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On Pole Position. Nur einer kann gewinnen. E-Book

Rebecca J. Caffery

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Beschreibung

Kian Walker ist der Star der Formel 1. Diszipliniert und entschlossen verfolgt er sein Ziel. Für Ablenkung ist in seinem Leben kein Platz. Doch als der charismatische Rookie Harper James in sein Team kommt, gerät Kians Welt ins Wanken. Harper, bekannt für seine impulsiven Entscheidungen, hat nicht nur ein Talent dafür, Rekorde zu brechen, sondern auch Herzen. Kian ist sich sicher, dass er keinen einzigen Tag mit ihm aushalten wird. Doch mit dem Beginn der Saison bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich ständig über den Weg zu laufen und zusammenzuarbeiten. Plötzlich geht es nicht mehr nur um die Geschwindigkeit der Motoren – auch die Herzen der beiden schlagen schneller …

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Seitenzahl: 511

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Rebecca J. Caffery

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Pole

Position

Nur einerkann gewinnen

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Für Fragen und [email protected]

Wichtiger HinweisAusschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen. 

1. Auflage 2025© 2025 by Lago Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbHTürkenstraße 8980799 MünchenTel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2024 bei HarperCollins Publishers Ltd. unter dem Titel Pole Position.© 2024 by Rebecca J. Caffery. All rights reserved. Rebecca J. Caffery asserts the moral right to be acknowledged as the author of this work.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Tanja SchröderRedaktion: Annett StützeLektorat: Nora SchmittUmschlaggestaltung: Sabrina PronoldUmschlagabbildung: Chloe Quinn/AstoundSatz: abavo GmbH, BuchloeeBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-95761-252-6ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-95762-390-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.lago-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Hingabe

Für meine Großmutter Barbara und alle,die einen geliebten Menschen haben, der an Parkinson leidet.

Playlist

Making the bed – Olivia Rodrigo♥

Part of Me – Noah Kahan♥

Rush – Troye Sivan♥

Too Well – Reneé Boone♥

LIKE I WOULD – ZAYNE♥

Delicate – Taylor Swift♥

Shut Up And Drive – Rihanna♥

No Judgement – Niall Horan♥

I Like Me Better – Lauv♥

Got Me Started – Troye Sivan♥

Midnight Rain – Taylor Swift♥

I Know it won’t work – Gracie Abrams♥

older – Devon Gabriella♥

this is me trying – Taylor Swift♥

Born To Be Yours – Kygo, Imagine Dragons♥

Wish You Were Sober – Conan Gray♥

reckless driving – Lizzy McAlpine♥

Boyfriend – Dave Cameron♥

Everybody Needs Someone – Noah Cyrus♥

Whataya Want from Me – Adam Lambert♥

R U Mine? – Arctic Monkeys♥

Feels Like – Gracie Abrams♥

Green Light – Lorde♥

About Love – Marina♥

Kapitel Eins

Kian

»Was meinst du damit, er hat ein gebrochenes Bein?«

Ich sollte eigentlich meine Sachen für Bahrain packen, als mein Agent Will und unser Teamchef Anders beschlossen, mein Leben komplett auf den Kopf zu stellen.

»Ich weiß nicht, was ich dir noch sagen soll, Kian, außer dass es ein verdammter Unfall war. Elijah ist am Poolrand ausgerutscht. Sein Bein ist an drei Stellen gebrochen – dieser Idiot.«

Die Geschichte zum zweiten Mal zu hören, hilft auch nicht gerade, die Stresswelle zu stoppen, die mein Gehirn durch meinen Körper schickt.

Es ist eindeutig: Mein Teamkollege fällt mindestens für die ersten sechs Monate der Saison aus – vielleicht sogar länger – und alles steht kurz vor dem absoluten Chaos.

Ich werfe einen Blick auf meinen offenen Koffer auf dem Bett. Keine noch so perfekte Anordnung an Packwürfeln kann dieses Gefühl der Verzweiflung lindern. Und das will was heißen, denn ich liebe es, mein Leben in kleine Quadrate der Ordentlichkeit zu sortieren. Elijah Gutaga und ich sind seit fünf Saisons Teamkollegen und haben nicht nur auf der Rennstrecke, sondern auch abseits davon eine enge Bindung aufgebaut. Ich bin der Patenonkel seines dreijährigen Kindes. Er ist mein bester Freund in einer Welt, in der es schwer ist, jemandem zu vertrauen.

In einer der gefährlichsten Sportarten der Welt ist dieses Vertrauen entscheidend – im Team und auch darüber hinaus. Diese Verbindung, vor allem im Hinblick auf die Konstrukteursmeisterschaft, ist essenziell. Ohne sie bricht alles auseinander.

Es dauert viel zu lange, bis ich merke, dass ich schweigend dasitze, während die zwei Menschen, die meine Karriere in der Hand haben, darauf warten, dass ich etwas sage. Ich habe keine Ahnung, was sie von mir erwarten. Die Nerven zu behalten, ist eine der wichtigsten Fähigkeiten in diesem Sport – und gerade fühlt sich diese Fähigkeit schwer erschüttert an.

Rennfahren ist nicht direkt ein Teamsport, aber Elijah und ich haben jahrelang zusammen trainiert und uns immer perfekt ergänzt. Ohne ihn weiß ich nicht, was das für mich bedeutet.

Verdammt, ich darf so nicht denken. Es gibt ohnehin schon Gerüchte, dass dies meine letzte Saison sein könnte – ich bin dreiunddreißig, viermaliger Weltmeister, zuletzt im vergangenen Jahr – und trotzdem brauche ich eine großartige Saison, um die Presse zum Schweigen zu bringen.

»Okay.« Ich bewege mich vom Handymikro weg, um tief durchzuatmen. »Das ist … in Ordnung. Es ist nicht das Ende der Welt. Ich rufe ihn an. Ich habe mich schon gewundert, warum er nicht auf meine Nachrichten geantwortet hat.«

Anders greift meine Worte sofort auf. »Du wirst das schaffen, Kian, und wir sorgen dafür, dass Elijah die beste Pflege bekommt. Er braucht definitiv eine Operation, also werden wir die besten Chirurgen der Harley Street engagieren. Wir wollen, dass er so schnell wie möglich wieder fit ist.«

»Also glaubt ihr, dass er noch vor Ende der Saison zurückkehren könnte?«, frage ich hoffnungsvoll.

Das wäre zumindest etwas.

»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Das müssen wir abwarten. Es kommt darauf an, wie die Verletzung heilt und wie seine Genesung verläuft. Alles, was du tun kannst, ist, dich auf dich, dein Fahren und deine Karriere zu konzentrieren, während wir Elijah bei seiner Genesung unterstützen.«

»Okay, dann sollte ich wohl besser mit dem Packen fertig werden.« Ich sehe auf das Chaos, das ich beim Versuch, mich zu organisieren, angerichtet habe. Wahrscheinlich wird das die ganze Nacht dauern. Zum Glück kann ich im Flugzeug schlafen.

Und ich kann beruhigt schlafen, denn London, der Ersatzfahrer des Teams, wird Elijahs Platz einnehmen. Er hat sich im letzten Jahr enorm weiterentwickelt.

»Guter Mann. Genau das wollten wir hören. Wir sehen dich und Harper morgen früh auf der Startbahn.«

»Morgen … Moment, was?« Hat er gerade Harper gesagt? »Hast du gerade Harper gesagt? Wie Harper James?«

»Der einzig Wahre. Wir haben ihn aus der unteren Kategorie hochgezogen, um Elijahs Platz zu übernehmen, solange der ausfällt. Ich habe ihn informiert, bevor wir dich angerufen haben.« Anders klingt völlig gelassen, als sei das nicht die schlimmstmögliche Nachricht, die er mir gerade hätte überbringen können.

Mit zusammengebissenen Zähnen sage ich: »Natürlich. Ergibt Sinn. Bis morgen.« Der Anruf wird beendet und ich muss mich zusammenreißen, um mein Handy nicht gegen die Wand zu schleudern.

Ausgerechnet Harper James.

Ich könnte dir eine Liste mit mindestens zwanzig anderen Fahrern geben, mit denen ich lieber das Podium teilen würde als mit Harper James.

Ein Gesicht wie ein Engel, aber ein Teufel auf der Strecke. Er ist eher für seine Partys und Verführungskünste bekannt als für sein Talent auf der Rennstrecke. Na gut, vielleicht übertreibe ich, denn er hat die untere Kategorie letztes Jahr gewonnen, aber seine Eskapaden, die ständig in sozialen Medien und in der Presse auftauchen, überschatten alles andere, was er in seiner Karriere erreicht hat. Er macht jeden zweiten Tag Schlagzeilen, selbst in der Off-Season, und ich habe mehr von seinem Körper gesehen, als ich je wollte. Wenn es einen Skandal auf den Sportseiten gibt, stehen die Chancen gut, dass sein Name damit in Verbindung steht.

Ich bin überrascht, dass Anders bereit ist, das zu ignorieren und die Sponsoren zu verärgern. Harper James ist gut, aber nicht so gut!

