One Small Thing – Eine fast perfekte Liebe - Erin Watt - E-Book
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One Small Thing – Eine fast perfekte Liebe E-Book

Erin Watt

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Beschreibung

Seit dem tragischen Tod ihrer Schwester ist im Leben von Beth nichts mehr so, wie es war. Sie vermisst ihre engste Vertraute schmerzlich, und ihre Eltern sind seither so ängstlich, dass sie Beth auf Schritt und Tritt bewachen. Doch eines Nachts schleicht sie sich heimlich zu einer Party. Dort trifft sie Chase, einen attraktiven und charmanten jungen Mann, der gerade erst in die Stadt gezogen ist. Sofort knistert es zwischen den beiden, und Beth schwebt im siebten Himmel. Bis sie erfährt, dass Chase ein düsteres Geheimnis hütet, das mit dem Tod ihrer Schwester eng verwoben ist ...

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Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Franzi Berg

ISBN 978-3-492-99175-9© Timeout LLC 2018Titel der englischen Originalausgabe:»One Small Thing«, Harlequin Books, USA, 2018Deutschsprachige Ausgabe:© Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: FAVORITBUERO, MünchenCovermotiv: StocksyDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

 

Inhalt

1. Kapitel: Hallo, mein Kerlchen …

2. Kapitel: Ich will aber nicht …

3. Kapitel: Chase rollte sich auf die Seite …

4. Kapitel: Morgen ist wieder Schule …

5. Kapitel: Im Bus stinkt es nach Angst …

6. Kapitel: Sicher, dass alles in Ordnung ist …

7. Kapitel: Hi, Lizzie …

8. Kapitel: Am nächsten Morgen …

9. Kapitel: Ich habe seit der vierten Klasse …

10. Kapitel: Donnerstagmorgen, ungefähr fünf Minuten …

11. Kapitel: Beim Mittagessen sitze ich …

12. Kapitel: Wie abgesprochen, holt Jeff …

13. Kapitel: Das Geräusch eines Presslufthammers …

14. Kapitel: Zu meiner großen Überraschung …

15. Kapitel: Natürlich. Wer sonst sollte mich …

16. Kapitel: Auch wenn Chase …

17. Kapitel: Der Bürgermeister lebt …

18. Kapitel: Dad folgt dicht hinter …

19. Kapitel: Was ist das? …

20. Kapitel: Am nächsten Tag werde ich …

21. Kapitel: Du hast ja gute Laune …

22. Kapitel: Beth! Bist du wahnsinnig? …

23. Kapitel: Es piepst komisch …

24. Kapitel: Am nächsten Morgen …

25. Kapitel: Ich sollte nicht hier sein …

26. Kapitel: Freitagmorgen finde ich …

27. Kapitel: Samstags im Tierheim …

28. Kapitel: Ich habe es satt …

29. Kapitel: Wie verlangt sammelt das Taxi …

30. Kapitel: Der Rest des Wochenendes …

31. Kapitel: Das Wissen um den Kuss …

32. Kapitel: Bevor ich reagieren kann …

33. Kapitel: Die sechsstündige Autofahrt …

 

1. Kapitel

»Hallo, mein Kerlchen.« Ich lache, während Morgan, der Hund der Nachbarn, quer über die Wiese zu mir rennt und an meiner kakifarbenen Hose hochspringt.

»Morgan, komm her«, ruft Mrs Rennick außer sich. »Tut mir leid, Lizzie«, sagt sie und eilt herbei, um den großen schwarzen Mischling von mir wegzuzerren. Allerdings mit eher mäßigem Erfolg. Sie ist sehr klein und Morgan sehr groß, der Unterschied zwischen ihnen also nur marginal.

»Kein Problem, Mrs R. Ich liebe Morgan«, sage ich, hocke mich zu ihm und kraule ihn hinter den Ohren. Er japst glücklich und schlabbert mir quer durchs Gesicht. »Und es ist jetzt Beth«, erinnere ich sie. Ich bin siebzehn, und Lizzie ist ein Name, den ich gern weit, weit hinter mir lassen würde. Leider scheine ich mit diesem Wunsch jedoch ziemlich allein zu sein.

»Ach, stimmt. Beth also, bestärke ihn doch nicht auch noch«, schimpft sie und zerrt an seinem Halsband.

Ich kraule ihn noch ein paar Mal hinterm Ohr, bevor ich ihn freigebe.

»Deine Mutter bekommt sicher einen Anfall«, kommentiert Mrs R.

Ich schaue an mir hinunter, Hundehaare hängen an meiner weißen Bluse, auf der bereits Schokoladenspritzer von der Arbeit sind. »Ich muss mich sowieso umziehen.«

»Sag ihr bitte trotzdem, dass es mir leidtut.« Sie zerrt Morgan weg. »Ich passe nächstes Mal besser auf.«

»Bitte nicht«, sage ich. »Ich freue mich über jede Sekunde mit Morgan. Das ist die Strafe wert. Außerdem spricht jetzt ja gar nichts mehr gegen ein Haustier.« Ich schiebe das Kinn vor. Den Grund für die haustierfreie Zone gibt es bereits seit drei Jahren nicht mehr, selbst wenn meine Eltern das ungern zugeben.

Mrs R verstummt für einen Moment. Ich kann nicht sagen, ob sie sich ein paar Worte über meine Kaltherzigkeit verkneift – oder über die Strenge meiner Mutter. Aber ich bin zu feige nachzuhaken.

»Deine Mutter wird schon ihre Gründe haben«, sagt sie schließlich und winkt dann zum Abschied noch mal kurz. Sie will sich lieber nicht einmischen. Gute Entscheidung. Wenn ich die Wahl hätte, würde ich es auch so machen.

Morgan und Mrs R verschwinden in ihrer Garage. Ich drehe mich um und betrachte unser Haus. Wie gern wäre ich jetzt woanders.

Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Keine neuen Nachrichten von meiner besten Freundin Scarlett. Wir haben heute Morgen überlegt, ob wir nach meiner Schicht im Ice Cream Shoppe noch was unternehmen. Am Montag geht die Schule wieder los. Für Scarlett geht ein spaßiger Sommer zu Ende. Ich hingegen bin der Freiheit einen Schritt näher gekommen.

Ich lasse den Kopf kreisen, um die Anspannung zu lösen, die mich beim Anblick des Hauses sofort befällt. Ich atme langsam aus und befehle dann meinen Füßen, sich weiterzubewegen.

Im Flur begrüßt mich schon Taylor Swifts Bad Blood. Moms Playlist ist 2015 in Endlosschleife. Sam Smith, Pharrell und One Direction, als sie noch zu fünft waren. Ich ziehe meine hässlichen schwarzen Arbeitsschuhe aus und werfe meine Handtasche auf die Bank.

»Lizzie, bist du das?«

Würde es sie umbringen, mich einmal Beth zu nennen?

Ich beiße die Zähne zusammen. »Ja, Mom.«

»Räumst du bitte deinen Platz im Flur auf? Dort wird es allmählich unordentlich.«

Ich schaue auf meinen Teil der Bank. So unordentlich ist es nun auch wieder nicht. Ein paar Jacken hängen an den Haken, ein Stapel Bücher von Sarah J. Maas, die ich gerade zum achtzigsten Mal lese, liegt dort, außerdem Pfefferminzbonbons, eine Flasche Bodyspray, die Scarlett mir vom letzten Sale bei Victoria’s Secret mitgebracht hat, und ein paar Sachen für die Schule.

