärztin dar. Die „Österreichische Multiple Sklerose Bibliothek“ richtet sich daher an MS-Betroffene sowie Ärzte und Ärztinnen. Zahlreiche MS-Experten und MS-Expertinnen aus ganz Österreich haben diesen Leitfaden über das aktuelle Wissen zur Multiplen Sklerose zusammengestellt.
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Seitenzahl: 514
Veröffentlichungsjahr: 2023
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ISBN 978-3-99111-718-6 (epub); ISBN 978-3-99111-717-9 (epdf)
5., aktualisierte Auflage 2023
© 2020 facultas Universitätsverlag, Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, Austria
Umschlaggestaltung: Florian Spielauer, Wien
Umschlagfoto: © Ulf Baumhackl
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Inhaltsverzeichnis
Vorworte
Editorial
Geleitworte
1Einleitung
2Pathologie und Immunpathogenese der Multiplen Sklerose
3Epidemiologie der Multiplen Sklerose
4Genetik der Multiplen Sklerose
5Umweltfaktoren bei Multipler Sklerose
6Diagnose der Multiplen Sklerose
7Multiple Sklerose – Differenzialdiagnostik
8Differenzialdiagnose und Therapie einer Sehnerventzündung/Optikusneuritis
9Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen (NMOSD)
10Multiple Sklerose Symptome, Häufigkeit bei Erkrankungsbeginn und im Verlauf
11Klinische Verlaufsformen der Multiplen Sklerose
12Multiple Sklerose – Skalen und Scores
13Prognose der Multiplen Sklerose
14Multiple Sklerose und Lebensqualität
15Krankheitslast bei Multipler Sklerose
16Diagnostik und Therapie des akuten Schubes
17Prinzipien krankheitsmodifizierender Therapien bei Multipler Sklerose
18Therapie der Multiplen Sklerose im Frühstadium
19Therapie bei leichter/moderater schubförmiger Multipler Sklerose
20Therapie bei der (hoch-)aktiven schubförmigen Multiplen Sklerose
21Therapie bei der sekundär progredienten Multiplen Sklerose
22Primär progrediente Multiple Sklerose (PPMS)
23Therapiemonitoring bei Multipler Sklerose
24Abzulehnende und obsolete Therapien bei Multipler Sklerose
25Spezielle Aspekte kindlicher Multipler Sklerose
26Multiple Sklerose und Schwangerschaft
27Multiple Sklerose beim älteren Menschen
28Neurorehabilitation bei Multipler Sklerose: Konzept und Therapiemöglichkeiten
29Neurorehabilitation bei Multipler Sklerose: Spezielle Therapien
30Physiotherapie bei Multipler Sklerose
31Ergotherapie bei Multipler Sklerose
32Das logopädische Tätigkeitsfeld bei Multipler Sklerose
33Multiple Sklerose und Psyche
34Symptomatische medikamentöse Therapien bei Multipler Sklerose
35Spastizität und Gangstörung bei Multipler Sklerose
36Multiple Sklerose und Blasenfunktionsstörungen
37Multiple Sklerose und Sexualität
38Multiple Sklerose und Kognition
39Impfungen und Reisen bei Multiple Sklerose-Betroffenen
40Multiple Sklerose und Ernährung
41Multiple Sklerose und Komplementärmedizin
42Leben mit Multipler Sklerose
43Multiple Sklerose und Familie
44Transkulturelle Aspekte in der Behandlung türkeistämmiger Multiple Sklerose-Patienten und -Patientinnen
45Multiple Sklerose und Arbeit
46Multiple Sklerose und soziale Aspekte
47Multiple Sklerose und Autofahren
48Multiple Sklerose-Zentren in Österreich
49Die Österreichische Multiple Sklerose Gesellschaft
Anhang I: Multiple Sklerose Gesellschaften
Anhang II: Multiple Sklerose Clubs und Selbsthilfegruppen
Anhang III: MS-Stationen
Glossar
Herausgeber, Autoren und Autorinnen
Vorwort zur 5. Auflage
Die 5. Auflage der ÖMSB erscheint wieder als E-Book (E-Pub sowie E-Pdf) – mit den bekannten Vorzügen, auf Smartphone, Tablet, Computer oder Reader gleichsam überall und jederzeit verfügbar zu sein. Mit Hilfe der Suchfunktion können MS-Betroffene rasch auf die gewünschten Informationen zugreifen, etwa bei der Vorbereitung auf den Besuch bei Ärzten und Ärztinnen oder bei Fachpersonal aus den Gebieten der Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und Sozialarbeit. Dieses unabhängige Fachbuch zu allen Aspekten der MS wendet sich auch an diagnostisch und therapeutisch tätige Ärzte und Ärztinnen sowie Angehörige medizinischer Gesundheitsberufe und Sozialberufe. Auch die vorliegende Auflage der ÖMSB kann kostenlos heruntergeladen werden.
Die vorliegende Auflage wurde mit Jahresende 2022 fertiggestellt und anschließend an den facultas Universitätsverlag weitergeleitet. Es wurde eine umfassende Aktualisierung vorgenommen. Zwei neue Kapitel kamen hinzu: (1) „Differenzialdiagnose und Therapie einer Sehnerventzündung/Optikusneuritis“ und (2) „Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen“. In 28 Kapiteln erfolgte ein Update, wobei 4 Kapitel aufgrund der Aktualität gänzlich umgeschrieben wurden, sodass Neufassungen entstanden sind. Das Inhaltsverzeichnis wurde adaptiert und das Glossar erweitert. Die Adressen der MS-Gesellschaften, -Clubs und -Selbsthilfegruppen im Anhang wurden aktualisiert, ebenso Namen und Zugehörigkeiten der Autoren und Autorinnen.
Diese umfangreiche Überarbeitung mit Ergänzungen und Updates war den Fortschritten der MS-Forschung, sowohl in der Diagnostik als auch bei den Therapiemöglichkeiten, geschuldet. MS-Patienten und MS-Patientinnen gelten als besonders gut informiert. Nachrichten über neue Erkenntnisse und Mechanismen, welche der Pathogenese der MS zugrundeliegen dürften und neue kausal ansetzende Behandlungsoptionen ermöglichen, machen es notwendig, die medizinischen Zusammenhänge zu verstehen. Die wissenschaftlich fundierte, evidenzbasierte Information der ÖMSB hat deshalb an Umfang zugenommen, umfasst nunmehr 49 Kapitel und stellt eine wesentliche Hilfe und Grundlage für eine gut funktionierende Therapie und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung der Betroffenen dar.
Allen Autoren und Autorinnen ist an dieser Stelle für das außergewöhnliche Engagement (pro bono) großer Dank auszusprechen. Für die ausgezeichnete Zusammenarbeit danken wir dem facultas Universitätsverlag, insbesondere Frau Dr.in Sigrid Neulinger. Die pharmazeutische Industrie hat dieses Projekt ohne Einflussnahme auch diesmal wieder unterstützt, dafür vielen Dank!
Dezember 2022
Ulf Baumhackl, Thomas Berger & Christian Enzinger Herausgeber der ÖMSB
Vorwort zur 4. Auflage1
Mit dem Erscheinen der ÖMSB im Jahr 2016 wurde das Ziel verfolgt, Evidenz-basierte Informationen zu allen Aspekten der MS für Betroffene und zugleich Ärzte bzw. Ärztinnen und die Angehörigen der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe sowie der gehobenen medizinisch-technischen Dienste auf dem neuesten Stand zu übermitteln. Das Konzept ermöglichte jährliche Aktualisierungen durch Verwendung des Ringbuch-Formates, indem neue bzw. aktualisierte Seiten einfach hinzugefügt oder ausgewechselt werden konnten. Aufgrund der notwendig gewordenen Ergänzungen erreichte das Buch allerdings nach drei Auflagen sein Fassungsvermögen.
Die jetzt vorliegende 4. Auflage erscheint deshalb als E-Book (E-Pub und E-PDF) und trägt damit auch dem Boom des mobilen Internets und der zunehmenden Vernetzung durch Social Media Rechnung. Zugleich kommen folgende Vorzüge zum Tragen:
▶Such-Funktionen erlauben es, sich rasch und übersichtlich zurechtzufinden
▶einfacher Bestellvorgang: kostenloses Herunterladen auf Ihren Reader (E-Pub) oder auf Computer, Tablet und Smartphone (E-PDF) – damit ist die Verfügbarkeit des Textes überall gegeben, etwa bei Besuch des Arztes bzw. der Ärztin oder des Therapeuten bzw. der Therapeutin
In das E-Book ÖMSB 2020 wurden vier neue Kapitel hinzugenommen: MS und Ergotherapie, Logopädie, Psyche, Autofahren (Kapitel 29–31 und 45). Die bereits vorhandenen Kapitel 1, 3, 6, 11, 14–18, 21, 23–25, 28, 33, 36–40, 44, 46, 47 erhielten Aktualisierungen nach dem Stand der Kenntnis Anfang 2020, das Inhaltsverzeichnis wurde neu geordnet, der Anhang I–III und das Glossar wurden auf den neuesten Stand gebracht.
Die Evidenz-basierte Medizin strebt nach der bestmöglichen Nutzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse durch Ärzte und Ärztinnen sowie Therapeuten und Therapeutinnen. Es ist für medizinische Laien nahezu unmöglich, komplexe Gesundheitsinformationen und besonders wissenschaftliche Publikationen zu verstehen und zu bewerten. Leider existieren vielfältige Möglichkeiten, irreführende Informationen zu erhalten. Die Kommunikationswege haben sich verändert, im Internet und den sozialen Medien ist oft nicht erkennbar, was Fakt, also Tatsache ist, und was bloße Meinung, vielleicht sogar manipulative Lüge mit geschäftlichen Interessen dahinter. Grundsätzlich muss stets hinterfragt werden, wer sich hinter Absender bzw. Plattform einer Nachricht/Information verbirgt, denn gezielte Falschinformation kommt leider nicht selten vor.
Die MS hat sich in den vergangenen Jahren wie kaum eine andere neurologische Erkrankung im Hinblick auf Weiterentwicklung der diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten und einer fundamentalen Neugestaltung der Versorgungsstruktur verändert. Die ÖMSB wurde geschrieben, um MS-Betroffenen, aber auch Ärzten und Ärztinnen sowie Therapeuten und Therapeutinnen wissenschaftlich gesicherte Information zu allen Aspekten der MS zu veranschaulichen bzw. darzustellen, da eine informierte Beteiligung der MS-Betroffenen bei Therapieentscheidungen von großer Bedeutung ist.
Großer Dank gebührt dem Editorial Board, den Autoren und den Autorinnen des E-Books ÖMSB 2020 – wie in den vorangegangenen Auflagen wurde die Tätigkeit ehrenamtlich durchgeführt. Für die nachhaltige ausgezeichnete Zusammenarbeit danken wir dem facultas Universitätsverlag, insbesondere Frau Dr. Neulinger und Frau Schenner. Schließlich möchten wir der pharmazeutischen Industrie für die Weiterführung der verständnisvollen unterstützenden Begleitung des Projektes sehr herzlich danken.