Das ist das Einzige, was wir gemeinsam haben. Auch ich bin seit meiner Geburt im Rampenlicht aufgewachsen, habe mehr Schlagzeilen gemacht, als ich zählen kann. Die Lügengeschichten über mich als Kind – begleitet von unvorteilhaften Fotos mit Helmfrisur – verfolgen mich bis heute. Harper könnte gut daran tun, diese Lektion zu lernen.

Ich schicke Elijah eine Nachricht, und bitte ihn, mich anzurufen, sobald er einen Moment Zeit hat. Ich bin sicher, dass er am Boden zerstört ist, bei ihm muss es gerade drunter und drüber gehen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie schwer es sein muss, wenige Tage vor einer neuen Saison mit einem verletzungsbedingten Ausfall konfrontiert zu werden. Ich will sicherstellen, dass es ihm gut geht, und ihm sagen, dass ich ihn so bald wie möglich besuchen werde.

Während ich die Nachricht absende, meldet sich mein Handy mit einer Eilmeldung – einer Pressemitteilung, die mir leider bereits bekannt war.

»Elijah Gutaga fällt für Hendersohm aus.Harper James rückt nach, pünktlich zur neuen Saison.«

Nun ist es also offiziell.

Der Artikel zitiert nicht nur eine getwitterte Stellungnahme des Teams, sondern auch einen Instagram-Beitrag von Harper selbst, in dem er seine Berufung bekannt gibt. Natürlich ist er geschmacklos genug, das oberkörperfrei in nichts als Hendersohm-Shorts und einer Baseballkappe zu verkünden.

Es reicht nicht, dass ich ihn bei den gelegentlichen Hendersohm-Partys in der Vergangenheit ertragen musste, jetzt werde ich ihn fast ein Jahr lang täglich um mich haben. Meine ganze Vorfreude auf die neue Saison beginnt zu schwinden. Normalerweise sprühe ich vor Energie für die Vorsaison-Tests, aber jetzt nicht mehr.

So verrückt es auch sein mag, ich finde Frieden in diesem Sport, trotz des intensiven Drucks, und jetzt wird Harper James all das mit seiner idiotischen Attitüde und Rücksichtslosigkeit auf der Strecke durcheinanderbringen. Ich habe meine Erfahrung mit Typen wie ihm. Weder brauche noch will ich diese Art von Chaos in meinem Leben. Er ist eine Erinnerung an alles, was an diesem Sport falsch ist.

Einige Stunden später stelle ich meinen gepackten Koffer neben die Haustür und ziehe meine Jacke an. Es ist Zeit für mein am wenigsten geliebtes Vorsaison-Ritual – das Abschiednehmen.

Als ich die Tür zum Haus meiner Mutter öffne, steigt mir sofort der Duft von frisch gebackenem Apfelkuchen in die Nase. Dieser Geruch beruhigte als Kind meine Seele. Nachdem sie aufgehört hatte, zu touren, liebte Mum es über alles, zu backen. Jetzt ist es jedoch meine Schwester, die Stress-Backen für sich entdeckt hat – immer ein Zeichen dafür, dass der Tag nicht gut war.

Ein bekanntes Schuldgefühl macht sich in meinem Magen breit, und ich zwinge mich, die Türschwelle zu überschreiten, das letzte Mal für die nächsten neun Monate.

Es läuft ein Zeichentrickfilm im Wohnzimmer, das ich schnell hinter mir lasse, um zu dem Raum zu gelangen, der nun Mums Schlafzimmer ist. Als ich hineinschaue, finde ich sie tief schlafend vor, mit einem verzerrten, gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Die Art, wie ihre Wangenknochen scharf hervorstehen, hat etwas Zerbrechliches, und ich brauche einen Moment, um die Decke auf ihrer Brust dabei zu beobachten, wie sie sich hebt und senkt, um mich zu vergewissern, dass sie atmet.

Ich möchte sie nicht wecken, also schließe ich vorsichtig die Tür und finde meine Schwester in der Küche, umgeben von einem Chaos aus Töpfen, Pfannen und Tellern.

»Hey, Sis.« Sie zuckt leicht zusammen, aber nichts bereitet mich auf die blutunterlaufenen Augen vor, die mich ansehen, als sie sich zu mir umdreht.

Wortlos ziehe ich sie in eine Umarmung, und ihre leisen Schluchzer werden von meiner Schulter gedämpft.

Vier Jahre zuvor war Elise im letzten Jahr ihres Krankenpflege-Studiums, als sie in derselben Woche erfuhr, dass sie mit meiner Nichte Cassie schwanger war und dass unsere Mum an Parkinson erkrankt war. Beide Nachrichten veränderten sie – die eine zum Besseren, die andere nicht so sehr. Sie gab ihr Studium auf, und als Mum immer mehr Fähigkeiten verlor, wurde Elise ihre Vollzeitpflegerin.

Elise und ihr Mann Grant vermieteten ihr Haus und zogen in Mums Bauernhaus auf mehreren Morgen Land in Norfolk. Cassie und ihr kleiner Bruder Jesse wurden hier in den letzten dreieinhalb Jahren großgezogen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie je wieder wegziehen.

Ich bewundere alles an meiner Schwester, aber wie sie sich um Mum kümmert, ist wirklich etwas Besonderes. Vor allem, da ich nicht annähernd so viel beigetragen habe, wie ich es mir wünsche. Elise würde niemals ein schlechtes Wort darüber verlieren. Sie würde sagen, dass sie dankbar ist, dass ich meine Karriere weiterverfolgen konnte, und dass sie den Treuhandfonds mehr als zu schätzen weiß, den ich für ihre Kinder eingerichtet habe, damit sie später studieren, reisen oder tun können, was immer sie möchten. Ich wünschte, das wäre genug. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, als lediglich für die beste Ausrüstung, Ärzte und Pfleger zu bezahlen, um Mums verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu gestalten.

Ich weiß nicht, wie viele Minuten vergehen, in denen wir einfach nur dastehen und ich Elise stütze, aber solche ungestörten Momente haben wir selten. Dann schreit Cassie aus voller Kehle, Jesse beginnt zu weinen, und wir müssen uns trennen, bevor wir beide bereit sind, loszulassen.

Elise eilt los, um die Kleinen zu beruhigen, und ich mache mich an den Abwasch. Das ist das Mindeste, was ich tun kann. Alles steht ordentlich auf dem Abtropfbrett, und die Arbeitsflächen glänzen, als Elise zurückkommt. Der Frieden im Wohnzimmer ist wiederhergestellt, aber sie wirkt von Müdigkeit gezeichnet, jede Bewegung zeugt davon.

»Ich bade die Kinder und bringe sie ins Bett. Hol dir ein Glas Wein und entspann dich vor dem Fernseher«, sage ich zu ihr. Es ist kein Vorschlag, sondern eine Anweisung.

»Du bist ein Lebensretter, danke, Ki.«

Eigentlich war ich hergekommen, um mich über Harper auszulassen, aber ich weiß, dass jetzt nicht der richtige Moment dafür ist. Ich möchte ihr keine zusätzliche Last aufbürden, wo sie doch schon so offensichtlich körperlich und emotional erschöpft ist. Obwohl ich weiß, dass sie protestieren und sagen würde, dass sie immer da ist, um zuzuhören.

»Wer möchte eine Geschichte hören?«, rufe ich, als ich das Wohnzimmer betrete. Cassie jubelt, stürzt in meine Arme, und ich drehe sie herum, während Jesse in seiner Babywippe auf und ab hüpft. Es ist kaum zu glauben, dass er schon vierzehn Monate alt ist.

Die Badezeit wird zu einer kleinen Rutschpartie, aber es lohnt sich, den fröhlichen Geräuschen meiner Nichte und meines Neffen zu lauschen, die zusammen spielen. Nachdem sie abgetrocknet und eingecremt sind, lege ich Jesse in sein Bettchen, und zum Glück schläft er fast sofort ein. Aber Cassie ist eine andere Geschichte – buchstäblich.

Ich lese eines ihrer Lieblingsbücher vor, und sofort fordert sie ein zweites, das dann in ein drittes übergeht. Es kostet mich all meine Willenskraft, ihre Bitten nach einer vierten Geschichte abzulehnen. Sie ist erst drei, doch genauso willensstark wie ihre Mutter, und hat diese entwaffnend hübschen Augen, die einem alles abringen können.

»Ich muss deiner Mama auch noch etwas erzählen, also ist jetzt Schlafenszeit, junge Dame. Komm schon, ab ins Bett.« Ich kitzle sie an den Seiten, und sie kreischt und strampelt unter der Bettdecke. Ich muss bald gehen, und Elise wird es mir nicht danken, wenn ich Cassie so aufdrehe, aber es lohnt sich, um das pure Glück auf dem kleinen Gesicht zu sehen.