Einen Seufzer unterdrückend, sortiere ich alles oben auf die Maas-Bücher und gehe dann in die Küche.

»Hast du aufgeräumt?«, fragt Mom, ohne von den Möhren aufzusehen, die sie gerade schneidet.

»Ja.« Das Essen wirkt unappetitlich. Dann wiederum wirkt alles unappetitlich, wenn ich von der Arbeit komme.

»Sicher?«

Ich fülle ein Glas mit Wasser. »Ja, Mom. Ich habe aufgeräumt.«

Offenbar gelte ich als unglaubwürdig, denn Mom legt das Messer weg und verschwindet im Flur. Zwei Sekunden später höre ich: »Lizzie, hattest du nicht gesagt, du hast aufgeräumt?«

Ich stelle laut das Glas hin und folge ihr. »Hab ich ja auch«, sage ich und zeige auf den ordentlichen Stapel.

»Und was ist damit?«

Ich folge ihrem ausgestreckten Zeigefinger zu einer Tasche, die an einem Haken hängt, der nicht zu meinen gehört. »Was ist denn damit?«

»Deine Tasche hängt an Rachels Haken«, sagt sie. »Du weißt, wie blöd sie das fand.«

»Und?«

»Häng sie weg.«

»Warum?«

»Warum?« Ihr Gesicht ist plötzlich verkniffen, die Augen schmal. »Warum? Das weißt du ganz genau. Häng sie sofort da weg.«

»Ich … ach, weißt du was, okay.« Ich greife an ihr vorbei und lasse die Tasche auf meinen Teil der Bank fallen. »Da, bist du jetzt zufrieden?«

Mom presst die Lippen aufeinander. Sie unterdrückt einen beleidigenden Kommentar, aber die Wut leuchtet klar und deutlich in ihren Augen.

»Du solltest es besser wissen«, sagt sie, bevor sie auf dem Absatz kehrtmacht. »Und bürste dir die Hundehaare ab. Haustiere sind hier nicht erlaubt.«

Zornige Bemerkungen drängen in meinen Mund, schnüren mir den Hals zu, füllen mir den Kopf. Ich muss die Zähne so heftig zusammenbeißen, dass mein Kiefer schmerzt. Würde ich das nicht tun, kämen die Worte alle heraus. Die schlimmen. Die mich dastehen lassen würden, als wäre ich gefühllos, egoistisch und eifersüchtig.

Und vielleicht bin ich das ja alles. Vielleicht. Aber ich lebe immerhin noch, sollte das nicht auch was wert sein?

Gott, ich kann es nicht erwarten, mit der Schule fertig zu sein. Hier ausziehen zu können. Ich kann es nicht erwarten, endlich aus diesem beschissenen, blöden, verdammten Gefängnis herauszukommen.

Ich ziehe an meiner Bluse. Ein Knopf platzt ab und prallt auf die Fliesen. Ich fluche leise. Jetzt muss ich Mom anflehen, das doofe Ding heute noch wieder anzunähen, weil ich nur eine Arbeitsbluse habe. Ach, scheiß drauf. Was soll’s? Wen kümmert es schon, ob ich eine saubere Bluse anhabe? Dann müssen die Gäste im Eiscafé halt einfach wegschauen, wenn ihnen die paar Schokoflecken und Hundehaare zu eklig sind.

Ich schmeiße die Bluse auf die Bank und die Hose gleich dazu. Dann schlendere ich in Unterwäsche in die Küche.

Mom macht ein angewidertes Geräusch.

Als ich den Fuß auf die unterste Treppenstufe setze, fällt mein Blick auf einen Stapel weißer Umschläge auf der Arbeitsfläche. Die Schrift kommt mir bekannt vor.

»Was ist das?«, frage ich beunruhigt.

»Deine Collegebewerbungen«, antwortet sie emotionslos.

Horror erfasst mich. Mein Bauch zieht sich beim Blick auf die Umschläge zusammen, beim Blick auf die Handschrift, auf den Absender. Wie kommen die hierher? Ich flitze rüber und gehe sie durch. USC, University of Miami, San Diego State, Bethune-Cookman University.

Der Damm, der meine Gefühle im Zaum hält und den ich vorhin kaum aufrechterhalten konnte, bricht.

Ich schlage mit der Hand darauf. »Woher hast du die?«, will ich wissen. »Ich habe sie doch in den Briefkasten gesteckt.«

»Und ich habe sie wieder herausgeholt«, sagt Mom, den Blick noch immer auf die Möhren vor sich gerichtet.

»Warum? Warum solltest du so was tun?« Ich spüre Tränen, die immer kommen, wenn ich wütend werde.

»Wozu willst du dich dort bewerben? Du wirst ja doch auf keins dieser Colleges gehen.« Sie greift zu einer Zwiebel.

Ich lege meine Hand auf ihren Arm. »Was meinst du damit, dass ich auf keins dieser Colleges gehen werde?«

Sie schiebt meine Hand weg und schaut mir kalt und hochmütig in die Augen. »Wir zahlen für deine Ausbildung, also gehst du an die Schule, die wir für dich aussuchen – Darling College. Du brauchst keine weiteren Bewerbungen zu schreiben, wir haben deine für Darling schon ausgefüllt und eingereicht. Wir erwarten die Zulassung im Oktober.«

Darling ist ein Internetcollege, bei dem man sich praktisch seinen Abschluss kauft. Es ist kein echtes College. Ein Abschluss von Darling ist nichts wert, niemand nimmt ihn ernst. Als sie im Sommer gesagt haben, sie wollen, dass ich dort studiere, hab ich das für einen Scherz gehalten.

Mir bleibt der Mund offen stehen. »Darling? Das ist nicht mal ein richtiges College. Das ist …«

Sie wedelt mit dem Messer in der Luft. »Ende der Diskussion, Elizabeth.«

»Aber …«

»Ende der Diskussion, Elizabeth«, wiederholt sie. »Wir wollen nur dein Bestes.«

Ich kann sie nur groß anschauen. »Mich zu zwingen, hierzubleiben, ist mein Bestes? Ein Abschluss von der Darling ist nicht mal das Papier wert, auf den er gedruckt wird!«

»Du brauchst keinen Abschluss«, sagt Mom. »Du arbeitest für deinen Dad, und wenn er in den Ruhestand geht, übernimmst du sein Eisenwarengeschäft.«

Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. O mein Gott. Sie werden mich für immer hierbehalten. Sie werden mich nie, nie gehen lassen.

Mein Traum von Freiheit erlischt wie eine Kerze nach einem Windstoß.

Worte kommen mir über die Lippen. Ich will sie eigentlich nicht sagen, aber der Damm ist gebrochen.

»Sie ist tot, Mom. Sie ist schon seit drei Jahren tot. Dass sie nicht aus der Schule kommt, liegt nicht daran, dass meine Tasche an ihrem Haken hängt. Auch wenn ich einen Hund hätte, würde sie nicht plötzlich auferstehen. Weil sie tot ist, Mom. Sie ist tot!«, brülle ich.

Klatsch.

