Operation Kopfschere - Jens Holger Fidelak - E-Book

Operation Kopfschere E-Book

Jens Holger Fidelak

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Beschreibung

Sie wissen was eine Kopfschere ist? Nein? Damit sind sie zum Glück nicht allein. Auch der israelische Geheimdienst, der sagenumwobene Mossad, ist anfangs komplett ratlos. Die junge Agentin Beth Weiz trifft in Deutschland zufällig auf den midlifekriselnden Marcel Ranke und seine Kumpels aus dem Studium. Sie wird Ohrenzeugin eines seltsamen Gespräches. Was zunächst nach einer Petitesse aussieht, wird bei näherer Betrachtung zu einer internationalen Affäre. In Tel Aviv entschließt man sich zum Handeln. Der Autor nimmt seine Leser mit auf einen Parforceritt von Missverständnissen, Mutmaßungen, irrwitzigen Zufällen. Ganz nebenbei erzählt er eine Kindheit und Jugend in der DDR und schafft dreißig Jahre nach dem Mauerfall einen Wenderoman, der in seiner Authentizität und Unschuld berührt. Mit "Operation Kopfschere" erscheint der dritte eigenständige Band der Familiensaga über die Rankes.

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Jens Holger Fidelak

Operation Kopfschere

Roman

© 2019 Jens Holger Fidelak

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-4616-3

Hardcover:

978-3-7497-4617-0

e-Book:

978-3-7497-4618-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Kid und den Neffen

Operation Kopfschere

Der hässliche, mausgraue Fußbodenbelag war abgelaufen und an manchen Stellen fleckig. Es war viel zu warm. Draußen war das Blattwerk der Bäume mit Staub überzogen. Die graugelben Blätter in den Kronen lechzten nach Regen. Ich zog mein dunkelblaues Jackett aus, hing es über die Lehne des freien Stuhles neben mir. Niemand war mehr auf dem Gang zu sehen. Manchmal klingelte ein Telefon hinter irgendeiner der geschlossenen Türen des Gerichtes. Mein Blick fixierte den hinter einer Plastikfolie angebrachten Zettel der gegenüberliegenden Tür. „ Verhandlung. Bitte Ruhe!“, stand da in fetten, schwarzen Druckbuchstaben. Hinter der Tür ging es heute um viel. Es ging um das Schicksal eines Mannes. Es ging darum, ob die Mühen des letzten halben Jahres umsonst waren oder nicht. Darum, ob sich die Puzzleteile unseres Planes zusammenfügen, alles vergeblich war oder wir am Ende zusammen knietief in der Scheiße auf den Abgrund zu wateten.

Der Klimawandel zeigte bereits Wirkung im Leben meines Cousins, lange bevor kleine Schwedinnen weltweit zum Schule schwänzen am Freitag aufriefen. Insbesondere das Klima seiner Beziehung zu Johanna hatte sich schon vor Jahren gewandelt. Vom stabilen Kontinentalklima mit vorhersehbaren Stimmungswechseln je nach Jahreszeiten, hin zu einer unberechenbaren Abfolge von Gewittern, Stürmen und teils heftigen Orkanen. Inwieweit die beiden selbst verschuldet den Klimawandel herbeiführten? Um diese Frage zu beantworteten, fehlte zumindest Marcel das neurologische Grundgerüst oder, wie er es selbst formulierte, ein X- Chromosom. Immerhin war er sich sicher, dass die frühere ausschließlich feminine Benennung der Tiefdruckgebiete in der Meteorologie kein Zufall gewesen sein konnte. Tief Johanna lag schon nach wenigen Jahren schwer über dem ehelichen Kontinent und Hoch Marcel verkümmerte zusehends. Umso eindrucksvoller pflegte Johanna, seinen Anteil am Klimawandel im Hause Ranke hervorzuheben. Da trösteten ihn auch die mahnenden Worte seines Freundes Swen nicht, dass Männer und Frauen den Begriff Wechseljahre zunehmend unterschiedlich definierten.

Trennung ist wie Urlaub, dachte Marcel und trank aus seiner Bierbüchse. Man hat seine Ruhe. Alle Sorgen sind auf Reisen und mit sich selbst beschäftigt. Seit er und seine Frau nicht mehr kommunizierten, waren die Probleme nicht mehr präsent, fasste er für sich seine Situation zusammen. Für meinen Cousin stand daher fest: Frauen? Nur noch ambulant. Nicht mehr stationär. Das Leidige an Urlauben war aber auch, zumindest ging es Marcel spätestens nach drei Wochen so, dass man irgendwann wieder nach Hause wollte. Nur ein solches gab es für ihn nicht mehr. Sehnsucht nach den Kindern. Auch so eine typische Urlaubserscheinung. Normalerweise kam er jetzt immer an den Punkt, sich im Selbstmitleid zu baden und sein Beziehungsverhalten zu reuen. In Ansätzen. Doch seit Johanna den Scheidungsprozess, nicht zuletzt mit Blick auf die endgültige Gütertrennung anstrebte, war sein Glauben an Gerechtigkeit und Rechtsstaat dahin. Dabei wollten sie doch ursprünglich wegen der Kinder trotz Trennung verheiratet bleiben. So war die gemeinsame Abmachung, auf Initiative Johannas wohlbemerkt, vor fünf Jahren gewesen. Weshalb sie ihm trotzdem das Umgangsrecht einschränkte, wo und wann sie nur konnte, ließ sie in der geheimnisvollen Schwebe, auf der nach Marcels Empfinden nur Frauen ihre widersprüchlichen und unlogischen Gedanken vor sich hertragen konnten, als wären es unumstößliche Gesetzmäßigkeiten. Das Schreiben ihrer Anwältin verstand er sowieso nur zur Hälfte. Aber was mit seiner Hälfte des gemeinsamen Vermögens passieren sollte, immerhin knapp 600 000 Euro, kapierte selbst er beim ersten Lesen. Es sollte ihn nämlich genauso verlassen, wie zuvor Johanna mit den Zwillingen. Fassungslos machte ihn die Begründung der feinen Dame. Er hätte sie über Jahre angelogen und betrogen, dabei gesellschaftlich isoliert und um ihre Karrierechancen gebracht. Machten das nicht alle mal in einer Beziehung? Fünfzehn Jahre an Johannas Seite waren nicht nur Zuckerschlecken. Jedenfalls hatte ihm dann sein Anwalt eröffnet, dass der Zugewinnausgleich in einer Ehe bei besonderen Härten entfalle. Irgend so ein Juristenscheiß, den er noch weniger verstand, als das Geschreibe der unbefriedigten Furie von Rechtsanwältin, die sich um Johannas und das Kinderwohl kümmerte, wie sie stets betonte. Nur dass er seinen Anwalt für diese unverständliche Nummer noch bezahlen durfte. Fakt war jedenfalls, wenn Johanna die Klage nicht zurückzog, stand er vor dem Ruin. So oder so. Sie habe ihm vertraut und er hätte ihr gegenüber behauptet hochbegabt zu sein. Daraufhin sei sie von der eigenen Karriereplanung zurückgetreten, um ihm den Rücken freizuhalten und die Kinder aufzuziehen. Ironischerweise bezifferte sie den so entstandenen Verlust genau auf die Hälfte ihres gemeinsamen Vermögens. Und in Deutschland gab es Richter, die diesen Mist mitmachten. Anstatt sich mal um die richtigen Probleme im Land zu kümmern. Davon gab es seit Merkels Geniestreich mit den Flüchtlingen ja wohl mehr als genug. Aber nein! Er, der anständige Bürger Marcel Ranke, wurde für jedes noch so kleine Vergehen zur Kasse gebeten. Ob zehn Kilometer pro Stunde zu schnell auf der Autobahn oder beim Fahren in der Straßenbahn mit einem Ticket, das nur in eine bestimmte Zone des Nahverkehrs reichte. Jedes Mal kam man sich vor wie ein Schwerverbrecher, während Nafris und Freunde, Clans und Tralala die deutsche Justiz verarschten. Dass er schon ewig Grün wählte, ehrenamtlich in der Betreuung von Flüchtlingen tätig und überzeugter Demokrat war, interessierte keines von diesen bornierten Arschlöchern. Andere sperrten Autobahnen für einen kleinen Hochzeitskorso und schossen mit scharfer Munition in ihren Kalaschnikows in die Luft. Terrorisierten ganze Wohnviertel. Handelten mit Drogen, Frauen und unterstützten Terrornetzwerke. Wenn er als Deutscher mit dem Fahrrad auf dem Seitenstreifen der Autobahn fahren würde, wäre er hinterher wahrscheinlich vorbestraft. Wenn Marcel einmal richtig in Fahrt kam, fiel ihm manches auf, was im Jahre 2019 in Deutschland mal kritisch hinterfragt werden könnte.