Es ist nicht die Art von Einschlafritual, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnere. Als wir auf Tour waren, hat Mum sich entweder aufgewärmt oder stand schon auf der Bühne, wenn Elise und ich ins Bett gebracht wurden. Und Dad … na ja, darüber verliere ich ungern Worte. Ich weiß, wie wichtig es Elise ist, dass ihre Kinder das haben, was wir nicht hatten, und genau deshalb fällt es mir immer so schwer, die Bitten nach einer weiteren Geschichte abzulehnen.

»Okay, Onkel KiKi, Mama verdient eine Geschichte.« Sie klatscht in die Hände und rollt sich zur Seite, hin zu ihrem Berg aus Kuscheltieren. Es ist unbeschreiblich süß.

Ich drücke Cassie einen Kuss auf die Stirn, ziehe die Decke bis zu ihrem Kinn hoch und wünsche ihr eine gute Nacht. Sie murmelt etwas zurück, ist aber mehr damit beschäftigt, herauszufinden, mit wie vielen ihrer Teddys sie gleichzeitig kuscheln kann. Als ich noch einmal nach ihr sehe, nachdem ich das Babyfon aus Jesses Zimmer geholt habe, liegt sie friedlich da.

Eines der besten Dinge, die Elise und Grant je gemacht haben, war, aus Mums Haus ihr eigenes Zuhause zu machen. Jetzt fühlt es sich wie ein wunderbares Mehrgenerationenhaus an.

Elise hat sich auf dem Sofa zusammengerollt, trägt einen Pyjama, hat die Haare zu einem lockeren Zopf zurückgebunden und ihr Gesicht ist komplett frei von Make-up. In ihrem Glas schimmert ein strohgelber Weißwein und im Fernsehen läuft irgendein Kriminaldrama. Sie wirkt entspannter, aber ich sehe in ihren Augen, dass ihr Kopf immer noch rattert. Sie wird nur ein Glas trinken, um nachts Mum oder die Kinder hören zu können, und erneut überkommt mich das schlechte Gewissen, weil ich mich für die nächsten neun Monate aus dem Staub mache.

»Alles okay?«, fragt sie, als wäre ich derjenige, der sich den ganzen Tag um Mum und die kleinen Wirbelwinde gekümmert hat.

»Mir geht’s gut, Kleines. Und dir?« Meine Schwester wirft mir denselben genervten Blick zu, den sie mir schon seit unserer Kindheit verpasst – der Blick, der mich daran erinnert, dass sie genau dreizehn Minuten älter ist als ich.

»Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, ich sei nicht müde. Cassie war den ganzen Tag ein einziges Energiebündel, und Jesse will alles, was er in die Finger kriegt, in den Mund stecken.« Ich bin dankbar, dass sie Mum nicht erwähnt, fühle mich jedoch sofort schuldig deswegen.

»Geht’s Mum gut?« Es ist eine dumme Frage, weil es ihr natürlich nicht gut geht. Sie hat eine furchtbare Krankheit, die sie langsam von uns nimmt.

Die Parkinson-Diagnose war ein völliger Schock, und dann bemerkten wir innerhalb weniger Monate jedes einzelne Symptom, vor dem die Ärzte uns gewarnt hatten. Elise war unglaublich und nahm es mit beneidenswerter Fassung, während ich damit kämpfte, Mum in den drei Monaten im Jahr, in denen ich da war, so sehen zu müssen.

»Ein schlechter Tag. Heute Morgen hielt sie mich für Tante Judith.« Ich versuche, mein Zusammenzucken zu verbergen, aber ich sehe die düsteren Stirnfalten bei Elise, die andeuten, dass sie mir nicht das ganze Ausmaß verrät. »Ihr Gedächtnis verschlechtert sich rapide, und es fühlt sich an, als würde das Tempo des Verfalls jeden Tag zunehmen.«

Das ist ebenfalls etwas, worauf die Ärzte uns vorbereitet haben: Demenz. Eine weitere Krankheit, die oft Hand in Hand mit Parkinson geht, wenn der Zustand sich verschlimmert.

»Es tut mir so leid, Elise«, entschuldige ich mich, als wäre sie nicht auch meine Mum. Aber ich weiß, die Last ist nicht gleich verteilt. Mum wird mich zuerst vergessen, weil ich einfach nicht oft genug da bin. Elise wird es das Herz brechen, vergessen zu werden, und sie ist diejenige, die es jeden Tag aufs Neue wird erleben müssen. Es ist wirklich die grausamste aller Krankheiten. Es gibt mir jedes Mal einen Stich ins Herz, wenn Mum mich mit leerem Blick ansieht, mich nicht als Teil ihres verblassenden Lebens erkennt – aber wenigstens bin ich nicht ständig damit konfrontiert.

»Wie auch immer«, sagt Elise und winkt den Stress weg. »Was ist bei dir los? Ich liebe dich, Bruderherz, und ich weiß, dass du uns liebst, aber du bist nicht einfach nur vorbeigekommen, um die Kinder ins Bett zu bringen.«

Ich seufze, während die Lavendelkerze auf dem Kaminsims nichts gegen die Unruhe in meiner Brust ausrichten kann, die seit dem Anruf heute Morgen in mir brodelt. »Elijah hat sich das Bein gebrochen. An drei Stellen. Es ist schlimm.«

»Oh Mist.«

»Ja.«

»Okay, also fällt er wie lange aus, drei bis sechs Monate? Etwa eine halbe Saison wahrscheinlich. Ist das nicht genau der Grund, warum es einen Ersatzfahrer gibt? Das ist doch nicht der Grund, warum du so down bist.«

Sie kennt mich viel zu gut. »Ich glaube, Anders hat ihn für die ganze Saison abgeschrieben. Ach, und Harper James ist sein Ersatz.«

Der Raum wird still. Elise pausiert die Serie, damit wir vernünftig reden können, und plötzlich wirkt das Haus beunruhigend still.

»Hör zu, Kleiner«, sagt sie, was mich nur noch lauter seufzen lassen möchte. »Ich weiß, was in deinem Kopf vorgeht. Er ist die Art von Mann, die du verzweifelt zu vermeiden versucht hast, zu werden. Ich weiß, dass du alles an seiner Einstellung und seiner Art, mit Menschen umzugehen, hasst. Aber es ist nur vorübergehend. Er ist vorübergehend. Elijahs Bein wird heilen, das Team wird zur Normalität zurückkehren, und dieser Penner wird schneller wieder in die unteren Ligen abgeschoben, als er aufgestiegen ist.«

Und genau deshalb ist sie die beste Schwester der Welt. Sie ist die beste Mutter, Tochter, Pflegerin – und wenn sie ihr Studium beendet, wird sie auch die beste Krankenschwester sein. Es ist alles, was ich hören muss. Tief in mir drin, im rationalen Teil, der unter der Angst vergraben ist, weiß ich, dass sie recht hat. Mein Verstand neigt dazu, Katastrophen zu kreieren, während ihrer aus Stahl – oder Carbonfaser – zu bestehen scheint. Ich sage immer, sie hat alle guten Gene im Mutterleib an sich gerissen.

»Ich will nur …« Ich bin mir nicht mal sicher, was ich sagen will. Ich möchte einfach nur, dass alles okay ist. Dass es einfach ist. »Ich dachte, das wird die Saison.« Ich finde keine Worte, um es zu sagen – um zu sagen, dass ich mich frage, ob dies meine letzte Saison sein wird. Ich bin mir nicht sicher, ob ich schon bereit bin, das laut auszusprechen.

»Du hast letztes Jahr die Saison gewonnen und deinen vierten Weltmeistertitel geholt«, unterbricht sie mich. »Du bist bereits eine Legende. Viel besser, als Dad es je war.«

»Ich weiß, doch ich habe immer noch das Gefühl, dass ich dieses Jahr alles beweisen muss. Ich würde gerne den Punkterekord knacken, wenn es möglich ist.« Sie hat die Gerüchte über meinen Rücktritt gehört – und niemand kennt mich besser als Elise –, also weiß sie genau, was ich meine.

»Harper muss dem nicht im Weg stehen. Elijah hindert dich nicht daran zu gewinnen. Als dein zweiter Fahrer unterstützt er dich und das Team. Du musst Harper James einfach in eine kleine Kiste in deinem Kopf packen und dich auf dein eigenes Rennen konzentrieren.«

Wenn es nur so einfach wäre. Wir werden monatelang dieselbe Luft atmen, Pits, Simulatoren, Privatjets und Umkleideräume teilen. Die ganze Atmosphäre wird sich ändern, und es wird meine Leistung beeinflussen, egal wie sehr ich versuche, es zu verhindern. Ich war bereits von Männern wie ihm umgeben und weiß genau, was das mit mir macht. Ich verstehe nicht, was Anders sich dabei denkt.

Aber meine Schwester hat recht. Ich bin ein Profisportler, und wenn ich das mentale Spiel verliere, habe ich es nicht verdient, zu gewinnen. Also stelle ich mir eine mentale Kiste vor, packe Harper James hinein und schließe sie mit einem Vorhängeschloss ab.