Ich sehe ihre Hand nicht kommen. Sie trifft meine Wange. Der Edelstein ihres Eherings reißt mir die Lippe auf. Ich bin so überrascht, dass ich nichts mehr sage. Was genau das ist, was sie wollte.

Ihre Augen werden groß. Wir starren einander an, Brustkörbe heben und senken sich.

Ich reiße mich von ihr los, renne aus der Küche. Rachel mag tot sein, aber ihre Erinnerung ist in diesem Haus lebendiger als ich.

 

2. Kapitel

»Ich will aber nicht mit.« Scarletts Ton ist unverändert bestimmt. Wir stehen seit zwanzig Minuten an der Tankstelle und diskutieren über unsere Abendpläne, aber meine beste Freundin will nicht nachgeben.

Ich aber auch nicht. Meine Wange brennt noch immer von Moms Ohrfeige.

Die Mädels, die uns zu der Party eingeladen haben, lehnen an dem schwarzen Jeep, dessen Verdeck runtergeklappt ist, die extrem geschminkten Gesichter in Falten gelegt. Der dunkelhaarige Typ am Steuer wirkt ungeduldig. Ich bin überrascht, dass sie überhaupt warten. Ist ja nicht so, als würden sie uns kennen. Die Einladung war einfach nur die Folge einer fünfsekündigen Unterhaltung direkt vorm Chipsregal, nachdem ich der Blonden gesagt hatte, dass mir ihr T-Shirt gefällt.

»Gut, dann eben nicht«, sage ich zu Scarlett.

Ihre braunen Augen spiegeln Erleichterung. »Okay, gut. Dann fahren wir also nicht mit?«

»Nein, du fährst nicht mit.« Ich recke das Kinn in die Luft. »Ich schon.«

»Lizzie …«

»Beth«, sage ich sofort.

Der leicht gereizte Ausdruck in ihren Augen entgeht mir nicht. »Beth«, verbessert sie sich und betont dabei die eine Silbe, als wäre sie zu viel verlangt.

Wie meinen Eltern fällt es meiner besten Freundin nicht leicht, sich an meinen neuen Namen zu gewöhnen. Scarlett findet Lizzie nicht kindisch. Ist es nicht viel kindischer, dich umzubenennen, nachdem du ein Leben lang Lizzie hießt?, war ihre Reaktion auf meine Verkündung Anfang des Sommers. Die mich aber nicht überrascht hat. Scarlett ist schließlich ein ziemlich genialer Name, da käme ich auch nicht auf die Idee, ihn zu ändern.

»Du kennst die doch gar nicht«, sagt sie.

Ich zucke mit den Schultern. »Dann lerne ich sie eben kennen.«

»Beth«, fleht sie, »bleib doch.«

»Bitte, Scar«, flehe ich in ganz ähnlichem Ton. »Ich brauch das. Ganz besonders nach dem, was heute passiert ist. Ich brauche eine verrückte Nacht, die mich auf andere Gedanken bringt.«

Ihr Gesichtsausdruck wird sanfter. Sie weiß von der Ohrfeige und dem Bewerbungsverrat – ich habe schließlich von nichts anderem gesprochen, seit sie mir vorhin die Tür geöffnet hat. Ich vermute, das ist auch einer der Gründe dafür, dass sie vorgeschlagen hat, ein bisschen um die Häuser zu ziehen. Sie konnte es vermutlich nicht mehr hören.

»Ich habe leider gar keine Lust«, gibt sie zu. »Aber ich will nicht, dass du allein gehen musst.«

»Das ist kein Problem«, verspreche ich ihr. »Ich fahre für ein paar Stunden mit, check das alles ab, und dann komme ich wieder zu dir, und wir können den Rest der Nacht Eis essen.«

Sie verdreht die Augen. »Du kannst gern den Rest der Nacht Eis essen, ich muss bis Montag fasten. Ich will gut aussehen am ersten Tag unseres letzten Schuljahres.«

Der Typ im Jeep drückt auf die Hupe. »Yo, kommt endlich!«, ruft er.

»Bis später, Scar«, sage ich schnell. »Lass die Hintertür für mich auf, ja?« Dann, bevor sie widersprechen kann, flitze ich zum Jeep. »Ich komm mit«, erkläre ich den beiden Mädels, denn wenn ich nicht endlich mal etwas unternehme, was nicht Teil der perfekt durchkomponierten Routine meiner Eltern ist, platze ich. Dann sind nur noch Fetzen von mir übrig. Genau genommen habe ich schon jetzt das Gefühl, aus nichts als Fetzen zu bestehen, nur zusammengehalten von meinen Eltern.

»Na endlich«, murmelt die eine, die andere macht eine pinke Blase mit ihrem Kaugummi.

»Beth!«, ruft Scarlett mir nach.

Ich schaue mich um. »Kommst du doch mit?«

Sie schüttelt den Kopf. »Pass auf dich auf.«

»Mach ich.« Ich klettere auf den Rücksitz neben die Blondine. Ihre Freundin springt auf den Beifahrersitz und flüstert dem Fahrer etwas zu. Ich lehne mich seitlich hinaus, um Scarlett noch zuzurufen: »Falls meine Eltern anrufen, sag einfach, ich schlafe schon. Bin in ein paar Stunden zurück, versprochen.«

Ich werfe ihr eine Kusshand zu, und nach einem kurzen Zögern fängt sie den Kuss auf und pflastert ihn sich auf die Wange. Dann dreht sie sich um, kehrt zu ihrem Wagen zurück, und der Typ am Steuer drückt auf die Tube, sodass wir mit quietschenden Reifen vom Parkplatz der Tankstelle düsen.

Während mir der Wind durchs Haar weht, zähle ich alle Sünden, die ich gerade begangen habe.

Die Einladung zu einer Party von Leuten angenommen, die ich nicht kenne.

Unterwegs zu einer Party im Nachbarort, der nicht gerade bekannt ist für seine weißen Lattenzäune und Apfelbäume – wie etwa mein kleiner, beschaulicher und sicherer Heimatort.

Zu Fremden in den Wagen gestiegen. Das ist vermutlich die größte Sünde. Meine Eltern schicken mich ins nächste Kloster, sollten sie das je herausfinden.

Aber wisst ihr was?

Ist. Mir. Scheiß. Egal.

Sie haben schließlich schon verkündet, dass ich meine Collegejahre bei ihnen verbringen soll. Das war eine Kriegserklärung.

Ich fühle mich gefangen, von ihren Regeln eingezwängt, belastet von ihrer Paranoia und ihren Ängsten. Ich bin siebzehn. Eigentlich sollte ich mich freuen können, schließlich habe ich bald die Schule hinter mir. Ich sollte hordenweise Freunde und Freundinnen um mich scharen, mit Jungs ausgehen und einfach mein Leben genießen. Alle sagen doch, das sind die besten Jahre, danach geht es nur noch bergab. Was für ein deprimierender Gedanke, wie viel schlimmer soll es denn noch werden?

»Wie heißt du eigentlich?«, fragt die Blondine.

»Beth. Und du?«

»Ashleigh, aber du kannst gern Ash sagen.« Sie deutet nach vorn. »Das sind Kylie und Max. Wir gehen alle auf die Lexington High, kommen jetzt in die Elfte.«

»Ich fange mein letztes Jahr an der Darling an«, sage ich.