Ulf Baumhackl, Thomas Berger & Christian Enzinger
1 1.–3. Auflage im Eigenverlag erschienen.
Vorwort zur 3. Auflage
Dem Grundgedanken der ÖMSB folgend, gesicherte evidenzbasierte Informationen zur Verfügung zu stellen, welche als Grundlage für gemeinsame Entscheidungsfindungen zwischen Patienten und Patientinnen sowie Ärzten und Ärztinnen bzw. dem medizinischen Fachpersonal dienen, wurden – wie geplant im jährlichen Abstand – aktuelle diagnostische und therapeutische Entwicklungen in der Auflage 2018 berücksichtigt.
Vergangenes Jahr hatten wir bereits auf zwei möglicherweise bald zur Verfügung stehende Therapieoptionen hingewiesen und die Darstellung für die 3. Auflage angekündigt. Das Arzneimittel Daclizumab wurde inzwischen weltweit vom Markt genommen und wird deshalb nicht besprochen. Glatiramoide sind Nachahmer-Präparate von Glatirameracetat – dieses Medikament wird im Kapitel 17 beschrieben.
In der Zwischenzeit wurden zwei weitere den Krankheitsverlauf modifizierende, medikamentöse Behandlungsmöglichkeiten, die Arzneimittel Cladribin und Ocrelizumab, für spezielle Indikationen zugelassen und in Kapitel 18 näher ausgeführt.
Ein zur Gänze neues Kapitel (19A) widmet sich der ausführlichen Beschreibung der relativ seltenen primär progredienten MS (PPMS). Dr. Gabriel Bsteh von der Neurologischen Universitätsklinik Innsbruck erörtert darin das klinische Bild und die spezielle Behandlungssituation, da – anders als für die schubförmige MS – bisher kein Medikament wirksam war. Bei dem neuen Wirkstoff Ocrelizumab handelt es sich um das erste den Krankheitsverlauf mildernde Arzneimittel, welches für Patienten und Patientinnen mit PPMS eine Zulassung erhalten hat, wobei die Krankheitsdauer, der Grad der Behinderung und der bildgebende Befund berücksichtigt werden müssen.
Der aktuelle Stand der erforderlichen Kontrollen der medikamentösen verlaufsmodifizierenden Therapien wird im Kapitel 20 (Therapiemonitoring) beschrieben. Das Kapitel 6 (Diagnose der MS) wurde mit den neu hinzugekommenen Diagnose-Kriterien ergänzt.
Das Ringbuch-Format der ÖMSB ermöglicht auf einfache Weise den Austausch bzw. das Hinzufügen von Seiten. Die neuen bzw. auszutauschenden Seiten der 3. Auflage werden wie bisher verteilt. Die aktuelle Gesamt-Version der ÖMSB 3.0 wird wieder auch als pdf-Datei zur Verfügung stehen (kostenloser Download von der Webseite der ÖMSG).
Für die unterstützende Begleitung danken wir dem Editorial Board (Christian Enzinger, Franz Fazekas, Siegrid Fuchs, Michael Guger, Jörg Kraus und Fritz Leutmezer). Ganz besonderer Dank gebührt den Autoren, welche an der 3. Auflage mitgearbeitet haben, sowie Christoph Baumhackl, der wieder die administrativen Tätigkeiten durchgeführt hat. Der pharmazeutischen Industrie möchten wir wieder für die seit Beginn des Projektes erfolgte Unterstützung unseren Dank ausdrücken.
Ulf Baumhackl & Thomas Berger
Vorwort zur 2. Auflage
Seit der ersten Auflage der Österreichischen MS-Bibliothek (ÖMSB) 2016 hat sich (nicht ganz unerwartet) viel Neues getan …
… Der Blickwinkel der MS-spezialisierten Neurologinnen und Neurologen aus Klinik und Forschung wurde in der 2. Auflage des Buches durch zahlreiche Rückmeldungen von MS-Betroffenen, Ärztinnen und Ärzten und besonders durch den Bundesverband der PhysiotherapeutenInnen Österreichs ergänzt. „Physioaustria“ brachte sich aktiv in die Diskussion ein und übermittelte zu einigen Kapiteln konkrete Anregungen, die nach Möglichkeit auch berücksichtigt wurden.
… Mehrfach wurden wir von Patientinnen und Patienten darauf angesprochen, dass zu einigen Themen eine umfangreichere Darstellung erwünscht wäre. Dieses große Interesse ist sehr erfreulich, wir möchten aber darauf hinweisen, dass das Konzept der ÖMSB vorsieht, möglichst umfassend mit kurzen und prägnanten Kapiteln zu informieren. Es finden sich deshalb am Ende jedes Kapitels Hinweise zu weiterführender Literatur und zu Weblinks, welche die Beschäftigung mit einem Thema in einem größeren Umfang ermöglichen.
… Kritik wurde geäußert, dass verschiedene Kapitel(-abschnitte) für Laien nicht ausreichend verständlich geschrieben wurden. Zu diesem – sicher berechtigten – Einwand muss darauf hingewiesen werden, dass die ÖMSB den Anspruch hat, auf alle Aspekte der MS einzugehen und deshalb vielschichtige Darstellungen beinhalten muss, um tatsächlich komplett zu informieren (Beispielsweise erscheint uns für die ausreichende Information über die Diagnosekriterien oder Therapieoptionen der Hinweis auf zahlreiche Studien, z. T. in komplexer Tabellen-Form, notwendig.). Deshalb sind einige Kapitel(-abschnitte) auch speziell als Information für die medizinischen Experten und Expertinnen ausgerichtet. Wir haben aber für die 2. Auflage jedem Kapitel eine „INFO-Seite“ vorangestellt, die in vereinheitlichter Form und allgemein verständlich eine Kurzinformation zum jeweiligen Kapitel ermöglicht.
… Aktualisierungen bzw. Ergänzungen wurden bei den Kapiteln 8, 10, 26, 28 und 29 durchgeführt, das Kapitel 42 (Physiotherapie bei MS) und der Anhang III (Vorstellung von zwei speziellen MS-Stationen) sind zur Gänze neu hinzugekommen. In Anhang I und II wurden die Adressen auf den neuesten Stand gebracht. Das Glossar wurde umfangreicher. Das Ringbuch-Format ermöglicht, aktualisierte Kapitel einfach auszutauschen und neue Seiten zu ergänzen. Die Verteilung erfolgt in gleicher Weise wie bisher, zusätzlich können die neuen Seiten auf Wunsch als pdf-Datei zugesendet werden.
… Im Laufe des Jahres 2016 sind zwei weitere Therapien (Daclizumab und ein weiteres Glatiramoid) zugelassen worden, für Daclizumab wird aber vom Hauptverband der Sozialversicherungsträger die Kostenerstattung leider bislang abgelehnt. Die detaillierte Beschreibung der neu zugelassenen Therapien wird dann in der nächstjährigen 3. Auflage erfolgen.
… Nach wie vor wird über Diskriminierung von MS-Betroffenen, nicht nur am Arbeitsplatz, berichtet. Mit wissenschaftlich fundierten Informationen kann hier entgegengewirkt werden. Für die 2. Auflage der ÖMSB hat Bundesministerin Frau Priv. Doz.in Dr.in Pamela Rendi-Wagner, MSc (Bundesministerium für Gesundheit und Frauen) ein Vorwort verfasst. Für diese wichtige Unterstützung möchten wir unseren herzlichen Dank aussprechen.
Wir bedanken uns auch sehr für die aktive Teilnahme an der Weiterentwicklung der ÖMSB, die den aktuellen „Goldstandard“ zu allen Aspekten der MS abbilden soll. Besonderen Dank schulden wir dem Editorial Board: Christian Enzinger, Franz Fazekas, Siegrid Fuchs, Michael Guger, Jörg Kraus und Fritz Leutmezer. Alle Autorinnen und Autoren haben ihr Wissen und ihre Arbeit kostenlos zur Verfügung gestellt. Großer Dank gilt auch dem Dachverband, den Landesgesellschaften und der SHG der ÖMSG, die durch die Verteilung der Bücher eine großartige Arbeit vollbracht haben. Zahlreiche Zustellungen erfolgten auch über die ÖMSG gemeinnützige Privatstiftung, Anfragen können an [email protected] gerichtet werden.
Die administrativen Tätigkeiten hat der neue Geschäftsführer der MS-Stiftung Österreich, Herr Mag. Christoph Baumhackl, übernommen, die Kooperation mit Frau Dr. Neulinger vom facultas Universitätsverlag war gewohnt effizient, beiden gebührt ein herzlicher Dank für die äußerst gute Zusammenarbeit.
Besonderer Dank gilt der pharmazeutischen Industrie, die durch ihre (erneute) Unterstützung den Druck und Vertrieb der ÖMSB ermöglicht. Auf der letzten Seite des Buches sind die unterstützenden Firmen angeführt. Allen Beteiligten ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Unterstützer in keiner Weise Einfluss auf Inhalt und Gestaltung der ÖMSB nehmen.
Der Umgang mit der Erkrankung hat Konsequenzen auf den Krankheitsverlauf. Gesicherte, evidenzbasierte Informationen zu allen Aspekten der MS stellen eine Voraussetzung der Krankheitsbewältigung dar. Diagnostische und vor allem therapeutische Entscheidungen werden zunehmend selbstständig, zugleich kooperativ von den mündigen Patientinnen und Patienten getroffenen. Die gemeinsame Entscheidungsfindung mit den MS-Betroffenen steht nicht im Widerspruch zu der Funktion der Ärzte und Ärztinnen, die über das entsprechende Fachwissen verfügen. Die ÖMSB wurde deshalb in gleicher Weise für Betroffene, Ärzte und Ärztinnen und das medizinische Fachpersonal geschrieben.
Ulf Baumhackl & Thomas Berger
Vorworte zur 1. Auflage
Die Österreichische Gesellschaft für Neurologie (ÖGN) ist die Organisation österreichischer Neurologen und Neurologinnen. Sie vertritt die Interessen von Neurologen und Neurologinnen in standespolitischen und wissenschaftlichen Belangen, fördert die Neurologie in Aus- und Fortbildung, Lehre und Forschung. Sie betreibt Öffentlichkeitsarbeit und die Zusammenarbeit zwischen anderen Berufsgruppen, Patienten und Patientinnen und anderen Interessensträgern und Interessensträgerinnen. Neurologische Erkrankungen haben in den letzten 20 Jahren bedeutende Entwicklungen in Häufigkeit, Erkenntnissen, diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten erlebt und damit die Neurologie zu einem wesentlichen Fach in der Medizin heranwachsen lassen. Vor allem betrifft das auch die Multiple Sklerose, wovon das vorliegende Buch zeugt. Die ÖGN hat diesen Entwicklungen bei Multipler Sklerose schon sehr früh Rechnung getragen, indem zahlreiche Initiativen und alltagsrelevante Projekte innerhalb der letzten beiden Jahrzehnte verwirklicht wurden:
1. neurologischen Einrichtungen können sich anhand bestimmter ÖGN-Qualitätskriterien als „MS-Zentrum“ zertifizieren lassen und sich damit als Einrichtung mit einem MS-Betreuungsschwerpunkt ausweisen.