Dabei könnte er mit all dem leben. In guten Momenten begriff er die Trennung von Johanna als Befreiung. Lebte Marcel seinen Traum als Europäer in einer freien Demokratie, engagierte er sich. So ein Mensch durfte doch wohl auch Schwächen haben. Blöd nur, dass eine dieser Schwächen jetzt Mutter aller Sorgen Marcels war. Aber auch da war die Politik am Ende schuld. Wieso durften überhaupt Bulgaren hier heimliche Glücksspielringe und andere mafiöse Strukturen aufziehen und dann noch Schulden eintreiben? Ach es war kompliziert. Wenn er die 600 000 Euro hätte, wäre wieder Frieden in seiner Seele. Boris bekäme seine Kohle und er, Marcel, würde sich Besserung verordnen. Vorher brauchte er aber den Beweis seiner Hochbegabung neu. Die Schwester der Mutter aller Probleme.

Es war ein Donnerstag. Am Abend zuvor waren wir beim Billard. An Eier mit Speck, erinnere ich mich. Die ganze Wohnung roch nach ausgelassenem Speck. Ich machte das Fenster zum Balkon auf. Unten schlug eine Autotür zu. Nicht weiter darauf achtend, schaltete ich den Fernseher ein. Und freute mich darauf, meinen dampfenden Teller, garniert mit ein bisschen Unterschichten TV, in mich rein zu löffeln. Das Pilsner Urquell stand noch vom Nachmittag auf dem Tisch, als ich, meinen Dämonen nachgebend, gleich nach dem Unterricht heimgekommen, ein Sixpack geschnappt hatte und erst mal mit Eurosport entspannte. Eine Flasche war noch zu. Der Kühlschrank zu meiner Beruhigung gut gefüllt.

Das heiße Ei fiel mir zur Hälfte aus dem Mund, als meine Klingel plötzlich läutete. Mit den Fingern las ich die gelbweißen Klumpen vom Tischrand und vom Fußboden auf, schnell noch mal mit der Adilette drüber und dann zur Tür. Wenn ich damals gewusst hätte, was in den nächsten Wochen und Monaten auf mich zukommen würde, wäre ich einfach sitzen geblieben und hätte mein Rührei mit Speck weiter in mich reingeschaufelt. Als ich öffnete, blickte ich in das gehetzte Gesicht eines Mannes, der gerade durch die schweren Zeiten der vermeintlichen Lebensmitte gehen musste. Und dabei erkennbar in sehr schweres Fahrwasser geraten war.

„Komm rein!“, sagte ich zu meinem Cousin Marcel.

Marcel ist hochbegabt! Das hat er schriftlich! Dabei ist mein Cousin Marcel eigentlich nur das Opfer einer Verwechslung. Genauer das Ergebnis, einer als Übersprunghandlung einzuordnenden menschlichen Schwäche, der damals frisch von ihrem Freund in die unwirtliche Welt der Singles zurückgestoßenen Praktikantin Michelle. Bereits am zweiten Tag ihres dreiwöchigen Schnupperpraktikums am privat geführten Institut für Hochbegabtenforschung, unter der Leitung des renommierten Institutionsgründers Professor Kirchner, unterlief ihr der für Marcel so folgenreiche Lapsus. Sie war gerade dabei gewesen, die frisch eingetroffenen Fragebögen alphabetisch zu sortieren und in einer Excel-Tabelle für ihren Chef statistisch aufzubereiten, als das Handy in der Handtasche vibrierte. Erfüllt von der Hoffnung, der Taugenichts Lars habe es sich noch einmal anders überlegt, ließ sie alles fallen und bückte sich nach ihrer Handtasche am rechten Fuß des hölzernen Drehhockers. Ihr Arm streifte dabei die noch dampfende Kaffeetasse neben dem Bildschirm. Mit verheerenden Folgen für Hand, Handtasche und Handy. Und für Marcel. Bis heute weiß Michelle nicht, wer da am anderen Ende der Leitung das Gespräch mit ihr suchte. Mit der gleichen Vehemenz, mit der Polizeimeister Lars sie aus ihrem Leben verbannt hatte, drang jetzt die Feuchtigkeit in ihr Mobiltelefon und löschte einen Großteil ihres digitalen Lebens unwiederbringlich aus. Nicht eines ihrer zweihundertvierundzwanzig Selfies blieb der Nachwelt erhalten. Nicht die fast schon prosaischen Texte der umfangreichen Kommunikation mit ihren Freundinnen. Ja nicht mal die Telefonnummern der engsten Vertrauten konnten, trotz verzweifelter Versuche Michelles, wiederhergestellt werden.

In dieser emotionalen Ausnahmesituation fiel erst ihr zweiter Blick auf die von Kaffee gefluteten, noch nicht im System erfassten Fragebögen aus ökologisch korrektem – darauf legte Kirchner besonderen Wert – braunem Recyclingpapier. Sie war gerade beim Buchstaben „R“ gewesen. Der Testbogen von Ranke, Marcel, der ganz oben gelegen hatte, sah aus wie ein auf alt getrimmter Papyrus. Wellig, schrumpelig, knittrig, mitgenommen und durchnässt, so als wäre eine Kreuzung aus Keith Richards und Iggy Pop gerade am Beckenrand aufgetaucht. Normalerweise hätte sie es witzig gefunden, wenn beim Intelligenztest Idioten auftauchen, die mit Tinte auf das braune Recyclingpapier schrieben. In diesem besonderen Fall jedoch ging die Tinte mit dem Kaffee eine unheilige Allianz ein und löste sich auf wie der Rauch einer Zigarre. Verzweifelt fummelte sie das vollgesogene Etwas vom restlichen Stapel und verhinderte so zunächst Schlimmeres. Doch bei aller Vorsicht – zudem war Eile geboten – das wertvolle Papyrus war für immer verloren. Und Schnupperpraktikantin Michelle hatte plötzlich noch ein Problem. Dieser Scheißkerl Lars (sie flehte noch immer, dass er es wirklich war) versaute ihr jetzt auch noch das Praktikum und so vielleicht ihre ganze Zukunft. Dem war wirklich nichts heilig. Mittlerweile traute sie ihm alles zu. Nicht mit ihr. Angestrengt versuchte Michelle, die letzten Blicke auf Marcels Testbogen zu rekonstruieren. Zunächst vergeblich. Doch dann war ihr irgendwie… Sie starrte auf den Computer. Gott sei Dank! Sie hatte den Rankel, Raffke oder wie der hieß, doch schon längst eingegeben. Fehlte nur noch das Endergebnis. Ein letzter Klick. Den Rest übernahm das System. Wow! Einhundertsechsunddreißig. Na das war doch mal was. Der Maximalwert bei diesem Testverfahren lag bei Einhundertvierzig. Bisher bewegten sich die Topergebnisse zwischen Einhundertfünfzehn und Einhundertzwanzig.