Ein spöttisches Grinsen tritt auf ihre roten Lippen. »Ah, okay. Du bist ein Darling.«

Ich wehre mich gegen die Andeutung. »Nicht alle, die auf die Darling gehen, sind reich.« Und das ist keine Lüge. Meine Familie ist definitiv nicht so wohlhabend wie die anderen Bewohner der Stadt. Unser eher vom Mittelstand geprägter Vorort gilt allerdings als ruhig und sicher.

Die Party, zu der wir unterwegs sind, ist in Lexington Heights bzw. Lex, wie der Stadtteil dort genannt wird. Ein Viertel der Arbeiterklasse, wo die Häuser kleiner, die Leute ärmer und die Kinder ungehobelter sind. In Darling bekommt man außer Hasch überwiegend Kokain und MDMA, in Lex eher Crystal Meth.

Meine Eltern bekämen einen Anfall, wenn sie wüssten, dass ich hier unterwegs bin. Scarlett hatte fast eine Panikattacke, als wir zum Tanken in Lexington halten mussten.

»Was habt ihr denn an einem Samstagabend in Lex gemacht?« Kylie dreht sich mit dieser Frage zu mir um.

Ich zucke mit den Schultern. »Ich wollte einfach noch ein bisschen Spaß haben, bevor die Schule wieder losgeht.«

Max ruft: »Woohoo, ein Mädchen nach meinem Geschmack! Wie heißt du noch mal?«

»Beth.«

»Beth.« Er fährt einarmig weiter und hält die andere Hand zu mir nach hinten. »Dann schlag mal ein, Bethie. Dann kann die Party endlich losgehen.«

Unbeholfen klatsche ich ab und grinse. Plötzlich fühle ich mich schlecht dafür, Scarlett zurückgelassen zu haben, aber ich verdränge die Schuldgefühle bis in den hinterletzten Winkel. Außerdem war es für sie ja in Ordnung, dass ich mitfahre, obwohl ich nicht glaube, dass sie verstanden hat, warum ich das so dringend wollte. Scars Eltern sind cool. Absolut lässig und witzig, und sie geben ihr so viel Freiraum, dass sie gar nicht weiß, was sie damit anstellen soll.

Dabei versteh ich’s ja. Ich versteh’s total. Mom und Dad haben eine Tochter verloren. Ich eine Schwester. Wir alle haben Rachel geliebt, und sie fehlt uns allen, niemandem mehr als mir. Aber der Unfall meiner Schwester war eben genau das: ein Unfall. Und der Verantwortliche wurde dafür bestraft. Mehr können wir doch gar nicht verlangen, oder? Rachel wird nicht wieder lebendig, so läuft das eben nicht. Und der Gerechtigkeit wurde Genüge getan. Mehr geht nun wirklich nicht.

Aber ich lebe noch. Ich lebe noch, und ich möchte leben.

Ist es so schlimm, das zu wollen?

»Wir sind da!«, verkündet Ashleigh.

Max parkt gegenüber von einem schmalen Haus mit weißer Schindelverkleidung und einem ungepflegten Garten, in dem sich viele Jugendliche tummeln. Bier und Joints werden einfach offen herumgereicht, als bestünde gar keine Gefahr, dass hier ein Polizeiauto vorbeigefahren kommt.

»Wem gehört das Haus?«, frage ich.

»Einem Jack oder so«, sagt Ash, ohne mich anzusehen, weil sie schon eifrig dabei ist, ein paar Mädchen im Vorgarten zuzuwinken.

»Sind seine Eltern zu Hause?«

Kylie schnaubt. »Äh, nein.«

Okay.

Wir steigen aus dem Jeep und bahnen uns einen Weg durch die Leute bis zur Haustür. Kylie und Max verschwinden, kaum dass wir das Haus betreten haben. Ashleigh bleibt an meiner Seite. »Komm, wir organisieren uns was zu trinken!«, sagt sie.

Ich kann sie kaum verstehen, weil ein Hip-Hop-Song in ohrenbetäubender Lautstärke die Wände zum Wackeln bringt. Das Haus quillt fast über vor Menschen, es riecht nach einer Mischung aus Parfum, Körperspray, Schweiß und altem Bier. Nicht so ganz mein Wohlfühlraum, aber der Song gefällt mir und die Leute sehen erst mal nett aus. Irgendwie hatte ich fast mit Faustkämpfen gerechnet oder dass die Leute hier einfach direkt im Flur vögeln, aber es wird hauptsächlich getanzt und getrunken und sehr laut geredet.

Ash zerrt mich in eine kleine Küche mit billiger Arbeitsfläche und altmodischer Tapete. Ein paar Jungs stehen in der offenen Fliegentür und rauchen einen Joint.

»Harley!«, kreischt sie und stürzt sich dann in die Arme von einem von ihnen, der sich aus der kleinen Gruppe löst. »OMG! Wann bist du zurückgekommen?«

Der große junge Mann hebt sie hoch und gibt ihr einen sehr feuchten Schmatzer direkt auf den Mund. Ich schätze, er ist high, seine Augen sind ganz glasig. Ich lehne mich gegen die Küchenanrichte und tue so, als gehörte ich hierher. Das ist schließlich, was ich will, sage ich mir selbst. Eine echte Party, die meine Eltern wahnsinnig machen würde.

»Erst sehr spät gestern Nacht«, sagt er. »Wir haben in Chicago gehalten, um was zu essen, und sind den Rest durchgefahren. Marcus wollte lieber das Geld fürs Motel sparen.«

»Du hättest gleich heute früh anrufen müssen«, jammert Ash.

Er legt ihr den Arm um die Schulter. Ist er ihr Freund? Sie hat uns noch nicht vorgestellt, ich habe also keine Ahnung.

»Ich bin doch erst vor einer Stunde aufgewacht«, sagt Harley lachend. »Sonst hätte ich längst angerufen.« Seine Augen werden schmal. »Hast du Lamar schon getroffen?«

»Nein. Hab ich auch nicht vor.«

»Tonya sagt, sie hat ihn gestern Abend mit Kelly im Einkaufszentrum gesehen.«

»Gut für Kelly. Kann’s gar nicht erwarten, dass Lamar sie genauso abserviert wie Alex.«

Harley. Marcus. Tonya. Kelly. Lamar. Alex.

Wer zur Hölle sind all diese Leute? Ich stehe noch immer an der Anrichte, und mir wird immer unbehaglicher zumute, während Ashleigh und ihr Möglicherweise-Freund wild mit Namen um sich werfen.

Ich schaue mich in der Küche um. Ash und Harley reden weiter über ihre Freunde, streiten fast. Eigentlich egal, ich bin ja nicht hier, um mir Klatsch und Tratsch anzuhören. Ich hab’s satt, nur passiv zu sein, mich kontrollieren zu lassen. In den vergangenen drei Jahren habe ich getan, was mir gesagt wurde. Die Schulfächer gewählt, die mir empfohlen wurden, hab den Job angenommen, den meine Eltern für mich organisiert hatten.

Und was bekomme ich dafür?

Weitere vier Jahre auf mein eigentliches Strafmaß. Die Zellentüre wurde zugeschlagen, bevor ich überhaupt einen Fuß nach draußen setzen konnte. Ich schiele zum Bier. Ich könnte mich betrinken, aber das wäre zu einfach. Ich könnte mich bekiffen, aber das ist zu gefährlich. Ich muss irgendwas zwischen betrunken und bekifft finden, das mich glücklich und meine Eltern wütend macht.

