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Slam Dunk für die Liebe
Eine herzergreifende Basketball-Romance für alle, die von Sport Romances nicht genug bekommen können
Social Media Managerin Annie Radford nimmt nur zögerlich und mangels Alternativen einen Job bei ihrem alten College-Basketballteam an. Die Arbeit wird ihr durch ihren alten Studienfreund Ben, der immer noch für das Team arbeitet, auch nicht gerade einfacher gemacht. Ben ist zwar noch genauso nervtötend heiß wie als Student, nimmt Annie aber übel, dass sie ihn und das Team vor acht Jahren einfach so im Stich gelassen hat. Doch Annies Herz schlägt jedes Mal schneller, wenn sie und Ben zusammen sind. Obwohl keiner von beiden leugnen kann, dass es ordentlich zwischen ihnen knistert, hat Annie Angst, Ben die Wahrheit über ihren Weggang zu sagen ...
»Trifft den Korb mit der perfekten Mischung aus Romantik, Spice und einem wichtigen Thema.« JODI PICOULT
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 529
Veröffentlichungsjahr: 2025
Slam Dunk für die Liebe
Eine herzergreifende Basketball-Romance für alle, die von Sport Romances nicht genug bekommen können
Social Media Managerin Annie Radford nimmt nur zögerlich und mangels Alternativen einen Job bei ihrem alten College-Basketballteam an. Die Arbeit wird ihr durch ihren alten Studienfreund Ben, der immer noch für das Team arbeitet, auch nicht gerade einfacher gemacht. Ben ist zwar noch genauso nervtötend heiß wie als Student, nimmt Annie aber übel, dass sie ihn und das Team vor acht Jahren einfach so im Stich gelassen hat. Doch Annies Herz schlägt jedes Mal schneller, wenn sie und Ben zusammen sind. Obwohl keiner von beiden leugnen kann, dass es ordentlich zwischen ihnen knistert, hat Annie Angst, Ben die Wahrheit über ihren Weggang zu sagen …
»Trifft den Korb mit der perfekten Mischung aus Romantik, Spice und einem wichtigen Thema.« JODI PICOULT
Jamie Harrow wuchs am Rande eines Basketballplatzes auf, da ihr Vater lange Jahre Basketballtrainer war. Sie schrieb eine Sportkolumne für THE VILLANOVAN, der Studentenzeitung an ihrem basketballbegeisterten College. Sie ist Absolventin der Harvard Law School und lebt mit ihrer Familie in New Jersey.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»One On One«
Für die Originalausgabe:Copyright © 2024 by Jamie Harrow
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2025 byBastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln, Deutschland
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten. Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.
Textredaktion: Anne Schünemann, Schönberg
Umschlaggestaltung: Thomas Krämer unter Vewendung eines Coverdesigns und einer Illustration von Dominique Jones
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-8417-7
luebbe.de
lesejury.de
Für Jeremy, M. und H.Und für meine Mom, die mich überall hingefahren hat.
Früher stand ich total auf großes Kino.
Als die Frau mit dem dunklen Bob und den Skechers-Schuhen sich neben mich auf die Bank setzt und meint: »Das ist ja wie im Film«, kann ich sie verstehen. Ich begreife, warum sie ihr Handy hervorzieht und versucht, eine Panoramaaufnahme einzustellen.
Es ist ein perfekter Morgen im Oktober, einer dieser Tage, an denen ein kalter Hauch in der Luft liegt, von dem meine Lungen nie genug bekommen können. Alles wirkt wie mit flüssigem Sonnenschein übergossen. Die Studenten der Ardwyn University schlendern über die freie Fläche im Zentrum des Campus auf eine Gruppe alter Steingebäude zu, in denen die Geisteswissenschaften untergebracht sind. Der Rasen ist so grün wie die Dollars, die die Studiengebühren kosten, und exakt gemäht. Ich atme den Duft nach Laub und, unerklärlicherweise, Apple Cider Donuts ein.
»Schön ist es schon«, murmele ich zur Antwort und mustere die Broschüre, die aus ihrer Schultertasche mit dem bunten Paisley-Muster hervorschaut. Eine strahlende Zukunft steht oben darauf.
Zu einer anderen Zeit in meinem Leben hätte ich diesen Schwachsinn aufgesogen wie ein Schwamm. Aber jetzt kommt Ardwyn mir verdächtig wie Disney World vor: zu perfekt, als wäre es mithilfe einer Reihe von Fokusgruppen synthetisch hergestellt worden, damit es sich wie ein College anfühlt. Und als würden all diese jungen Leute in ihren dicken Pullovern hinter die Kulissen gehen, um eine Zigarettenpause zu machen, sobald sie aus meinem Blickfeld entschwunden sind.
»Wunderschöner Tag«, erklärt die Frau.
Mein panikerfülltes Hirn hat gerade keine Kapazitäten für Small Talk. Ich versuche, mit einem unverbindlichen »Mmm … Hmmm« davonzukommen, aber sie zwingt mir ihren Blick auf und streckt die Hand aus. Ich schüttele sie einen Sekundenbruchteil zu spät und lächele oberflächlich.
Sie sagt mir ihren Namen, den ich sofort wieder vergesse.
»Ich bin Annie«, gebe ich zurück.
»Oh, da sind die beiden ja!« Sie winkt einem Mann, der eine Windjacke trägt, und einer Teenagerin, die einen Bucket Hat in den Händen dreht. Die beiden kommen vom Informationszentrum zu uns herüber. »Mein Mann und meine Tochter. Sie wollten die Toiletten suchen.«
Ich stehe auf. »Dann mache ich gern Platz, damit sie sich zu Ihnen setzen können.« Ich kann sowieso nicht still sitzen. Mein Kiefer schmerzt, so fest beiße ich die Zähne zusammen, ich wippe mit dem Fuß, und bevor die Frau sich zu mir gesellt hat, habe ich mir das Nagelhäutchen am rechten Daumen abgerissen.
Sie protestiert, doch ich winke ab.
»Entschuldigung«, sagt ein Student hinter mir, als ich zurückweiche, also trete ich vom Weg in den sonnenfleckigen Schatten einer geradezu abstoßend majestätischen Eiche, um ihn vorbeizulassen. Er ist komplett mit Ardwyn-Merchandise ausgestattet, das ihm vermutlich seine Eltern am Tag seines Einzugs im Uni-Buchladen gekauft haben: Ardwyn-Kappe, Ardwyn-Schlüsselband, an dem sein Studentenausweis hängt, ein T-Shirt von den Ardwyn Tigers mit dem Maskottchen, das einen Basketball in den Krallen hält.
Beim Anblick des Basketballs dreht sich mein Magen wie das malerische alte Wasserrad hinter der Bibliothek.
Ein anderer Student taucht vor mir auf, ein selbstbewusster, rotgesichtiger Junge in Polohemd und Khakihosen. »Hey! Willst du zur Führung? Dauert noch ein paar Minuten.«
Zum ersten Mal fällt mir eine Handvoll Familien auf, die hinter der Bank herumwimmeln. Potenzielle Studenten und ihre Eltern, die plaudern, warten und sich umsehen.
»Nein!«, entgegne ich viel zu schnell. »Nein. Nicht. Ähm, nein. Danke.«
Man sollte mich nicht auf drei Meter an diese Gruppe heranlassen. Ich habe hier vor acht Jahren meinen Abschluss gemacht und geschworen, nie wieder einen Fuß auf dieses Gelände zu setzen. Acht Jahre habe ich dieses Versprechen an mich selbst gehalten. Und doch bin ich jetzt hier, und das habe ich hochzeitsbedingter Nostalgie, dem Home Appliance Magazine und dem verdammten Ben Callahan zu verdanken.
Meine neue Freundin beugt sich zu mir herüber. »Ich hatte mich schon gefragt!«, meint sie. »Sind Sie in einem Masterstudiengang?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich … arbeite hier.« Die Worte fühlen sich falsch an, als sie meinen Mund verlassen. »Heute ist mein erster Tag.«
»In welchem Fach?«, erkundigt sie sich. »Madison schwankt zwischen Biologie und Computerwissenschaften.«
»Ich werde für das Basketball-Team arbeiten.«
Einige der anderen Eltern und Kids drehen sich zu mir um, und einer von ihnen stößt ein bewunderndes »Ohhh« aus.
»Was für ein Glück«, sagt eine Mom in einem Pullover mit Zopfmuster und hebt ihre Sonnenbrille an. »Sie sind bestimmt aufgeregt, hier zu sein.«
Ich bin hier, weil mir nichts anderes mehr übrig bleibt. Aber wenn ich das sage, wird der Tourguide mich wahrscheinlich am Kragen packen, davonschleppen und in die Zelle sperren, in der sie die schmierigen Verbindungsbrüder und die Protestler verstecken, die Druck auf die Uni machen, ihre Stiftungsgelder nicht mehr in fossile Brennstoffe zu investieren.
Ihr Mann tritt auf mich zu, die Hände in die Hüften gestemmt. »Basketball, was? Ich bin ein großer Fan.«
»Von Ardwyn?«
Er lacht, als wäre meine Frage ein Witz gewesen. »Nein, ich bin für Duke. Aber cooler Job. In den letzten Jahren wart ihr so lala, also hängen Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch, dann werden Sie wahrscheinlich Spaß haben. Ein Jammer, dass Ihr alter Trainer nicht geblieben ist. Ich habe immer gesagt, er hätte hier etwas Besonderes erreichen können.«
Ich zucke mit den Schultern, als wüsste ich nicht ganz genau, von wem er redet: Coach Brent Maynard, aller Leute liebste Ardwyn-Ikone. Ich schwöre, wenn ich um eine Ecke biege und eine Bronzestatue dieses Kerls sehe, schleppe ich das Ding zum Schuylkill River und versenke es. Der Tourguide wird mich nicht aufhalten können.