Und so wurde mein Cousin Marcel hochbegabt. Der wirklich hochbegabte, ein gewisser Marcus Ranfke aus Dessau, war für immer aus dem System gelöscht wurden, als Michelle beim hektischen Räumen auf dem Flutgebiet ihres Schreibtisches ein Kugelschreiber auf die Maus gefallen war. Dabei mit einem unabsichtlichen „Rechtsklick“ die Spalte mit dem Namen Ranfke, Marcus blau markierte, ehe ein zärtlicher Kontakt Michelles mit der Löschtaste beim verzweifelten Wischen mit ihrem gebrauchten Tempo über der kaffeebespritzten rechten Tastaturhälfte Marcus Ranfke auf ewig vom Bildschirm verbannte und Ranke, Marcel in besagter Excel-Tabelle automatisch die erste Stufe der Karriereleiter hochrückte.

Diesmal bei vollem Bewusstsein und wohl wissend, was sie da tat, markierte Michelle die ganze Spalte rot, damit sie Professor Kirchner morgen gleich in den Fokus seiner Aufmerksamkeit fallen sollte.

Rausgekommen war die ganze Sache, als der promiskuitive Professor Kirchner vergeblich versuchte, bei Marcel mit einem weiteren Test das außergewöhnliche Ergebnisse zu bestätigen. Mein Cousin entzog sich erfolgreich weiteren Tests. Der misstrauisch gewordene Professor setzte sich auf der Suche nach einer Lösung für das ihn umtreibende Problem deshalb vor das umfangreiche Bildmaterial seiner Überwachungskamera im Labor. Ursprünglich zur Befriedigung seiner niederen Triebe installiert, leistete die unter einem präparierten Lampenschirm versteckte Hikvision DS-2CE56DOT-IRMM Turbo HD in diesem speziellen Fall einen wesentlichen Beitrag zur Aufklärung. Die gestochen scharfen Bilder, die sonst Kirchners Praktikantinnen zu dessen Obsession rund um die Uhr für ihn zugänglich machten, zeigten unmissverständlich das Malheur mit dem Kaffee. Den Rest reimte sich der Professor zusammen. Sein habilitierter Intellekt erfasste schnell, dass diese Art Beweismittel besser nicht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. So beließ er es bei einem persönlichen Brief an Marcel, um diesen von den unglücklichen Umständen zu informieren und er unterstrich den letzten Satz, in dem es hieß: „Somit bleibt also festzuhalten, dass Sie Herr Ranke, trotz des von meinem Institut bereits ausgestellten, anderslautenden Zertifikates, nicht hochbegabt sind.“ Diesen Brief, der mir zufällig bei einem Saufabend in Marcels Wohnung, auf der Suche nach einem Tempotaschentuch in irgendeiner Schublade in die Finger kam, riss mir der Hochbegabte mit mürrischem Blick aus der Hand und verbrannte ihn vor meinen Augen. Knapp sechs Jahre war das jetzt her, glaube ich.

Marcel sah wahrlich nicht gut aus an jenem Donnerstagabend auf meiner Couch. Seine Augenringe - modelliert wie aufgeschnittene Autoreifen. Die Haut blass. Die hellbraunen Augen glänzten wie benutztes Schleifpapier. Wortlos griff er sich das letzte Bier aus dem Sixpack. Ich ließ ihn gewähren, hoffend, dass man mir in einer Ausnahmesituation gegenüber ähnlich verständnisvoll reagierte. Als er das halbleere Bier wieder absetzte, fiel sein Blick auf mein Ei. Stumm reichte ich ihm mit großer Geste meinen Teller. Erschrocken wich er zurück.

„Hau bloß ab. Wenn ich daran denke, dass Sie mir auch immer Rührei mit Speck gemacht hat, könnte ich gleich losheulen.“ Erleichtert zog ich mein Angebot zurück und begann zu genießen. Marcel pfiff sich die andere Bierhälfte in den Hals. Mit vollem Mund deutete ich nur mit der Gabel Richtung Kühlschrank. Der Hochbegabte verstand erst beim zweiten Mal. Dann setzte er sich aber in Bewegung. Während Marcel draußen in der Küche rumfuhrwerkte, sah ich auf den Fernseher, den ich beim Läuten zuvor automatisch auf Leise gestellt hatte. Irgendeine Schnalle in kurzem Rock und Netzstrumpfhosen schrie sich mit einer anderen Tusse an, die genauso gekleidet war, ihre Mutter hätte sein können und vermutlich auch ihre Mutter war. Unten rechts stand der Titel der Sendung: „Verklag mich doch!“ Zu gern hätte ich gewusst, weshalb die minderjährige Braut ihre auf minderjährig getrimmte Alte verklagen will. Doch bevor ich der Versuchung erlag, dem Geschehen auf dem Bildschirm Ton zu verleihen, kam Marcel zurück. Im Arm hatte er alle Biervorräte meiner bescheidenen Sammlung gehortet. Ein längerer Abend deutete sich an. Schnell überschlug ich die morgige Arbeitsbelastung. Vier Stunden. Davon drei Stunden Sport. Eine Stunde Geografie. Ich sah noch einmal zu Marcel, der mit der Leidenschaft eines Künstlers die Flaschen vor sich auf dem Tisch platzierte und verspürte ein Kratzen im Hals. Unter diesen Umständen konnte ich morgen unmöglich vor der Klasse stehen, ging es mir auf. Bei Marcel gegenüber gingen zwei Flaschen auf.

„Weißt du überhaupt, was ich gerade für eine Scheiße am Hals habe?“, eröffnete der Sohn meiner Tante das Gespräch. Oh, da wusste ich einiges. Geldsorgen nahm ich schon gar nicht mehr ernst. Probleme mit Vorgesetzten und Kollegen? Bei einem Hochbegabten so alltäglich wie bis vor kurzem „Die Lindenstraße“. Weiber? Bitte nicht schon wieder. Mit seinen Ex-Freundinnen gab es eigentlich immer Stress. Und das, obwohl Marcel seit der dritten oder vierten Trennung glaubhaft von festen Beziehungen Abstand halten wollte. Trotzdem gab es weiterhin genug Ärger und Aufregung im Zusammenhang mit seinen libidinösen sozialen Beziehungen. Mal die eine, mal die andere. Wenn gar nichts lief, war da noch seine Ex Johanna. Der Ärger mit ihr gehörte zu den wenigen Konstanten im Leben des jungen Herrn Ranke. Wahrscheinlich würde sie Marcel bis in die Kiste dafür büßen lassen, dass er sie damals vor fünf oder sechs Jahren für Mona, seine achtundzwanzigjährige Referendarin in Geschichte, mit den damals gerade zehnjährigen Zwillingen Jonas und Josepha sitzen ließ. Dass er Mona nach sechs Monaten gegen die Kauflandkassiererin Nadine eintauschte, zuvor eine Rückkehr zu der ebenso erfolgreichen wie ehrgeizigen Juraprofessorin Johanna weiter kategorisch ausschloss – oder war es andersrum? -, machte seinen Stand gegenüber der weidwunden Ex nicht einfacher. So zeigte sein Deckhaar denn auch deutliche Spuren. Als fraßen Johanna und der Unterhalt für die Kinder ihm tatsächlich die Haare vom Kopf. Natürlich war die aus vermögendem Hause kommende Johanna mit den Kindern in der üppig bemessenen, gemeinsam gekauften Sechsraumwohnung im feinen Waldstraßenviertel geblieben, als er erst zu Mona in die WG, später dann zu Nadine in eine kleine Erdgeschossbutze mit Blick auf Fahrradständer im Hof in Engelsdorf flüchtete. Als kleines Dankeschön hatte Johanna, die sich wegen der Kinder auf keinen Fall scheiden lassen wollte, schon im sogenannten Trennungsjahr eine Art Umgangsverbot beim Jugendamt erwirkt. Das war so schwer nicht gewesen. Zwei frische Handyvideos kurz nach dem Ende der Beziehung von hilfreichen Bekannten aufgenommen, hätten auch den liberalsten Familienrichter davon überzeugt, dass bei Marcel aktuell das Kindswohl etwas gefährdet schien. Sein fast schon exhibitionistischer Auftritt in der Straßenbahn mit 3,8 Promille war legendär. Auch das öffentliche Urinieren auf dem Dach eines Polizeiwagens, direkt vor der Polizeiwache in der Weißenfelser Straße, Ecke Gleisstraße, genoss bei seinen Kumpels Kultstatus. Zudem kam es für Marcel besonders bitter, da die mit seinem Fall betraute Chefin des Jugendamtes, Dr. Helga Schauer-Kram, nicht zum liberalen Flügel ihres Berufstandes gezählt wurde. Und selber frisch für eine jüngere Kollegin beim Jugendamt Chemnitz, die ihr Mann bei einer ausgerechnet noch von ihr persönlich initiierten Fortbildung kennengelernt hatte, nach gescheiterter dritter Ehe verlassen, seine Videoperformance zu Gesicht bekam. Zum Glück konnte ich ihm einen befreundeten Gutachter besorgen, der Marcels emotionale Ausnahmesituation attestierte. Anfangs noch skeptisch, wühlte ich mit beiden Händen in Marcels Kindheit und konnte so meinen ehemaligen Zimmergenossen im Wach- und Sicherstellungsbataillon 23, Diplompsychologe Thomas Kösser, schnell von Marcels erblich bedingtem Alkoholproblem überzeugen. Mit anderen Worten hatte ich dem Hochbegabten mal wieder Arsch und Job gerettet. Für sein Umgangsrecht waren die Messen jedoch vorerst gesungen. Wieso die beiden trotzdem verheiratet geblieben sind weiß Gott allein.