2. Als wichtigen Bestandteil der genannten Qualitätskriterien bietet die ÖGN regelmäßige ärztliche Fortbildungen zum Thema MS an: einmal jährlich die zweitägige „MS-Akademie“ und zweimal jährlich sogenannte MS-Zentrumstreffen.
3. 2006 wurde das MS-Therapie-Register als qualitätssichernde Maßnahme zur Nutzen-Risiko-Evaluation von krankheitsmodifizierenden MS-Therapien im klinischen Alltag eingeführt.
4. Für die Koordination dieser MS-spezifischen Aktivitäten der ÖGN wurde eigens ein MS-Beauftragter oder eine MS-Beauftragte nominiert, der oder die mithilfe einer kleinen Gruppe österreichischer MS-Experten und MS-Expertinnen auch MS-spezifische standespolitische und patientenrelevante Aufgaben im Namen der ÖGN wahrnimmt, beispielsweise im Erstattungsprozess von Therapien mit dem Hauptverband der Sozialversicherungsträger.
Die vorliegende „Österreichische Multiple Sklerose Bibliothek“ ist ein weiteres gelungenes Beispiel für die systematische Vernetzung österreichischer Neurologen und Neurologinnen zum Wohl österreichischer MS-Patienten und MS-Patientinnen. Selbstverständlich und sehr gerne hat sich die ÖGN als eine der „Schirmherrinnen“ dieses Gemeinschaftsprojekts zur Verfügung gestellt. Es steht außer Frage, dass ein modernes Betreuungskonzept am besten nach dem neuesten Erkenntnisstand informierte Neurologen und Neurologinnen und Patienten und Patientinnen vereint, um gemeinsam die individuell richtigen diagnostischen, therapeutischen und auch psychosozialen Entscheidungen zu treffen. Die „Österreichische MS-Bibliothek“ bietet hierfür die umfassende und evidenzbasierte Informationsgrundlage – den Herausgebern und den Autoren und Autorinnen ist für das gelungene Buch sehr zu gratulieren! Es ist allen Neurologen und Neurologinnen, MS-Betroffenen und ihren Angehörigen, anderen beteiligten Berufsgruppen, aber auch den öffentlichen Entscheidungsträgern und -institutionen zu wünschen, dass die „Österreichische MS-Bibliothek“ zum „Goldstandard“ der Betreuung von MS-Patienten und MS-Patientinnen in Österreich wird.
Univ. Prof. Dr. Reinhold Schmidt, Präsident der Öster. Gesellschaft f. Neurologie
EMSP, der Europäische Dachverband von nunmehr 40 nationalen MS-Patientenorganisationen in 35 Ländern Europas, hat seit seiner Gründung im Jahr 1989 durch eine Vielzahl von Landesgrenzen überschreitenden Projekten in erheblichem Umfang dazu beigetragen, den über 700.000 Menschen mit Multipler Sklerose eine weithin gehörte Europäische Stimme zu geben.
Dies gilt zum Beispiel für die besonders aktive Rolle der EMSP als ständiges Mitglied der PCWP (Patient and Consumer Working Party) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) und die Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe, die sich bemüht, von Patientenregistern gesammelte Daten für die Aufgaben der EMA nutzbar zu machen.
EMSP’s ganzes Bestreben dient dazu, vorhandenes Wissen zur Multiplen Sklerose zu verbreiten und zur Gewinnung von neuen Erkenntnissen zum Wohle der MS-Patienten und MS-Patientinnen sowie ihrer Angehörigen beizutragen.
Mit der Österreichischen MS-Bibliothek setzen die Herausgeber sowie die Autoren und Autorinnen diesen Ansatz in lobenswerter Weise fort; die OEMSB bietet eine neuartige Möglichkeit für die MS-Betroffenen und alle anderen Interessierten, durch Vertiefung ihres aktuellen Wissens ihre Möglichkeiten zur aktiven Mitwirkung auf allen Ebenen gesundheitspolitischer Fragen zu verbessern.
Es bleibt zu hoffen, dass sich Unterstützer und Unterstützerinnen finden werden, die die hier zusammengetragenen umfassenden Erkenntnisse zu nahezu allen wichtigen Aspekten der Multiplen Sklerose selbst und des Lebens auch in anderen Sprachen verfügbar machen werden, z. B. im Rahmen des für 2016/17 geplanten „Toolkit for best practice among EMSP members“?!
Christoph Thalheim, Director External Affairs, European MS Platform
Editorial
Liebe Leserinnen,liebe Leser!
Zum Zeitpunkt der Fertigstellung der 4. Auflage der Österreichischen Multiple Sklerose Bibliothek (ÖMSB) breitete sich gerade die neue Coronavirus-Krankheit COVID-19 aus, mit außerordentlichen Konsequenzen für die ganze Welt. MS-Erkrankte sind von den Auswirkungen individuell unterschiedlich betroffen, da manche immunmodulierenden Therapien das körpereigene Abwehrsystem gegenüber Krankheitserregern, wie auch Viren, schwächen können. Neben den üblichen allgemeinen Empfehlungen sollen MS-Betroffene deshalb spezielle Stellungnahmen beachten und dazu liefern die Internetseiten verschiedener nationaler MS-Gesellschaften verlässliche Informationen (websites: oemsg.at, dmsg.de, multiplesklerose.ch und nationalmssociety.org).
Bedeutsam in diesem Kontext ist auch eine Studie (Fallserie von 214 Patienten und Patientinnen mit COVID-19), welche kürzlich veröffentlicht wurde und erstmals zeigen konnte, dass direkt durch die Infektion mit SARS-CoV2 neurologische Symptome verursacht werden können (Ling Mao et al.: Neurologic Manifestations of Hospitalized Patients With Coronavirus Disease 2019 in Wuhan, China. JAMA Neurol April 10, 2020). Diese Erkenntnis ist auch für differentialdiagnostische Überlegungen, zum Beispiel bei einer bestehenden neurologischen Krankheit, bedeutsam.
Falschmeldungen haben leider in Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie stark zugenommen. „Fake News“ verbreiten sich im Internet bzw. den Sozialen Medien mit enormer Geschwindigkeit. Die Medizinische Universität Wien musste kürzlich zu „angeblichen Forschungsergebnissen der Wiener Uniklinik“ klarstellen, dass es sich dabei um Fake News handelt.
Andererseits sind wir mehr denn je auf das Internet angewiesen. Weltweite Kommunikation ohne Nutzung von Internetdiensten ist nicht mehr vorstellbar. Ein wesentlicher Beweggrund für die Entwicklung und Herausgabe der ÖMSB war die Bereitstellung eines Werkes zu allen Aspekten der MS, auch um falschen Informationen, welche vor allem im Internet und den sozialen Netzwerken verbreitet wurden, entgegen zu wirken. Daten ohne verlässliche Quellenangabe verlangen eine Überprüfung („Faktencheck“). Neben einer Verunsicherung der Leser und Leserinnen können fehlerhafte, mitunter gefährliche Falschbehandlungen bzw. Unterlassungen folgen.
MS-Erkrankte, Ärzte und Ärztinnen sowie Angehörige medizinischer Gesundheitsberufe müssen sich auf medizinische Darstellungen und Studienergebnisse verlassen können. Der Bezug zu transparenten reproduzierbaren Daten, wie sie etwa qualitativ hochstehenden Leitlinien oder Übersichtsarbeiten der Cochrane Collaboration entnommen werden können, ist von größter Wichtigkeit. Die ÖMSB nimmt darauf besonders Bedacht, weshalb der Untertitel „Evidenzbasierte Informationen zu allen Aspekten der MS für Betroffene, Ärzte und Ärztinnen und Angehörige medizinischer Gesundheitsberufe“ hinzugefügt wurde.
Die ÖMSB liegt erstmals ausschließlich als E-Book vor. Zugleich mit der neuen, innovativen Wissensvermittlung wurde auch der Umfang durch neue Kapitel ergänzt. Die 47 Kapitel können überblicksartig in 4 Bereiche zusammengefasst werden:
▶Kapitel 01–05: Pathologie, ursächliche Faktoren
▶Kapitel 06–13: Diagnose, Krankheitsverlauf
▶Kapitel 14–34: Therapie
▶Kapitel 35–47: Leben mit MS
Wir hoffen, dass die breit gefächerten Informationen für die MS-Erkrankten, Ärzte und Ärztinnen sowie die in verschiedenen Berufen im Gesundheitswesen Tätigen interessant und hilfreich sind. Dazu benötigen wir eine weite Verbreitung des Werkes und diesbezüglich auch Ihre Mithilfe. Darüber hinaus ersuchen wir um Feedback, denn konstruktive Kritik hilft uns in der Weiterentwicklung der ÖMSB.
Frühjahr 2020
Die Herausgeber der ÖMSB
Geleitworte
Menschen mit der Diagnose Multiple Sklerose durchleben verschiedene und zum Teil schwere Krankheits- und damit auch Lebensphasen. In Österreich erkranken jährlich rund 400 Personen an Multipler Sklerose, gesamt gesehen leben in unserem Land etwa 12.500 Betroffene mit dieser Krankheit. Entgegen anderen chronischen Erkrankungen sind dabei auch junge Menschen oft betroffen, innerhalb der Gruppe junger Erwachsener ist Multiple Sklerose die häufigste Erkrankung des zentralen Nervensystems.
Die moderne naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin konnte in den letzten Jahrzehnten herausragende Erfolge bei der Behandlung von schweren Krankheiten verzeichnen. Angesichts der Komplexität der Multiplen Sklerose sowie der rasanten Entwicklungen neuer Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten sind umfangreiche und evidenzbasierte Informationen auf Basis des neuesten Standes der Wissenschaft von großer Bedeutung. Als Gesundheitsministerin betrachte ich die Intention des vorliegenden Sammelbandes, dieses Wissen in gleicher Weise aus der fachlichen und der Betroffenen-Perspektive zu beleuchten, als ein innovatives wie beachtenswertes Vorhaben.
Es würde mich freuen, wenn viele Ärztinnen und Ärzte und weitere Vertreterinnen und Vertreter der Gesundheitsberufe sowie Betroffene, Angehörige und interessierte Personen von den profunden Informationen aus der vorliegenden Österreichischen Multiple Sklerose Bibliothek profitieren. Ich möchte den Herausgebern sowie allen Autorinnen und Autoren dieses Sammelbandes für ihr Engagement recht herzlich danken.
