Sturm über der Prärie - Jens Holger Fidelak - E-Book

Sturm über der Prärie E-Book

Jens Holger Fidelak

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Beschreibung

Wer hat Crazy Horse das halbe Gesicht zerschossen? Gab es schwule Sioux? Wovor fürchtete sich Red Cloud am meisten? Bei welchem Gericht schmolz General Custer dahin? Wo zieht es in den Black Hills wie Hechtsuppe? Was sagt eigentlich Präsident Grant zu dem Ganzen? Fragen über Fragen. Antworten findet der Leser in Jens Holger Fidelaks neuem Roman. Zwei Lebenswege, die unterschiedlicher nicht sein könnten, zeitgleich an weit voneinander entfernten Orten beginnend, finden in dieser Geschichte zueinander. Einerseits vor dem Hintergrund der Reichsgründung in Deutschland, anderseits im düsteren Finale des größten bis heute weitestgehend ungeahndeten Genozids der Menschheitsgeschichte, durchleben der Rügener Hans Gerber und der Oglala Berglöwe die Wirren ihrer Zeit, ehe sie unfreiwillig Protagonisten des letzten Kapitels im Freiheitskampf der nordamerikanischen Ureinwohner werden.

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Meiner Familie

Über den Autor:

Jens Holger Fidelak, geboren am 05.März 1967 in Eisenach ist ein deutscher Autor und arbeitet als Gymnasiallehrer für Geschichte, Sport, Ethik-Philosophie und Deutsch als Fremdsprache an einem Leipziger Gymnasium und hat bereits mehrere Romane und Reiseberichte veröffentlicht.

Anmerkungen des Autors:

Handlung und Personen des Romans sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Dialoge, Motive und Handlungen historisch verbürgter Persönlichkeiten dienen dem geschichtlichen Kontext und sind ebenfalls frei erfunden.

Jens Holger Fidelak

Sturm über der Prärie

Roman

© 2022 Jens Holger Fidelak

Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer

ISBN Softcover: 978-3-347-72880-6

ISBN Hardcover: 978-3-347-72889-9

ISBN E-Book: 978-3-347-72890-5

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Ein Sommer kommt, der ein weißes Bisonkalb hervorbringt. Wird dieses weiße Kalb geboren, verlassen die Lakota bald ihren Pfad.

Viele Sommer vergehen. Ein weiteres weißes Bisonkalb sieht ins Licht der Sonne. Das Zeichen, dass die Kinder der Prärie sich zurück auf ihren Pfad begeben.

Dann kommt ein Sommer, der den Lakota zur gleichen Zeit vier weiße Bisonkälber bringt. Sind diese Kälber geboren und vier Sommer alt, erscheint die Weiße-Büffel-Kalb-Frau und bringt neue Gesetze zu den Menschen.

So erzählten es die Ahnen den Großvätern, die Großväter den Vätern, die Väter ihren Söhnen und diese wiederum ihren Söhnen an den Sieben Ratsfeuern der Teton Lakota. Der Sommer, in dem das erste weiße Bisonkalb gebar, stand noch bevor. Doch er nahte.

*

Das Geheimnis des Werdens, versteckt im milchigen Nebel unschuldiger Vorbewusstheit, gibt einen Vorgeschmack auf die Suche nach dem Sinn des Seins. Unergründlich wie die Tiefen des Meeres wartet das Schicksal.

Glocken läuteten durch das Heulen des Sturmes, der über die reetgedeckte Fischerhütte klatschende Horden schwerer Regentropfen peitschte gerade die zweite Hälfte des Jahrhunderts ein, als Gerda mit final herzzerreißendem Laut ihr zweites Kind aus dem seit Stunden von Wehen geschundenen Leib presste und das Baby - ein Junge - im verzweifelten Ringen um Luft schreiend die Welt da draußen begrüßte.