Wir alle hatten irgend sowas wie eine Familie. Etwas, worauf wir stolz waren, wo wir uns geborgen fühlten. Marcel hatte einen Makel. 1976 in der Deutschen Demokratischen Republik Scheidungskind zu sein, war keine freudbetonte Veranstaltung. Scheidungskinder kamen sich im günstigsten Fall vor wie eine blaue Mauritius. Meistens aber fühlten sie sich ausgestoßen. Allein wie Aussätzige. Wo Geld ist, ist auch Patchwork! Sagt man heute. Und es ist reichlich Geld im Umlauf. Aber auch hier holen die bildungsfernen Schichten auf, ist unser Land auf dem Weg in eine bessere, gerechtere Gesellschaft. Marcels Resilienz war zu der Zeit übersichtlich. Erschwerend hinzu kam, dass seine Eltern bewusst auf eine friedliche Trennung verzichteten. Es sich bei seinem Vater um ein besonders intelligentes, vermutlich ebenso hochbegabtes Exemplar wie seinen Sohn, handelte. Um von eigenen, ausgelebten moralischen Wertvorstellungen abzulenken, die nicht im Einklang mit der Moral der entwickelten sozialistischen Gesellschaft standen, stilisierte er, mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mutter Elisabeth Ranke und der neuen Frau an seiner Seite, deren optische Reize und charakterliche Schönheit sich nur ihm und wenigen Eingeweihten erschlossen, Marcel zum Symbol der latenten Untreue seiner Noch-Ehefrau und Mutter seiner leiblichen Kinder Pascal und Marcel. So wurde aus meinem Cousin über Nacht ein Bastard. Das Motiv für diesen genialen Schachzug seines Vaters und dessen Beraterinnen erklärte sich mutmaßlich darin, Unterhalt einzusparen und außerehelichen Verkehr als festen Bestandteil in der Beziehung zu Marcels Mutter zu deklarieren. Immerhin galt dieses Stigma nicht für Marcels dreieinhalb Jahre älteren Bruder Pascal. Heinz-Jürgen Ranke war eben doch ein Ehrenmann. Einer mit Format. Es spricht für Marcels Gleichmut oder Hilflosigkeit, trotz liebevoller väterlicher Aufforderung seinen Nachnamen zu ändern, von dieser schriftlich geäußerten Form der Abnabelung Abstand genommen zu haben. Obwohl Marcel behauptet, heute über das Gröbste hinweg zu sein, bin ich mir nicht immer sicher. Falls doch mal aus Versehen das Gespräch auf seinen Alten kommt, egal ob nüchtern oder sturzbesoffen - für einen Moment, wirklich nur ein Wimpernschlag - funkelt da was in seinen Augen, das mir Angst macht.

Mit Blick auf die Gemengelage war es nicht immer leicht für meinen fast gleichaltrigen Cousin, als er in der fünften Klasse der 11. Polytechnischen Oberschule, frisch von Arnstadt in seine Geburtsstadt Eisenach weggezogen, in einer fremden Klasse, in einer ihm fast fremden Stadt, mit dem Kainsmal des Scheidungskindes auf der Stirn, aus dem Fenster blickte und oben auf der Kasseler Straße einen alten Mann beobachtete, der mit gehöriger Schlagseite und wehendem, offenen Mantel den wenigen Verkehr in die Bredouille brachte. Er war der einzige im Raum, der diesen alten Mann heute noch wiedersah. Seine neue Klassenlehrerin, Frau Petri, hatte ihn der 5d vorgestellt und neben ein Mädchen gesetzt, das Natalie hieß. Auch das noch. In der ersten Hofpause kam ein Trupp Jungs aus seiner neuen Klasse auf ihn zu. Da stand er nun in seiner Pfeffer-und-Salz-Hose, die er hasste, weil sie kratzte und überhaupt alle anderen Jeans oder Cordhosen trugen, aber die - mit dem Verweis seiner Mutter, sie sei schick, sie sei aus dem Westen - getragen werden musste. Aus seinem bunt geringelten Strick-Shirt hingen die schmächtigen Arme wie abgestorbene Äste. Unter- und Oberarme hatten exakt den gleichen Durchmesser. Marcel schlug das Herz bis zum Hals. Als sie ihn fragten, ob er mit Antippen spielen wolle, hätte er fast losgeheult. Frau Petri beobachtete zufrieden vom Fenster ihre pädagogische Meisterleistung. Diese Frau Ranke war ihr vorige Woche am Telefon ganz schön auf den Docht gegangen. „Ich bin auch vom Fach! Kümmern Sie sich bitte um meinen Marcel. Das ist so ein sensibler Junge…“

Seine Mutter war wie er in der Schule. Ursula Ranke arbeitete als Berufsschullehrerin für Schreibmaschine und Stenografie. Zum Mittagessen musste er zu seiner Großmutter, die im gleichen Neubauviertel an der Thälmannstraße in Eisenach wohnte, wie Marcel und seine Mutter. Pascal war auf einem Gymnasium, damals Erweiterte Oberschule, im Grenzgebiet und lebte im Internat. Von ihrer Wohnung in der Clara-Zetkin-Straße war es nur ein Katzensprung hoch zu Oma Margarethe, die wir sechs Cousins alle nur „Oma Perle“ nannten und die in der Wilhelm-Pieck-Straße wohnte.

Als er seinen ledernen Schulranzen auf die viel zu schmalen Schultern warf, verabredete er sich noch für den Nachmittag zum Fußball auf der Wiese hinter seinem Haus mit Vanne und Röttel, den neuen besten Freunden. Beide nur ein bzw. zwei Blöcke von ihm entfernt in identischen Wohnverhältnissen sozialisiert.

Erleichtert, fast schon beschwingt, lief er von der Schule, vorbei am Elefantenspielplatz, der seinen Namen einem lebensgroßen Betonelefanten verdankte dessen Rüssel als Rutsche konzipiert war, die zwei Minuten hoch zur Oma. Der erste Schultag, vor dem er so höllische Angst gehabt hatte und der ihn die letzten Wochen nicht schlafen ließ, war geschafft.