Mai 2017
IhreDr.in Pamela Rendi-Wagner, MScBundesministerin für Gesundheit und Frauen
Information, Wissen und Kommunikation sind wichtige Bestandteile einer tragfähigen und gut funktionierenden Patienten/Ärzte-Beziehung und die Voraussetzung dafür, dass die Patienten und Patientinnen Co-Produzenten und Co-Produzentinnen ihrer eigenen Gesundheit werden können. Besonders bei chronischen Erkrankungen ist die sogenannte Adhärenz ein wichtiger Bestandteil für den Therapierfolg. Eine gute therapeutische Beziehung kann außerdem nur dann funktionieren, wenn die Informationsasymmetrie, die sehr oft und nach wie vor besteht, möglichst gut ausgeglichen wird, um partizipative Entscheidungsprozesse zu ermöglichen. Sektorale und punktuelle Informationsbroschüren, die entweder auf die Bedürfnisse der Patienten und Patientinnen oder auf die Bedürfnisse des Gesundheitspersonals fokussieren, gibt es bereits in Vielzahl. Ein innovativer und erfolgversprechender Ansatz ist es daher, wenn evidenzbasiertes Wissen mit dem Ziel aufbereitet wird, sowohl für Patienten und Patientinnen als auch für Ärzte und Ärztinnen als Grundlage für die gemeinsame therapeutische Beziehung verwendet zu werden. Verständliche und relevante Information, die das aktuelle Wissen auf den Punkt bringt und in einem Sammelband gebündelt wird, ist eine große Herausforderung. Selten wird diese Herausforderung angenommen, noch seltener gelingt es, dieses Ziel zu erreichen. Daher kann die Initiative der Österreichischen Multiple Sklerose Bibliothek mit gutem Gewissen als gelungenes „Leuchtturmprojekt“ für das österreichische Gesundheitswesen und insbesondere für den Bereich Multiple Sklerose bezeichnet werden.
Ich möchte mich daher bei allen Initiatoren und Initiatorinnen sowie Mitautoren und Mitautorinnen für das großartige Engagement bedanken und bin mir sicher, dass dieser Ansatz ein neues Kapitel in der therapeutischen Partnerschaft zwischen Patienten und Patientinnen und Ärzte und Ärztinnen eröffnen wird.
Mai 2016
Dr. Gerald BachingerNÖ PatientInnen- und Pflegeanwalt
01
Einleitung
Ulf Baumhackl, Thomas Berger, Christian Enzinger
Auf der Titelseite des Buches schwebt ein Albatros, ein ganz besonderer Vogel, weil er durch seine spezielle Flugtechnik und vor allem durch Haushaltung seiner Energie sehr weite Strecken fast ohne Muskelkraft zurücklegen kann – eine schöne Metapher für das vorliegende Buch zur Multiplen Sklerose. Der Albatros hat zwar gewisse Einschränkungen in seiner Bewegungsfähigkeit, ist aber trotzdem (oder gerade deswegen?) zu außergewöhnlichen Leistungen fähig.
Die Multiple Sklerose (MS) zählt zu den häufigsten Erkrankungen des zentralen Nervensystems bei jungen Erwachsenen. In Österreich sind ungefähr 13.000 Menschen von MS betroffen. Viele sind der Ansicht, dass es sich noch immer um eine Erkrankung handelt, welche in kurzer Zeit zu einer schweren Behinderung führt. Diese Sichtweise des nicht beeinflussbaren Fortschreitens der Erkrankung muss aber mittlerweile für die allermeisten Betroffenen revidiert werden!
Bei keiner anderen neurologischen Erkrankung ist es in den vergangenen Jahren zu einer vergleichbaren Entwicklung von neuen Therapiemöglichkeiten gekommen, welche zu einem Paradigmenwechsel in der Behandlung, vor allem aber in der alltäglichen Betreuung geführt haben. Zusätzlich ermöglichen verbesserte MRT-Techniken, dass die Diagnose bereits bei diskreter und erstmaliger Symptomatik gestellt werden kann.
Das Interesse an und die Aufmerksamkeit für MS sind daher in den vergangenen 25 Jahren sprunghaft angestiegen, vor allem dank der krankheitsmodifizierenden Therapien, deren Ära und stetige Entwicklung ihren Anfang mit der Einführung von Interferon-beta genommen hat. Seit diesem Meilenstein hat sich enorm viel Erkenntnisgewinn ergeben, sowohl zum besseren Verständnis der Krankheitsentstehung, wenngleich die Ursachen noch nicht vollständig geklärt sind, als auch zur sicheren und frühen Diagnose der Erkrankung und der Entwicklung weiterer, zum Teil innovativer hochwirksamer Therapiemöglichkeiten.
Da durch die jetzt zugelassenen und verfügbaren Therapien der Krankheitsverlauf individuell positiv beeinflusst werden kann und in vielen Fällen ein Zustand „frei von Krankheitsaktivität“ erzielbar ist, müssen frühere Aussagen zur Prognose neu formuliert werden. Auch das Therapiemanagement hat sich in den vergangenen Jahren erheblich weiterentwickelt. Die Patienten und Patientinnen sind bei den Entscheidungen der mitunter sehr komplexen Therapieoptionen mitbestimmend und legen – gemeinsam mit den Ärzten, Ärztinnen, Therapeuten und Therapeutinnen – die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen fest. Durch eine geteilte, partizipative Entscheidungsfindung („shared decision making“) können das Verständnis zu Diagnose und Therapie, die Therapietreue und vielleicht sogar das Behandlungsergebnis verbessert werden.
Die Österreichische Multiple Sklerose Bibliothek (ÖMSB) soll möglichst umfangreich Informationen zur MS – auf dem neuesten Stand des Wissens und evidenzbasiert – für MS-Betroffene, Ärzte und Ärztinnen sowie medizinisches Fachpersonal zusammenführen. Die Herausgeber haben sich zum Ziel gesetzt, mit 49 Kapiteln möglichst umfassend die Belange der MS darzustellen: von der Pathogenese über die Diagnostik und Therapie bis zu sozialen Aspekten und dem Leben mit MS. Wir sind uns bewusst, dass zu jedem einzelnen Kapitel ein eigenes Buch geschrieben werden könnte, aber es ist uns ein Anliegen, dass die Inhalte der einzelnen Kapitel relativ kurz und prägnant abgefasst sind und, ergänzt durch Tabellen und Abbildungen, einen einfachen und raschen Überblick zu einem Thema ermöglichen. Zusätzliche Verweise auf Internetadressen und – dem Format des Buches geschuldet in begrenzter Form – weiterführende Literatur sind bei jedem Kapitel angeführt. Als Herausgeber und stellvertretend für alle Autoren und Autorinnen dieses Buches ist uns natürlich auch bewusst, dass nur selten etwas in Perfektion gelingt – daher würden wir uns sehr über andere Meinungen, Kritiken und Verbesserungsvorschläge zu diesem Buch und seinen Inhalten freuen.
Das E-Book-Format wurde gewählt, da die elektronische Buchform, gemeinsam mit der zunehmenden Verwendung von E-Readern, PCs, Tablets und Smartphones, die einfachste und modernste Form der Informationsvermittlung darstellt. Der rasante Fortschritt in der Entwicklung therapeutischer Optionen und das ständig wachsende Wissen zu der Erkrankung machen zeitnahe Updates notwendig.
Die Herausgeber haben gemeinsam mit einem MS-Experten und MS-Expertinnen umfassenden Editorial Board das vorliegende Buchkonzept entwickelt, Autoren und Autorinnen aus ganz Österreich haben zu den einzelnen Buchkapiteln beigetragen. Es wurde – wo immer möglich – Wert auf allgemeine Verständlichkeit gelegt, da ein breiter Leserkreis angesprochen werden soll. Manche Kapitel behandeln jedoch Themen, welche ohne Fachausdrücke nicht präzise dargestellt werden können. Die hierfür notwendigen Begriffserklärungen sind in einem Glossar (einer alphabetisch sortierten Liste von Fachbegriffen) am Ende des Buches angeführt.
Die ÖMSB beruht auf den aktuellsten wissenschaftlichen, klinischen und die Belange von Menschen mit MS betreffenden gesellschaftlichen Erkenntnissen. Das vorliegende E-Book soll natürlich nicht das Gespräch mit Ihrem Arzt oder Ihrer Ärztin ersetzen, sondern die Grundlage hierfür und für Fragen, die sich daraus ergeben könnten, bilden.
An dieser Stelle möchten wir uns bei allen Autoren und Autorinnen sehr herzlich bedanken für ihre spontanen Zusagen, an diesem Buch trotz stetig zunehmender anderer Verpflichtungen mitzuwirken, für ihre zur Verfügung gestellte Expertise, ihre fundierten Beiträge und vor allem die wertvolle Zeit, die sie dem Gelingen dieses Projekts gewidmet haben.
Besonderer Dank gilt der pharmazeutischen Industrie, die diesem Projekt von Beginn an positiv gegenüber gestanden ist. Die Grundidee, objektive Informationen in einem Buch zusammenzustellen, welches zugleich für Patienten und Patientinnen und neben Ärzten und Ärztinnen auch für Angehörige der verschiedenen Gesundheitsberufe geschrieben wurde, wurde voll unterstützt und dabei auf die Inhalte in keiner Weise Einfluss genommen.
Für die gewohnt professionelle, effiziente und sehr angenehme Zusammenarbeit möchten wir uns beim facultas Universitätsverlag sehr herzlich bedanken.
Wir wünschen, auch im Namen des Editorial Boards, der neuen E-Book-Version der ÖMSB eine große Verbreitung und Akzeptanz bei MS-Betroffenen und Ärzten und Ärztinnen, aber auch bei Krankenpflegern und Krankenpflegerinnen, Therapeuten und Therapeutinnen und allen anderen Berufsgruppen, die mit MS-Patienten und MS-Patientinnen in Kontakt treten.
02
Pathologie und Immunpathogenese der Multiplen Sklerose
Schlüsselwörter
Autoimmunerkrankung, Entmarkungsherde, Neurodegeneration
Kurzfassung
▶MS wird überwiegend als Autoimmunerkrankung gesehen. Aktivierte Lymphozyten dringen durch die gestörte Blut-Hirn-Schranke in das zentrale Nervensystem ein. Die neurologischen Ausfälle sind die Folge von Schädigungen, die durch eine Entzündung ausgelöst werden: Es kommt zu einer zielgerichteten Zerstörung der Myelinscheiden der Nervenfasern. Diese „Entmarkung“ kann zum Teil repariert werden, insbesondere bei der schubförmigen MS. Wenn es zu einer Schädigung von Nervenzellfortsätzen (Axonen) kommt, ist mit dauerhaften klinischen Ausfällen zu rechnen.