Eine Bewegung erregt meine Aufmerksamkeit, ich drehe mich um und sehe einen attraktiven Typen, der im Türrahmen stehen bleibt und sich anlehnt. Er hat blaue Augen, das dunkelste Blau, das ich je gesehen habe. Unglaubliche Augen. Die Braue über dem linken hat eine Lücke. Von hier aus würde ich schätzen, es ist eine Narbe. Oder ein Zupfunfall, aber er wirkt nicht gerade wie der Typ Mann, der sich mit so was aufhalten würde.

An seinem Kinn sind dunkelblonde Bartstoppeln, weshalb er älter aussieht als die meisten anderen Jungs hier. Die Jungs in der Küche, inklusive Harley, haben keine Spur von Bartwuchs. Und sie sind nicht im Entferntesten so groß wie Blue Eyes. Geschweige denn so muskulös oder gut aussehend.

Er. Ihn brauche ich. Einen Bad Boy, der mich in ein gefährliches Abenteuer entführt.

Ein Gefühl von Macht durchfährt mich. Das würde meine Eltern wütender machen als alles andere. Alle Kids trinken Alkohol, aber mit einem absolut Unbekannten rummachen? Meine so anständige Mutter würde durchdrehen.

Innerlich reibe ich mir schadenfreudig die Hände und fange an zu planen. Er sucht keinen Blickkontakt mit mir, aber auch mit niemandem sonst – weder mit Jungs noch Mädels. Er hält sich nicht direkt von den anderen fern, aber trotzdem ist da ein gewisser Abstand. Als hätten sie Angst, auf ihn zuzugehen. Er hat eine Aura aus Coolness und Ausgeglichenheit.

So ziemlich das Gegenteil von meiner.

Ich schaue an mir hinab. Ein knappes gelbes Haltertop, das meine Brüste trotzdem ausreichend abschirmt, dazu eine zerschlissene Jeans, deren Reißverschluss nicht offen steht. Ich bin definitiv nicht das hübscheste Mädchen hier, aber er ist allein und ich auch.

Mal ganz davon abgesehen: Selbst wenn er Nein sagt, ist das ja kein Weltuntergang. Ich werde ihn eh nie wiedersehen. Und ich bin schließlich heute hergekommen, um etwas zu machen, was ich sonst nicht tun würde. Um mal einen Eindruck vom echten Leben zu bekommen.

»Wen hast du denn da mitgebracht?«

Ich zucke beim Klang von Harleys Stimme zusammen. Er hat mich endlich bemerkt. »Hey«, sage ich und reiße den Blick von Blue Eyes los, um Harley anzulächeln. »Ich bin Beth.«

»Harley.« Er lässt Ashleigh los und kommt zu mir, um mich zu umarmen. Harley steht offenbar aufs Umarmen. »Schön, dich kennenzulernen. Lust zu kiffen?«

»Äh, vielleicht später?«, sage ich beiläufig und hoffe, dass er nicht sieht, wie rot meine Wangen werden, weil ich noch nie in meinem Leben gekifft habe.

»Ja, warten wir damit noch etwas«, stimmt Ash mir zu meiner Erleichterung zu. »Lass uns erst mal tanzen.« Sie stellt sich neben mich und hakt sich bei mir unter.

Tanzen? Ich schiele zur Tür, aber Blue Eyes ist weg. Enttäuschung überkommt mich. Wo er wohl hin ist? Vielleicht will er ja auch tanzen – ähm, nein. Er wirkte nicht gerade wie der Typ, der sich zu Technoklängen bewegen würde. Dafür machte er einen viel zu krassen Eindruck. Außerdem tanzen die wenigsten Jungs. Sie halten sich für viel zu cool dafür.

»Komm«, sagt Ash und zieht mich mit.

Ich stelle Blue Eyes zurück. Erst tanze ich mit Ashleigh, dann mache ich mich an ihn ran. Ich lasse mich von meiner neuen Freundin ins Wohnzimmer mitnehmen, wo die Musik lauter und die Luft wärmer ist. Ich fange an zu schwitzen, aber das ist nicht schlimm, das tun alle anderen auch. Ash stupst mich mit ihrem Hintern an, wir lachen und schleudern dann unsere Haare rum und tanzen, bis wir nicht mehr können.

Genau so hatte ich mir das vorgestellt. Spaß haben und mich gut und jung fühlen und nicht darüber nachdenken müssen, was für ein Witz mein Leben ist. Eigentlich habe ich gar kein Leben. Ich darf nicht auf Partys, nur Freunde besuchen und auch nur, wenn ihre Eltern zu Hause sind. Allein heute mit Scarlett herumzukurven war schon eine ziemliche Übertretung. Scars Eltern wissen das – meine Eltern haben diese Regeln unmissverständlich und peinlichst herumposaunt. Ich glaube, Scars Mom hat Mitleid mit mir. Deshalb hat Mrs Holmes auch so getan, als hätte sie nicht gesehen, dass wir aufgebrochen sind. Und dafür liebe ich sie.

Und ich liebe es hier. Die Musik, den Lärm, dieses Zimmer voller Fremder, die mich alle nicht kennen. Niemand weiß von Rachel. Niemand hat Mitleid mit mir. Niemanden interessiert es.

Ich werfe die Haare zurück und stoße noch einmal mit der Hüfte gegen Ash. Dann stolpere ich, weil ich Blue Eyes wiederentdecke.

Das muss Schicksal sein. Wir sollten uns an diesem Abend begegnen.

Er geht zur L-förmigen Couch und lehnt sich zu einem stämmigen Typen in einem roten T-Shirt. Seine Haare sind etwas länger, als sie vorhin wirkten, fallen in luftigen Locken um seine Ohren und ihm in die Stirn. Sie haben fast dieselbe Farbe wie meine.

Ich fasse nach Ashs Arm. »Wer ist das?«

»Was?«, ruft sie, um die Musik zu übertönen.

Ich muss mit dem Mund ganz nah an ihr Ohr. »Wer ist das?«, wiederhole ich lauter. »Der Typ da beim Sofa.«

Sie legt die Stirn in Falten. »Welcher?«

Ich sehe mich um und muss ein Stöhnen unterdrücken. Er ist schon wieder weg! Wie ist das möglich? Der Typ ist ja ein regelrechter Ninja, im einen Moment da, im nächsten weg. Diesmal lasse ich ihn aber nicht entwischen.

»Ich geh mal eben aufs Klo«, verkünde ich Ashleigh.

Sie nickt nur und tanzt mit jemand anderem weiter. Ich schiebe mich durch die Menge und aus dem Wohnzimmer hinaus. Blue Eyes lehnt im Türrahmen zur Küche.

Ich hole tief Luft und zwinge mich, weiterzugehen. Dabei hab ich noch nie in meinem Leben einen Typen angesprochen. Das kann ja nur ein Desaster werden.

Auf einem Tischchen stehen Schnapsgläser. Ich nehme mir eins und stürze den Inhalt hinunter. Der Schnaps brennt mir im Hals. Ich muss mir die Hand vor den Mund halten, damit ich nicht laut huste. Über dieser Geste begegnen sich unsere Blicke.

Mit einem Mut, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn habe, greife ich nach zwei weiteren der Schnäpse und gehe damit zu ihm.