»Okay, Klugscheißerin. Du hast mich erwischt. Ich habe absolut die Absicht, dieses Jahr den Pokal zu holen, mach dir keine Sorgen. Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht schon vier.« Ich zucke mit den Schultern, als wäre es nichts, aber es bedeutet mir alles. Der erste Pokal hat einen Ehrenplatz bei mir zu Hause. Der Zweite steht in Mums Zimmer, und den Dritten habe ich Elise geschenkt. Der Vierte ist in den Räumlichkeiten einer lokalen Jugendorganisation ausgestellt, für die ich Botschafter bin. Ich denke, es wird Zeit, einen für Cassie und Jesse mit nach Hause zu bringen.

»Gut. Lässt du mich jetzt meine Serie gucken?« Sie verdreht so theatralisch die Augen, dass ich in mich hineinlachen muss.

Sie startet die Serie wieder, wirft mir eine Decke zu, und ich sinke in die gemütliche Ecke des L-förmigen Sofas. Innerhalb von wenigen Minuten schlafe ich in der ungünstigsten Position für Rücken und Nacken ein, nur damit ich um 4 Uhr morgens von Jesses Geschrei geweckt werde. Das Timing ist perfekt, denn in einer Stunde holt mich ein Auto ab, um mich zum Flughafen zu bringen … wo ich Harper James treffen werde.

Elise kommt mit Jesse auf dem Arm die Treppe runter, das Gesicht verschlafen und die Haare zerzaust, und murmelt, dass sie einfach nie eine ganze Nacht Schlaf bekommt. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und flüstere meinen Abschied.

»Viel Glück, Brüderchen. Du schaffst das, egal, wer im anderen Auto sitzt. Und vergiss nicht: Wir lieben dich, egal was passiert.«

Ich fahre zurück nach Hause und warte auf das Auto, das mich abholt. Die Worte meiner Schwester hallen in meinem Kopf nach, bis zu dem Moment, als ich die Treppe erklimme, um das Flugzeug zu besteigen – und Harper James sehe, wie er zurückgelehnt in einem bequemen Sessel sitzt, mit diesem typischen arroganten Grinsen, das seine Lippen umspielt.

Hoffnung und Aufregung verfliegen, ich bin nur noch frustriert und genervt.

»Alles klar, Walker? Wie läuft’s, Kumpel?«

Sein Grinsen wird breiter, zieht sich nahezu von einem Ohr zum anderen, und ich verabscheue ihn augenblicklich. Wir haben uns nur ein paar Mal getroffen, und wir sind definitiv keine Kumpel. Urgh.

Das wird eine lange Saison werden.

Kapitel Zwei

Harper

Das ist es. Die Chance, auf die ich gewartet habe. Meisterschaftsrennen, Baby!

Auch wenn ich mich nicht so freuen sollte, da diese Chance auf Kosten eines Typen mit gebrochenem Bein geht, kann ich nicht leugnen, dass ich es kaum erwarten kann, loszulegen und zu beweisen, dass ich in die große Liga gehöre.

Tut mir leid, Elijah Gutaga.

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, und wenn der Teamchef sieht, was ich zu bieten habe, und denkt, dass ich die bessere Wahl bin, dann ist der Platz zu Recht meiner. Ich brenne darauf, ihnen zu zeigen, was ich mit dieser Gelegenheit anfangen kann.

Sobald das Telefonat mit Anders und meinem Agenten beendet ist, beginne ich, alles, was mir in den Sinn kommt, in meine Taschen zu werfen. Wir fliegen in weniger als vierundzwanzig Stunden nach Bahrain, und ich bin absolut nicht vorbereitet.

Anders hat erwähnt, dass ich die Sache unter Verschluss halten soll, bis die Neuigkeiten über Elijah offiziell verkündet wurden, aber die Aufregung, die in mir brodelt, lässt mich sofort zum Telefon greifen, um Johannes anzurufen.

Das Telefon klingelt keine zwei Mal, bevor sein umwerfendes Gesicht auf meinem Bildschirm erscheint. Seine dunkle Haut und die samtbraunen Augen funkeln, während er auf dem Laufband läuft. Ein Handtuch hängt um seinen Hals, und an seiner glatt rasierten Schläfe haben sich Schweißperlen gebildet.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, sage ich in einem Ton, der ihm klar macht, dass es mir herzlich egal ist, ob ich das tue.

»Du weißt doch, ich stehe immer zu deiner Verfügung, James.« Er tupft sich den Schweiß ab, bevor er sich nach unten beugt, um am Laufband einen Gang runterzuschalten. Dabei erhasche ich einen Blick auf seine nackte Brust – lockiges braunes Haar und dunkelrosa Nippel. Verdammt, das beweist, wie aufgestaut ich bin, wenn ich einen Ständer wegen meines besten Freundes bekomme. Wir haben das alles doch längst hinter uns gelassen.

»Oh, natürlich, aber ich fände es furchtbar, dich von all dem Schweiß abzulenken, den du dir da erarbeitet hast«, sage ich. Er verdreht nur die Augen, bringt das Laufband aber zum Stillstand und braucht einen Moment, um zu Atem zu kommen.

»Ich habe in zehn Minuten ein Interview und muss noch duschen. Mach’s kurz, James.«

»Herrgott, wenn du schon so undankbar klingst, mich zu sehen, dann erzähle ich dir wohl besser nicht die großen Neuigkeiten.«

»Du weißt, ich bin bereits in Bahrain und bereite mich auf die Vorsaison vor, Baby. Ich will nicht wegen dir …«

»Nun, du wirst viel mit mir zu tun haben, ob du willst oder nicht.«

Er nimmt sein Handy aus der Halterung auf dem Laufband und betrachtet mein Grinsen. Sein Handy erhält eine Nachricht und er fängt an zu lachen. »Lass mich raten«, sagt er, während er auf dem Screen herumtippt. »Elijah ist verletzt, und du übernimmst seinen Platz?«

»Du bist so ein Arsch. Konntest du mir das nicht einfach mal gönnen? Verfluchte BBC News, die mir wieder mal den Spaß verderben.«

»Das machen sie doch immer gern. Zumindest klingt in diesem Artikel alles positiv, und sie mussten das Bild nicht verpixeln, um deinen haarigen Sack zu verstecken.«

Okay, das ist definitiv etwas, das ich nie wieder durchleben möchte. Ich hatte immer gedacht, dass, wenn jemals anzügliche Nacktbilder von mir geleakt würden, sie eine der vielen Gelegenheiten abbilden würden, bei denen ich mich in einer dunklen Club-Ecke von einem heißen Typen verwöhnen ließ – und nicht, weil ein Fan beschlossen hat, mir auf offener Straße die Hose runterzuziehen. Leider hat jemand ein Bild geschossen, das mich frontal zeigt, bevor ich mich bedecken konnte.

»Na ja, das ist wenigstens etwas, schätze ich. Haben sie wenigstens ein nettes Foto benutzt?«

»Podiumsaufnahme vom letzten Jahr.« Das ist okay.

Am Ende der letzten Saison habe ich beschlossen, alle Nachrichten-Apps von meinem Handy zu löschen und die Google-Benachrichtigungen für meinen Namen zu deaktivieren. Die Medien haben selten etwas Nettes über mich zu sagen und lieben es, meine Vergangenheit hervorzukramen. Ich war dabei. Ich brauche keine Erinnerung daran.

»Wunderbar, das hören wir gerne. Obwohl es schön gewesen wäre, wenn sie eines meiner aktuellen Instagram-Bilder genommen hätten.«

»Ich glaube nicht, dass die BBC deine Thirst-Traps benutzen möchte, Babe.«

Er verdreht die Augen und setzt mich auf der Arbeitsplatte in etwas ab, das wie eine kleine Küchenzeile aussieht. Keine Ahnung, wo ich morgen um diese Zeit wohnen werde, aber ich hoffe, es ist genauso großartig wie der Ort, an dem Johannes gerade ist. Es ist sein zweites Jahr in der großen Liga. Sein Erstes war bei Haas, und als Ford seine Rückkehr in den Rennsport mit Red Bull ankündigte, wurde er sofort in ihr Team aufgenommen. Es passt zu ihm; er war schon immer der Comeback-König.

»Deren Verlust. Was machst du da?«

Er zieht einen Mixer aus dem Schrank und geht zum Kühlschrank, wo er mir auf die unsexieste Weise überhaupt zeigt, was er da hineingibt. »Banane, Haferflocken und Erdnussbutter-Smoothie. Brauche etwas Protein nach dem Training. War’s das, was du sagen wolltest? Ich muss unter die Dusche, bevor das Interview losgeht, James.«

»Ich bin grün vor Neid. Schick mir Fotos.«

»Dieses Privileg hast du nicht mehr.« Er wackelt ein wenig mit seinem Hintern, der in hautengen Laufshorts steckt, während er sich streckt, um ein großes Glas aus dem Schrank zu holen.

Ich vermisse diesen Hintern nicht so, wie er und einige unserer Freunde vielleicht denken. Ich vermisse einfach gerade allgemein Hintern.