▶Bei fortgeschrittener Erkrankung (progrediente MS) ist die Entzündung im zentralen Nervensystem „eingeschlossen“ und durch die – wieder intakte – Blut-Hirn-Schranke vom peripheren Immunsystem getrennt, weshalb die Medikamente nicht zum Ort des Geschehens gelangen und die derzeit verfügbaren immunmodulatorischen bzw. immunsuppressiven Therapien nicht wirksam sind.
▶Neue Therapieverfahren, die eine Neuroprotektion bewirken sollen, sind in Entwicklung und werden bereits in klinischen Studien untersucht. Bei progredienten Krankheitsverläufen versucht man, therapeutisch eine Hemmung der Mikroglia-Aktivierung (Zellen, die im Immunsystem eine wichtige Rolle spielen), eine Blockade der oxidativen Gewebeschädigung und eine Blockade bestimmter Ionenkanäle zu erzielen.
▶Differenzialdiagnose: In den vergangenen Jahren konnten MS-ähnliche Erkrankungen mit manchmal gleichartigen Symptomen durch spezielle Zusatzuntersuchungen eindeutig abgegrenzt werden. Beispielsweise kann bei der Neuromyelitis optica durch eine Laboruntersuchung der serologische Nachweis eines spezifischen Antikörpers vorgenommen werden. Da andere immunologische Mechanismen als bei MS zugrunde liegen, kommen auch andere Therapiestrategien zur Anwendung.
Fazit
Das Verständnis der Mechanismen der Demyelinisierung (Entmarkung) und Neurodegeneration (Verlust von Nervenzellen) im schubhaften Stadium der MS hat zu therapeutischen Konzepten geführt, die in Studien – besonders bei Einsatz zu einem frühen Zeitpunkt der Erkrankung – eine sehr gute Wirksamkeit zeigen konnten. Bei progredientem Verlauf konnte bisher keine effiziente medikamentöse Behandlung nachgewiesen werden.
Pathologie und Immunpathogenese der Multiplen Sklerose
Hans Lassmann
Einleitung
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronische entzündliche Erkrankung des Gehirns und Rückenmarks. Sie führt zu fokalen Entmarkungsherden in der grauen und weißen Substanz des zentralen Nervensystems. Die selektive Zerstörung der Myelinscheiden der Nervenfasern ist das charakteristische Merkmal der Erkrankung. Sie bedingt eine Beeinträchtigung der Nervenleitung und damit neurologische Ausfälle. Die durch die Entmarkung ausgelösten Ausfälle sind reversibel, da Myelinscheiden im Gehirn und Rückenmark von MS-Patienten und MS-Patientinnen zum Teil wieder repariert werden können. Zeitgleich mit der Entmarkung werden jedoch auch Axone – das sind die Impuls leitenden Fortsätze der Nervenzellen – geschädigt oder durchtrennt. Der Verlust von Axonen ist irreversibel und daher mit permanenten klinischen Ausfällen der Patienten und Patientinnen verbunden. Das Gehirn und das Rückenmark haben jedoch eine sehr große funktionelle Reservekapazität und es bedarf eines Verlusts von mehr als 50 % der Nervenfasern, bis klinisch-neurologische Ausfälle bemerkbar werden. Aus diesem Grund treten permanente funktionelle Ausfälle bei Patienten und Patientinnen mit MS erst in späteren Stadien der Erkrankung und vor allem im progredienten Stadium auf.
Tabelle 1: Pathologische Veränderungen im zentralen Nervensystem bei MS-Patienten und MS-Patientinnen
Schubförmige MS
Die Schädigung des Nervensystems bei MS-Patienten und MS-Patientinnen wird durch die Entzündung ausgelöst und vorangetrieben. Entzündliche Infiltrate im Gehirn und Rückenmark bestehen vor allem aus Lymphozyten, Plasmazellen und aktivierten Makrophagen oder Mikrogliazellen.
Abbildung 1: Mechanismen der Entmarkung und Neurodegeneration im schubhaften Stadium der Multiplen Sklerose
T- und B-Lymphozyten werden im peripheren Immunsystem aktiviert und können dadurch in das zentrale Nervensystem eindringen. Das ist mit einer Störung der Funktion der Blut-Hirn-Schranke verbunden. Im zentralen Nervensystem erkennen die Lymphozyten ihr spezifisches Antigen und werden weiter aktiviert. Sie produzieren Zytokine und zytotoxische Entzündungsmediatoren, die die Myelinscheiden und in geringerem Ausmaß die Axone angreifen und zerstören.
Von den meisten Ärzten und Ärztinnen sowie Forschern und Forscherinnen wird MS als eine Autoimmunerkrankung angesehen. In einer solchen verwechselt das immunologische Abwehrsystem Bestandteile des Gehirns mit in den Körper eingedrungenen Erregern und versucht, diese zu zerstören. Der endgültige Beweis für die Ansicht, dass MS eine Autoimmunerkrankung ist, steht jedoch bislang aus. Es ist nicht gelungen, eine Autoimmunreaktion nachzuweisen, die eine MS-spezifische Diagnostik erlaubt oder für eine Desensibilisierungstherapie (Verminderung der Überreaktion des Immunsystems) genutzt werden könnte. Ein wichtiger indirekter Hinweis dafür, dass MS durch Autoimmunität ausgelöst wird, ist die Beobachtung, dass die Patienten und Patientinnen auf immunsupprimierende Therapien ansprechen. Dies gilt vor allem bei Patienten und Patientinnen im frühen (schubhaften) Stadium der Erkrankung. Viele verschiedene immunsuppressive oder immunmodulierende Behandlungen stehen heute zur Verfügung. Abhängig von ihrem Wirkungsmechanismus führen sie zu einer Zerstörung von Lymphozyten, zur Retention von Lymphozyten in den Lymphknoten, zur Verminderung ihrer Migration aus dem Blut in das Nervensystem oder zu einer Verminderung ihrer Aktivierung im Gehirn und Rückenmark. Therapien, die T-Zellen und B-Zellen gleichzeitig unterdrücken, sind die wirksamsten, und die Elimination von B-Lymphozyten allein zeigt auch eine signifikante Verringerung der Aktivität der Erkrankung. Ziel gegenwärtiger Bemühungen ist, neue immunmodulatorische Therapien zu finden, die spezifischer in den Krankheitsprozess eingreifen und daher wirksamer sind und weniger nennenswerte Nebenwirkungen aufweisen.
Tabelle 1: Mechanismen der Entmarkung und Neurodegeneration im zentralen Nervensystem von MS-Patienten und MS-Patientinnen
RRMS
Progrediente MS
Entzündung (T- und
B-Zellen
)
++
+
Autoantikörper
–/++
–
Mikroglia- und Makrophagenaktivierung
++
++
Mitochondrienschädigung (Energiedefizienz)
++
++
Mitochondrienschädigung (Sauerstoffradikalbildung)
+/–
++
Alternsbedingte Eisenablagerung
+/–
++
RRMS: schubhafte MS
Progrediente MS
Nach einer Erkrankungsdauer von 10 bis 15 Jahren ändert sich das klinische Bild der MS. Neue Schübe der Erkrankung mit darauffolgenden Remissionen werden selten und es kommt zu einer langsamen Zunahme der neurologischen Ausfälle. Immunmodulatorische oder immunsuppressive Therapien sind in diesem Stadium nicht mehr wirksam. Die Veränderung des klinischen Bildes spiegelt sich auch in der Pathologie der Erkrankung. Neue Entmarkungsherde im Marklager werden selten, die bereits bestehenden Herde werden jedoch langsam größer. Zusätzlich nehmen die Entmarkungsherde in der Hirnrinde an Zahl und Größe zu. Diese Veränderungen gehen mit einem langsam progredienten Verlust von Hirngewebe (Atrophie der grauen und weißen Substanz) einher.
Wie im frühen Stadium der Erkrankung entwickeln sich die chronischen Veränderungen im Gehirn und Rückenmark von Patienten und Patientinnen mit progredienter MS auf der Basis einer Entzündungsreaktion. Die Entzündung ist in diesem Stadium der Erkrankung weitgehend im Nervensystem gefangen und vom peripheren Immunsystem durch eine zum Teil reparierte Blut-Hirn-Schranke getrennt. Das ist einer der Gründe der fehlenden Wirksamkeit immunmodulierender Behandlungen bei Patienten und Patientinnen mit progredienter MS, da die verwendeten Pharmaka nicht in ausreichender Menge durch die intakte Blut-Hirn-Schranke in das Nervensystem eindringen können. Darüber hinaus verliert die Entzündung im weiteren Verlauf der chronisch progredienten Erkrankung an Bedeutung. Die Schädigung des Nervengewebes wird durch Faktoren vermehrt, die durch das Altern des Gehirns und die Anhäufung von geschädigten Hirnanteilen bedingt werden. Die wichtigsten Mechanismen der Schädigung des Nervensystems in diesem Stadium der Erkrankung werden durch Sauerstoffradikale ausgelöst, die die Mitochondrien schädigen und damit zu einem Zustand des chronischen Energiemangels führen. Mikrogliazellen, die im Rahmen des Entzündungsprozesses aktiviert werden, sind die primäre Quelle für Sauerstoffradikale. Mit zunehmendem Alter der Patienten und Patientinnen und mit zunehmender Läsionslast im Nervengewebe werden diese jedoch auch von defekten Mitochondrien gebildet, und deren schädigende Wirkung wird durch die Freisetzung von Eisen im Gehirn verstärkt.
Die Entzündungsreaktion hat sich im zentralen Nervensystem hinter einer reparierten Blut-Hirn-Schranke festgesetzt. Ein Teil der T- und B-Lymphozyten erkennt ihr spezifisches Antigen und wird aktiviert. Sie produzieren Zytokine, die Mikrogliazellen aktivieren und eine langsame weitere Schädigung des Myelins und der Axone auslösen. Dieser Prozess wird durch zusätzliche Mechanismen verstärkt, die durch das zunehmende Alter der Patienten und Patientinnen und die Vorschädigung des Nervensystems bedingt sind. Die wichtigsten Amplifikationsmechanismen sind die chronische Mikrogliaaktivierung, die zunehmende Schädigung der Mitochondrien und die alternsbedingte Ablagerung und Freisetzung von Eisen im Gehirn und Rückenmark.
Abbildung 2: Mechanismen der Entmarkung und Neurodegeneration im progredienten Stadium der Multiplen Sklerose
Die Entzündungsreaktion hat sich im zentralen Nervensystem hinter einer reparierten Blut-Hirn-Schranke festgesetzt. Ein Teil der T- und B-Lymphozyten erkennt ihr spezifisches Antigen und wird aktiviert. Sie produzieren Zytokine, die Mikrogliazellen aktivieren und eine langsame weitere Schädigung des Myelins und der Axone auslösen. Dieser Prozess wird durch zusätzliche Mechanismen verstärkt, die durch das zunehmende Alter der Patienten und Patientinnen und die Vorschädigung des Nervensystems bedingt sind. Die wichtigsten Amplifikationsmechanismen sind die chronische Mikrogliaaktivierung, die zunehmende Schädigung der Mitochondrien und die alternsbedingte Ablagerung und Freisetzung von Eisen im Gehirn und Rückenmark.