»Du siehst aus, als könntest du so einen vertragen«, sage ich und biete ihm einen an.

Er nimmt ihn entgegen. »Und du siehst aus, als wäre das der erste Schnaps gewesen, den du je getrunken hast.«

Was bin ich froh, dass es hier so schummrig ist, denn so kann niemand sehen, dass ich rot werde. »Ach, was. Ich hab schon ein paar intus«, schwindele ich.

»Aha«, sagt er, bevor er das Glas an die Lippen setzt. Er kippt den Schnaps in einem Zug runter und steckt sich das leere Glas in die Hosentasche. Mein Blick ist seiner Hand gefolgt und wandert nun wieder zu seinem Gesicht, auf dem ein irritierter Ausdruck liegt.

»Weißt du, wer ich bin?«, fragt er.

Ich fahre mir mit der Zunge über die Unterlippe, weil ich nicht weiß, was ich darauf antworten soll. Ist er berühmt? Ich will ja nicht uncool wirken. »Klar.« Ich zucke so beiläufig wie möglich mit den Schultern. »Das weiß doch jeder hier, oder?«

Ein Schatten huscht über sein Gesicht. »Ja, vermutlich. Trotzdem sprichst du mit mir. Und bringst mir was zu trinken.« Er tippt gegen das Glas.

»Ich meinte das ernst, du sahst aus, als könntest du einen Schnaps brauchen.«

Er reibt sich mit einer Hand übers Gesicht. Der Schatten ist weg, jetzt sieht er einfach nur müde aus. »Damit hast du vermutlich sogar recht. Und, warum bist du hier? Lust auf ein Abenteuer?«

Das Letzte fragt er voller Spott. Intuitiv weiß ich, dass die Wahrheit – dass ich nur hier bin, um gegen meine Eltern zu rebellieren – nicht meine Freundin ist und nur dazu führen wird, dass er so schnell wie möglich die Biege macht, und das will ich unter keinen Umständen.

Nicht, weil ich glaube, dass er der beste Weg ist, um meine Eltern zu ärgern, sondern weil ich ihn wirklich interessant finde. Weil ich ihn kennenlernen möchte. Weil ich möchte, dass er mich kennenlernen möchte.

Den wahren Grund will ich nicht verraten, aber ehrlich kann ich ja trotzdem sein, auch wenn es peinlich ist. »Ist es so ungewöhnlich, jemandem, den man echt heiß findet, einen Schnaps zu bringen? Ich hab vorhin schon mal versucht, dich auf mich aufmerksam zu machen, aber da bist du einfach verschwunden. Jetzt hast du allein hier gestanden, da hab ich’s einfach gewagt. Wenn das in deinen Augen schon abenteuerlich ist, dann kommst du wohl nicht oft vor die Tür.«

Er legt den Kopf schief. »Ist das ein Witz?«

»Ja. Und offenbar kein guter, du lachst nämlich nicht.« Ich starre auf den Schnaps in meiner Hand. Das ist ja mal mächtig in die Hose gegangen, schlimmer, als ich es für möglich gehalten hätte.

Er seufzt. »Das liegt daran, dass es mit meiner Sozialkompetenz nicht weit her ist. Witz oder nicht, wir wissen beide, dass ich in den letzten drei Jahren nicht oft vor die Tür gekommen bin.«

Ich habe keinen blassen Schimmer, was er mir damit sagen will, aber ich hab schließlich schon behauptet, alles über ihn zu wissen, da kann ich ja jetzt schlecht um eine Erklärung bitten. »Heißt das, ich soll lieber gehen?«

»Nein, bleib.« Seine Mundwinkel heben sich ein bisschen. »Ich sag’s ganz ehrlich, das tut meinem Ego ziemlich gut.«

»Meinem jetzt nicht so unbedingt«, gebe ich ein bisschen zerknirscht zu.

Sein Lächeln wächst sich aus, und mir bleibt die Spucke weg, so unfassbar gut sieht er aus.

»Ich glaube, es hat mich noch nie ein so hübsches Mädchen wie du angesprochen.«

Mein Herz setzt aus, und ich bin völlig sprachlos, mir fällt darauf rein gar nichts Geistreiches ein.

Er lässt verlegen den Kopf hängen. »Zu schmalzig?«

Ich finde meine Stimme wieder. »Zu schön. Mir schwillt so sehr die Brust, dass ich nicht mehr ins Haus passe.«

»Dann lass uns rausgehen.«

»Im Ernst?« Meine Augen werden groß. »Wohin?«

»Einfach nur raus. Ich bin gern draußen.«

»Ich auch.«

Er hält mir die Hand hin. Meine gleitet nur zu leicht hinein. Seine langen Finger schließen sich darum. Seine harte Handfläche liegt an meiner. Wir stellen die Schnapsgläser im Vorbeigehen auf einen der Tische. Ich brauche gerade keinen Alkohol. Ich halte Händchen mit dem heißesten Typen dieses Planeten, ich habe das Gefühl, ich schwebe.

Wir fädeln uns durch die Menge. Ein paar Leute glotzen. Ich recke das Kinn in die Luft. Yeah, ich hab diesen Hottie abgegriffen.

Draußen wird erst der Lärm weniger, dann die Anzahl der Menschen. Er führt mich über die Terrasse bis zu einem kleinen Schuppen.

»Versteckst du hier die Leichen?«, scherze ich.

Er bleibt ganz plötzlich stehen. »Du hast einen ziemlich schwarzen Humor.«

Sofort muss ich an das hysterische Lachen denken, das mir während Rachels Beerdigung die Kehle hinaufgeblubbert ist. Und wie ich das Gesicht in meinem Schal vergraben habe, um zu verhindern, dass es irgendwer mitbekommt. Alle dachten, ich weine. Aber das war kein schwarzer Humor, sondern ein Abwehrmechanismus.

»Ich lache lieber, als zu weinen«, gestehe ich. »Ich weine viel zu leicht. Eins der Dinge, die ich an mir hasse.«

Er lässt sich aufs Gras sinken. »Keine schlechte Idee, lieber zu lachen, als zu weinen.«

»Ich wünschte, ich hätte mehr Macht über meine Tränen. Es ist echt frustrierend, wenn ich wütend bin und alle glauben, ich weine.« Ich plumpse neben ihn und frage mich ernsthaft, warum ich ihm das überhaupt erzähle. Schnell verstumme ich und lausche den Grillen, die mit ihrem Zirpen sogar gegen die Musik ankommen, die im Hintergrund läuft.

»Hast du einen Namen?«, fragt er.

»Ich heiße Beth.«

Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar. Dabei entgehen mir die Muskeln an seinem Oberarm nicht. Sie sind extrem ausdefiniert.

»Ich bin Chase.« Er schaut mich direkt an. »Und ich habe immer noch das Gefühl, dass du hier nicht mit mir sitzen solltest.«

»Du zwingst mich ja nicht. Ich bin ganz freiwillig da«, betone ich. »Soll ich lieber gehen?«

»Nein.« Er seufzt noch einmal, unter seinem dünnen T-Shirt zeichnet sich sein perfekter Körper ab.

Guter Gott, darf man überhaupt so atemberaubend aussehen?