Es ist noch früh, aber das ist das Signal für meinen Abgang. »Nett, Sie kennengelernt zu haben«, sage ich zu der Mom auf der Bank und trete die Flucht an.
Sie strahlt. »Einen großartigen ersten Arbeitstag für Sie, Annie!«
Ich gehe langsam über die abgetretenen Steinplatten des Wegs, der an den Wohnheimen vorbeiführt, und mustere meine Umgebung. Sie ist mir vertraut und fremd zugleich. Ich schieße ein schnelles Foto von dem verschnörkelten Bogen, der den Eingang nach Cloughley Hall bildet, wo Cassie und ich uns in unserem ersten Studienjahr ein Zimmer geteilt haben, und schicke es ihr. Ich kann praktisch den Schimmel von hier aus riechen, schreibe ich dazu.
Ohhh, Erinnerungen!, antwortet Cassie sofort.
Ich will mein Handy schon wieder in die Tiefen meiner Tote Bag fallen lassen, als es erneut vibriert. Dieses Mal ruft Cassie an.
»Hi, Cass.«
»Hi! Hast du heute Morgen deinen Tee getrunken?«
Oh, der Tee. Irgendeine beruhigende und doch stärkende Kräutermischung, die Cassie mir gestern Abend als Zeichen ihrer Unterstützung in der neuen Wohnung vorbeigebracht hat. Hätte schlimmer kommen können. Ich hatte schon halb damit gerechnet, dass sie heute Morgen auftauchen würde, um mich zur Arbeit zu begleiten, als wäre es der Eingewöhnungstag im Kindergarten. Glücklicherweise liegt Ardwyn in der Main Line, den idyllischen Vorstädten außerhalb von Philadelphia, und Cassie musste um acht in ihrem Büro im Stadtzentrum sein.
»Hab stattdessen einen Irish Coffee getrunken«, sage ich. »Toll für die Nerven.« Ah ja, und da ist schon die Quelle des Dufts nach Apple Cider Donuts: Eine Gruppe Verbindungsschwestern verkauft sie an einem Tisch vor der Mensa. Ein handgemaltes Schild erklärt, dass sie Spenden für das hiesige Tierheim sammeln.
»Ja?«, fragt Cassie, als wäre sie sich ziemlich sicher, dass es ein Witz ist, aber nicht hundertprozentig. Ich kann mir ihr Gesicht vorstellen, ihre hellbraune Haut, und wie sich eine Linie zwischen ihren Augenbrauen bildet und die Wolke aus krausem Haar zur Seite fällt, als sie besorgt den Kopf schieflegt.
»Ich habe den Tee getrunken«, lüge ich.
»Gut«, gibt Cassie zufrieden zurück. An ihrem Ende der Leitung höre ich eine schwache Stimme im Hintergrund. »Warte mal einen Moment«, befiehlt sie mir. »Leg nicht auf!«
»Ist das dein Chef? Ich will kurz mit ihm reden«, sage ich. »Geben. Sie. Cassie. Eine. Gehaltserhöhung!« Die Partner in Cassies Kanzlei nennen sie einen »Rockstar«, was im Wesentlichen heißt, dass sie ohne sie nicht funktionieren könnten, aber ihr trotzdem nicht genug bezahlen.
Cassie lacht erstickt. »Psst!« Ein Rascheln ist zu hören, und dann ein gedämpftes Gespräch mit irgendeinem Typen auf der anderen Seite der Gläsernen Decke, die die weiblichen Anwälte kurz hält.
Zum Teil ist es Cassies Schuld, dass ich hier bin. Bei ihrer und Erics Hochzeit letzten Sommer schwamm ich in einem Meer von Gefühlsduselei. Man erlebt schließlich nicht jeden Tag, dass die beiden besten Freunde einander heiraten. Als die Party langsam zu Ende ging, saßen wir drei draußen auf einem begrünten Hinterhof um eine Feuerstelle herum, wunderbar beschwipst und zufrieden. Eric, der Trainerassistent in Ardwyn ist, erwischte mich auf dem falschen Fuß, als er ernst wurde. »Komm zurück und arbeite für uns«, sagte er. »Wir stellen alles auf den Kopf. Der Trainer will das Videoprogramm völlig umgestalten.«
Er brachte ein paar gute Argumente vor. Außerdem war ich verzweifelt. Es war zweiundvierzig Tage her, dass ich spontan meinen letzten todlangweiligen Job gekündigt hatte, eine Stelle, bei der ich Lehrmaterial für eine Kühlschrankfirma produzierte, nachdem ich im Home Appliance Magazine auf die Liste der besten 35 Mitarbeiter unter 35 gekommen war. Was genauso peinlich gewesen war wie ein Heiratsantrag per Großbildschirm von jemandem, den man nicht heiraten will. Meine Krankenversicherung stand kurz vor dem Auslaufen, mir ging das Geld aus, und zum ersten Mal überhaupt kämpfte ich darum, Arbeit zu finden.
Anscheinend weiß das Internet, wovon es redet, wenn es behauptet, dass Job-Hopping »immer ein Warnsignal in einem Lebenslauf ist«. Obwohl ich in acht Jahren sieben Jobs hatte, war es mir immer gelungen, bei Vorstellungsgesprächen den Fragen über meine Geschichte kunstvoll auszuweichen, bis dahin jedenfalls. Unzuverlässig?, hat ein Personaler so groß oben auf meinen Lebenslauf gekritzelt, dass ich es von der anderen Seite des Konferenztischs aus lesen konnte. Sie riefen mich nicht zurück.
Trotz alldem zögerte ich. Ein Teil von mir überlegte, ob ich nicht besser daran täte, meine Video-Karriere abzublasen und zu dem überzugehen, was auch immer passiert, nachdem man akzeptiert hat, dass man jämmerlich dabei versagt hat, sein Potenzial auszuschöpfen.
»Sorry. Bin wieder da«, sagt Cassie. »Jedenfalls, wie sieht’s auf dem Campus aus?«
»Eigenartig«, erwidere ich. »Ich hätte nicht gedacht, dass es so komisch sein würde, zurückzukommen.« Bei dem letzten Wort stocke ich und räuspere mich.
Kurz herrscht Stille.
»Annie. Bist du dir sicher, ob du das willst?«
Ich beiße die Zähne zusammen. »Fange ich jemals etwas an, ohne es zuerst komplett durchzudenken?«
Cassie sagt nichts. Sie hat genug eidesstattliche Erklärungen abgegeben, um zu wissen, dass sie die Frage besser nicht beantwortet.
Ich war hin- und hergerissen, als Eric mir den Job anbot, bis er an irgendeinem Punkt seiner flammenden Rede Ben erwähnte. »Er hat gerade einen großen Preis bei ESPN gewonnen, du weißt schon, dem Sportsender«, erklärte Eric wie nebenbei. »Junge Führungskräfte in der Öffentlichkeitsarbeit oder so.«
Ben Callahan, der Datenzauberer des Teams. Im College hatten wir zusammen für die Tigers gearbeitet und an der Spitze des Teams aus studentischen Mitarbeitern gestanden, das die ganze Operation leitete. Bis – für mich jedenfalls – das alles den Bach runterging.
Das hätte ich sein können. Ich fühlte etwas Heißes in meiner Brust, das ich nicht wiedererkannte, und die Worte schossen aus mir heraus: »Ich mache es.«
Drei Jahre kleine Brötchen backen und dann zur Hölle von dort verschwinden. Drei Jahre sind, glaube ich, eine ausreichend lange Zeit, um anderen Arbeitgebern zu beweisen, dass ich zuverlässig sein kann. Ich weiß, dass ich mich glücklich schätzen kann, einen Freund zu haben, der mir diese Chance gibt. Und ich schwöre auf das Home Appliance Magazine, dass ich nach Kräften versuchen werde, mir etwas Langfristiges aufzubauen, sobald ich hier fertig bin.
Das Läuten der Campus-Kirchenglocken hallt über das Gelände und reißt mich aus meinen Gedanken. Es ist zu laut, um weiterzureden, daher sage ich »Bleib mal dran« ins Handy und hoffe, dass Cassie es hört.
Während ich warte, erlaube ich meinem Blick endlich, die Kathedrale zu betrachten. Nicht zu verwechseln mit der richtigen Kirche mit den Glocken. Die »Kathedrale« ist der Spitzname für die Simon B. Curry Arena, in der die Tigers spielen. Sie ragt über den Baumkronen auf – ein riesiger, baufälliger Haufen roter Backsteine mit einem Spitzdach, das die Halle wie eine Kathedrale wirken lässt.
Ich schlucke heftig. Basketball war meine erste große Liebe, und nichts hat sich bisher damit messen können, nicht einmal mein Ex-Freund Oliver. Selbst habe ich nie richtig gespielt, aber ich bin am Spielfeldrand aufgewachsen und habe alles daran geliebt: quietschende Schuhe und Schweiß, die Flugbahn eines perfekten Wurfs, der unaufhaltsam auf sein Ziel zusegelt. Die Kameradschaft zwischen Spielern und Mitarbeitern. Den Dopaminrausch des Siegs.
Seit meinem Studienabschluss habe ich Ardwyn nicht mehr spielen sehen. Und seit Dad vor zwei Jahren gestorben ist, war ich überhaupt bei keinem Basketballspiel mehr.
Wieder und wieder läuten die Glocken und verkünden die Zeit. Dann verstummen sie, und es ist neun Uhr. Zeit, zu gehen.