Es ist nicht so, dass ich eine Flaute hätte – ich bekomme mehr als genug Action –, aber ich bin irgendwie gelangweilt von meiner üblichen Club-Auswahl. Ich weiß nicht genau, warum meine bisherige Szene mich nicht mehr so reizt wie früher, aber irgendwie trifft es einfach nicht mehr den Sweet Spot, sozusagen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht einmal wirklich, was ich will oder wie ich es finden soll.

Johannes war schon immer ein bisschen anders. Er ist als Kind und Teenager viel Kart gefahren, bis er sich mit neunzehn die Hüfte brach und mit dem Motorsport aufhörte. Seine Genesung war sowohl körperlich als auch mental schwierig, und er hätte fast nicht zurückgefunden. Ich würde nicht sagen, dass ich ihn damals gepflegt habe, aber wir haben zusammengelebt, und als er medizinisch für fit erklärt wurde, haben wir angefangen, miteinander zu schlafen. Es war eine gute Zeit. Wir waren beste Freunde mit gewissen Vorzügen, aber Johannes wollte irgendwann mehr. Er wollte Exklusivität und eine Beziehung.

Wie er es sagte, klang es, als könnte ich diese Person nicht sein. So habe ich es verstanden. Ich bin der heiße Typ, mit dem Männer in Clubs Sex haben, nicht der, in den sie sich verlieben.

Was für mich völlig in Ordnung ist.

Es hat unsere Freundschaft nicht zerstört, aber ich bin ausgezogen. Als ich endlich in ein Team berufen wurde, war ich froh, dass es nicht sein Team war. Wir facetimen trotzdem praktisch jeden Tag und hängen zusammen ab oder feiern, wann immer wir in derselben Stadt sind. Er behandelt mich zwar manchmal wie einen nervigen, etwas jüngeren Bruder, aber ich weiß, dass er sich freut, wenn wir uns jetzt öfter sehen, wo wir beide es in die große Liga geschafft haben.

Und jetzt haben wir eine ganze Saison vor uns. Auch wenn er nicht mehr durch die Clubs ziehen und nach Beute suchen wird wie früher, wird er trotzdem mein Wingman sein, während ich das tue.

»Alles gut. Du weißt, dass ich diese Pfirsichansicht satt hatte«, necke ich ihn. Wir lachen beide, und zum Glück stirbt dieses Gesprächsthema damit. »Wie auch immer, danke, dass du meine große Ankündigung ruiniert hast. Ich packe jetzt meine Sachen und sehe dich morgen!«

»Bis dann, Schätzchen. Wir sehen uns.« Er winkt in die Kamera, und ich beende den Anruf.

Es war ein seltsamer Tag. Heute Morgen bin ich aufgestanden und dachte, der Tag würde wie jeder andere werden, da die Saison in den unteren Kategorien erst in ein paar Wochen beginnt. Und jetzt packe ich für einen Flug nach Bahrain zum Vorsaison-Test.

Ich sollte mein Equipment durchgehen. Oder irgendwas anderes Vernünftiges tun. Was machen normale Menschen, wenn sie erfahren, dass ihre Karriere kurz davor steht, auf das nächste Level zu springen? Das Level, von dem sie seit ihrer Kindheit träumen, seit sie alt genug waren, um hinter einem Lenkrad zu sitzen?

Die meisten würden wahrscheinlich ihre Familie anrufen, nehme ich an, aber ich habe keine Familie. Ich habe es der einzigen wichtigen Person in meinem Leben bereits erzählt, also … wird eben gepackt.

Hendersohm schickt zehn Stunden später ein Auto, das mich nach Gatwick bringt. Es ist eine elegante schwarze Limousine mit getönten Scheiben und weichem italienischem Leder. So etwas habe ich noch nie erlebt. Das ist es. Die große Liga, Baby!

Ich muss nicht einmal durch den Flughafen laufen, was mir absolut verrückt vorkommt. Mein Pass wird überprüft, als wir auf dem Rollfeld halten, und ich werde die Treppe hinauf zu einem Jet begleitet, der nur als purer Luxus beschrieben werden kann.

Das Innere ist nichts, was ich je in einem Flugzeug gesehen habe. Es gibt einen verdammten Barbereich hinten, allein das schon! Und wenn die Ermahnung meines Agenten und von Anders, mich von meiner besten Seite zu zeigen, nicht noch frisch in meinem Kopf wäre, hätte ich mich für den gesamten Flug direkt dort geparkt. Stattdessen muss ich mich wohl mit einem weichen Sessel begnügen, der mit unzähligen Knöpfen ausgestattet ist. Ich hoffe, einer davon lässt den Sitz zur Liege werden, denn ich hatte noch nie ein eigenes Bett auf einem Flug. Business-Class-Sitze, klar, aber First-Class-Sitze in Privatjets? Mein Herz schlägt schneller, als ich mir vorstelle, wie der Rest meines Lebens als großer Fisch aussehen könnte.

In diesem Teil des Jets gibt es nicht mehr als fünfzehn Sitze. Die Hälfte davon wird von dem Teamchef und den leitenden Mitgliedern eingenommen, die während der Rennen hinter der Boxenmauer stehen. Ich glaube, ich kann die meisten Gesichter den Namen zuordnen, aber die einzige Person, die ich wirklich kenne, ist Anna Kash, die PR-Beauftragte von Hendersohm. Wir haben uns oft getroffen, als ich im Hendersohm-Nachwuchsteam war. Sie würde wahrscheinlich sagen: »Einmal zu oft.« Sie hasst mich.

»Anna, meine Retterin, wie zum Teufel geht’s dir?« Ich strecke ihr die Faust zum Fistbump hin, aber sie schaut mich nur müde von ihrem Laptop aus an.

»Es wäre großartig, wenn du dieses Jahr die Finger von deinen Hosen lassen könntest, James. Ein bisschen weniger Zeit beim Feiern, bitte, und um Himmels willen, hör auf, mit deinen Konkurrenten halbnackt auf Tischen zu tanzen.«

Sie meint definitiv Johannes, und ich kann es jetzt schon kaum erwarten, ihn zu sehen, wenn wir in Bahrain ankommen.

»Verstanden«, antworte ich, bevor ich mich zu einem Sitz auf der anderen Seite des Gangs begebe. Ich sollte mein Glück mit ihr wohl nicht zu sehr herausfordern. Ich brauche sie, damit sie mich gut dastehen lässt, sodass ich all die Sponsorenverträge an Land ziehen kann, von denen mein Agent so begeistert war.

Letztes Jahr habe ich mehr Geld verdient, als ich je zuvor in meinem Leben besaß. Mein Kontostand sah zum ersten Mal überhaupt erfreulich aus, aber es gab nicht viele Marken, die sich gemeldet haben, um Deals abzuschließen. Wahrscheinlich mein eigener Fehler, aber nun ja. Das Geld, das ich dieses Jahr scheffeln werde, wird meine Renneinnahmen wie Kleingeld erscheinen lassen. First-Class-Sitze in Privatjets werden definitiv öfter vorkommen.

Ich hoffe, meine Eltern sehen die Pressemitteilung.

Ich hoffe, sie fühlen sich wie der letzte Dreck, wenn ihnen klar wird, dass ich es geschafft habe – trotz allem, was sie mir angetan haben. Und allem, was sie nicht getan haben.

Das Geld, das luxuriöse Flugzeug und all die Deals, die jetzt kommen, das alles ist der Anfang eines neuen Lebens für mich. Diese Dinge sind mein größter Antrieb, mich so sehr anzustrengen, wie ich es tue, aber ich kann die Aufregung nicht ignorieren, die durch mich pulsiert, wenn ich daran denke, Kian Walker näher kennenzulernen – als sein Teamkollege.

Er ist seit fast fünfzehn Jahren im Rennsport. Er hat vier Meisterschaften gewonnen und ist eine absolute Legende. Ich hatte in meiner Teenagerzeit ein Poster von ihm an meinen Schlafzimmerwänden. Es gab auch welche von seinem Vater. Tyler Heath war damals eine Legende, genauso aufregend abseits der Strecke wie auf ihr. Er war berüchtigt für all die Frauen, die ihm überall auf der Welt hinterherliefen, und die Masse an Kindern, die er angeblich gezeugt hatte. Es ist offensichtlich, woher Kian sowohl sein Aussehen als auch sein Talent hat.

Ich habe mir unzählige Rennen von Tyler Heath angesehen, als ich mit dem Kartfahren anfing. Und ich habe Unmengen alter Aufnahmen von ihm auf YouTube gefunden und seine verrückten Fähigkeiten studiert. Er war so aufregend, die Art, wie er fuhr – rücksichtslos und mitreißend, immer an den Grenzen des Möglichen. Aber dann wurde er aus dem Sport geworfen und fuhr nie wieder. Ein Skandal zu viel, und er wurde vom Helden zum Bösewicht degradiert. Ich sollte wahrscheinlich etwas daraus lernen, aber die Details, warum er in Ungnade fiel, sind ein streng gehütetes Geheimnis.