Die Perle, die das Kochen nach eigener Aussage einst auf der Kochschule erlernte, empfing ihn mit der Herzlichkeit einer stolzen Köchin, die gleich die Früchte ihrer Mühen würde ernten können, wenn der heranwachsende Marcel unglaubliche Mengen ihres an den Nachkriegsjahren orientierten kulinarischen Könnens vertilgte. Weder sie noch Marcel wären je auf den Gedanken gekommen, dass Marcel nicht nur so viel aß, weil er Hunger hatte. Spätestens die vierte, fünfte Bockwurst, der siebte, achte, neunte kugelstoßkugelgroße Kloß oder die Krautrouladen (Typ Fundmunition) Nummer vier und fünf, waren nichts anderes als gemampfte Schreie nach Liebe und Anerkennung. Fiel dann endlich der Satz: „Dein Vater hat auch so viel gegessen, zehn Klöße auf einmal hat der mal…“ dann, erst dann, war Marcel satt. Ich selber war nicht so ein Anhänger der frühen antifaschistischen Kost auf sozialistischem Boden. Bis auf Marcel waren wir alle fünf das nicht. Vielleicht deshalb, weil wir einfach nicht so kaputt in der Birne waren. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. In den Ferien verbrachten wir die meiste Zeit immer zusammen. Essen bei Oma und Opa inklusive. Anders als Marcel, der sich stets aufs Essen freute, wurde mir regelmäßig schlecht, wenn unsere eins-sechzig große, hundertfünfzig-Kilo-Großmutter mit fleckiger Nylonschürze ihre riesigen, dampfenden Emaille-Schüsseln voll mit gekochten Schweinefüßen, Nachkriegskartoffelsalatrezepten, die den treffenden Namen Gemehrtes trugen, stolz wie das Hausmädchen der Hohenzollern auf dem Tisch drapierte, der das kleine Wohnzimmer der Zweizimmerwohnung ohne Balkon, dominierte.

Als Marcel durch den kleinen dunklen Flur, vorbei an der intensiv bekochten Küche seiner Großmutter ins Wohnzimmer huschte, traf er den Mann von vorhin wieder, als er aus dem Fenster des Chemieraumes geblickt hatte. Auf der FDJ-blauen Chaiselongue, die die rechte Längsseite des Wohnzimmertisches komplett ausfüllte, lag der alte Mann in gerippter Unterhose, weißem Unterhemd und schnarchte. Die käsigen Gliedmaßen waren überdeckt von grauweißen Körperhaaren. Die Fußnägel der großen Zehen - beidseitig anständig verpilzt - lachten in hellem Gelb dem Besucher entgegen. Auf dem einzigen Sessel, der passend zur Chaiselongue bezogen war, lagen zerstreut der Anzug, die Krawatte und das weiße Hemd des Schlafenden. Fasziniert schaute der kleine Marcel auf seinen Großvater. Auf das gleichmäßige Heben und Senken der behaarten Brust, lauschte auf die Schnarch-Geräusche des Alten. Er verstand noch nicht, warum „Opa Männe“ nicht wach geworden war, als er, ohne Rücksicht auf Geräusche, das Zimmer betreten hatte und seinen kleinen Ranzen an die Seite feuerte.

„Hermann! Das Kind ist da. Wir wollen Essen.“ Hermann Walz, Jahrgang 1912, alias Opa Männe, alias „Hermann der Cherusker“, wie er sich selbst bezeichnete, war der einzige Mensch den ich je kennenzulernen das Glück hatte, der zweimal am Tag sturzbesoffen war. Marcel erlebte an jenem Tag gerade die Spätphase der Frühschicht des Cheruskers. Pünktlich neun Uhr am Morgen begann der Frühschoppen. Stets mit Anzug und Krawatte. Gegen zwölf trudelte der volltrunkene, ehemalige jüngste Werkzeugmacher bei BMW / EMW (alles Selbstbezeichnungen) - zu dieser Zeit Automobilwerk Eisenach und Geburtsstätte des Wartburg 353 - mit der Pünktlichkeit einer Schweizer Taschenuhr in den Zweizimmerverschlag in der Wilhelm-Pieck-Straße ein. Das Ganze hatte eine solche Regelmäßigkeit, dass der gesamte Wohnblock, je nachdem, wer gerade zuhause war, sich bei einem Blick aus dem Fenster am Eintreffen des Cheruskers orientierte, wenn es um die Mittagsstunde schlug. Gegen halb eins traf dann der hungrige Marcel ein. Diese halbe Stunde nutzte der Cherusker zu einer ersten Regenerationsphase.

Von der Perle geweckt, schreckte er lallend hoch. Wie in Trance schob er die dürren Ständer unter den Tisch und setzte sich auf. Sein erster Griff ging automatisch zu der braunweißen Schachtel „Cabinet“ neben sich. Schon klickte das Feuerzeug. Die gelben Wände und Gardinen erzählten eine imposante Geschichte regelmäßigen Nikotingenusses in den eigenen vier Wänden. Die Perle eingeschlossen.

„Ach Hermann, wir wollen doch jetzt Essen.“

„Halt die Fresse!“, lallte es zurück. Marcel beobachtete fasziniert, wie die Perle das routiniert weglächelte und unbeeindruckt Teller und Besteck auf dem Tisch verteilte. „Deine Großmutter hab` ich im Krieg kennengelernt, da war gerade Verdunklung!“, wandte er sich anschließend seinem Enkel zu.

„Hallo Opa.“

„Na. Bist ja heute schon so früh aus der Schule?“

„Ne, heute haben wir immer schon nach der sechsten Stunde Schluss.“

„Kommt mein Thomäschen (gemeint war ich) auch?“

Wie fast jeden Schultag musste Marcel verneinen. Des Cheruskers Lieblingsenkel kam heute nicht. Dafür klopften Marcels Komplexe bei ihm an. Damals konnte sich der Zehnjährige keinen richtigen Reim darauf machen. War so naiv zu glauben, man könne elterliche oder großelterliche Zuneigung in irgendeiner Form durch eigenes Zutun verdienen, gar erwerben und natürlich umgekehrt alles verspielen. Umso mehr litt er deswegen unter dem eigenen Versagen in dieser verzwickten Chose. Dabei war die Rechnung im Falle unseres Großvaters denkbar einfach. Ich war der älteste Sohn vom einzigen Sohn, dem Nesthäkchen des Cheruskers. Da sah Männe eine direkte Fortsetzung seiner Linie. Marcel war nur der Bastard des Mannes, der seine mittlere Tochter für eine andere verließ und nun ihm wieder aufhalste. Auch hier setzte sich für den Cherusker eine direkte Linie fort.

Endlich standen zwei üppig gefüllte Waschschüsseln auf dem Tisch. Es gab Krautrouladen und Kartoffeln.

„Die kocht für eine ganze Kompanie“, kommentierte Männe die Mahlzeit und begann sofort zu Essen, nachdem ihm unsere Oma den Teller vorbereitet hinstellte. Als Nächstem wurde Marcel aufgetan. Final griff die Perle selbst beherzt zu.

„Opa. Ich habe dich heute gesehen, als du nachhause gekommen bist.“ Gierig wickelte Marcel die gefühlten zwei Meter Zwirn von der Granate auf seinem Teller. Herkömmliche Rouladen-Nadeln waren hier auf verlorenem Posten.

„Ich war mit dem Männerchor im Karlswald. Nachher muss ich noch mal hin…“ Er glotzte Marcel mit seinen grauwässrigen, blutunterlaufenen Augen an. Die Soße lief an den noch halbtauben Lippen aus den Mundwinkeln. „…wir haben gesungen. Ich muss nachher noch mal hin und die Leute verscheuchen. Die stehen immer noch da und klatschen…“ Jetzt durchzuckte den Alten ein listiges Grunzen. Er kicherte vor sich hin. Die Perle hob die Augenbrauen und lächelte Marcel nachsichtig zu. Der hob bereits den Teller für die nächste krautummantelte Fundmunition. Strahlend unterbrach die Perle ihre Mahlzeit und legte nach.

„Der frisst mir noch die Haare vom Schädel“, war Männes letzter Redebeitrag, bevor er ansatzlos, ohne große Ankündigung die Mahlzeit nach der Hälfte auf dem Teller unterbrach und wieder zurück in die stabile Rückenlage kippte. Seine zweite Schicht begann Punkt 16.00 Uhr und endete 19.30. Uhr. Bis dahin musste er wieder fit sein.