Ich stoße einen theatralischen Seufzer aus und halte inne. »Sie läuten für mich«, verkünde ich in meiner feierlichsten Stimme.
Cassie stöhnt. »Ich wusste, dass du das sagen würdest.«
Okay, vielleicht stehe ich ja immer noch ein wenig auf großes Kino.
Auf dem Weg zu meinem Einführungsmeeting im Sekretariat der Sportfakultät komme ich an der Turnhalle und der Bibliothek vorbei und beglückwünsche mich, weil ich noch weiß, wo alles liegt. Doch als ich das Gebäude erreiche und am Türgriff ziehe, rührt er sich nicht.
Ein Student, der vorbeigeht, wirft mir einen Blick zu, und meine Wangen laufen heiß an. Ich spähe durch das Glas. Diese Tür ist ganz offensichtlich kein Eingang mehr. Dahinter liegt nur ein leeres Foyer.
Okay. Achtet gar nicht auf mich. Ich weiß total, was ich hier mache.
Zaghaft schlendere ich ein paar Minuten umher und ziehe die Aufmerksamkeit eines Security-Mannes auf mich. »Das Gebäude ist vor fünf Jahren renoviert worden«, erklärt er. »Die Rückseite ist jetzt die Vorderseite.«
Aus reiner Faulheit gehe ich an einer langen Reihe von Büschen vorbei zur anderen Seite des Gebäudes und überquere den Rasen, statt denselben Weg zurückzunehmen. Als ich die andere Seite erreiche, sehe ich keine Lücke in der Bepflanzung, durch die ich hinausgelangen könnte. Ich quetsche mich zwischen zwei riesigen Rhododendren hindurch, schiebe Zweige aus dem Weg und stolpere auf den Asphalt.
Zwei Typen stehen mit Kaffeepappbechern einen oder zwei Meter von mir entfernt. »Kannst du uns Karten für das Eröffnungsspiel besorgen?«, fragt der eine gerade. Sie unterbrechen ihr Gespräch und wenden mir gleichzeitig die Köpfe zu. Den ersten Typ kenne ich nicht, aber der andere ist Ben.
»Annie Radford«, sagt er in neutralem Ton, ohne zu blinzeln, als hätte er den ganzen Morgen damit gerechnet, dass ich vor ihm aus dem Buschwerk auftauche.
Im dritten Studienjahr, als wir beide um das Praktikum bei den Philadelphia 76ers konkurrierten, habe ich ihn Cassie gegenüber immer nur »den verdammten Ben Callahan, meine Nemesis« genannt. Und dann sind wir in einen Lachanfall ausgebrochen. Nicht, weil ich keine Angst gehabt hätte, er würde mich besiegen – die hatte ich. Sondern weil die Vorstellung, er könnte jemandes Erzfeind sein, absurd war, denn Ben ist – argh – ein guter Mensch.
Sofort wird mir beim Blick in sein Gesicht schwindelig, vielleicht, weil es das erste vertraute Gesicht ist, das ich sehe, seit ich angekommen bin. Oder weil es, wow, nicht exakt das gleiche Gesicht ist.
Ben war schon immer auf eine gesunde Art gut aussehend, falls man auf so etwas steht. Ernste braune Augen, weiße Zähne, ausgezeichnete Haltung. Eins achtundachtzig laut Spielerliste, als er noch aktiv war, was in Wirklichkeit eins dreiundachtzig bedeutet.
Ich weiß noch, was einer der älteren Studenten bei der traditionell mit Seitenhieben gespickten Rede an die Erstsemester sagte: »Ben Callahan ist heute Abend hier, Leute. Er wird überall von einem kleinen Vogelschwarm begleitet, der ihn zwitschernd umkreist, weil er so ein Süßer ist.«
Wahnsinnig komisch, trifft aber nicht mehr zu. Die Geometrie seines Gesichts hat sich weiterentwickelt, und die Gesamtwirkung seines Kiefers und seiner Wangenknochen lässt kleine Funken durch mein Nervensystem zucken. Ein paar faszinierende feine Linien und ein dunklerer, magnetischer Ausdruck in seinem Blick, ein Hauch von gepflegten Bartstoppeln. Sein dunkelbraunes Haar ist sorgfältig gegelt wie bei einem verkniffenen Nachrichtensprecher. Wenn man die Haare ignoriert, ist er beinahe … Ist es möglich, dass er inzwischen … umwerfend attraktiv ist?
Ich halte Ausschau nach einem Ehering, weil ich extreme Dreißig bin. Nichts. Erstaunlich.
Er taxiert mich ebenfalls. Mechanisch mustert er mich von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Seine Miene ist gelassen, und er hat die Mundwinkel so schwach hochgezogen, dass es nicht als Lächeln durchgeht. Das ist nicht sein normaler Gesichtsausdruck. Wo bleibt das eifrige Grinsen? Die herzliche Umarmung?
Ups, ich bin an der Reihe, etwas zu sagen. Das Schweigen dauert schon zu lange. »Ben, hi!« Trotz meiner Nervosität zwinge ich mich zu etwas Begeisterung und einem Lächeln, das wahrscheinlich so steif wirkt, wie es sich anfühlt. Als ich mir das Haar hinter die Ohren zurückstreiche, löst sich ein Blatt aus meiner Frisur und flattert zu Boden. Wir tun alle so, als hätten wir nichts gesehen.
Ich wappne mich für einen Schwall freundlicher Fragen, doch Ben stellt keine, und es dauert einen Moment, bis ich erkenne, warum. Mein Auftauchen hat diesen anderen Kerl unterbrochen, der nach Eintrittskarten gefragt hat. Deswegen steht Ben mit der angestrengten Miene von jemandem da, dem man gerade zum millionsten Mal dieselbe Frage gestellt hat: Kannst du mir Karten besorgen?
Mein Handgelenk brennt, und ich reibe es mit der anderen Hand. Meine Finger stoßen auf einen Kratzer, der an den Rändern schon anschwillt – ein freundlicher Abschiedsgruß der Büsche.
Richtig. Die beiden fragen sich wahrscheinlich, warum ich aus dem Unterholz aufgetaucht bin wie ein viel zu freundliches Eichhörnchen. »Ich habe mich verlaufen«, erkläre ich. »Der Eingang ist verlegt worden.«
Ben wirft einen Blick zum Portal. »Ja, ist aber schon lange her«, sagt er mit ausdrucksloser Stimme. »Du warst eine ganze Weile nicht mehr hier.«
Ich stehe nicht nahe genug bei ihm, um in normaler Gesprächslautstärke zu reden, also mache ich zwei Schritte nach vorn, damit ich nicht schreien muss. »Wie geht’s dir?«, frage ich.
»Bestens.«
»Gut, gut. Ich habe von dem ESPN-Preis gehört«, sage ich und klopfe mir innerlich selbst auf die Schulter, weil ich so nett bin. Princess Charming in Person. »Das ist toll. Herzlichen Glückwunsch.«
»Danke.« Er verlagert den Kaffeebecher von einer Hand in die andere und mustert konzentriert den Deckel.
Ich nestle an dem Kratzer an meinem Handgelenk herum. Der Karten-Typ hustet. Wartet Ben darauf, dass er geht?
Doch der Ticket-Typ versteht den Hinweis nicht. »Woher kennt ihr beide euch?«, fragt er höflich.
»Wir kennen uns schon sehr, sehr lange«, erkläre ich.
»Sie hat früher hier gearbeitet«, sagt Ben gleichzeitig.
»Ich habe Ben einmal auf dem Rückflug von Chicago auf die Schuhe gekotzt. Die schlimmsten Turbulenzen, die ich je erlebt habe«, füge ich hinzu. Wir steckten noch eine weitere Dreiviertelstunde auf unseren Plätzen fest, was das Saubermachen knifflig machte. Ben tat meine Entschuldigungen mit einer Handbewegung ab und wühlte länger nach einer Wasserflasche, damit ich mir den Mund ausspülen konnte, als er Zeit damit verbrachte, sich selbst zu säubern. »So etwas schweißt Menschen für immer zusammen.«
Das ist ein Scherz, doch Ben reagiert nur mit einem kaum wahrnehmbaren Hochziehen der Augenbrauen, gefolgt von peinlichem Schweigen. Ich fühle mich ein wenig verlegen. Bin ich zu vertraulich gewesen? Die vier Jahre in Ardwyn waren die wichtigsten meines Lebens, und Ben und ich haben damals mehr Zeit miteinander verbracht als mit unseren Freunden und Familien. Aber das liegt lange zurück.
Eine Minute lang stehe ich da und versuche die Fassung für eine beiläufige Verabschiedung zusammenzukratzen, um scheinbar unbeeindruckt davonzugehen. Vielleicht sollte ich die direkteste Fluchtroute wählen und mich in die Büsche schlagen. Dort habe ich mich ohnehin wohler gefühlt.
Der Ticket-Typ kommt mir zuvor. »Ich muss los, Callahan. Wir reden später«, sagt er und tritt den Rückzug an. Mir nickt er kaum wahrnehmbar zu.
»Klar«, erwidert Ben und klingt mit einem Mal fröhlich. »Und die Karten sind kein Problem, wie immer.«
Dann sind wir allein. Er sieht auf seinen Troyer-Pullover hinunter und wischt sich einen unsichtbaren Krümel von dem Ardwyn-Logo. Zieht den Reißverschluss ein Stück hoch.