Die neuen Erkenntnisse über die Krankheitsmechanismen in der progredienten MS haben zur Entwicklung einer größeren Zahl neuer Therapien geführt, die in experimentellen Studien eine neuroprotektive Wirkung erzielen. Ziele dieser Therapieverfahren sind die Hemmung der Mikrogliaaktivierung, die Blockade der oxidativen Gewebeschädigung und die Blockade bestimmter Ionenkanäle, die in der finalen Zerstörung der Nervenzellen und ihrer Fortsätze eine Rolle spielen. Einige dieser Therapien (Laquinimod, Fumarate, hochdosiertes Biotin, Na+-Kanal-Blocker) werden bereits jetzt oder in naher Zukunft in klinischen Studien in MS-Patienten und MS-Patientinnen auf ihre Wirksamkeit getestet. Ob sie eine klinisch relevante Besserung in Patienten und Patientinnen mit progredienter MS zeigen und von ihrem Nebenwirkungsprofil akzeptabel sind, kann nur in kontrollierten klinischen Studien an MS-Patienten und MS-Patientinnen geklärt werden.
MS-ähnliche Erkrankungen
Neben der MS gibt es eine Reihe anderer entzündlicher Entmarkungserkrankungen, die für lange Zeit als Teil des MS-Krankheitsspektrums angesehen wurden. Die bedeutendste Erkrankung dieser Gruppe ist die Neuromyelitis Optica (NMO). Bis vor wenigen Jahren wurde NMO für eine spezielle Form der MS gehalten, bei der die Entmarkungsherde vorwiegend im Rückenmark und in den Sehnerven lokalisiert sind. Vor einigen Jahren wurde jedoch ein Autoantikörper im Serum von NMO-Patienten und NMO-Patientinnen entdeckt, der für diese Form der Erkrankung spezifisch ist und eine eindeutige klinische Diagnose und Abgrenzung von dem klassischen Krankheitsbild der MS ermöglicht. Die NMO-Autoantikörper sind gegen einen Wasserkanal (Aquaporin 4) von Astrozyten gerichtet. Aus diesem Grund werden in der NMO zuerst die Astrozyten geschädigt und die Entmarkung ist eine Folge der Dysfunktion dieser Zellen. Es ist wichtig, das Krankheitsbild der NMO klar von dem der MS zu trennen, da die Patienten und Patientinnen ganz verschieden auf immunmodulatorische Therapien reagieren. Medikamente, die bei MS-Patienten und MS-Patientinnen sehr erfolgreich eingesetzt werden, wie zum Beispiel Interferone, Natalizumab oder Fingolimod, können bei NMO-Patienten und NMO-Patientinnen neue Schübe der Erkrankung auslösen oder die neurologischen Beschwerden verstärken. Im Gegensatz dazu scheinen Therapien gegen B-Lymphozyten, den Botenstoff Interleukin-6 und das Komplementsystem bei diesen Patienten und Patientinnen erfolgreich zu sein.
In den letzten Jahren wurde auch eine Subgruppe von Patienten und Patientinnen mit entzündlicher Entmarkungserkrankung identifiziert, in deren Blut man Autoantikörper gegen Myelin Oligodendroglia Glykoprotein (MOG) finden kann. Diese Patienten und Patientinnen zeigen klinisch das Bild einer akuten disseminierten Enzephalomyelitis, einer NMO und selten einer MS-ähnlichen Erkrankung mit Entmarkungsherden, die vor allem im Hirnstamm lokalisiert sind. Zum Unterschied zur MS sind Kinder häufiger von einer MOG-Antikörper-assoziierten Entmarkungsenzephalitis betroffen. Mit diesen Patienten und Patientinnen gibt es bislang noch kaum therapeutische Erfahrungen. Aufgrund der zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen ist jedoch anzunehmen, dass sie auf ähnliche Therapien wie NMO-Patienten und NMO-Patientinnen ansprechen.
Es ist gegenwärtig nicht klar, ob durch gezielte Suche nach neuen Autoantikörpern noch andere Krankheitsbilder gefunden werden können, die ähnlich wie oben beschrieben von der MS abgegrenzt werden müssen, da sie auf immunologische Therapien anders ansprechen.
Zusammenfassung
In den letzten Jahren wurden große Fortschritte im Verständnis der Krankheitsmechanismen der MS erzielt und diese Erkenntnisse haben bereits zu einer wesentlichen Verbesserung der therapeutischen Möglichkeiten geführt. Dies gilt vor allen für Patienten und Patientinnen im frühen Stadium der Erkrankung. Neue Erkenntnisse zur Pathogenese der progredienten MS lassen erwarten, dass in den nächsten Jahren auch neuroprotektive Behandlungen gefunden werden, die auch im späten Stadium den Krankheitsprozess verzögern oder sogar aufhalten können.
Ausgewählte Literatur
Dendrou CA, Fugger L, Friese MA. Immunopathology of multiple sclerosis. Nat Rev Immunol 2015; 15: 545–558
Hemmer B, Kerschensteiner M, Korn T. Role of the innate and adaptive immune response in the course of multiple sclerosis. Lancet Neurol 2015; 14: 406–419
Mahad D, Trapp BD, Lassmann H. Pathological mechanisms in progressive multiple sclerosis. Lancet Neurol 2015; 14: 183–193
Pröbstel AK, Sanderson NS, Derfuss T. B cells and autoantibodies in multiple sclerosis. Int J Mol Sci 2015; 16: 16576–16592
Wingerchuk DM, Banwell B, Bennett JL et al. International consensus diagnostic criteria for neuromyelitis optica spectrum disorders. Neurology 2015; 85: 177–189
03
Epidemiologie der Multiplen Sklerose
Schlüsselwörter
Häufigkeit der MS, Einfluss äußerer und genetischer Faktoren, österreichische Prävalenzstudien, Epstein-Barr-Virus
Kurzfassung
▶Die weltweite Zahl von Menschen mit MS wird auf 2,8 Millionen geschätzt. Für die Krankheitsempfänglichkeit scheinen genetische und Umweltfaktoren maßgebend.
▶Die geografische Verteilung von MS ist sehr unterschiedlich. Eine gewisse Abhängigkeit zur Entfernung vom Äquator ist feststellbar, in manchen nördlichen Regionen kommt MS relativ häufig vor (andererseits ist sie in anderen nördlichen Gebieten relativ selten), aus südlichen (äquatornahen) Ländern wird eine geringere Anzahl von Erkrankungen berichtet. Eine zufriedenstellende Erklärung der Zusammenhänge in der Verbreitung der MS existiert zur Zeit nicht.
▶Eine neue Studie unterstreicht die Bedeutung einer Epstein-Barr-Virus-Infektion in der Pathogenese der MS.
▶Zahlreiche Untersuchungen stellen generell eine Zunahme der Häufigkeit von Autoimmunerkrankungen fest. Als Ursachen werden Änderungen des Lebensstils und des sozialen Umfelds, verschiedene Krankheitserreger und weitere Faktoren angeführt, letztlich ist diese Frage nicht ausreichend geklärt.
▶Als Prävalenz wird die Häufigkeit einer Erkrankung bezeichnet. In der österreichischen Prävalenzstudie (2011/2012) wurden zahlreiche Daten erhoben. Die Gesamtzahl der MS-Betroffenen konnte mit 12.500 berechnet werden, 72 % sind weiblich. In 12 % wurde eine familiäre Belastung berichtet. Das Durchschnittsalter bei Auftreten der ersten MS-Symptome liegt bei 30 Jahren. Zum Zeitpunkt der Erhebung lag bei ²/³ eine schubförmige Verlaufsform vor. 32 % waren voll und 13 % teilweise berufstätig.
▶Eine Analyse von Daten österreichischer Sozialversicherungsträger erbrachte eine Gesamtzahl von 13.205 MS-Patienten und MS-Patientinnen.
Fazit
In den vergangenen Jahren konnte beobachtet werden, dass der Weg bis zur definitiven MS-Diagnose mittlerweile deutlich rascher als noch vor 20 Jahren verläuft. Neue, zum Teil hochwirksame Therapien sind hinzugekommen. Der Anteil an MS-Betroffenen, die ohne oder nur mit leichter Beeinträchtigung leben, hat in dieser Zeitspanne zugenommen.
Epidemiologie der Multiplen Sklerose
Ulf Baumhackl
Einleitung
Epidemiologie ist die Wissenschaft von der Häufigkeit und der geografischen Verbreitung von Erkrankungen und sucht nach deren Ursachen und Risikofaktoren in der Umwelt und der Bevölkerung. Durch die Analyse der Krankheitsfälle können Therapien, aber auch Maßnahmen gegen die sozialen Folgen der Krankheit entwickelt werden.
Morbidität ist die Krankheitshäufigkeit innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe.
Prävalenz ist das Maß für die Häufigkeit einer Krankheit zu einem bestimmten Zeitpunkt. Darunter ist die Anzahl der an Multiple Sklerose (MS) Erkrankten einer Bevölkerung oder Region, angegeben in Fällen pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen, zu verstehen. Es werden Gebiete mit niedriger, mittlerer und hoher Prävalenz unterschieden.
Inzidenz ist die Zahl der Neuerkrankungen (an MS) innerhalb des Zeitraumes von einem Jahr pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen.
Menschen mit MS haben gegenüber der allgemeinen Bevölkerung eine höhere Mortalität. In den vergangenen Jahren konnte durch eine verbesserte medizinische Versorgung eine Rückläufigkeit der Sterblichkeit erreicht werden. Progrediente Verlaufsformen und ein höherer Grad der Behinderung sind mit einem höheren Sterblichkeitsrisiko verbunden. Eine Todesursachenstatistik muss kritisch betrachtet werden, da die Grunderkrankung, nicht aber die Folgeerkrankungen erfasst werden. Überwiegend steht die Todesursache bei MS mit infektiösen Komplikationen in Verbindung.
Weltweite Verbreitung der MS
Auf Initiative der internationalen MS-Organisation MSIF wurde 2020 neuerlich eine weltweite epidemiologische Erhebung zur Häufigkeit der MS durchgeführt. 138 Länder nahmen an diesem Projekt teil, das Ergebnis wurde als „MS-Atlas“ im Internet veröffentlicht ▶ Atlas of MS, 3rd edition 2020 (www.msif.org)
Abbildung 1: „MS-Atlas“ 2020, Krankheitshäufigkeit weltweit
Die Informationen sind nur eingeschränkt verwertbar, da in manchen Ländern keine qualitativ hochwertigen Studien durchgeführt wurden und zum Teil nur grobe Schätzungen vorlagen. Eine wesentliche Intention bestand in der Erfassung möglicherweise zugrunde liegender Ursachen der Erkrankung und in der Aufdeckung von Versorgungsdefiziten, um Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen darauf hinzuweisen und Verbesserungen der Betreuung durchsetzen zu können. Auf Grundlage dieser Befragung konnte die weltweite Zahl von Menschen mit MS auf 2,8 Millionen geschätzt werden.