Beerdigt haben wir den Cherusker kurz vorm Mauerfall. Marcel und ich waren bei der Armee, schützten damals den Weltfrieden. Trotz des erstaunlichen Lebenswandels wurde der Cherusker immerhin 75 Jahre. Allerdings ließen seine letzten Wochen erahnen, dass die Leberfunktionen eingeschränkt waren. Das nikotinschwangere Gelb seiner ansonsten schlohweißen Haare war über das gesamte Gesicht gewandert. Ironischerweise ist es bis heute Marcel, der von den Saufgewohnheiten des Cheruskers das meiste von uns Cousins ererbt hat.

Unsere Perle erlebte die Befreiung vom Kommunismus noch aktiv mit. Ohne den alten Tyrannen verbrachte sie dank Witwenrente noch einige schöne Jahre im Konsumrausch. Es würde mich nicht wundern, wenn mehrere tausend Vietnamesen nach dem Mauerfall nur deshalb in Ostdeutschland geblieben sind, weil sie in der Perle eine treue Stammkundin ihrer fliegenden Stände sicher hatten. Kein Nepp, kein Tand, kein XXL T-Shirt war vor ihr sicher. Bewaffnet mit einem hölzernen Handwagen - sehr zur Freude ihrer Kinder - ging sie in der ganzen Kleinstadt auf Beutezug. Und war jeden Tag erfolgreich. Offenbar weil das Geld dann doch knapp wurde oder einfach nur aus dem Bauch heraus, begann sie später noch im großen Stil in dem vom Konsum zum Supermarkt mutierten Zonenflachbau, direkt gegenüber von Marcels Wohnblock, zu klauen. Dem ermittelnden Kommissar gab sie zu Protokoll, ihr sei blümerant gewesen. Da in der Zone nur der Polizist wurde, der wirklich zu allem anderen zu doof war, traf sie damit den Nerv des Grenzdebilen und wurde nach höflicher Ermahnung wieder heimgeschickt. Ab da war sie vorsichtiger. Fünf oder sechs Jahre später - ich weiß es nicht mehr so genau - folgte sie dem Helden aus dem Teutoburger Wald relativ unspektakulär auf seiner letzten Reise.

Der Flieger setzte steil nach oben. Beth Weiz sah das glitzernde Häusermeer Tel Avivs unter ihr immer kleiner werden. Noch im Steigflug zog der Pilot eine scharfe Rechtskurve. Sie wurde in den schmalen Sitz gepresst. Ausgerechnet bei ihrer ersten Dienstreise hatte man sie aus Sicherheitsgründen in die Holzklasse verfrachtet. So hatte sich das die 22-jährige Beth nicht vorgestellt. Egal. Ihrer Aufregung und Anspannung tat das jetzt und hier keinen Abbruch. Deutschland! Sie würde nach Deutschland fliegen. In das Land der Täter. Zugleich ursprüngliche Heimat des mütterlichen Teils ihrer Familie. Urgroßmutter Rebecca und deren Eltern waren von den Nazis aus dem Land getrieben worden. Das musste ziemlich früh gewesen sein. Schon ganz am Anfang. Im Nachhinein hatte sich das als großes Glück für Urgroßmutter herausgestellt. Nachdem deren Eltern in Südamerika im Exil gestorben waren - wo war das noch mal gewesen Paraguay oder so, ach ne, Bolivien - fiel es ihr wieder ein, kam Urgroßmutter über abenteuerliche Wege nach Israel. Dort hatte sie dann Beth´ Uropa Mosche kennengelernt. Das jüngste der vier Kinder, die ihre Urgroßeltern gemeinsam hatten, Senta, benannt nach einer von Uromas Freundinnen im Kibbuz, war ihre Großmutter. Die hatte Opa Aaron geheiratet. Deren Tochter Judith wiederum war Beth´ Mutter. Mit der sie bis heute nur Deutsch sprach, während Papa Ari sich weigerte, die Sprache der Täter zu nutzen. Beth wusste nicht einmal, ob ihr Vater überhaupt Deutsch konnte. Mit ihm sprach sie Hebräisch. Außerdem beherrschte sie noch Englisch recht passabel und seit sechs Monaten hatte man ihr einen Französischkurs aufgedrückt. Sie hasste Französisch. Einzig Paris interessierte sie in dem Zusammenhang. Aber der Kurs war eine Dienstanweisung. Wenn Beth als Urenkelin von Mosche und Tochter von Ari eines gelernt hatte: Im Mossad widersprach man nicht dem Willen des Vorgesetzten! Dabei wusste sie genau, dass ein einziges Gespräch mit ihrem Vater sie von diesem Ungemach befreien würde. Papa war ein hohes Tier beim Mossad. Als angeheirateter Enkel des Mossad-Mitbegründers Mosche, galt sein Wort mehr, als das manches Ministerpräsidenten aus Vergangenheit und Gegenwart. Ihr war auch klar, wem sie diesen Auslandsauftrag zu verdanken hatte. Mit Zweiundzwanzig und ohne große Erfahrung im Operativen Geschäft! Ari war einfach der beste und liebste Papa der Welt. Und seinem einzigen Kind hörig! Die ideale, die perfekte Familienkonstellation, wie Beth fand.

Draußen bestimmten watteweiche Wolkenteppiche die Sicht. Gleißend blendete die Sonne durch das ovale Fenster der Boeing 737. Beth zog die kleine Jalousie runter. Neugierig blätterte sie in ihrem neuen Pass. Knallrot, mit goldener Prägung. Unter dem deutschen Bundesadler stand „Dienstpass“. Das echte Dokument – da ließ der Mossad nichts anbrennen – war auf den Namen Bettina Förster ausgestellt. Beth kicherte, riss sich dann aber zusammen. Schließlich war das hier kein Ferienausflug. Im Kopf spulte sie ihre Legende noch einmal ab. Bettina Förster, 21 Jahre jung. Tochter des deutschen Ingenieurehepaares Thomas und Kathrin Förster. Vor zwei Jahren Abitur an der deutschen Schule in Jerusalem. (Das war lustig. Beth schwärmte auch im wirklichen Leben von der heimlichen Hauptstadt, die sie schon mehrfach in Begleitung ihrer Großmutter Senta besucht hatte.) Sie rekapitulierte konzentriert weiter. Jerusalem – heilige Stadt der drei Weltreligionen. Inmitten dieses Tiegels liegt, direkt im Herzen der Stadt am Damaskustor, die altehrwürdige Schmidt-Schule. 1886 als private Mädchenschule gegründet, machen an ihr bis heute die meisten Töchter deutscher Diplomaten und Entwicklungshelfer in Israel ihr Abitur. Geboren wurde Bettina Förster in Äthiopien, wuchs auf in Namibia und Mazedonien. Erst die letzten vier Jahre war sie mit ihren Eltern in Israel. Im zurückliegenden halben Jahr absolvierte Bettina Förster an einer sozialen Einrichtung Tel Avis ein Praktikum. Gerade befand sie sich auf dem Weg zu ihrem künftigen Studienort in Deutschland.

Nach langem hin und her hatten sich Ari und Judith für ein Jurastudium ihrer Tochter in Leipzig entschieden. Jura – also ging`s noch? Lieber hätte sie Archäologie oder ihretwegen auch Medizin studiert. Aber ausgerechnet dieses kotzlangweilige, staubtrockene Jura. Dem Vaterland war`s egal. Was das Vaterland noch nicht wusste. Beth war es dreimal egal. Sollte sie durchfallen, würde dies ihre Legende nur stärken, legte sie trotzig für sich fest.

Sie klappte den Pass wieder zusammen. Schlug ihn gleich wieder auf und warf noch einen letzten prüfenden Blick auf das Passfoto. Naja. Ging so. Pass wieder zu. Noch mal kurz auf. So schlecht war es doch eigentlich gar nicht. Pass wieder zu. Der fette Typ neben ihr hatte sich rotzfrech die Mittelarmlehne gekrallt und war gerade dabei, die Augen zu schließen. So nicht Freundchen!