Ich plappere weiter: »Manches ändert sich eben nie.«
Eine Falte erscheint auf seiner Stirn. »Was meinst du?«
»Du weißt schon.« Ich zeige auf den Ticket-Typ, der sich schon ein Stück entfernt hat. »Alle wollen Freikarten von dir.«
»Aha«, meint er. »Nee. Er ist ein Freund von mir.« Er räuspert sich. »Hat mir leidgetan, das mit deinem Dad zu hören.«
»Danke.« Kurz frage ich mich, ob diese ganze Verlegenheit daher rührt, dass es ihm unangenehm ist, über Dads Tod zu reden. Manche Menschen haben Angst, das Falsche zu sagen, und sagen deshalb gar nichts. Wenigstens hat Ben etwas von sich gegeben.
»Es ist aufregend, zurück zu sein«, lenke ich das Gespräch auf ein leichteres Thema. »Eric sagt, ihr wollt euch diese Saison auf eine Video-Strategie konzentrieren.«
Seine Nasenflügel weiten sich ein wenig. »Solange wir uns auch darauf fokussieren, gut Basketball zu spielen.« Er entdeckt eine ältere Frau, die ihr Rad auf den Fahrradständer vor dem Gebäude zuschiebt, und winkt. Seine Miene hellt sich auf. »Hey, Cindy, hatten Sie ein schönes Wochenende?«
Mein Magen überschlägt sich, und ein unangenehmes Gefühl lässt sich darin nieder. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glauben, dass hier mehr als Distanz oder die Suche nach den richtigen Worten am Werk ist. Ich würde glauben, dass Ben ausgesprochen unerfreut darüber ist, mich zu sehen.
Aber das würde keinen Sinn ergeben. Ben ist einer der rücksichtsvollsten Menschen, die mir je begegnet sind. Als wir im dritten Studienjahr wegen des Praktikums gestresst waren, war er ausnahmslos freundlich. Keine heimliche Sabotage, kein Duell im Morgengrauen. Wenn ich Hilfe brauchte, durchkämmte er altes Videomaterial von Spielen mit mir, und er fragte mich ehrlich nach meiner Meinung, wenn er Berichte über die Suche nach neuen Nachwuchsspielern schrieb.
Es war fast schon unangenehm. Manchmal war ich neidisch, weil ihm alles so einfach zuflog und er so ein enges Verhältnis zu Coach Maynard hatte. Ben hatte Basketball gespielt. Seine Verbindung zu Maynard war natürlich und unmittelbar. Nachdem er zwei Jahre als Ersatzspieler auf der Bank von Ardwyn gesessen hatte, zog er sich zurück und ließ sich fest anstellen, um sich auf eine Laufbahn als Trainer vorzubereiten, genau wie Maynard vor ihm. Vergesst Mütter und Babys – keine Bindung ist so stark wie die zwischen einem Mann und einem anderen, in dem er sich selbst wiedererkennt.
Ich musste verbissen arbeiten, um an denselben Punkt zu gelangen. Schließlich habe ich es geschafft – ein perfektes Beispiel für den Spruch »Sei vorsichtig, was du dir wünschst« –, aber es hat eine Menge Mühe gekostet. Ben konnte ich das allerdings nie zum Vorwurf machen, weil er so nett war.
Anders als jetzt. Mein Geduldsfaden wird brüchig und reißt, und ich verschränke die Arme fest vor dem Körper. »Ist alles in Ordnung?«
Ben erstarrt, sichtlich ertappt. Kurz huscht ein Anflug von schlechtem Gewissen über sein Gesicht. »Ja, natürlich.« Sein Tonfall ist plötzlich vertraulicher, aber es klingt gezwungen.
Ich kneife die Augen zusammen. »Fühlst du dich nicht gut?«
»Mir geht’s prima.«
»Hat jemand deine Kaffeebestellung vermasselt?«
Er hat den Becher schon halb an die Lippen gehoben, als ich die Frage stelle, und trinkt einen großen Schluck. »Alles gut.«
»Hast du schlecht geschlafen?«
»Ich schlafe nachts wunderbar.«
Ich presse die Lippen zusammen. »Tja, wenn es nicht an dir liegt, muss es an mir liegen.«
Er streicht sich mit einer Hand übers Haar und blinzelt mich an. Stur reckt er das Kinn. »Keine Ahnung, wovon du redest.« Seine Oberlippe zuckt. Er scheint sich zu einer freundlichen Miene zu zwingen, bringt es aber nicht ganz fertig. »Jedenfalls muss ich los. Hab heute viel zu tun.« Er geht los, dreht sich aber wieder um, als eine sanfte Brise Laub über den Weg fegt. An den Laternenpfählen hinter ihm bauschen sich elegant Banner mit dem Wappen der Uni. Er hebt seinen Becher in meine Richtung, als wollte er beweisen, dass alles in Ordnung und er immer noch der netteste Kerl weit und breit ist. »Und hey, schön, dich zu sehen. Willkommen zurück.« Doch er klingt alles andere als froh.
Als ich das Sekretariat der Sportfakultät betrete, ist der Empfangstresen unbesetzt. In der Nähe, aber außer Sicht, redet jemand, und im Hintergrund höre ich das Tropfen der Kaffeemaschine und das Klirren von Löffeln.
Kurz darauf erscheint die Rezeptionistin. Sie trägt einen Kaffeebecher in der Hand und geht mit der verräterisch krummen Haltung von jemandem, der Jahrzehnte am Schreibtisch verbracht hat. Sie hat kurzes graues Haar und trägt eine Anstecknadel mit dem A für Ardwyn am Pullover. Ich starre den Pin an, ich kann nicht anders. Eric und ich haben einmal einen Pakt geschlossen, uns nach meinem Abschluss genau dieses A tätowieren zu lassen. In der offiziellen Farbe und der offiziellen Schrift. Meines sollte seitlich auf meinen Rippen stehen. Wir haben es schließlich beide nicht getan.
Die Empfangssekretärin führt mich in einen leeren Konferenzraum und weist mich mit dünner, uninteressierter Stimme an, mich zu setzen. Ich schaue auf mein Handy und finde eine Nachricht von Eric: Hallo, Kollegin! Musste in ein anderes Meeting, bis heute Nachmittag!
Na, großartig. Ich hatte vor, mich an Eric zu klammern wie an einen Rettungsanker, bis ich mich eingewöhnt habe, aber er hat mich jetzt schon im Stich gelassen.
Ein paar Minuten später treffen zwei junge Frauen ein. Die erste kommt eilig mit einer Nylon-Umhängetasche und einem offenen Laptop herein, setzt sich und kauert sich über den Bildschirm. Als ihr das kastanienbraune Haar ins Blickfeld fällt, fasst sie es abwesend auf einer Seite zusammen und dreht es zu einer langen Spirale, um es aus ihrem Gesicht zu verbannen.
Die zweite zockelt in den Raum, als würde es sie alle Mühe der Welt kosten. Ihr Laptop klappert, als sie ihn ein wenig zu fest auf den Tisch fallen lässt, dann sinkt sie auf einen Stuhl und stößt hörbar den Atem aus. Unter ihrer dicken Brille reibt sie sich die Augen. Eine schlabberige Beanie hängt ihr in die Stirn.
»Hi, ich bin Jess.« Irgendwie bringt sie es fertig, nach jedem Wort zu seufzen.
Die andere Frau blickt auf und lässt die Finger über der Tastatur schweben. »Wow, hab dich gar nicht gesehen. Ich bin Taylor. Bist du Annie?«
Ich nicke. »Schön, euch kennenzulernen.«
Taylor lächelt und streicht über ihre Haarspirale. »Wir gehören zum Medienteam. Wir betreuen die Social-Media-Accounts der Sportfakultät.«
Jess dreht sich auf ihrem Stuhl um. »Gibt’s bei diesem Meeting etwas zu essen?«
Ich ziehe Notizbuch und Stift hervor. Keine schlechte Idee, so auszusehen, als gäbe ich mir Mühe. »Ich sehe keins. Ich glaube nicht, dass sie meinetwegen ein europäisches Frühstück ausrichten.«
»Nicht mal Obstsalat?« Jess sieht verzweifelt aus.
»Wenn überhaupt, sehe ich mich eher auf dem Level von alten Bagels.«
Sie schnaubt. »›Die Zukunft gehört denen, die glauben, ein Omelett-Büffet verdient zu haben.‹ Eleanor Roosevelt.«
Taylor schlägt stirnrunzelnd auf die Tastatur. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst essen, bevor wir hergekommen sind. Du wirst komisch, wenn dein Blutzucker absackt.« Sie tippt auf eine letzte Taste, schenkt mir ihre volle Aufmerksamkeit und verzieht den Mund zu einem Lächeln. »Du bist hier eine Legende, weißt du.«
Ich blinzele. »Ich?« Wohl kaum.
»Schnapp nicht allzu sehr über. Wir sind in der Abteilung nur ungefähr zu fünft. Aber wir haben uns immer gefragt, wer diese alten Basketball-Videos gedreht hat. Sie sind so gut.«
»Wirklich gut«, setzt Jess hinzu. »Du hattest offensichtlich eine beschissene Kamera, aber du hast großartige Arbeit geleistet.«
»Wow. Danke«, sage ich, und mein Gesicht läuft warm an. »Das war eine miese Kamera. Ich glaube, ich hatte sie in einem Wandschrank gefunden. Unser Etat betrug exakt null Dollar.«
Taylor beugt sich vor und stützt das Kinn in die Hand. »Hast du deinen Abschluss ein Semester früher gemacht? Wir haben uns immer gefragt, warum die Videos im Dezember aufhören statt am Ende der Saison.«
»Ah.« Ich rutsche auf meinem Platz herum. »Ja, ich hatte genug Punkte aus den Leistungskursen von der Highschool, da konnte ich nicht rechtfertigen, noch ein Semester die Studiengebühren zu zahlen.« Nicht die ganze Wahrheit, aber ich habe damals – wenn auch sehr knapp – die Anforderungen erfüllt, um mein Abschlusszeugnis zu nehmen und mich davonzumachen, als es sein musste, nach dem Weihnachtsturnier in Florida.