Entscheidend für die Krankheitsempfänglichkeit (Suszeptibilität) sind genetische und Umwelt-Faktoren. Wie auf dem „MS-Atlas“ erkennbar, bestehen regional sehr deutliche Unterschiede in der Häufigkeit der MS, wobei im Verteilungsmuster eine gewisse Abhängigkeit zur Entfernung vom Äquator erkennbar ist. Sowohl in der Nord- wie auch in der Südhälfte ist die MS-Prävalenz äquatornahe niedrig, mit der Entfernung vom Äquator nimmt die Häufigkeit zu. Eine hohe Sonneneinstrahlung sorgt für die Bildung von Vitamin D, welches in das Immunsystem regulierend einzugreifen vermag. In äquatorfernen Ländern kann häufig, insbesondere in den Wintermonaten, ein Vitamin-D-Mangel dokumentiert werden. Diese Regionen, in denen überwiegend Europäer und Europäerinnen bzw. Nachkommen von Europäern und Europäerinnen leben, weisen deutlich höhere Prävalenzraten auf. In anderen Territorien, in denen z. B. afrikanische oder asiatische Völker leben, wird MS seltener festgestellt. Bei manchen Volksgruppen, beispielsweise den Aborigines in Australien oder den Inuit, ist bisher ein Vorkommen von MS extrem selten beobachtet worden. Eine dänische Untersuchung bei Neugeborenen konnte zeigen, dass niedrige Vitamin-D-Spiegel (25-OH-D) bei Neugeborenen mit einem erhöhten Risiko an MS zu erkranken verbunden sind (1). Der Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Spiegel und Krankheitsverlauf bei MS ist bisher aber noch nicht geklärt.
Schon seit vielen Jahren wird ein Zusammenhang zwischen einer Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV) und der Entstehung der MS vermutet. In einer neuen Studie konnte gezeigt werden, dass eine Infektion mit EBV das MS-Risiko sehr stark erhöht (9). Es wird angenommen, dass das Virus die Immunantwort verändert und somit einen weiteren kausalen Faktor für das Auftreten einer MS darstellt.
Am häufigsten treten die ersten MS-Symptome zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf und in bis zu 5 % der Fälle bereits im Kindes- und Jugendalter. Frauen sind 2–3-mal häufiger betroffen als Männer und bei Erkrankungsbeginn im Durchschnitt jünger.
Migrationsstudien
Studien, die an einer Bevölkerungsgruppe durchgeführt wurden, welche das Heimatland verlassen und sich in einem anderen Land angesiedelt hat, ermöglichen eine Beurteilung von Umwelt-Einflussfaktoren, wenn veränderte klimatische, soziale, kulturelle und gesundheitliche Bedingungen vorliegen. Erfolgt die Migration vor der Pubertät, also noch während des Reifungsprozesses des Immunsystems, entspricht das MS-Risiko dem Land der Zuwanderung mit anderen Umweltbedingungen. Personen, die nach dem 15. Lebensjahr auswandern, „behalten“ das Erkrankungsrisiko ihres Heimatlandes. Bei Einwanderern und Einwanderinnen der zweiten Generation kann hingegen eine höhere Inzidenzrate (neu diagnostizierte Erkrankungen pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen und pro Jahr) beobachtet werden. Diese Erkenntnisse unterstützen die Annahme, dass äußere Einflussgrößen (westlicher Lebensstil, andere Hygienebedingungen, klimatische Verhältnisse, virale und bakterielle Infektionen, bisher nicht bekannte Faktoren) für das Auftreten der Erkrankung notwendig sind, wobei eine Erklärung der genauen Zusammenhänge derzeit nicht vorliegt.
Die geografische Verteilung der MS ist weltweit und auch innerhalb eines Landes ungleichmäßig ausgeprägt. Die Studiendaten aus zahlreichen Regionen und Ländern müssen mit Vorsicht interpretiert werden, da die Erhebungen aufgrund starker methodologischer Unterschiede nur schwer zu vergleichen sind.
Zunahme der Häufigkeit der MS?
In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Untersuchungen darauf hingewiesen, dass es – offenbar weltweit – zu einer Zunahme von Autoimmunerkrankungen, inklusive der MS, gekommen ist (2, 3). Weshalb Prävalenz und Inzidenz angestiegen sind, ist nicht ausreichend geklärt. Es werden dafür Umweltfaktoren (Sonneneinstrahlung bzw. Vitamin-D-Mangel), verschiedene Krankheitserreger (Bakterien, Viren), vermehrter Zigarettenkonsum und veränderte Lebensbedingungen der Bevölkerung verantwortlich gemacht. Ein sogenannter „westlicher Lebensstil“, welcher auch die industrielle Lebensmittelverarbeitung beinhaltet, die zu einer Störung der Barriere-Funktion des Darmes und der Aktivierung des Immunsystems führen kann, wird als Faktor angenommen.
Die Häufigkeitszunahme (MS-Inzidenz) ist besonders bei Frauen zu beobachten und wird mit hormonalen Effekten, einer längeren Lebenserwartung und veränderten Einflussfaktoren des sozialen Lebensumfeldes in Zusammenhang gebracht. Die Erforschung der komplexen Wechselwirkungen der angeborenen individuellen Reaktionsfähigkeit auf krankmachende Umweltfaktoren ist Gegenstand laufender wissenschaftlicher Untersuchungen.
Es liegen eine Reihe von Gründen vor, die für eine vermehrte Erfassung von MS-Patienten und MS-Patientinnen verantwortlich sein können:
▶Die Intensivierung der Nachforschungen bewirkte größere Datensätze.
▶In einigen Ländern wurde durch systematische Datensammlung ein epidemiologisches Register eingerichtet.
▶Die erhöhte Verfügbarkeit, aber auch Sensitivität und Exaktheit der MRT-Diagnostik innerhalb der neuen MS-Diagnosekriterien ermöglichte die Einbeziehung auch leichter Erkrankungsfälle. Neben den Fortschritten in der Diagnostik spielt auch die weltweite Zunahme an Neurologen und Neurologinnen eine Rolle.
▶Die gestiegene Lebenserwartung führte generell zu einer steigenden Prävalenz chronischer Erkrankungen.
Aus einer höheren Prävalenz alleine kann nicht eine Zunahme der Inzidenz gefolgert werden. Die Angaben zur Inzidenz sind sehr unterschiedlich. Aus Europa und Nordamerika werden aus den meisten Regionen ca. 4–8 jährlich neu diagnostizierte MS-Erkrankungen pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen berichtet, wobei in den südlichen Landesteilen die Zahlen eher niedriger angegeben werden. Aus Schottland, Finnland und Teilen Kanadas hingegen werden die weltweit höchsten Raten mit jährlich 12 Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner und Einwohnerinnen mitgeteilt (2, 4).
Die österreichische Prävalenzstudie 2011
2011 wurde eine österreichweite Erhebung durchgeführt (5), welche folgende Ziele verfolgte:
▶Aktualisierung umfassender Daten zur Epidemiologie der MS
▶Systematische Untersuchung zur Versorgung und Betreuungsqualität der MS
▶Definition der sozio-ökonomischen Dimension der MS
▶Allgemeine Bewusstseinsbildung (awareness) bezüglich der medizinischen Versorgung und der volkswirtschaftlichen Komponente der MS-Betroffenen
Epidemiologische Daten: Die Zahl der MS-Patienten und MS-Patientinnen in Österreich wurde mit 12.500 berechnet. Merkmale der befragten Personen sind in Tabelle 1 angeführt.
Tabelle 1: Soziodemografie der befragten MS-Patienten und MS-Patientinnen 2011
Geschlecht
männlich
28 %
weiblich
72 %
Alter
-30 Jahre
14 %
-40 Jahre
23 %
-50 Jahre
31 %
-60 Jahre
20 %
60+ Jahre
10 %
Berufstätigkeit
voll berufstätig
32 %
teilweise berufstätig
13 %
arbeitslos
4 %
Einkommen ohne Berufsausübung
3 %
Hausfrau
3 %
In Schulausbildung/Lehrling
3 %
Pension
38 %
In 12 % der Fälle wurde eine familiäre Belastung angegeben. In Studien konnte mehrfach auf ein gering erhöhtes Risiko für Verwandte ersten Grades gegenüber der übrigen Bevölkerung hingewiesen werden. Die MS-Prävalenzrate betrug 2011 in Österreich 148/100.000 Einwohner und Einwohnerinnen, im Jahr 1999 war noch eine Erkrankungshäufigkeit von 99/100.000 erhoben worden (6). Die möglichen Gründe für eine Zunahme der Prävalenz sind in diesem Kapitel an anderer Stelle angeführt.
Krankheitsbeginn: Das Durchschnittsalter bei Auftreten erster MS-Symptome liegt bei 30 Jahren. Gegenüber der Voruntersuchung 1999 hat sich die Zeitspanne bis zum ersten Verdacht bzw. bis zur Diagnosestellung verkürzt. Tabelle 2 gibt einen Überblick über den Altersbereich und das Auftreten der ersten Symptome, des ersten Verdachts auf MS und der definitiven Diagnose. 2 % teilten mit, dass die ersten klinischen Symptome nach dem 50. Lebensjahr aufgetreten waren, man spricht dann von einer Spätform oder LOMS („late onset MS“) (▶ Kapitel 27).