Ich habe Kian schon ein paar Mal bei Veranstaltungen getroffen, doch noch nie länger mit ihm gesprochen. Er war immer zu beschäftigt – und zu erhaben –, um sich richtig zu unterhalten. Ich habe es nie persönlich genommen; jeder will ein Stück vom Goldjungen des Motorsports. Das werde bald ich sein. Die Leute werden bei mir anklopfen und ein Stück von mir wollen, aber ich werde zu beschäftigt sein.

Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich nicht auch gespannt darauf bin, Kian kennenzulernen und ihn über seine Jahre in diesem Sport auszufragen. Ich will alles wissen, was er weiß. Ich möchte ihn nach seinem Vater fragen.

Ich bin fünfundzwanzig und komme endlich in die Königsklasse, aber er wurde mit achtzehn in den Top-Motorsport berufen. Ich sollte ihm wahrscheinlich nicht erzählen, dass ich weiß, dass sein erstes Rennen in der höchsten Kategorie an seinem neunzehnten Geburtstag stattfand. Das würde creepy rüberkommen.

Ich sinke in den weichen Sessel, ziehe meine Turnschuhe aus und grabe meine Füße ins Leder, während ich ihn in die Liegeposition gleiten lasse. Es ist ein siebenstündiger Flug, und ich kann es kaum erwarten, es mir gemütlich zu machen. Ich kann nicht glauben, dass ich hier bin. Ich kann nicht glauben, dass ich endlich alles bekomme, was ich mir je gewünscht habe.

Das ganze Flugzeug summt vor Geschäftigkeit. Kleine Gruppen wichtiger Leute, die reden und telefonieren, bis das Geräusch von Schritten auf der Treppe zu hören ist und alle verstummen, als Kian Walker zu uns stößt.

Verdammt. Aus der Nähe ist er noch heißer als auf den Bildern.

Mein großes Mundwerk, das keinen Filter hat, übernimmt die Kontrolle über mein Gehirn, und bevor ich nachdenken kann, höre ich mich sagen: »Alles klar, Walker? Wie läuft’s, Kumpel?«

Der Gesichtsausdruck, den er macht, reicht aus, um mich verstummen zu lassen. Dann bemerkt er jedoch die Blicke der Offiziellen um uns herum, und ein knappes Lächeln umspielt seine Lippen.

»Harper. Willkommen im Team.«

Das ist alles, was ich bekomme. Er zieht seinen Rucksack ein Stück höher auf seine Schultern und steuert den am weitesten von mir entfernten Sitz an.

Alle kehren zu ihren Aufgaben zurück, bis der Kapitän uns auffordert, uns anzuschnallen, und die Türen verriegelt werden. Wir rollen zur Startbahn, und ich realisiere so langsam, wie sehr Kian Walker mich gerade hat abblitzen lassen.

Abgesehen von seinen Statistiken weiß ich eigentlich nicht viel über ihn. Er ist bekannt dafür, äußerst viel Wert auf seine Privatsphäre zu legen. Weder online noch in den Medien gibt er viel von sich preis. Ich weiß, dass er zwei berühmte Eltern hat – Tyler Heath, natürlich, und seine Mutter Chastity Walker. Sie war damals ein internationaler Superstar mit einer Reihe von Pop-Hits, die immer noch im Radio gespielt und gecovert werden. Tyler Heath hatte alles – bis alles zusammenbrach, als er seine schwangere Frau betrog … und die andere Frau gleichzeitig schwängerte.

Chastity verschwand für ein paar Jahre aus dem Rampenlicht, gebrochen und gedemütigt. Tyler wurde aus seinem Team geworfen – aus nicht offengelegten Gründen – und wurde von keinem anderen Team mehr aufgenommen.

Die dunkle Wolke des Verdachts, die über ihm hing, warf einen Schatten auf seine unglaubliche Karriere, und er tauchte nie wieder im Rennsport auf.

Aber jetzt bin ich hier, im selben Team und im selben Flugzeug wie sein Sohn. Er hat im Rennen all die Fähigkeiten seines Vaters und die Arbeitsethik und Kreativität seiner Mutter. Wie oft bekommt man die Chance, sein Idol zu treffen? Mehr noch – dessen Teamkollege zu sein?

Als der Jet seine Flughöhe erreicht hat, und bevor ich mich zurückhalten kann, löse ich meinen Sicherheitsgurt und eile zu Kian. Er hat sich einen Sitz ganz hinten ausgesucht, und ich laufe zu ihm, um mich auf den niedrigen Tisch neben ihm zu setzen.

Seine Augen sind geschlossen, und er liegt zurückgelehnt in seinem Sitz, aber das hält mich nicht auf. Selbstkontrolle war noch nie meine Stärke, und es kommt mir nicht in den Sinn, jetzt welche zu üben.

»Hey, Kian.«

Keine Antwort.

Ich winke wie ein Idiot mit der Hand vor seinem Gesicht herum, als würde das seine Aufmerksamkeit erregen. Offensichtlich sieht er mich nicht.

»Kian?«

Nichts.

Ich lege meine Hand auf sein Knie und schüttle es. Er reißt die Augen auf.

»Was zum Teufel?«, knurrt er und zieht sich Ohrstöpsel aus den Ohren. Die hatte ich unter der Masse an Haaren, die dringend einen guten Schnitt gebrauchen könnten, nicht bemerkt.

»Sorry, Mann. Ich dachte, ich komme mal rüber und sehe, wie es dir geht … wollte meinen neuen Teamkollegen kennenlernen.«

Er schüttelt den Kopf, als könnte er nicht glauben, dass ich mich wirklich erdreiste, so etwas zu sagen. Dabei ich bin mir nicht sicher, was ich getan habe, um diese Reaktion zu verdienen. Es gibt genug andere Fahrer, die ich im Laufe der Jahre verärgert habe und die zu Recht so reagieren würden – oder schlimmer. Ich habe hier und da mit einem Bruder geschlafen oder in einer schlechten Nacht mal jemandem ein Getränk ins Gesicht geschüttet. Aber Kian Walker? Was habe ich ihm getan? Nichts. Nicht einmal einen betrunkenen Ausrutscher. Ich bräuchte keine Finger, um die Nächte zu zählen, an denen ich ihn in einem Club gesehen habe. Ich glaube, er war nicht mal auf der Hendersohm-Weihnachtsfeier letztes Jahr.

»Passt schon. Ich denke, ich weiß genug über dich«, antwortet er.

Ich weiß genug über dich. Das sagt er? Na toll. Ich meine, ich bin zumindest froh, dass er überhaupt weiß, wer ich bin, weil es sonst unfassbar peinlich wäre. Aber so, wie er es sagt, klingt es, als wäre alles, was er weiß, negativ. Klar, ich habe einen Ruf in den Medien, aber ich bin auch ein verdammt guter Fahrer.

»Alles klar. Okay. Nun, das war erhellend.« Ich stehe auf und kehre fast im Laufschritt zurück zu meinem Sitz.

Als ich mich in den Stuhl fallen lasse, habe ich Schwierigkeiten, mich zu entspannen. Nicht gerade etwas, womit ich in einem Privatjet gerechnet hätte, aber eine seltsame Anspannung frisst an mir.

Ich wälze mich herum, klappe den Sitz flach und ziehe mir eine flauschige Decke über, aber es hilft nichts. Schließlich hole ich mein Handy heraus, verbinde mich mit dem WLAN des Flugzeugs und schicke Johannes eine Nachricht:

Ich glaube, Kian Walker hasst mich.

Zum Glück erscheinen sofort drei Punkte auf der anderen Seite des Bildschirms.

Du bist nicht jedermanns Sache, James. Außerdem ist er ziemlich steif, und du gehst ihm wahrscheinlich auf die Nerven, so wie ich dich kenne.

Ich runzle die Stirn und starre auf den Bildschirm.

Alles, was ich gemacht habe, war, Hallo zu sagen und ihn ein bisschen kennenlernen zu wollen, aber er meinte nur – und ich zitiere – »Ich weiß genug über dich.«

Kians Worte laufen immer noch in Dauerschleife in meinem Kopf. Was zum Teufel meinte er damit? Und wie kann er genug über mich wissen? Bei mir gibt es kein genug.

Oh. Na ja, er ist nicht der geselligste Typ, wenn es um die anderen Fahrer geht, aber mit Elijah ist er eng befreundet. Vielleicht ist er einfach müde oder hat Probleme mit dem Fliegen oder so.

Ich denke über Johannes’ Worte nach. Vielleicht hat er recht. Oder vielleicht ist Kian einfach genervt, weil er seinen Freund verloren hat und jetzt mit mir klarkommen muss.

Vielleicht.

Ich spähe durch die Lücken zwischen den Sitzen hinüber zum großen Kian Walker. Seine Augen sind geschlossen, und er liegt seitlich eingerollt, aber entspannt sieht er auch nicht aus.

Er ist definitiv speziell. Auf eine Art, die ich noch nicht ganz verstehen kann.

Das Flugzeug gleitet über Kontinentaleuropa hinweg, und mein letzter Gedanke, bevor ich einschlafe, ist: Wie kann ich Kian Walker davon überzeugen, dass er bei weitem nicht genug über mich weiß?