Glücklicherweise kann Taylor keine weiteren Fragen stellen, weil ein breitschultriger Mann in Blazer und Khakihosen den Raum betritt. Er trägt einen Seitenscheitel, und sein graues Haar fällt ihm in die Stirn wie die Borsten eines Besens.
»Ted!«, sagen Jess und Taylor gleichzeitig.
»Wie geht’s allen heute Morgen?« Er hat ein offenes Gesicht und ein unverstelltes Lächeln. Sofort wendet er sich an mich. »Ted Horvath, stellvertretender sportlicher Leiter«, erklärt er mit festem Händedruck. »Willkommen zurück in der Ardwyn-Familie.«
Die Ardwyn-Familie. Drei Worte, ein Hinterhalt, und in mir wird ein Funksignal aktiviert. Seine Miene ist so vertraut, sein Tonfall und jede Silbe, dass es sich anfühlt, als würde man in ein ganz altes Paar Schuhe schlüpfen, das hinten im Kleiderschrank gestanden hat, oder als würde man sich an den kompletten Text eines alten Songs erinnern. Mein Puls schlägt schneller, und ich spüre einen leichten Anflug von Übelkeit in meinem Bauch aufsteigen. Ich registriere meine Symptome distanziert, als wäre ich meine eigene Ärztin. Diagnose: schwere Allergie gegen Kameradschaftsgeist.
Die Ardwyn-Familie ist eine Familie, deren ehemaliger Patriarch – ein Ausnahmetalent, ein Campusheld – ungestraft damit davongekommen ist, ein manipulativer Narzisst zu sein, der seine Macht missbraucht hat. Entschuldigung, wenn mir das nicht das Herz erwärmt.
»Kein Frühstück, Ted?«, fragt Jess.
Taylor hievt ihre Tasche auf den Tisch, wo sie mit einem dumpfen Aufprall landet. »Jess kriegt miese Laune, wenn sie hungrig ist«, erklärt sie und wühlt darin herum. »Erdnussbutter oder Cranberry und Mandeln?«
»Erdnussbutter, bitte.« Jess streckt eine Hand aus, bis Taylor einen Müsliriegel findet und ihn ihr gibt. »Und, hast du das Ladegerät für meinen Laptop dabei?«
Hat sie. Ich versuche, ein Lächeln zu unterdrücken. Das Teil ist wie eine Wickeltasche. Wahrscheinlich sind auch Jess’ Wasserflasche, ihr Portemonnaie und ihre Allergiemedikamente da drin.
Ted stützt sich auf die Ellbogen und beugt sich nach vorn. Bevor jemand noch etwas sagen kann, öffnet sich die Tür ein letztes Mal, und ein Mann kommt herein.
»Trainer!«, brüllt Ted.
Teds Schulterblätter schnurren zusammen. Jess reißt ihre Mütze herunter und schiebt den Müsliriegel beiseite. Die Energie im Raum verpufft – so, als würde ein Lehrer einen unbeaufsichtigten Klassenraum voll schnatternder Schüler betreten.
Travis Williams, stellvertretender Cheftrainer, ist richtig groß, eher zwei Meter als eins achtzig. Daran muss ich mich gewöhnen, sonst wird es ein langer Tag, wenn ich bei allen über ihre Körpergröße nachdenke. Ich bin wieder beim Basketball, verdammt.
Williams ist hellhäutig und hat feines blondes Haar, und seine Haut zeigt die leicht welke Struktur einer überreifen Paprika. »Morgen«, sagt er. Seine Augen sind das Dunkelste an seinem Gesicht, was ihm einen strengen Ausdruck verleiht. Er lächelt nicht, nicht mal oberflächlich. Ihm erzählt niemand, dass Jess komisch wird, wenn sie Hunger hat.
Er setzt sich mir direkt gegenüber an den Tisch und faltet die Hände. Er hat nichts vor sich, kein Notizbuch, kein Handy und keinen Kaffeebecher.
Anscheinend haben wir nur noch auf ihn gewartet, denn Ted startet das Meeting. Mehr oder weniger. »Und, Annie, wie war Ihr Umzug nach Ardwyn?«
Williams reibt sich über die Stirn.
»Lief ziemlich glatt«, sage ich. »Es ist nett, zurück zu sein. Obwohl ich traurig darüber war, dass meine Lieblingseisdiele zugemacht hat.« Ich zögere, blicke zwischen Ted und Williams hin und her und nestele an meiner Halskette. Ted liebt offensichtlich Small Talk. Williams dagegen kommt mir wie der Typ vor, der die Augen verdreht, wenn man versucht, ihm zum Geburtstag zu gratulieren.
Wäre nett zu wissen, wem ich hier zu Gefallen sein soll. Jess und Taylor sind keine Hilfe. Die beiden sind in ihre Laptops vertieft, und angesichts ihres Tippens, das klingt, als würden sie vierhändig Klavier spielen, bin ich mir ziemlich sicher, dass sie einander schreiben.
Früher kannte ich die politischen Verhältnisse hier, aber im Collegesport wechselt das Personal ziemlich oft, und jetzt ist alles anders. In dem Jahr, in dem ich ausgeschieden bin, hat Coach Maynard einen neuen Job an der Arizona Tech angetreten, einer staatlichen Uni, an der er das dicke Geld verdienen konnte. Den größten Teil seiner Mitarbeiter hat er mitgenommen. Sein Nachfolger, Coach Marshall Thomas, hat seine eigenen Assistenten mitgebracht, darunter Williams und Eric.
Ted redet immer noch. »Haben Sie viele Freunde in der Gegend?«
»Ähm. Ein paar.« Meine Hand fährt wieder zu meiner Halskette. Hör auf damit, schelte ich mich.
»Wie lange ist Ihr Abschluss jetzt her?«
»Acht Jahre.« Ich lächele gezwungen und reiße die Augen auf, als könnte ich nicht glauben, dass das schon so lange her ist. So werde ich es machen, damit alle zufrieden sind: Ich werde seine Fragen mit so wenigen Worten wie möglich beantworten, als müsste ich für jede Silbe bezahlen, aber mit meiner allerfreundlichsten Miene.
Ted stürzt sich in eine Geschichte über Jess’ ersten Tag im Job, und damit ist Williams’ Schmerzgrenze erreicht. Er rutscht auf seinem Platz herum und räuspert sich. »Ich muss in einer halben Stunde zum Flughafen, also müssen wir anfangen.«
Eine Reise, um Nachwuchsspieler zu scouten? Ich hatte ihn als eher traditionellen Coach eingeschätzt, nicht als Kommunikator.
Er beugt sich vor und stützt sich auf die Ellbogen. »Bitte erklären Sie mir, warum wir jemanden wie Sie in unserem Team brauchen.«
Ted lacht, ein dunkles »Ho-ho« tief aus dem Bauch heraus. »Sie ist doch gerade erst angekommen, Coach!«
Williams wirft ihm einen ausdruckslosen Blick zu.
»Ähm, ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was Sie meinen«, sage ich. »Bin ich nicht eingestellt worden, weil Sie dachten, Sie bräuchten jemanden wie mich? Sie oder … wer auch immer.«
Er schweigt einen Moment lang. Ich strecke die Beine aus und schlage sie in die andere Richtung wieder übereinander. Taylor tippt hektisch.
»Ich erkundige mich, was Sie machen, so grundsätzlich. Ich verbringe nicht viel Zeit im Internet.«
»Oh. Tja, wie Eric Ihnen wahrscheinlich erzählt hat, habe ich diese Art von Arbeit für das Team gemacht, als ich noch studiert habe. Ich bin mir sicher, dass die Aufgaben dieses Mal ein wenig anders sind. Aber allgemein gesagt werde ich Videos für die sozialen Medien produzieren. Einblicke hinter die Kulissen, Interviews und so etwas. Und Hype-Videos.«
»Hype-Videos«, wiederholt er verständnislos, und auch seine Miene verrät nichts.
»Wie Filmtrailer, aber für Basketball-Spiele?« Ich räuspere mich und versuche zu verhindern, dass meine Stimme immer lauter wird.
Williams legt die Fingerspitzen aneinander. Er blickt auf und spricht in Richtung Decke: »Als ich gehört habe, dass Coach Thomas eine neue Stelle für einen Video-Filmer geschaffen hat – also, mir kam das nicht wie ein guter Einsatz unserer begrenzten Ressourcen vor.« Er betont die beiden vorletzten Wörter sorgfältig. »Ich bin von der alten Schule, daher bin ich vielleicht voreingenommen. Aber unser Spezialist für Datenanalyse ist mehr der moderne Typ, und er hat mir zugestimmt. Wir haben Coach Thomas gegenüber unsere Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht.«
Ted öffnet den Mund und überlegt es sich dann anders.
Williams löst den Blick von der Decke und sieht mich an. »Aber jetzt sind Sie hier.«
Ich möchte am liebsten lachen. Was für ein Arsch. Ich habe mich nicht einmal aktiv um diesen Job bemüht. Warum sollte ich ihn ihm verkaufen? Rede doch mit den Leuten, die mich eingestellt haben. Vor allem mit Eric.