»Schön hier draußen, oder?«

Ich schaue zum Himmel und dann in Chases Gesicht, das immer noch nach oben gewandt ist. Die Nacht ist bewölkt, man kann den Mond kaum sehen, geschweige denn die Sterne. »Joa.« Er ist schön. Aber der Himmel? Na ja.

Er lacht leise. »Meinetwegen könnte es eimerweise regnen, ich wäre trotzdem glücklich.«

»Ich auch.« Weil ich mit dir hier bin, denke ich. So mit mir im Reinen habe ich mich seit Wochen nicht gefühlt. Vielleicht sogar seit Monaten. Der Streit mit meiner Mutter kommt mir wie eine angestaubte Erinnerung vor.

Seine Hand liegt flach zwischen uns auf der Wiese. Ich lege meine daneben, sodass unsere kleinen Finger sich berühren.

»Du hast ziemlich lange Finger.«

Er senkt den Blick vom Himmel auf unsere Hände. »Vielleicht sind deine auch nur außerordentlich kurz.«

»Meine Hände sind normal groß.«

»Zeig mal.« Er legt seine Hand über meine, die darunter komplett verschwindet.

Mein Herz schlägt wie verrückt, und mein Mund ist plötzlich ganz trocken. Außerdem fängt es an Stellen meines Körpers an zu kribbeln, von denen ich nicht wusste, dass sie überhaupt kribbeln können.

»Küsst du mich jetzt?«, platze ich heraus.

Wieder dieses umwerfende Lächeln. »Yeah, ich glaube schon. Wäre das okay für dich?«

Ich nicke.

»Mein letzter Kuss ist ziemlich lange her«, gesteht er.

Seine Ehrlichkeit trifft mich unvorbereitet. »Meiner auch.«

»Gut.« Er streift mir eine Strähne hinters Ohr. Kommt näher. »Dann können wir uns ja gemeinsam blamieren. Sag mir, wenn ich was falsch mache.«

Er streichelt mir über die Wange, sanft. Ganz langsam nähern sich seine Lippen, bis unsere Münder aufeinandertreffen.

 

3. Kapitel

Chase rollt sich auf die Seite. Er greift nach etwas auf dem Nachttisch des Zimmers, in dem wir gelandet sind. Ein Feuerzeug zischt. Ich starre an die Decke, während mir Rauch in die Nase dringt. Er nimmt einen tiefen Zug und dreht sich wieder auf den Rücken. Das Baumwolllaken bedeckt ihn nur bis zum Bauchnabel. Sein Oberkörper ist nackt.

Ich hingegen hab mich in dem Moment angezogen, in dem es vorbei war. Jetzt jagen sich die Gedanken so schnell durch meinen Kopf, dass ich wie gelähmt daliege. Was soll ich als Nächstes machen?

Was habe ich da überhaupt gemacht? Mein Körper brennt vor Scham, und mein Herz schlägt heftiger als der Bass, der immer noch das Haus zum Zittern bringt.

Chase zieht noch einmal an der Zigarette. Er macht den Eindruck, als wäre das gerade keine große Sache gewesen. Vielleicht war es das für ihn auch nicht. Wahrscheinlich nicht. Ich kann mir gut vorstellen, dass er auf Partys mit Heerscharen von Mädels schläft.

Ich hab ihm nicht gesagt, dass ich noch Jungfrau war.

Ich …

»Ich muss gehen«, sage ich und springe auf.

Er erwidert nichts. Nicht mal meinen Blick. Darüber bin ich sogar ziemlich erleichtert, ich will nicht, dass er die Scham in meinen Augen sieht.

Erst als ich die Hand schon am Türknauf habe, sagt er etwas.

»Wo ist dein Handy?«

Ich fahre herum, unsere Blicke treffen sich doch noch. Seine Miene verrät nichts. Auf seiner Brust ist immer noch ein leichter Schweißfilm von … Ich reiße mich los.

»In meiner Handtasche«, murmle ich. »Wieso?«

»Hol’s mal raus.«

Ich kann diesem Typen nichts abschlagen. Mit feuerrotem Gesicht fische ich mein Handy aus der Tasche und warte.

Er rasselt seine Nummer herunter.

Ich starre ihn an, bin immer noch wie geblendet von ihm. Und mein Körper, obwohl er schmerzt, reagiert beim Anblick seines Sixpacks.

»Speichere die Nummer.« Sein Ton ist rau. »Und schreib mir, wenn du gut bei deiner Freundin angekommen bist.«

Ich kann nur weiterstarren.

»Beth«, sagt er, und dann finde ich endlich meine Stimme wieder.

»Wiederholst du sie noch mal?«, flüstere ich.

Also macht er genau das, und ich tippe die Zahlen pflichtschuldigst in mein Handy.

»Und melde dich, falls du mal meine Hilfe brauchst«, sagt er irgendwie schroff.

Ich nicke, dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass auch er weiß, dass er – abgesehen von der SMS, wenn ich sicher bei Scarlett angekommen bin – nie, nie, nie wieder von mir hören wird.

 

4. Kapitel

Morgen ist wieder Schule. Der erste Tag meines letzten Schuljahres, und ich sollte eigentlich jubeln. Nur noch ein Jahr, das ich unter diesem Dach zubringen muss. Ein Jahr, bis ich auf das College gehe, auf das ich will, und endlich frei bin von der ewigen Kontrolle meiner Eltern.

Gerade lassen sie mich auch wieder nicht aus den Augen. Sie haben Fragen. Die Luft ist schwer. Moms Enttäuschung und Dads Frustration und Verbitterung haben sich zu einer schwarzen Gewitterwolke zusammengezogen, die wie Rauch an der Decke hängt, wenn etwas in der Pfanne angebrannt ist.

Ich versuche, mich normal zu verhalten. Als hätte ich gestern Nacht nicht Dinge getan, die ich bitter bereue. Dinge, die ich nicht Scarlett, nicht meinen Eltern, nicht mal mir selbst eingestehen möchte. Seit ich heute Morgen die Augen aufgeschlagen habe, zwinge ich mich dazu, nicht an Chase zu denken. Aber es fällt mir unglaublich schwer. Und wenn sich doch ein Gedanke heraufwagt, dann will ich nur weinen.

Ich hatte gestern zum ersten Mal Sex. Ich wollte es, und Spaß hat es mir auch gemacht. Wirklich – in dem Moment. Aber es dauerte nicht lange, bis der Schein nachließ. Bis der Kitzel, etwas Neues, Aufregendes und Rebellisches getan zu haben, von knochentiefer Scham ersetzt wurde.

Mein erstes Mal war mit einem Fremden. Ein One-Night-Stand.

Was mache ich jetzt damit? Ich komme mit dieser Sache selbst noch gar nicht klar, und ich wünschte, meine Eltern würden aufhören, mich so anzustarren. Ich kriege langsam Angst, dass sie, wenn sie nur lange genug so weiterstarren, meine Gedanken lesen können.

»War es schön bei Scarlett?«, fragt Mom und bricht damit das Schweigen.

Der Klang ihrer Stimme weckt einen Schmerz auf meiner Wange. Sie hat mich gestern geschlagen. Und sie tut so, als hätte sie das vergessen. Vielleicht will sie sich lieber nicht erinnern. Oder hofft, dass ich mich nicht erinnere. Netter Versuch.