„Entschuldigung!“ Sie setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. Fettberg zog die Knie zusammen wie eine Dame, wenn sie aus dem Auto steigt. Beth tat so, als versuche sie vorbeizukommen und rammelte zweimal mit ihrem Knie gegen sein Schienbein. „Oh sorry!“ Grummelnd erhob sich der Fettsack und drängte die neben ihm sitzende schmale Gestalt – Typ Backpacker – erbarmungslos mit auf den Gang.

Vier Minuten später dasselbe Prozedere. Beth feierte sich selbst. Huschte an den Fensterplatz und ehe Jumbo sich wieder zwischen die Sitzreihen gezwängt hatte, machte es sich ihr rechter Arm komplett auf der Mittelarmlehne bequem. Ab da begannen die Leiden des Backpackers. Beth war viel zu aufgedreht, um zu schlafen. Sie blickte auf den Monitor vor sich. Verbleibende Flugzeit bis Frankfurt am Main noch zweieinhalb Stunden. In Frankfurt müsste sie sich noch zwei Stunden Aufenthalt um die Ohren schlagen, ehe es weiter nach Leipzig ging. Sie fummelte die Kopfhörer ein und suchte im Menü einen Film in deutscher Sprache. Nach zwanzig Minuten gab sie entnervt auf. Nichts, was sie interessierte. Sollte sie ihren iPod aus dem Rucksack holen? Dazu müsste sie noch mal aufstehen und auf den Gang. Warum eigentlich nicht…?

„In einem halben Jahr bin ich Single.“ Er leerte das halbe Bier in seiner Hand mit einem Zug.

„Na und? Bist du doch jetzt schon mehr oder weniger.“ Schnell sicherte ich mir ein Bier. Und erschrak. Marcels Augäpfel sprangen mir entgegen.

„Kapierst du`s nicht!“, brüllte er entnervt. Ich bemühte mich ruhig zu bleiben und öffnete mein Bier. Dabei schüttelte ich demütig den Kopf. „Johanna will die Scheidung, dann bin ich sowas am Arsch!“, schrie er weiter auf mich ein.

„Komm mal runter“, wurde ich jetzt auch lauter. „Du wolltest doch damals zu Nadine.“ So schnell wie er eben hochgegangen war, fiel er jetzt in sich zusammen.

„Mona…, zuerst war ich bei Mona“, korrigierte er mich. „Mensch Cousin. Vorhin habe ich den Brief mit dem Verhandlungsdatum bekommen.“ Jetzt begann er tatsächlich zu flennen. Ich verstand nur Bahnhof. Klopfte ihm auf die gebeugten Schultern. Und schob hinter seinem Kopf noch eine Flasche in meine Richtung. „Die machen mich fertig. Wenn Sie es nicht macht, dann diese Wichser“, kam es von unten hervorgepresst.

„Hä?“

„Ehrlich, wenn das nichts wird, kann ich gleich vom Völkerschlachtdenkmal hüpfen“, schluchzte er weiter.

„Wart erstmal ab. Du bist doch hochbegabt“, gab ich zu bedenken und fand mich beruhigend und witzig zugleich. Ich erntete einen aufgehenden hochroten Kopf, der sich aus seinen Schultern erhob, wie die Sonne über den blutigen Diamantenfeldern Sierra Leones.

„Die Anwältin der Alten vergräbt mich lebendig, zusammen mit dem Wichser von Professor. Boris dieses bulgarische Dreckschwein erledigt den Rest.“ Welche Anwältin? Welcher Wichser? Was erzählte der die ganze Zeit?

„Welche Anwältin? Wer ist der Wichser?“, forderte ich Aufklärung. Das bulgarische Dreckschwein war mir immerhin ein Begriff.

„Na die meiner Ex. Das ist eine von denen, die mit ihrem Gesicht verhüten…“ Seinen Humor schien er ja noch zu haben, registrierte ich beruhigt. „…und Kirchner, dieses perverse Schwein.“

„Deiner Ex? Johanna?“

„Wer denn sonst, du Arsch?“, fauchte er zurück. Ich ignorierte großmütig diese Entgleisung eines gequälten Geschöpfes. Das war natürlich wirklich suboptimal, wie man heute zu sagen pflegte. Dann erklärte er mir die Zusammenhänge. Das mit dem Geld, mit der Hochbegabung und warum er die 600 000 Euro so dringend brauchte. Da wurde mir schon langsam angst und bange.

„Professor Kirchner?“, fragte ich nur noch mal zur Sicherheit, dabei kannte ich die Antwort. Marcel nickte. „Ist das der, den du so oft verarscht hast, weil er einen neuen Test mit dir machen wollte, bis du ihm irgendwann alle vier Reifen plattgestochen und mit dem Schraubenzieher 136 auf die Motorhaube seines nagelneuen Volvos V 70 gezaubert hast?“, bekam er jetzt von mir die Retourkutsche für den „Arsch“ von vorhin. Mit leerem Blick griff er ein Bier vom Tisch und fummelte es mit dem Feuerzeug auf. Den Deckel ließ er achtlos auf den Fußboden fallen. „Scheiße. Ziemlich große Scheiße. Atom-Scheiße“, fasste ich für ihn die neue Ausgangslage seines Scheidungsverfahrens zusammen und ignorierte den Flaschendeckel vornehm. „Aber weißt du, warum Scheidungen so teuer sind, Marcel…?“

„Hä?“

„Ob du eigentlich weißt, warum Scheidungen so teuer sind?“, stichelte ich weiter.

„Ne. Wieso?“

„Weil sie es wert sind“, lachte ich laut los.

„Du bist so ein beziehungsgestörtes Arschloch. Ich habe echt Angst Mensch…, mir geht der Arsch auf Grundeis und du hast vielleicht Nerven…“, sagte Marcel. Plötzlich machte es klick. Jetzt lief es mir auch eiskalt den Rücken runter. Um diese Reaktion zu erklären, muss ich länger ausholen.