In der engen von Kerzen dürftig in schummriges Licht getauchten Küche gegenüber dem Schlafzimmer, in das sich Gerda zur Niederkunft zurückgezogen hatte, an ihrer Seite nur die betagte Trude aus dem Nachbarort, die bei jeder Geburt der letzten zehn Jahre auf der Insel assistierte und auf die stolze Quote von insgesamt zwölf Geburten verweisen konnte, von denen immerhin acht erfolgreich waren - zweimal überlebte die Mutter nicht, zweimal hielt sie Totgeburten auf dem Arm - saß der Hausherr und werdende Vater nervös auf den Bierkrug in seinen Händen starrend, denen man ansah, dass sie für den Lebensunterhalt der größer werdenden Familie hart arbeiteten. Zu seinen Füßen lag der anderthalbjährige Hagen zusammengerollt auf einer Decke und bekam von alldem nichts mit. Der Geruch der Fischsuppe vom Mittag klammerte sich noch an die Deckenbalken und kämpfte mit graubläulich aufsteigendem Pfeifenqualm.

Die Schlafzimmertür öffnete sich und gab den Blick frei auf eine Kirschholztruhe, von der werdenden Mutter einst als Bestandteil ihrer Mitgift in die Ehe gebracht, bevor Trude erschien, auf dem Arm ein im Handtuch eingewickeltes Bündel. In ihrem faltigen Gesicht erschienen unregelmäßige Zähne als sie lächelte. Gelbe und dunkelbraune kleine Kieselsteine, krumm und schief, wie von Kinderhand aufgereiht.

„Es ist ein Bub“, sagte sie und hielt Heinrich Gerber seinen zweitgeborenen Sohn entgegen. „Stramm und kräftig. Ganz wie sein Vater.“ Unbeholfen, noch nicht mit sich und der Situation im Reinen, erhob sich der Angesprochene von dem grobgezimmerten Holzstuhl und warf einen vorsichtigen Blick auf die Öffnung der Handtuchrolle - eine große Raupe mit dunkelrosa Kopf - in Trudes Arm. Er sah einen durchsichtig scheinenden Scheitel, auf dem dunkle Haarsträhnen durcheinander wie Seetang nach abebbender Flut an den Felsen klebten. Heinrich, unsicher ob er sich über das kleine Wunder vor ihm freuen durfte oder den Sorgen über die nächsten zwei Tage weiter Vorrang in seinen Gedanken gewährte – wenn sich das Wetter nicht besserte, er nicht bald wieder mit dem Boot hinaus zum Fischen fuhr, blieb ihm wenig Anderes übrig als eine seiner sechs Ziegen zu schlachten, um jetzt mitten im Winter den Topf für die Familie zu füllen – konnte sich nicht durchringen den Jungen auf den Arm zu nehmen, egal wie sehr Trude auch lockte. Die ließ sich die Freude über die erfolgreiche neunte von dreizehn Geburten unter ihrer Ägide nicht nehmen und schaukelte den kleinen Jungen stolz vor ihrer vom Alter aufgezehrten Brust. „Hans soll er heißen. Wie sein Großvater, wünscht sich ihre Frau.“

„Hans?“ Als Heinrich mit brüchiger Stimme den Namen seines Sohnes, den Gerdas Vater trug, ehe er nach zweijährigem Siechtum vor sechs Jahren tot im Bett lag, die Augen starr und trüb wie der Himmel an jenem Tag im November, das erste Mal laut aussprach und nickte, war dessen Name besiegelt.

„Das erste Kind im neuen Jahr. Da bin ich mir absolut sicher“, sagte Trude, als ob in Dranske die Menschen für so etwas überhaupt Sinn hätten und drehte mit dem Jungen im Arm ab zurück zur Schlafzimmertür, der Mutter die frohe Kunde über die Zustimmung des Namens zu überbringen.