Apropos Eric, ich hätte ihm zur Hochzeit ein verflixtes Stück Kohle schenken sollen statt einen edlen Gusseisentopf. Er hat mir erzählt, Coach Thomas brenne verzweifelt darauf, die innovative Art, auf die andere Unis Videos einsetzen, zu übertreffen. Leider hat er vergessen zu erwähnen, dass andere Mitglieder des Coaching-Teams entschieden dagegen sind.
Er hat Glück, dass ich ihn liebhabe. Ich kämpfe eine aufsteigende Welle von Sarkasmus nieder. Mit einem Kerl wie Williams kann ich umgehen, weil er wie viele Trainer ist, die ich kenne. Ihm geht es nur ums Gewinnen, und er glaubt, dass diese Einstellung jede Menge Fehler wettmacht. Diese Überzeugung wird dadurch bestärkt, dass Tausende von Menschen im Hintergrund stehen und jubeln, während er seinen Job macht. Ihm brauche ich bloß zu erzählen, was er hören will.
Ich setze bewusst ein sanftes Lächeln auf. »Lassen Sie mich schildern, wie Videos eine Hilfe bei der Anwerbung von Nachwuchsspielern sein können.«
Dreißig schmerzhafte Minuten später verlasse ich das Meeting mit klammen, zittrigen Händen. Und das geht jetzt drei Jahre so weiter. Da habe ich noch viel vor mir. Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass ich gar nicht versuchen will, von jedem hier akzeptiert zu werden, doch diesen Luxus habe ich nicht.
Nach dieser Shitshow muss ich hinüber zur Kathedrale hetzen. Ich soll mich um halb elf mit Donna, der Verwaltungschefin, treffen, um die Papiere für die Personalabteilung auszufüllen und meinen Ausweis zu bekommen, und das wird knapp. Als ich dort ankomme, auf der anderen Seite vom Campus, atme ich schwer. Das weiße Top, das ich unter meinem Blazer trage, ist unter den Achseln schweißnass.
Der Blazer ist neu und seine Farbe ein selbstbewusstes Ziegelrot. Ich wollte an meinem ersten Tag etwas tragen, das den Vibe eines Powersuits ausstrahlt – ohne etwas Langweiliges zu kaufen. Mom hat ihn bei Aritzia mit einem Aufkeuchen von der Stange gerissen. »Genau deine Farbe.«
Wenn wir shoppen, ruft sie mir immer ins Gedächtnis, dass ich ein echter Herbsttyp bin. Ich habe haselnussbraune Augen, Sommersprossen auf der Nase und, wie meine Grandma zu sagen pflegte, einen »täuschend feinen Mund«. Mein welliges braunes Haar fällt mir bis auf die Schultern, und die Folgen des großen weihnachtlichen Pony-Debakels sind glücklicherweise nur noch Erinnerung. Eine Angelegenheit, in die meine Schwester Kat involviert war, die nach zu vielen Cranberry-Mojitos mit einer Schere auf mich losging und behauptet hat: »Es wird französisch aussehen!«
Ich kann es ihr nicht verübeln. Mom, Kat und ich hatten unser erstes Weihnachtsfest nach Dads Herztod zu Hause verbracht, wie immer Truthahn gegessen, den Baum mit dem Schmuck dekoriert, den Kat und ich als Kinder gebastelt hatten, und dieselben Brettspiele gespielt, die wir seit Jahren jedes Weihnachten hervorholten. Wir waren todunglücklich. Apples to Apples ist ätzend, wenn man bloß zu dritt spielt. Am nächsten Weihnachten haben wir das überkompensiert und waren vor all unseren vertrauten Familientraditionen in eine Ferienwohnung in Florida geflüchtet, wo wir genauso unglücklich waren, aber mehr getrunken haben. Daher der Pony.
Gemäß den Regeln der Jahreszeiten-Farbanalyse soll ich keine Pastellfarben tragen (leuchtet ein) und auch nichts, was auch nur annähernd Ardwyn-Blau ist (noch ein Zeichen des Universums). Mom glaubt fest daran, dass Selbstkategorisierung der Schlüssel ist, um sich selbst zu verstehen. Mit dem Blazer hatte sie allerdings recht.
Jetzt könnte ich musikalische Untermalung gebrauchen, denke ich, als ich zur Kathedrale hochsehe. Das Thema aus dem Weißen Hai vielleicht. Dann könnte ich draußen stehen, über alte Zeiten sinnieren und ein richtiges Ding daraus machen, aber ich werde auf gar keinen Fall zu spät zu dem Termin mit Donna kommen.
Okay. Ich hole einmal tief Luft, um mich zu stärken. Bringen wir es hinter uns.
Abgesehen von Eric und Ben ist Donna die Einzige von damals, die noch hier ist. Donna wird noch hier sein, wenn wir alle schon lange vor unseren Schöpfer getreten sind, obwohl sie uns um fünfundzwanzig Jahre voraus ist. Der Tod wird zu große Angst haben, sich mit ihr anzulegen, vor allem, falls er auftauchen sollte, ohne zuerst einen Termin bei ihr gemacht zu haben.
Als ich auf ihren Schreibtisch zutrete, blafft sie ins Telefon: »Wie oft muss ich Ihnen das noch sagen? Keine … Vertreter. Wagen Sie es bloß nicht, noch mal anzurufen.« Sie legt so kräftig auf, dass es der Person am anderen Ende der Leitung wahrscheinlich wehtut. »Manche Leute sollten sich mal die verdammten Ohren ausspülen lassen«, murrt sie.
Ich verehre sie auf eine Art, die mich begreifen lässt, warum manche Götter Rachsucht als Strategie vorziehen.
Ihre finstere Miene schmilzt zu einem seligen Lächeln, als sie mich sieht. »Mein wunderschönes Mädchen.« Sie steht auf, um mich zu umarmen. Donna ist drahtig, das ganze Jahr über gebräunt und hat kurz geschorenes Haar. Es ist in einer Blondschattierung gefärbt, die ihrer Umgebung mitteilt, dass sie sich einen Dreck darum schert, ob jemand sieht, dass die Farbe nicht echt ist.
»Schön, dich zu sehen«, sage ich.
»Noch besser, dich zu sehen. Du hast mir gefehlt, ich bin begeistert darüber, dass du wieder da bist, und zu mehr Geschwätz haben wir keine Zeit. Also kommen wir zum Wesentlichen.«
Donna geht schnell die Papiere durch und steckt sie in eine Mappe.
»Angeblich soll ich dich herumführen, aber das brauchst du ja nicht, und ich muss einen Förderer wegen seiner Saisonkarten anrufen. Er hat eins der Mädchen aus der Entwicklungsabteilung zum Heulen gebracht, also muss ich ihm das jetzt mit gleicher Münze heimzahlen. Dein Büro ist hier drüben.«
Ich flitze hinter Donna her, die mit großen Schritten durch die Lobby zum ruhigsten Teil des Bürotrakts vorgeht, weit entfernt vom Konferenzraum und der Küche.
»Die Toiletten sind noch dort, wo sie immer waren.« Sie zeigt den Gang entlang. »Aber inzwischen gibt’s Tampons umsonst.«
»Wie revolutionär«, meine ich.
Wir biegen nach links ab. In diesem Teil des Korridors liegen nur zwei Büros. Das linke ist offensichtlich belegt. Neben dem Computer steht ein Kaffeebecher und auf der anderen Seite des Schreibtischs eine Gruppe Bilderrahmen. In der Ecke hängt ein Haufen Geburtstagsballons, aus denen die Hälfte der Luft entwichen ist.
Donna setzt mich in dem anderen Büro ab. Der Schreibtisch ist leer, doch eine Wand wird von einem riesigen Pinnbrett eingenommen, das mit alten Spielprogrammen und zerknüllten Eintrittskarten übersät ist. Offenbar war der vorherige Bewohner so sentimental, alles aufzubewahren, aber nicht sentimental genug, um es mitzunehmen, als er ausgezogen ist. An der gegenüberliegenden Wand hängt eine Reihe von Wimpeln – ein jeder für eine der größeren Profisport-Mannschaften von Philly.
»Sag mir Bescheid, wenn du das Zeugs abnimmst, dann schicke ich jemanden, um die Löcher zuzugipsen«, sagt Donna. In der Tür bleibt sie stehen. »Hier hat sich viel verändert. Andere Leute haben das Sagen, und das merkt man. Ich habe es dir nie übelgenommen, dass du fortgegangen bist, um eine Chance wahrzunehmen, aber ich bin froh, dass du zurück bist, und ich glaube, jetzt wirst du glücklicher sein.«
»Okay«, sage ich matt. Sie hat mir nie übelgenommen, dass ich wegen einer besseren Chance fortgegangen bin. Was für eine Chance? Und warum sollte sie mir etwas übelnehmen, außer, jemand anderes hätte es getan?
Auf dem Weg nach draußen späht sie in den Raum auf der anderen Seite des Flurs. »Nicht da«, erklärt sie laut. »Warte, bis er hört, was Kyle schon wieder vermasselt hat. Dann gnade ihm Gott.« Und damit geht sie.
Ich muss sofort anfangen, einen stetigen Strom an Content über die Vorsaison zu produzieren. Ich habe Leute, die bei Skripts und Filmaufnahmen helfen, aber ansonsten trage ich größtenteils die Verantwortung allein. Was heißt, dass ich diejenige bin, die Ben auf die Informationen ansprechen muss, die ich für mein erstes Video brauche, obwohl ich keine Ahnung habe, wie ich die Unterhaltung von heute Morgen einordnen soll.