Marcels Spieltrieb will ich es mal nennen, war nicht nur seinem nicht vorhandenen Ehrgeiz geschuldet. Getrieben dazu hatten ihn temporär finanzielle Not und eine gewisse generelle Unbekümmertheit in pekuniären Angelegenheiten. Beziehungsweise die blanke finanzielle Not, gepaart mit unaussprechlicher Dummheit. Marcel vollbrachte das Kunststück, mit seiner E-15 im Öffentlichen Dienst, die ihm als Schulsportverantwortlichen im Landesamt für Schule und Bildung Leipzig - kurz LASUB - zustand, auch nicht nur ansatzweise hinzukommen. Der bereits erwähnte Unterhalt, seine Leasingraten für das Dreier-Coupé, welches Marcel liebevoll „Büchsenöffner“ nannte, die diversen damit „geöffneten“ Freundinnen und neuerdings das Projekt 120-Quadratmeter-Loft-Wohnung am Karl-Heine-Kanal. Das alles war ein bisschen viel. Da habe ich das notorische Saufen und eine Vorliebe für gehobene Gastronomie noch nicht konsequent eingerechnet. Kurz. Marcel stand vor dem finanziellen Offenbarungseid. Sein Lebensstil stand in einem ungesunden Verhältnis zu seinen monatlichen Nettobezügen. Die Tatsache, dass er sich bei der bulgarischen Glückspielmafia in Leipzig „erhebliche Summen“ (O-Ton Marcel) vorübergehend geborgt hatte, ließen die Situation als solche nicht in einem günstigeren Licht erscheinen. Dummerweise – oder war es das Blut? – hatte ich als sein Cousin bei einer sehr feuchtfröhlichen Abendveranstaltung im Casino mit zwielichtigen osteuropäischen Freunden, die sich als großzügige Gastgeber getarnt hatten und denen der notorisch klamme Marcel umgehend auf den Leim ging, einen dieser Schuldscheine mitunterzeichnet. Als Bürge! Es dauerte bis zum Mittag des nächsten Tages, als ich, langsam aus dem Koma erwachend, begriff, dass in der Welt des illegalen Glückspieles das dort hauptberuflich verankerte Inkassopersonal mit dem Begriff „Bürge“ wenig anfangen konnte. Seitdem steckte auch ich bis zum Hals in der Scheiße. Deswegen hatte ich Marcels verwegenen Plan, sich auf eine Justitiar-Stelle in der LASUB zu bewerben, euphorisch begrüßt und mit allen Kräften unterstützt. Eine A-16 mit Zulage in Tateinheit mit angeblichen Vermögenswerten, erschienen mir der rettende Ausweg und sprachen meine haptischen Sinne mehr an, als Marcels haltlose Versicherungen, er würde das Geld schon irgendwie besorgen. „Es gäbe da noch erhebliches Vermögen…“ Ich konnte es schon nicht mehr hören. „…vorher müsse er nur noch mal mit Johanna reden.“ Die Bewerbung war umso verwegener, weil Marcel keinerlei juristisches Staatsexamen besaß. Einzig ein Erstes und ein Zweites Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien konnte er vorweisen. Für ihn sprach jedoch die langjährige Praxis in einer Führungsposition der LASUB und die gelebte Symbiose aus zwei unterschiedlichen Fachgebieten. Marcel unterrichtete nämlich neben seiner Haupttätigkeit als Schulsportverantwortlicher im Landesamt Schulrecht bei angehenden Referendaren des Höheren Lehramtes an Gymnasien. Mit etwas Fantasie konnte man unter diesen Umständen die Stellenausschreibung durchaus auf Marcel münzen. Entscheidend war jedoch der Satz: „…erwartet werden unter anderem außergewöhnliche Fähigkeiten bei der Beurteilung juristischer Sachfragen und der weiteren strategischen Ausrichtung im Landesamt für Schule und Bildung…“ Übersetzt konnte das doch nur Hochbegabung heißen. Oder? Das Schicksal spielte uns in die Hände. Tatsächlich zogen drei von ursprünglich fünf Bewerbern zurück. Wohl ahnend, das gegen einen Bewerber mit IQ 136 die Aussichten gleich Null seien. Wir hatten Marcel eingeschärft, dieses Argument für seine Bewerbung jedem, wirklich jedem im Amt wiederholt ins Gedächtnis zu rufen. Zur Sicherheit hatte Marcel seitdem alle, wirklich alle - sogar die adipöse freundliche Kassiererin im Aldi nebenan - die ihm begegneten, über seinen IQ in Kenntnis gesetzt. Wir, das waren Szymi, Bohle und ich. Denn auch aus Marcels Studienfreunden aus Greifswald waren in jener verhängnisvollen Nacht im Casino im Vollrausch „Bürgen“ geworden.

Nachdem bis jetzt alles wie ein Länderspiel gelaufen war, sollten der Zufall oder in diesem besonderen Fall die Geldgier seiner Ex und der Scheidungstermin uns alle in den Abgrund reißen? Das gab es doch in keinem dreiteiligen Russenfilm! Ich hatte die Schnauze voll. Meine Zähne klapperten wie Eiswürfel im Shaker.

„Wir müssen was tun“, sagte ich.

„Ach? Sag bloß. Was willst du denn machen? Nichts! Scheiße! Gar nichts kannst du da machen. Die grillen mich und wenn die mich nicht fertigmachen, kommen die Bulgaren. Eine verdammte Scheiße ist das. So eine Riesenscheiße.“ Marcel soff jetzt, als wüsste er, dass morgen der elektrische Stuhl auf ihn wartete.

„Weiß ich noch nicht. Irgendwas. Irgendwas müssen wir machen“, gab ich trotzig zurück. „Ich ruf Szymi und Bohle an. Kriegsrat.“ Was Besseres fiel mir nicht ein. Zumindest fühlte es sich besser an, als mit Marcel um die Wette zu saufen und doch zu verlieren.

Zum Glück war es warm. Am meisten hatte sie Angst vor dem Wetter in Deutschland gehabt. Dabei war der hiesige Spätfrühling mit knapp über 25 Grad sehr angenehm. Überall war es grün. Die Luft für eine doch recht große Stadt wie Leipzig klar und würzig. Die Vorlesung eben war rappelvoll gewesen. Einige Studenten hatten auf den Treppenstufen des Hörsaals Platz nehmen müssen. Beth konzentrierte sich - ganz Profi, wie sie für sich selbst einschätzte - auf die Anwesenden. Entsprechend aufmerksam verfolgte Gasthörerin Beth den Vortrag von Frau Professor Johanna Ranke. Und zweifelte wiederholt an der Studienwahl ihrer Eltern. Geschenkt. Jetzt war sie hier. Das Studium selbst blieb nur Begleitmusik. Das laufende Semester war ohnehin fast schon rum. Die Semesterferien standen an.

Gutgelaunt traf sie an ihrem Wohnheim ein. Leipzig begeisterte Beth. So eine schöne Stadt. Eine wunderschöne Stadt. Jugendstilensemble und Gründerzeitpaläste, umrahmt von riesigen Parkanlagen, prägten ganze Stadtviertel. Aufwändig saniert und mit deutscher Ordnung und Gründlichkeit sauber gehalten, leuchteten die Häuser hell in der Sonne. Erzählten von Wohlstand und versprühten mondäne Atmosphäre. Ein so cooles Feeling wie in dieser Stadt hatte Beth noch nie gespürt. Auf den zahlreichen Kanälen und Flüssen konnte man die Stadt im Boot erkunden, bis hinaus zu herrlichen, glasklaren Badeseen, die in den alten Tagebaulöchern der Braunkohleförderung entstanden waren. Die Leute waren freundlich und relaxt. Überall saß man draußen. Die Straßen bunt und belebt. Es gab entzückende Ecken und riesige Backsteinbauten aus dem Industrialisierungszeitalter, die zu Brutstätten einer avantgardistischen Kulturszene geworden waren. Auf Brücken gaben Straßenkünstler Konzerte, Studenten, Schüler aber eben auch viele Leipziger aller Altersschichten bevölkerten die zahlreichen Parks mit ihren kuscheligen Cafes und Bars an den Rändern. Mit dem Fahrrad konnte man die Stadt durch Parks und Fahrradwege queren, ohne auf von Autos genutzten Straßen fahren zu müssen. Aus jeder Gasse, jedem Haus in der Innenstadt strömte eine von Kultur und Kunst getragene Atmosphäre. Um sie herum oft ein Sprachgewirr aus aller Herren Länder. Ausgerechnet ihr Wohnheim befand sich zwar zentrumsnah, doch die Straße des 18. Oktober versprühte den Charme kommunistischer Moderne. Plattenbau an Plattenbau reihte sich die Straße entlang bis zur Deutschen Nationalbibliothek. Immerhin waren die Betonklötze saniert. Sowohl die Innenstadt als auch die Nationalbibliothek - ihr strategisches Erstziel - waren fußläufig, noch einfacher mit dem Fahrrad, erreichbar. An der Haustür mit der Nummer 25 fummelte sie ihren Schlüssel aus dem Rucksack und schloss auf. Quietschend öffnete sich die Fahrstuhltür. Beth drückte die vierte Etage und las kopfschüttelnd die Kuli Schmierereien im Aufzug. Auf dem langen Flur drangen die Geräusche der Mitbewohner hinter den geschlossenen Türen gedämpft an ihre Ohren. Vor der Wohnung Nummer 411 blieb sie stehen. Wo war der verdammte Schlüssel schon wieder? Unten hatte sie doch gerade eben aufgeschlossen. Entnervt durchwühlte sie ihre Taschen. Beim zweiten Durchgang fiel es ihr wieder ein. Sie fühlte in die kleine Außentasche ihres Rucksacks und wurde fündig.