„Wie geht es ihr?“, fragte Heinrich Trude hastig hinterher. Seine Sorge war echt. Ohne sich umzudrehen antwortete Trude: „Den Umständen entsprechend. Sie braucht jetzt Ruhe“ und verschloss leise hinter sich die Tür. Heinrich verweilte noch einen Augenblick unschlüssig, den Blick auf die zugezogene Tür gerichtet, dann setzte er sich zurück auf seinen Stuhl und sah sorgenvoll aus dem Fenster, dessen Rahmen im Frühjahr wieder gestrichen werden musste, weil sich die alte blaue Farbe schon in langen Spänen samt Holz abzulösen drohte, hinaus in die dunkle stürmische Nacht. Vor der jahrelang vom Sand - den der Wind zuverlässig mitbrachte wie der Winter den Schnee - milchig gescheuerten Butzenscheibe stürmte es weiter. Der Wintersturm, vom Meer kommend, ließ die Fischerkate ächzen und die Fensterläden nervös klappern. Auch im Inneren des Hauses klang aus dem Entbindungszimmer Klappern an Heinrichs Ohr, der indes beschlossen hatte, den Bierkrug gegen eine Flasche honiggelben Sanddornschnaps zu tauschen. Trude hantierte mit überbordender Routine hinter der Tür aus Buchenbohlen, die Heinrich, nachdem er zusammen mit Ole vom Nachbarhof das Holz mit Oles Fuhrwerk aus Bergen herbeigekarrt hatte – einen ganzen Tag waren sie unterwegs, das Wetter hatte ihnen keine Freude bereitet, sondern Holz, Pferd und Mensch in Regen getüncht, als wolle es alles und jeden aufweichen - vor vier Jahren selbst gezimmert hatte, mit den beiden einzigen Blechschüsseln im Haus. Heinrich wollte sich die Nachversorgung der niedergekommenen Gerda lieber nicht vorstellen. Oles selbstgebrannter Sanddornschnaps besaß die Zauberkraft ihm bei diesem Vorhaben hilfreich unter den Kehlkopf zu greifen. Zwischen vereinzelten Schreien des Neugeborenen vernahm Heinrich die Stimmen der Frauen, ohne zu verstehen, worüber man sich austauschte. Um Gerda den morgigen Aufwasch zu erleichtern, weil er zu faul war und ehrlich gesagt auch nicht wusste, wo in Gerdas Reich voller Pfannen und Kellen an dunklen Regalbrettern hängend, dabei die ursprüngliche Farbe der kleinen Küche verdeckend, er nach einem Glas hätte suchen sollen, setzte Heinrich Gerber Oles diesjähriges Geburtstagsgeschenk aus der Flasche an und trank einen kräftigen Schluck auf den kleinen Hans, der zwar nicht viel von ihm erben – sein Blick fiel zufällig auf den immer noch reglos schlafenden Erstgeborenen – aber doch wenigstens die Initialen mit seinem Vater teilen würde. Seit dem Tod des Schwiegervaters war Heinrich, vom einfältigen Johann, seinem Hofburschen mit Hirn und Verstand eines Spatzen vom Herrgott gestraft abgesehen, der einzige Mann auf dem Hof, der aus (noch) sechs Ziegen, zwei Schafen, Cleo – der einzig Übriggebliebenen der ehemals acht Kühe -, Hühnern, Gemüsegarten, etwas Acker und der Weidewiese bestand. Dazu kam das den kargen Lebensunterhalt sichernden Fischerboot. Wer konnte ihm verdenken, wenn er es kaum erwarten konnte, seine Söhne heranwachsen zu sehen und vier kräftige helfende Hände zu seiner Unterstützung an seiner Seite zu wissen. Eigentlich war er schon seit dem einsetzenden Siechtum des alten Hans allein, als der plötzlich anfing Blut zu husten und die im Mund festgewachsene Pfeife zwischen den blutleeren Lippen begann unruhig auf und ab zu wippen, wie ein angebrochener Ast im Wind, der nur von einem Stück Rinde - dünn wie eine Gräte - gehalten ahnt, dass er für ewig den Stamm verlassen muss. Mechanisch und präzise führte er die Flasche an seine Lippen und ließ den Schnaps brennend in seinem Mund verweilen, ehe er ihn runterschluckte. Die Geräusche um ihn herum, draußen wie drinnen, verschmolzen mit jedem Schluck und machten sein Haupt schwer. Als Trude, nachdem sie ihr Werk beendet hatte, das Haus verließ - draußen begann die Morgendämmerung verzweifelt ihren Kampf gegen dunkle Wolken, die der Sturm weiter unablässig vom Meer über Dranske blies - versuchte sie den Buben am Boden und seinen mit dem Kopf zwischen den Händen auf dem Tisch eingeschlafenen Vater nicht zu wecken.