Montag, 11:47 UhrVon: AnnieAn: Ben
Hi, Ben,
ich freue mich darauf, wieder mit dir zusammenzuarbeiten! Ich fange mit einer Serie an, die Ardwyns Topspieler auf jeder Position im Lauf der Jahre vorstellen soll, deshalb bin ich auf der Suche nach ein paar alten Statistiken.
Im Anhang findest du eine Liste dessen, was ich brauche. Es ist ziemlich unkompliziert. Das Video muss bis Donnerstagnachmittag fertig sein, also schick mir bitte alles bis Mittwochnachmittag.
Lass mich wissen, wenn du Fragen hast. Danke!
Zufrieden lehne ich mich auf meinem Stuhl zurück. Ich habe mich sogar gezwungen, für einen extra freundlichen Eindruck die zwei Ausrufezeichen zu setzen. Funktioniert bei anderen jedenfalls gut! Professionell und doch feminin!
Als Nächstes rufe ich die IT an, um herauszufinden, warum ich noch keinen Zugang zum Video-Archiv habe. Ich fahre mit dem Finger die Telefonliste entlang, die Donna mir gegeben hat, und suche nach dem richtigen Namen und der Durchwahl. Erics Name steht fast oben, und daneben: Stellvertretender Coach. Ein paar Zeilen darunter stoße ich auf Ben, gefolgt von seinem Titel: Leiter der Datenanalyse.
Die Erkenntnis durchfährt mich wie ein Messer aus der Werbung eine Wassermelone. Was hat Williams noch bei dem Meeting gesagt? Unser Spezialist für Datenanalyse ist mehr der moderne Typ, und er hat mir zugestimmt. Wir haben Coach Thomas gegenüber unsere Meinung deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich war davon ausgegangen, dass Ben der Planungsbeauftragte ist. »Leiter der Datenanalyse« war nicht mal ein Job, als wir studiert haben. Aber ich hätte merken sollen, dass Williams von Ben redete. Er hat schließlich im Hauptfach Statistik studiert. Als studentischer Mitarbeiter übernahm er damals all das normale Zeug: die Organisation der Drehs, ein Inventar der Ausrüstung führen, Wäsche waschen. Aber er wedelte auch ständig mit irgendeinem Stück Papier vor Coach Maynards Gesicht herum – irgendeiner Grafik oder Tabelle, die er zusammengetragen hatte, als er eigentlich schlafen sollte –, um ihn zu drängen, die Mannschaftsaufstellung zu verändern. Oder er schwärmte von der Effizienz der Offensive.
Ich erinnere mich besonders an eine seiner Tiraden. »Elliott sollte sich nicht mehr damit abgeben, diesen Wurf von der Baseline zu üben. Er vernichtet jedes Mal fünfzehn Sekunden seiner Basketball-Karriere. Er hat ihn die ganze Saison kein einziges Mal in einem Spiel probiert.« Er reckte die Hände in die Luft.
Coach Maynard runzelte die Stirn. »Das klingt nicht richtig.«
»Die Zahlen lügen nicht.« Als müsste er ihre Ehre verteidigen.
Es war spät am Abend im Büro, und ich hatte mir das Gespräch schon zu lange angehört. Ich tippte auf ein paar Tasten an meinem Laptop und drehte ihn zu Maynard um. »Schauen Sie, Coach, ich habe eine Video-Montage von all den Gelegenheiten gemacht, bei denen er dieses Jahr bei einem Spiel diesen Wurf gemacht hat.«
Der Bildschirm war schwarz.
Ben und ich klatschten einander ab. Maynard schüttelte lachend den Kopf.
Ben hatte Einwände gegen meine Anstellung. Williams’ Meinung stört mich nicht so sehr, weil sie nicht persönlich ist. Er kennt mich nicht. Aber Ben schon, und er will mich trotzdem nicht hier haben.
Das tut weh, sehr weh. Und passt zu seinem Verhalten von heute Morgen. Aber warum benimmt sich jemand so, mit dem ich früher eng zusammengearbeitet habe – so eng, dass ich immer noch weiß, was für ein Sandwich er für gewöhnlich bei Wawa bestellt hat? Habe ich etwas verpasst?
Ich habe keine Zeit dafür. Wenn ich Coach Thomas davon überzeugen will, dass es richtig war, mich einzustellen, während Williams und Ben ihm gleichzeitig einflüstern, dass es ein Fehler war, muss ich mich konzentrieren.
Ich begebe mich zum Lagerraum, um das hochmoderne Equipment in Augenschein zu nehmen, das Eric versprochen hat. Die Kathedrale, einschließlich des Verwaltungstrakts, hätte schon lange renoviert werden müssen. Selbst wenn es sauber ist, wirkt es staubig, und in keinem Raum gibt es genug Steckdosen. Aber die üppig verzierten hölzernen Deckenleisten auf den Fluren sind bezaubernd, wenn auch ramponiert, und der Teppichboden ist flauschig, obwohl sein ursprüngliches Ardwyn-Blau verblichen ist.
Ich gehe an dem Raum vorbei, in dem die studentischen Hilfskräfte arbeiten, und eine Welle der Nostalgie überrollt mich, obwohl er ohne den Geruch nach Monster-Energydrinks in der Luft kaum wiederzuerkennen ist. Schockierenderweise ist kein einziges Banner mit Samstage gehören den Jungs in Sicht. Der Raum ist vollgestopft mit Schreibtischen, überall stehen Rucksäcke, und aus einem Laptop plärrt Musik, aber es ist niemand da. Das Training hat gerade angefangen, daher sind sie wahrscheinlich in der Sporthalle. Ich werde mich ihnen später vorstellen.
Ich öffne die Tür zum Lagerraum, trete in die dunkle Kammer und fahre stolpernd zurück. Ein magerer Typ in den Zwanzigern mit wirrem Haar steht vor meiner wunderschönen neuen Ausrüstung, knabbert an seinem Daumennagel und schaut auf seinem Handy einen Clip aus Impractical Jokers.
»Ähm, hi«, sage ich.
»Ich brauche hier noch einen Moment«, gibt er zurück und blickt kaum auf.
»Kommst du öfter her?«, witzele ich.
Aus dem Flur höre ich Donna brüllen: »Kyle! Wo zur Hölle steckst du?«
Er wirft mir einen flehenden Blick zu. »Kannst du die Tür zumachen?«
Was immer er angestellt hat, wenn er sich versteckt, wird das Donnas Zorn nicht mildern. »Je länger du sie warten lässt, umso schlimmer wird es«, erkläre ich. Es mag ja eine Weile her sein, dass ich hier gearbeitet habe, aber einiges weiß ich noch.
Das Erste, was ich filmen will, ist eine gestellte Pressekonferenz mit witzigen Fragen an Coach Thomas. Nachdem Kyle widerwillig die Kammer geräumt hat, mache ich mich mit der ganzen Ausrüstung vertraut, die ich zur Verfügung habe, baue im Medienraum eine Kamera auf und überprüfe Licht und Ton. Ich habe morgen nur dreißig Minuten mit Thomas, und das wird unsere erste richtige Begegnung, daher muss alles glatt laufen.
Als der Tag zu Ende geht, setze ich mich an meinen Schreibtisch, um die Testaufnahmen durchzusehen. Kurz lenkt mich ein Anruf aus der Lohnbuchhaltung wegen meiner Überweisungsaufträge ab, und als ich auflege, dringt eine unbekannte Stimme aus meinen Lautsprechern: »Coach Thomas scheint cool zu sein.«
Ich sehe alle drei offenen Fenster auf meinen drei Monitoren an, und dann wird mir klar, woher das Geräusch kommt. Nachdem ich die Kamera eingestellt hatte, habe ich sie laufen lassen, während ich zurück in mein Büro gerannt bin, um mein Handy zu holen. Unterwegs hat Ted Horvath mich auf dem Flur eine Weile aufgehalten. Zwei der studentischen Hilfskräfte scheinen sich vor die Kamera gesetzt zu haben, um ihren Mittagssnack zu essen, während ich unterwegs war.
Einer von ihnen sagt: »Schätze schon. Wenigstens ist er kein Sexualverbrecher oder so was.«
Ich bekomme heiße Ohren.
Der andere schnaubt wegwerfend. »Was zur Hölle, Alter?« Nachdem ich den ganzen Tag Leuten vorgestellt worden bin, kann ich mich nicht an die Namen der beiden erinnern. Bis jetzt sind sie für mich »der mit dem weißen Poloshirt« und »der mit der blauen Monogrammweste«.
Eine dritte Person kommt ins Bild. Es ist Ben. »Hey, Jungs, wie läuft’s? Wer bereitet alles für das Training morgen vor?«
Weißes Poloshirt hebt die Hand.
»Wer ist eigentlich die Neue?«, fragt Blaue Monogrammweste. »Mit diesem Ding?« Er zeigt auf die Kamera, ohne sich bewusst zu sein, dass sie aufnimmt.
Weißes Poloshirt hat die Antwort. »Die neue Producerin für die digitalen Medien.«
Wahrscheinlich sollte ich aufhören, das Video abzuspielen. Beleuchtung und Ton sind in Ordnung. Aber stattdessen setze ich die Kopfhörer auf, rücke mit dem Gesicht viel zu nah an den Bildschirm und stütze das Kinn auf die Faust.
»Ich habe gesehen, wie sie mit Donna geredet hat, als würden die beiden sich kennen.«
»Hab gehört, ihr Dad war an der Highschool Bauers Coach.«
»Heiliger Scheiß, Ken Radford war ihr Dad? Kein Wunder, dass sie den Job gekriegt hat.«
Ben sagt nichts. Was zur Hölle? Er verfügt über jede Menge Fakten, um diesen Schwachsinn zu widerlegen. Ja, Dad war der erfolgreichste Highschool-Basketballcoach in der Geschichte des Staates New Jersey. Und ja, er war Erics Trainer. Aber diese Kids wissen überhaupt nichts über Dad oder mich.