Tabelle 2: Von den ersten Symptomen bis zur Diagnose Multiple Sklerose (Angaben in Prozent, in bis zu 4 % keine Angaben)
Alter
Erste Symptome
Erster Verdacht
Diagnose gestellt
–30 Jahre
57 %
45 %
41 %
–40 Jahre
27 %
29 %
30 %
–50 Jahre
11 %
18 %
21 %
–60 Jahre
2 %
4 %
6 %
Bei MS-Patienten und MS-Patientinnen, die vor dem 20. Lebensjahr erste neurologische Symptome aufwiesen, wurde nur in etwa 50 % ein konkreter Verdacht auf MS geäußert, in den höheren Altersgruppen wurde die Verdachtsdiagnose früher ausgesprochen. Der Weg bis zur definitiven Diagnose verlief 2011 wesentlich rascher als 1999. Es besteht ein Geschlechterunterschied bezüglich der Verlaufsformen und der Ausprägung der Symptomatik (leicht, mittelstark, schwer), die Details dazu in Tabelle 3:
Tabelle 3: Geschlechterunterschied bei Verlaufsform und Beschwerdegrad (Angaben in Prozent)
Verlaufsform und Beschwerdegrad
Frauen
Männer
CIS (klinisch isoliertes Syndrom)
70 %
30 %
Benigner (milder) Verlauf
76 %
24 %
Schubförmiger Verlauf
78 %
22 %
Sekundär progredienter Verlauf
66 %
34 %
Primär progredienter Verlauf
56 %
44 %
Leicht ausgeprägte Symptome
80 %
20 %
Mittelstark ausgeprägte Symptome
73 %
27 %
Schwere Symptomatik
66 %
34 %
Krankheitsverlauf und Grad der Beeinträchtigung: Zum Zeitpunkt der Erhebung wiesen 63 % einen schubförmigen, 22 % einen sekundär progredienten und 7 % einen primär progredienten Verlauf auf (in 8 % erfolgte keine Beurteilung). Die neurologische Beeinträchtigung wurde über Punktwerte, die der EDSS-Skala (▶ Kapitel 12) angeglichen wurden, bewertet. In 55 % lag ein niedriger EDSS-Wert (keine/leichte Behinderung), in 23 % ein mittlerer Wert (mäßige/stärkere Behinderung) und in 21 % ein Wert im höheren Skalenbereich (Gehen mit Unterstützung/Hilfe erforderlich) vor. Im Vergleich mit dem Jahr 1999 zeigten sich bedeutsame Veränderungen: Der Anteil von MS-Betroffenen ohne/mit leichter Behinderung hat sehr deutlich zugenommen (von 31 % auf 55 %) und die Zahl von Patienten und Patientinnen, die Unterstützung/Hilfe nötig hatten, wurde geringer. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang zu den zunehmend wirksameren Therapiemöglichkeiten der vergangenen Jahre (2, 3). Die derzeitige Lebensqualität wurde von 46 % als gut und 37 % als eher gut bezeichnet.
Therapie: 45 % der Patienten und Patientinnen werden in MS-Spezialambulanzen behandelt und die anderen im niedergelassenen Bereich betreut. Drei von vier MS-Patienten und MS-Patientinnen erhalten eine den Krankheitsverlauf modifizierende immunmodulierende medikamentöse Therapie. Die überwiegende Mehrheit ist mit dem derzeit verordneten Präparat zufrieden (57 % sind sogar sehr zufrieden). Additiv werden von den MS-Betroffenen komplementäre/alternative Behandlungsmethoden gelegentlich herangezogen (Akupunktur 18 %, Homöopathie 25 %).
Epidemiologische Studie auf Basis von Daten der österreichischen Sozialversicherungsträger und Sozialversicherungsträgerinnen
Die Erhebung umfasste den Zeitraum 2010–2013. Für die Berechnungen wurden die Krankenhausdiagnosen und die MS-Therapieverordnungen herangezogen. Die Jahresprävalenz lag bei 13.205 Personen, dies entspricht 159 Fällen pro 100.000 Personen (7).
In einer weiteren großen Studie, 7.886 Personen umfassend, wurde der Frage nachgegangen, ob die Häufigkeit der MS in Österreich auch vom Geburtsmonat abhängig sei. Ein Zusammenhang konnte dabei nicht festgestellt werden (8), im Gegensatz zu Studien mancher nördlicher Länder, in welchen MS-Patienten und MS-Patientinnen häufiger im Frühjahr geboren wurden.
Ausgewählte Literatur
1Nielsen NM, Munger KL et al. Neonatal vitamin D status and risk of multiple sclerosis: A population-based case-control study. Neurology 2017; 88 (1): 44–51
2Koch-Henriksen N, Magyari M. Apparent changes in the epidemiology and severity of multiple sclerosis. 2021 Vol 17 Springer Nature_NatRevNeuro_556
3Kingwell E et al. Incidence and prevalence of multiple sclerosis in Europe: a systematic review. BMC Neuro. 2013; 13: 128
4GBD 2016 MS Collaborators. Global, regional, and national burden of multiple sclerosis 1990–2016: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2016. THE LANCET Neurology 2019, Volume 18, Issue 3, P269–285
5Baumhackl U (Hg). Multiple Sklerose. Prävalenz und Therapie im 12-Jahres-Vergleich in Österreich. Facultas 2014
6Baumhackl U et al. Prevalence of multiple sclerosis in Austria. Results of a nationwide survey. Neuroepidemiology 2002; 21: 226–234
7Salhofer-Polanyi S et al. Epidemiology of Multiple Scerosis in Austria. Neuroepidemiology 2017; 49 (1–2): 40–44
8Walleczek NK et al. Month-of-birth-effect in multiple sclerosis in Austria. Mult Scler 2018 Nov 22
9Bjornevik K, Cortese M, Healy BC et al. Longitudinal analysis reveals high prevalence of Epstein-Barr virus associated with multiple sclerosis. Science 2022; Vol 375, No. 6578
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Genetik der Multiplen Sklerose
Schlüsselwörter
Erkrankungsrisiko, erbliche Faktoren, genetische Risikofaktoren
Kurzfassung
In zahlreichen Studien an Familien und Zwillingspaaren mit Multipler Sklerose (MS) konnte gezeigt werden, dass erbliche Faktoren bei der Entstehung dieser Erkrankung eine große Rolle spielen. So weiß man seit vielen Jahren, dass das Erkrankungsrisiko für erstgradig Verwandte von Betroffenen höher ist als in der durchschnittlichen Bevölkerung.
▶So hat z. B. ein Geschwister eines oder einer Erkrankten ein ca. dreifach höheres Risiko, an MS zu erkranken, als jemand in der „normalen“ Bevölkerung.
▶Mit zunehmendem Abstand des Verwandtschaftsgrades zum betroffenen Familienmitglied wird das Erkrankungsrisiko jedoch graduell geringer.
▶Es ist auch wichtig festzuhalten, dass die Wahrscheinlichkeit eines oder einer Verwandten, gesund zu bleiben, wesentlich größer ist, als zu erkranken.
▶In den letzten zehn Jahren konnte eine Reihe von genetischen Risikofaktoren für MS gefunden werden, die aber allesamt das Risiko zu erkranken nur minimal erhöhen. Diese genetischen Risikofaktoren sind daher von rein wissenschaftlicher Bedeutung. Man erhofft sich durch die Identifizierung dieser Risikovarianten, mehr über jene Stoffwechselwege zu erfahren, die bei Multipler Sklerose eine Störung aufweisen.
▶Bislang konnte kein einziges Gen gefunden werden, das das Erkrankungsrisiko substanziell erhöht.
Fazit
Es ist daher zum heutigen Zeitpunkt nicht möglich, durch genetische Testung eine verlässliche Vorhersage des eventuellen Erkrankungsrisikos zu treffen.
Genetik der Multiplen Sklerose
Alexander Zimprich
Eine oft gestellte Frage in der klinischen Praxis betrifft die Sorge, ob Multiple Sklerose (MS) vererbbar ist und inwieweit Kinder und Angehörige von Patienten und Patientinnen sich Sorgen machen müssen, ebenfalls an MS zu erkranken. Eine Ursache für diese Befürchtung mag darin begründet liegen, dass viele Patienten und Patientinnen, aber auch klinisch tätige Ärzte und Ärztinnen die Beobachtung machen, dass die Erkrankung in Familien gehäuft vorkommen kann. Die Frage, ob und inwieweit erbliche Faktoren bei der Entstehung von MS eine Rolle spielen, bewegt die MS-Forschung seit vielen Jahren (1). Um diese Frage beantworten zu können, wurde in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von genetisch-epidemiologischen Studien durchgeführt. In sogenannten Segregationsanalysen wurden systematisch Blutsverwandte von MS-Patienten und MS-Patientinnen auf die Erkrankung befragt bzw. untersucht. Genau genommen errechnet man bei einer derartigen Analyse, ob die Verwandten von Patienten und Patientinnen statistisch gesehen häufiger an MS erkranken, als es im landesüblichen Durchschnitt zu erwarten wäre. Darüber hinaus untersucht man, ob es einen Zusammenhang zwischen dem Grad des Verwandtschaftsverhältnisses zum Indexpatienten bzw. zur Indexpatientin und der Häufigkeit des Auftretens der Erkrankung gibt. Klassische mendelische Erkrankungen zeigen dabei typische Muster. Da Mutationen entsprechend den mendelischen Regeln mit 50 %iger Wahrscheinlichkeit auf die nächste Generation weitergegeben werden, haben Kinder von Betroffenen bei einer rein dominanten Vererbung ein 50 %iges Risiko, die Erkrankung ebenfalls zu bekommen, bei einem Verwandtschaftsverhältnis Onkel-Neffe oder Großvater-Enkel ein 25 %iges Risiko. Bei einem rein rezessiven Vererbungsmuster haben Kinder von Betroffenen ein 25 %iges Risiko. Obgleich man bei MS, wie bereits oben erwähnt, oft eine familiäre Häufung beobachten kann, ist es genauso eindeutig, dass die überwiegende Mehrzahl der MS-Erkrankungen keinem mendelischen Muster folgt.
Eine im Jahr 2013 veröffentlichte Metaanalyse, in der über 500 solcher genetisch-epidemiologischen Studien zusammengefasst wurden, schätzt den Anteil erblicher Faktoren an der Erkrankung auf ca. 30–60 % (Heritabilität) (2). Dies bedeutet, dass ganz allgemein genetische Faktoren mit 30–60 % an der Entstehung der Erkrankung beteiligt sind, jedoch nicht, dass das Risiko auf 30 % oder 60 % steigt, wenn man einen Verwandten mit MS hat. In dieser Metaanalyse hat man das Risiko von Angehörigen, an MS zu erkranken, versucht abzuschätzen. Eineiige Zwillingsgeschwister von Betroffenen haben ein ca. 20 %iges Lebenszeitrisiko zu erkranken, zweieiige Zwillingsgeschwister ein ca. 5 %iges, während normale Geschwister von Betroffenen ein ca. 3 %iges Risiko haben. Das höhere Risiko bei den zweieiigen Zwillingsgeschwistern im Vergleich zu normalen Geschwistern könnte darauf hindeuten, dass möglicherweise intrauterine Faktoren bei der Entstehung der Erkrankung eine Rolle spielen. Generell haben weibliche Geschwister ein etwas höheres Risiko als männliche Geschwister. Kinder bzw. Eltern von Betroffenen haben ein Risiko von ca. 1–2 % und damit ein etwas niedrigeres als MS-Geschwister (2). Mit zunehmendem Abstand des Verwandtschaftsverhältnisses zum Indexpatienten bzw. zur Indexpatientin fällt das Risiko graduell ab. Die spezifischen Häufigkeiten des Auftretens der Erkrankung innerhalb von Familien ist am ehesten mit einem Vererbungsmodell vereinbar, bei dem ein Genlocus mit moderatem bis starkem Effekt und viele Genloci mit geringem Effekt beteiligt sind. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass es auch einzelne wenige Familien gibt, in denen die Erkrankung einem mendelischen Muster folgt und durch ein oder wenige Hochrisikogene verursacht wird.