»Lizzie?«, hakt sie nach. »War’s schön?«

»Ja.« Ich schiebe die gedünstete Zucchini an den Tellerrand. Scarlett hat schon geschlafen, als ich zu ihr ins Bett gekrabbelt bin. Morgens hab ich kaum ein Wort gesagt. Sie hat versucht, mir so allerhand über die Party aus der Nase zu ziehen, aber ich habe nur vage geantwortet. Ich wollte nicht, dass Scarlett erfährt, dass ich mit einem heißen Typen auf einer x-beliebigen Party in die Kiste gesprungen bin. Das ist mir viel zu peinlich.

»Und was habt ihr gemacht?«

Meine Gabel erstarrt auf ihrem Weg an den Rand, der blassgrüne Halbmond hängt noch an einer Zacke. Diese Art Frage stellen Eltern nur, wenn sie misstrauisch sind und dich beim Lügen erwischen wollen. Je weniger man sagt, desto besser. »Was man so macht.«

Ich zwinge mich, meine Hand weiterzubewegen. So zu tun, als hätte sich mein Herzschlag nicht plötzlich verdoppelt, als wäre ich nicht plötzlich von Angst erfüllt.

»Zum Beispiel?« Moms Ton ist leicht, nicht bohrend.

»Nichts anderes als sonst auch.«

Schweigen. Mir wird klar, dass sie etwas wissen müssen und auf ein Geständnis warten. Ich halte den Blick auf den Teller gesenkt.

Als Nächstes werden die Pilze abgeschoben. Ich hasse Pilze! Schon immer, aber Mom kocht ständig damit.

Pilze waren Rachels Leibspeise.

Papierrascheln. Aus dem Augenwinkel sehe ich etwas Weißes. Ich will nicht hinschauen, kann aber nicht anders.

»Weißt du, was das ist?« Jetzt ist Dad an der Reihe mit dem Fragen.

Das ist ihre typische Routine. Mom tut, als wäre sie besorgt, und wenn ich nicht sofort Reue zeige, übernimmt Dad mit strenger Stimme und noch strengeren Fragen.

»Nein.« Das immerhin ist die Wahrheit.

»Das ist ein Ausdruck deiner SMS.«

»Wie bitte?« Mir fällt die Kinnlade runter, und ich reiße ihm die Blätter aus der Hand. Ungläubig überfliege ich die Seiten. Entweder hab ich gerade Halluzinationen oder aber ich lese wahrhaftig eine Kopie der Nachrichten, die ich gestern mit Scar ausgetauscht habe, als ich von der Party aufgebrochen bin.

217-555-2956: Wie ist die Party? Alles okay?

217-555-5298: Alles okay. Party ist super. Bin auf dem Heimweg. Taxi.

217-555-5298: Haben meine Eltern angerufen?

217-555-2956: Nein.

217-555-5298: Okay. Falls sie’s noch machen, weißt du, was zu tun ist.

217-555-5298: Bin gut angekommen.

Mir wird schlecht. Die letzte Nachricht ging an Chase. Ich weine fast vor Erleichterung, dass ich nichts Entlarvendes geschrieben habe.

Ich blättere durch die anderen Nachrichten.

217-555-2956: Heute Party?

217-555-5298: Unbedingt.

217-555-2956: Und deine Eltern?

217-555-5298: Ich sage, ich muss arbeiten.

Wut, Angst und Frust wirbeln mir durch den Kopf. Ich weiß nicht mal, was ich sagen soll. Und gleichzeitig denke ich Gott sei Dank! Gott sei Dank habe ich Scarlett nichts von Chase geschrieben oder von meinem ersten Mal. Gott sei Dank habe ich gegenüber Chase nichts davon erwähnt. Allein beim Gedanken, dass meine Eltern das herausgefunden haben könnten und dann auch noch in einer SMS, wird mir übel.

»Ich fasse es nicht, ihr spioniert mir nach?« Ich knalle die Blätter auf den Tisch. Ungewollte Tränen steigen mir in die Augen. »Ihr habt kein Recht darauf, meine SMS zu lesen!«

»Ich zahle schließlich für dein Handy«, dröhnt Dad.

»Dann zahle ich ab heute selbst dafür!« Ich springe auf.

Dad greift nach meinem Handgelenk. »Setz dich sofort wieder hin, wir sind noch nicht fertig.«

Sein Blick verdeutlicht, dass ich mich besser freiwillig setze, sonst sorgt er anderweitig dafür. Er war früher eigentlich nicht so streng. Vor Rachels Tod war er sogar ziemlich locker. Er hat uns die geschmacklosesten Witze erzählt, nur damit wir laut aufstöhnen und uns ekeln. Ich glaube, er weiß gar nicht mehr, wie man lächelt.

Ich schlucke, versuche, all meinen Mut zusammenzunehmen, aber er reicht nicht. Also setze ich mich.

»Wir sind gar nicht so sehr enttäuscht von dem, was du tust«, sagt Mom, »sondern darüber, dass du uns anlügst. Wir können dir einfach nicht trauen.«

»Deshalb streichen wir dir das Auto«, fügt Dad hinzu.

»Mein Auto?« Ich starre sie an. Mein Auto ist eins der wenigen Dinge, die mir ein kleines bisschen Freiheit ermöglichen. Ich habe Moms alten Kleinwagen bekommen, als ich frisch den Führerschein hatte. Meinetwegen hätte ich auch den Bus nehmen oder laufen können, aber meine Eltern fanden, ich bin hinterm Steuer sicherer als an Bushaltestellen und Zebrastreifen.

Rachel war zu Fuß unterwegs, als sie umkam. Offenbar ist es also für mich am sichersten, wenn ich mich keinem motorisierten Gefährt mehr als fünf Schritte nähere.

Himmel, was klinge ich verbittert. Ich hasse es, wenn ich so was denke, ganz besonders weil ich weiß, dass meine Eltern keine schlechten Menschen sind. Sie haben Rachels Tod einfach noch nicht überwunden. Ich bezweifle, dass sie ihn je überwinden werden – außer sie gehen in Therapie, aber das lehnen sie strikt ab. Als ich das mal vorschlug, informierte mich Mom, dass jeder anders trauere, stand auf und verließ das Zimmer.

Aber ich werde hier das Opfer ihrer nicht enden wollenden Trauer, und ich bin verbittert. Und jetzt nehmen sie mir auch noch das Auto?

In meinem Auto kann ich die Musik laut aufdrehen, kann fluchen, kann all meinen Frust rauslassen. Das zu verlieren wäre wirklich schrecklich.

Verzweifelt suche ich nach Gründen, um ihnen klarzumachen, dass das falsch ist. »Wie komme ich denn dann zur Arbeit? Oder zum Tierheim?« Seit einem Jahr helfe ich zweimal im Monat ehrenamtlich im Tierheim. Rachels Tierhaarallergie machte Haustiere unmöglich, aber selbst jetzt gilt noch eine strenge Kein-Tier-Politik. Nur durch das Ehrenamt kann ich Hunden nah sein, die – meiner Meinung nach – tausendmal besser sind als Menschen.

Mom weicht meinem Blick aus. Dad räuspert sich. »Gar nicht mehr. Wir haben deinen Chef im Ice Cream Shoppe und Sandy im Tierheim darüber informiert, dass du zu viel für die Schule zu tun hast und deshalb keine Zeit mehr für Arbeit oder Ehrenamt.«