Sie haben keine Ahnung von Dads trockenem Humor, seiner Geduld oder der Art, wie er immer seinen eigenen Snack-Mix zusammengestellt hat, wenn wir uns im Fernsehen Spiele angeschaut haben. Und für mich hat er eine Extraportion gemischt, weil ich gern mehr Brezeln als Popcorn habe. Außerdem haben sie keine Ahnung, dass ich diesen Job praktisch erfunden habe. Wenn diese bierseligen Schwachköpfe langjährige Ardwyn-Fans sind, haben sie sich wahrscheinlich an meinen Videos hochgeputscht, als sie noch in der Mittelstufe Kinder-Trinkjoghurts geschlürft haben.
»Jemand hat erzählt, sie hätte früher hier gearbeitet. Kennst du sie?«
Endlich sagt Ben etwas. »Sie hat vor langer Zeit sehr kurz hier gearbeitet.«
»Das ist ja eine überwältigende Empfehlung. Wie peinlich wird das werden? Muss ich unserem Instagram-Account entfolgen?«
Ich würde töten, um Bens Gesicht zu sehen, doch er dreht der Kamera den Rücken zu. »Das ist nicht das Problem. Aber sie verdient es nicht, hier zu sein …« Er unterbricht sich. »Ich kann dazu nur eins sagen: Gewöhnt euch daran. Wir sind so gut wie seit Jahren nicht. Jeder versucht sich wegen des Hypes hineinzudrängen. Auf den Zug aufzuspringen.«
Seine Worte treffen mich so, dass mir die Kinnlade herunterklappt, bis ich den Bildschirm mit offenem Mund anstarre. Am liebsten will ich lachen, doch ich kriege keine Luft. Ich reibe mir mit den Händen übers Gesicht, lasse sie eine Minute dort und drücke sie von den Augenbrauen bis zum Kinn fest gegen meine Haut.
»Ich wünschte, ein Teil dieses Hypes hätte sich in einem Platz unter den Top 25 der Vorsaison geäußert«, meint Weißes Poloshirt.
»Das hat nichts zu bedeuten«, gibt Ben zurück. »Wir werden uns unseren Platz verdienen, wenn es darauf ankommt.«
»Ich habe buchstäblich noch nie gehört, dass du schlecht über jemanden redest«, sagt Blaue Monogrammweste. »Sie muss der totale Albtraum sein.«
Ich lasse die Szene dreimal laufen. Die ersten beiden Male, um sicherzugehen, dass ich Ben richtig verstehe. Das dritte hat keinen Sinn, sondern gibt mir nur das Gefühl, als würden meine Innereien in einem Topf mit kochendem Wasser stecken – bei geschlossenem Deckel.
Still zu sitzen und in diesen Empfindungen zu schmoren, ist nicht gesund, also beschäftige ich mich mit der Pinnwand und ziehe die Nadeln aus vergilbten Eintrittskarten, alten Spielerlisten und Ausdrucken von Zeitungsartikeln über große Siege. Davon kriege ich keinen klaren Kopf, aber wenigstens haben meine Hände etwas zu tun.
Das hier ist schlimmer, als ich heute Morgen dachte. Was habe ich verpasst? Ich habe Ben seit dem Herbst meines letzten Studienjahrs nicht mehr gesehen, und das verschwimmt in meiner Erinnerung vollkommen. Einen bedeutenden Teil dieser Monate habe ich schwer betrunken verbracht. Wenn ich nüchtern war, ging es mir nicht viel besser. Ich war wie benebelt vor lauter Sorge, weil sich mein Liebesleben und mein Job um mich herum auflösten. Möglich, dass ich etwas getan habe, das es rechtfertigt, mir etwas nachzutragen, aber in meiner Erinnerung sticht nichts hervor.
Mein Gedankengang wird von einem Riesen mit rötlich-braunem Bart unterbrochen, der durch die Tür stürmt und aufkreischt, und sofort fühle ich mich leichter.
»Annie«, flötet Eric und zieht mich in eine Umarmung. »Diese Jacke ist so rot. Du siehst aus wie jemand, den ein Senator anrufen würde, wenn er Hilfe dabei braucht, ein Verbrechen zu vertuschen.«
Ich drücke ihn zurück. Das ist die neueste Ausgabe eines Witzes, den er seit über zehn Jahren erzählt – seit wir uns in der Highschool angefreundet haben. Wenn Eric über Klamotten redet, ist es, als würde man einen Satz in eine Übersetzungs-App eingeben und ihn auf Ungarisch und dann zurück übersetzen. Man kann rein theoretisch nachvollziehen, wo der Gedanke herkommt, aber im Großen und Ganzen ergibt es keinen Sinn.
Nachdem ich mich von ihm losgemacht habe, streiche ich das Revers meines Blazers glatt. »Danke … schätze ich.«
Er strahlt und hüpft beinahe durchs Zimmer, von der Wand zum Stuhl und zum Fenster. »Ich bin so froh, dass du hier bist! Ich habe die Tage gezählt. Ehrlich, ich hatte Angst, du würdest abspringen.«
»Nee. Ich bin hier, um zu gewinnen«, sage ich und recke halbherzig die Faust in die Luft.
»Ich freue mich so. Und du hast am verrücktesten Tag angefangen. Hast du gehört, was passiert ist? Donna hat gemerkt, dass unser Planungsbeauftragter Kyle alle unsere Reisen für die erste Hälfte der Saison anhand des Spielplans vom letzten Jahr gebucht hat.«
Davon habe ich nicht gehört, aber es überrascht mich nicht, dass der Typ, dem es überhaupt nicht peinlich war, in einer Kammer dabei erwischt zu werden, wie er auf seinem Handy Prank-Videos ansieht, es so übel vermasseln würde. »Dieser Kerl ist der Planungsbeauftragte? Warum? Wie? Er scheint nicht mal in der Lage zu sein, jemandem den Weg zum Klo zu beschreiben.«
»Sein Onkel ist der Finanzvorstand der Uni«, erklärt Eric. »Er ist neu. Es war ein Gefallen.« Er entdeckt den Haufen Reißzwecken und Mannschaftsrequisiten auf dem Aktenschrank. »Du richtest dich schon ein? Gefällt mir. Erzähl mir, wie großartig war dein erster Tag?«
Ich lache unbehaglich auf. Eric ist fest davon überzeugt, dieser Job wäre der Schlüssel zu meinem Glück und kein Mittel zum Zweck, und ich bin noch nicht bereit, ihm die Laune zu verderben. »Interessanter Tag, so viel ist sicher. Und Williams? Du hättest mich vorwarnen können.«
Er pflückt Teile vom oberen Rand der Pinnwand, an die ich nicht herankomme, und legt sie auf den Haufen. »Was meinst du? Ich dachte, du würdest mit ihm auskommen. Er erinnert mich an deinen Dad.«
»Was?«, zische ich. »Mein Dad war ein netter Mensch.«
»Das meine ich nicht. Ich meine den Tunnelblick.« Er steigt auf eine roboterhafte Stimme um: »Müssen … gewinnen.«
»Eric, davon rede ich überhaupt nicht. Hier herrscht eine komische Stimmung. Manche Leute sind nicht besonders entgegenkommend.« Ich erwähne Ben nicht namentlich. Eric ist nicht für seine Diskretion bekannt.
Er nimmt eine Geburtstagskarte ab. »Was? Nein. Alle stehen unter Stress, aber sie sollten es nicht an dir auslassen.«
»Warum sind alle gestresst?«
Er fummelt an der Reißzwecke herum. Sie fällt herunter, und er geht auf die Knie, um danach zu suchen. Dabei stößt er mit seinen schlaksigen Gliedmaßen beim Herumkriechen an die Möbel.
»Warum sind alle gestresst, Eric?«, wiederhole ich.
Er erstarrt. Sein Oberkörper steckt halb unter meinem Schreibtisch. »Na ja, komische Geschichte. Also, nicht komisch in dem Sinne, dass man sich totlacht. Eher die Art: Das Universum ist chaotisch, also kann man nur darüber lachen. Ich wollte dir noch davon erzählen. Vielleicht heute nach der Arbeit?« Er streckt den Kopf hervor und sieht hoffungsvoll zu mir auf.
»Nein«, sage ich, und mein Magen überschlägt sich. »Lass uns jetzt darüber reden.«
Er hievt sich in eine sitzende Haltung, lehnt sich mit dem Rücken an den Schreibtisch und hält sich die Geburtstagskarte vor die Augen. »Versprichst du mir, dass du nicht böse wirst?«
»Absolut nicht.« Ich reiße ihm die Karte aus der Hand. »Raus damit.«
Er zieht ein langes Gesicht. »Letzte Woche kam eine interne Ankündigung«, erklärt er. »Die Sportfakultät plant nach dieser Saison eine Etatkürzung. Eine große. Wir sind die einzige Sportart, die Geld einbringt, aber wir hatten lange keine herausragende Saison mehr, obwohl wir uns jedes Jahr verbessert haben. Der Kartenverkauf ist zurückgegangen, die Spenden werden weniger …«
Eine Etatkürzung. Und doch bin ich hier, eine nagelneue Angestellte mit einem nagelneuen Gehalt und einem Schrank voll teurer, nagelneuer Ausrüstung. Ich kämpfe gegen den Drang, Eric an die Pinnwand zu tackern. »Warum hast du mir das nicht erzählt, bevor ich diesen Job angenommen habe?«