Kapitel Drei

Kian

Es ist der dritte Tag der Vorsaison, und ich fühle mich endlich wieder in meinem Element. Es tut gut, wieder auf der Rennstrecke zu sein und in dem vertrauten, engen Cockpit zu sitzen. Für jemanden, der es nicht mag, eingeengt zu sein, sollte ich mich eigentlich extrem klaustrophobisch fühlen, aber es ist der einzige Ort, an dem ich mich vollständig in Kontrolle fühle.

Diese Test-Sessions waren unglaublich. Ich habe die Verbesserungen gesehen, die sie dieses Jahr am Auto vorgenommen haben, und es an seine Grenzen zu bringen, hat mir großes Selbstvertrauen für meine vierzehnte Saison beschert. Die Medien können sich ihre Spekulationen über meinen angeblichen Rücktritt sonst wohin stecken.

Ich fahre in die Ausfahrtspur und klettere kurz darauf aus dem Cockpit, dann sehe ich ihn: Harper James. Schon wieder schleicht er hier herum.

Er ist überall.

Es gibt kein Entkommen. Nichts, was ich tun könnte, um ihm aus dem Weg zu gehen, selbst wenn ich es versuchen würde. Ich komme nicht mal aus meinem Auto, ohne dass er irgendwo in meiner Nähe herumlungert.

Ich bleibe kurz stehen, richte mich auf und gewöhne mich daran, wieder gerade zu stehen, nachdem ich über eine Stunde lang die Strecke entlanggerast bin. Ich strecke meinen Rücken und meine Beine, lockere die angespannten Muskeln und betrachte dabei unauffällig Harpers Seitenprofil.

Seine Augen huschen immer wieder in meine Richtung, und ich ahne, dass er darauf wartet, dass ich an ihm vorbeigehe. Ich kann nicht leugnen, dass auch ich ihn beobachtet und dieses Wochenende einige seiner Runden verfolgt habe. Auf der Strecke ist er beeindruckend. Als Mensch scheint er keine Selbstkontrolle zu haben, aber als Fahrer ist er souverän. Seine Entscheidungen wirken mutig und strategisch, könnten aber ebenso gut einfach draufgängerisch sein – das Ergebnis von Talent und Instinkt. Ärgerlicherweise habe ich gesehen, wie diese riskanten Entscheidungen oft belohnt wurden.

Nach dem ersten Tag bin ich in mein Hotel zurückgekehrt und habe mir einige seiner Aufnahmen angesehen. Er ist ein Genie auf der Rennstrecke. Ich wünschte, ich könnte sehen, was in seinem Kopf vorgeht, wenn er die Strecke analysiert, denn er fährt, als hätte er jede Kurve und jeden Abschnitt mental gespeichert. Er scheint immer genau zu wissen, was als Nächstes kommt, ohne groß darüber nachzudenken. Es ist eine Form von Fahrintelligenz, die ich nur bei einer Handvoll Champions gesehen habe. Widerwillig wächst jedes Mal, wenn ich ihn beobachte, meine Bewunderung für seine Technik.

Und dann macht er den Mund auf und ruiniert alles.

»Mann, es ist echt deutlich, dass du alle guten Gene von Tyler Heath geerbt hast.«

Während ich noch in meinen Gedanken versunken war, ist er an meine Seite getreten. Mein Renningenieur Cole folgt ihm dicht auf den Fersen. Ich sehe, wie Cole das Gesicht verzieht, während er sich über die Reifen beugt, um Feedback zum Fahrgefühl von mir einzuholen. Ich muss mich beherrschen, Harper nicht anzuschnauzen, als er zwischen uns tritt.

Harper registriert Coles Blick, doch entweder ist er zu dumm oder er will mich provozieren, denn er redet einfach weiter.

»Du nimmst die Kurven genauso wie dein Dad, Mann! Ich bin so neidisch. Genau diese Furchtlosigkeit, die er früher hatte.«

Ich schließe die Augen, atme tief durch und nehme langsam meinen Helm ab. Ich schaue Cole direkt an und ignoriere Harper komplett.

»Die C4-Reifen haben sich in den Runden gut angefühlt. Ich denke, sie werden gut für das Qualifying sein, aber vielleicht nehmen wir besser die C2 für den Start des Rennens.«

Cole nickt. »Gut zu wissen. Wir haben in den letzten Runden etwas Abrieb bemerkt. Das sollten wir bei den endgültigen Entscheidungen für Bahrain berücksichtigen.« Er macht ein paar Notizen auf seinem iPad. Unsere besten Techniker und Ingenieure sind bereits über die Bildschirme gebeugt, analysieren die Daten des Autos und notieren Statistiken.

Ich bin heute in zwei Sessions fast 120 Runden gefahren, was mein Dreitagestotal auf 347 bringt – fast so viele wie in meiner dritten Saison mit 368. Und selbst wenn ich noch mehr fahren muss, werde ich es tun, denn Hingabe, Disziplin und Selbstkontrolle sind genauso wichtig wie jedes natürliche Talent, das man sein Eigen nennen mag.

Harper James muss lernen, dass dies eine völlig andere Liga ist als die unteren Kategorien. Wenn er sich nicht zusammenreißt, wird er nicht lange durchhalten.

Ich blicke auf die Bildschirme, die Rundenzeiten und Daten anzeigen, einschließlich meiner schnellsten und langsamsten zehn Runden des Tages. Alle leitenden Techniker stehen drumherum. Ich will alles genau studieren, aber Harper hat sich direkt vor den Bildschirmen platziert, als würden sich die Informationen um ihn drehen. Er sieht aus wie ein begeisterter Welpe, die Augen weit aufgerissen, voller Energie, und ich spüre, wie mich das auslaugt. War ich ebenso in meiner ersten Saison in einer höheren Kategorie? Seine Begeisterung lässt ihn so jung wirken und mich wie einen alten Mann fühlen.

Nicht, dass es einen großen Altersunterschied gäbe – er ist fünfundzwanzig, und ich werde bald dreiundvierzig. Aber bei einer Rennfahrerkarriere und beim Thema Erfahrungslevel ist das eine Ewigkeit. Und ich liebe es, mich wie ein alter Mann zu fühlen, während ich ständig Fragen zu meinem möglichen Rücktritt ausweiche.

»Diese Runde« – Harper tippt auf den Bildschirm und zeigt auf meine zweitschnellste – »war der Wahnsinn. Das Auto sah so aerodynamisch aus, als du die zweite und dritte Kurve genommen hast. Ich dachte, du würdest aus der Bahn fliegen, aber du hattest alles unter Kontrolle.«

In seiner Stimme liegt Ehrfurcht, und ich sollte mich vermutlich geschmeichelt fühlen, aber ich bin es gewohnt, wie Elijah und ich als Team funktioniert haben. Wir haben uns immer Zeit genommen, um runterzukommen, und später im Hotel die Daten mit einem klaren Kopf und Objektivität analysiert.

Manchmal brauche ich einfach ein bisschen Raum, wenn ich aus dem Auto steige. Ruhe ist fast unmöglich, wenn einem sofort Kameras ins Gesicht gehalten werden und die Boxencrew und Offizielle um einen herumstehen. Normalerweise ziehe ich mich in eine ruhige Ecke zurück, lasse mich auf einen Stuhl fallen und atme ein paar Minuten durch. Jeder im Team, der schon länger dabei ist, kennt das. Ich wünschte, jemand würde dem »Jungspund« sagen, er solle sich mal einkriegen, denn er geht mir langsam aber sicher auf den Sack.

Vieles im Motorsport ist Kopfsache, und ich weiß, welche Bedingungen ich brauche, um auf höchstem Niveau zu performen – und Harper James gehört definitiv nicht dazu. Aber ich bin nicht gut im Konfrontieren, also sage ich mir, dass Ignorieren der beste Weg ist.

Er wird die Botschaft schon verstehen. Oder einer der Renningenieure wird es ihm klar machen, wenn er zu weit geht.

Ich werde es jedenfalls nicht tun. Konfrontation ist nämlich ebenfalls nicht förderlich für die Bedingungen, die ich brauche. Zu performen fällt mir schwer, wenn die Unruhe an meiner Seele nagt. Ash oder Cole werden ihm schon Bescheid geben. Ich vertraue ihnen – sie wissen, was das Beste für mich ist.

Ich drehe mich von Harper weg und halte meinen Mund. Er hat offensichtlich mit einer Antwort gerechnet, und seine Überraschung, keine zu erhalten, bringt ihn ein paar Minuten zum Schweigen. Um die Verwirrung zu überspielen, lehnt er sich über einen der Techniker – Kev – und versenkt sich in die Grafiken, die meine Leistung im neuen Auto aufzeigen.

»Keine Sorge, Mann«, sagt Cole leise zu mir. »Wir stellen gerade deinen Vorsaison-Ordner zusammen. Sag uns in den nächsten Tagen einfach, was dir dazu durch den Kopf geht.«

Cole entgeht fast nie etwas. Er ist fast so lange hier wie ich, und ich schätze es, dass er jede Saison über sich hinauswächst, um mich zufrieden zu stellen.

»Du bist super. Danke, Cole.« Ich klopfe ihm auf die Schulter und greife nach meiner Tasche, um meine Ohrstöpsel zu suchen. Mit den beiden im Ohr und aktiviertem Geräuschunterdrückungsmodus kann ich das Chaos für eine Weile hinter mir lassen. Visualisierung ist alles für mich, wenn ich nicht auf der Strecke oder im Simulator bin. Ich stelle mir jede Kurve vor, spüre den Widerstand auf der Strecke und wie mein Körper reagiert, wenn die G-Kraft stärker ist als alles, was ich jemals zuvor erlebt habe.

Ich wähle eine geführte Meditation aus meinen Spotify-Favoriten und sinke in einen bequemen Stuhl. Ich atme regelmäßig, spanne meine Muskeln an und lasse bewusst wieder los, vom Kopf bis hinab zu den Zehen, konzentriere mich ganz darauf und entspannte dabei. Es ist die ultimative Ruhe und genau das, was ich nach dem Adrenalinkick auf der Strecke brauche.

Allerdings hält diese Ruhe nicht lange an, denn keine zwei Minuten später spüre ich eine Hand auf meiner Schulter – ich weiß sofort, dass es nur eine Person sein kann. Ich muss nicht mal die Augen öffnen, um sicher zu sein. Es scheint seine favorisierte Art zu sein, mich zu überfallen.

»Harper?« Ich nehme einen Ohrstöpsel heraus und öffne ein Auge.

»Wow, sorry. Ich stand hier bestimmt drei Minuten, und du hast dich nicht mal bewegt. Ich dachte, du wärst in Trance oder so.«

Er ist wie ein Kind, voller Energie und unbändiger Begeisterung. Ich verstehe es ja – es ist seine erste Vorsaison in einer höheren Kategorie. Aber er hat dieses Wochenende 300 Runden gedreht, und ich hätte gedacht, dass ihn das etwas mehr ausgelaugt hätte.

»Ich versuche, ein bisschen Ruhe zu finden.« Der Punkt kommt nicht an. Entweder macht er das absichtlich oder er kann nicht zwischen den Zeilen lesen.

»Ein paar von den Jungs gehen heute Abend essen und was trinken. Kommst du mit?« Er hat sich aus seinem Rennanzug geschält und trägt jetzt Sportshorts und ein dünnes, bauchfreies Unterhemd. So etwas habe ich in all meinen Jahren im Hendersohm-Team noch nicht gesehen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, wen er mit »die Jungs« meint. Ich habe ihn in den letzten Tagen mit Fahrern anderer Teams gesehen und bin mir ziemlich sicher, dass es bereits Hunderte Fotos von ihm und Johannes vom Red-Bull-Ford-Team gibt.

»Nein danke. Habt einen schönen Abend.« Mein Tonfall ist trocken und macht klar, dass ich allein sein will.

Wir haben zwei Wochen Freizeit in Bahrain bis zum ersten Rennwochenende, genug Zeit für die Techniker, letzte Anpassungen an den Autos vorzunehmen und die Setups zu verfeinern. Der Luxus beim Rennsport ist, dass wir keine Zimmer mit anderen teilen müssen, wie es bei manchen anderen Sportteams der Fall ist.

»Kein Problem. Wir sehen uns ja sowieso in einer Stunde für das Interview mit Sports Magazine.« Er stürmt davon, hinter Ash her, während ihm eine Flut von Fragen über die Entscheidung für einen Sidepod am Wagen aus dem Mund sprudelt. Ich beneide Ash gerade nicht.

Dann sickern seine Worte erst zu mir durch. Schnell hole ich meinen Kalender hervor, und da steht es: Interview mit Sports UK Magazine mit Harper. Wie konnte ich das heute Morgen nur übersehen? Wahrscheinlich, weil mein Frühstück aus ununterbrochenem Geplapper von einem gewissen Teamkollegen bestand, statt aus meiner üblichen Routine, mich auf den Tag vorzubereiten.

Widerwillig hebe ich mich aus dem Stuhl und suche Kelsey. Sie kümmert sich um alle Reiseangelegenheiten, und ich muss ins Hotel zurück, um zu duschen und mich umzuziehen.

»Du machst eine gute Figur da draußen, Ki.« Sie ist immer voller Komplimente, obwohl ich sie loben sollte – bisher war alles perfekt organisiert.

»Danke, Kels. Könnte ich dich um eine Rückfahrt ins Hotel bitten?«

»Du hast Glück. Ich habe gerade ein Auto für Harper gerufen. Wenn du dich beeilst, kannst du mitfahren.« Ich hadere kurz mit mir. Kelsey ist großartig, und ich will ihr keine doppelte Arbeit machen, aber diese Aussicht ist einfach furchtbar. Trotzdem lächle ich und bedanke mich, bevor ich mich widerwillig in dieselbe Richtung wie Harper aufmache. Leider komme ich genau rechtzeitig, trotz meiner Schneckentempo-Strategie. Harper öffnet gerade die hintere Tür, und ich wünschte, es wäre nicht unhöflich, mich auf den Vordersitz zu setzen.

»Wusste, dass du nicht ohne mich kannst«, sagt er grinsend.

Hat er …? War das ein flirtender Tonfall?

Die ganze Unruhe durch Elijahs medizinischen Notfall und Harpers plötzlichen Beitritt zum Team hat mich so sehr aufgewühlt, dass ich jede Kleinigkeit zerdenke. Es ist eine meiner schlimmsten Angewohnheiten und der Grund, warum ich so viel Zeit mit Meditation und mentaler Fokussierung verbringe. Ich schüttele den Gedanken schnell ab.

»Kelsey meinte, sie hätte gerade ein Auto für dich bestellt, und ich wollte nicht, dass sie mir noch eins ruft, wenn wir das gleiche Ziel haben.«

»Wenn du das brauchst, um dich besser zu fühlen, Kian. Ich weiß, du willst mich näher kennenlernen. Vielleicht kommst du doch noch mit zum Abendessen?« Seine strahlenden Augen sind voller Begeisterung – und aus dieser Nähe, im goldenen Licht der Abendsonne, schimmern sie in einem klaren Türkisblau.

Faszinierend.

Widerwillig erkenne ich, warum jeder Mann und dessen Frau so wild darauf sind, ihn ins Bett zu kriegen.

Ich wende meinen Blick ab und erinnere mich daran, wie sehr er mich nervt. Vielleicht ist seine wahre Superkraft tatsächlich seine Hartnäckigkeit. Er scheint nie ein »Nein« als Antwort zu akzeptieren.

»Nicht wirklich mein Ding. Ich muss duschen, das Interview hinter mich bringen und rechtzeitig zu meinem Kurs zurückkommen.« Ich weiß, dass er nicht gut mit subtilen Hinweisen ist, also versuche ich, es klar und deutlich zu sagen.

»Ein Kurs? Was belegst du?«, fragt er und lehnt sich damit tiefer in das Gespräch hinein, gerade als ich versuche, es zu beenden.

»Yoga.« Flexibilität ist für Athleten entscheidend, und es ist nicht so, als wären meine Trainingsaktivitäten ein Geheimnis. Trotzdem fühle ich mich seltsam unwohl, darüber mit ihm zu sprechen.

Er mustert mich, sein Blick gleitet langsam über meinen Körper, von Kopf bis Fuß. Seine Augen funkeln vor Begeisterung, als würde ihm gefallen, was er sieht. Ich weiß nicht, wie ich das aufnehmen soll. Das ist absolut unzulässig.

»James!«, fahre ich ihn an.

»Sorry. Ich versuche mir nur vorzustellen, wie du Yoga machst. Du strahlst nicht gerade Eleganz aus.«

»Es ist Yoga, nicht Ballett. Es geht um Kontrolle, Atmung und das Ausloten der Grenzen von Muskeln und Gliedmaßen. Kommt dir das bekannt vor?«

Ich weiß, dass ich schnippisch bin, aber in meinem Kopf dreht sich alles, und ich habe wirklich genug von ihm. Es lässt mich Elijah noch mehr vermissen.

Zum ersten Mal hat Harper nichts darauf zu sagen. Vielleicht stimmt er mir zu, vielleicht hat er es endlich verstanden. Oder vielleicht liegt es daran, dass in seinen Augen immer noch ein Glühen liegt, und er mich nicht direkt ansehen kann. Was auch immer es ist – ich bin einfach dankbar für die Stille.

Es sind nur noch fünf Minuten bis zum Hotel, aber die Atmosphäre ist so unangenehm, dass sich diese fünf Minuten wie eine Ewigkeit anfühlen, ehe wir endlich vor dem Eingang des Hotels ankommen und der Fahrer uns die Tür öffnet.

Wir laufen beide eilig durch die Lobby, nur um im selben Aufzug zu landen, der uns in dieselbe Etage bringt.

Auf dem Weg zu meinem Zimmer überhole ich ihn im Flur. Er packt mich am Arm.