*

Zehn und ein Winter waren über die weite Prärie und die heiligen Schwarzen Berge, die He Sapa hinweggezogen, seit die Lakota zehnmal zehn Pferde von den Shoshoni erbeuteten. Spät am Tag verbündeten sich dunkle Wolkenhaufen am Horizont und zeigten bereits aus der Ferne ihre Kraft. Noch vor Einbruch der Dunkelheit schwebten sie schwer mit Schnee beladen über dem Oglala Dorf am oberen Powder River. Bäume am Ufersaum ragten wie Geister in die aufziehende Nacht. Vom wolkenverwischten Mondlicht empfangen, kräuselte weißgetünchter Rauch aus den Tipis. Über spitz zulaufenden, gekreuzten Zeltstangen lag die friedlich winterliche Stille auslaufender Gebirgsketten in der Mitte des Mondes, in dem die Flüsse zu Wegen werden. Alles wirkte bereit, die Last der Wolken klaglos aufzunehmen. In den Zelten verloren sich die Bewohner in gewohnter Geschäftigkeit. Im Mond, der die Blätter färbt, hatten die Krieger bei der großen Jagd viel Fleisch gemacht. Üppige Vorräte für den Winter gaben allseits Grund zur Freude. Raus in die Kälte gingen nur jene, die einen dringenden Grund wussten. Frauen kochten hockend vor Feuern aus getrocknetem Büffelmist und Zweigen, schabten Häute oder bestickten Kleidung und Mokassins während ihre Kinder im Hintergrund leise mit Geschwistern und Puppen spielten. Männer saßen um flackernde Zeltfeuer in der Mitte ihrer aus schweren Büffelhäuten und fichtenen Zeltstangen errichteten Behausungen, rauchten, erzählten oder schwiegen in Erinnerungen. Aus dem Zelt der Winkte, wo Männer in liebevoll hergestellten Frauenkleidern lebten, drang Gelächter. Wölfe begrüßten heulend stumm einsetzenden Schneefall. Wütend antwortete die Hundemeute der Lakota ihren nicht allzu fernen Verwandten in den Ausläufern der Bighorn Mountains. Der Leithengst am unteren Flusslauf spitzte die Ohren und nahm Witterung auf. Stuten rückten enger an ihre Fohlen.

Zintkala - Kleiner Vogel - bekam von all dem nichts mit. Starr hingen ihre Augen an einem Köcher aus Biberfell, lose befestigt über ihrem Kopf an der Zeltwand baumelnd. Schon geraume Zeit rechnete sie damit, dass das dunkle Bündel auf sie fiel, steigerte sich fast in einen Wahn. Die nächste Wehe bog ihren Rücken durch. Winonah drückte sie mit kaltem Blick zurück aufs Schlafgestell. Beide Frauen waren allein im Zelt. Der Besitzer des Pfeilköchers, Ituhu – Schwarzeiche –, war für den Zeitraum der Geburt in das Zelt seines Kriegerbundes gezogen. Abgesehen von dem Vorteil, dass in der Kälte und dem Schnee von den Frauen nicht extra ein kleines Geburtszelt errichtet werden musste, waren Geburten bei den Völkern der Prärie seit jeher reine Frauensache. Vermisst wurde Schwarzeiche aus vielerlei Gründen von keiner der Anwesenden. Es würde Kleiner Vogels erstes Kind werden. Von den anderen Frauen im Lager wusste sie, dass dies bezüglich zu erwartender Schmerzen und Dauer der Wehen nicht unbedingt Gutes verhieß. Erneut glaubte sie ein Messer zwischen die Beckenknochen gerammt zu bekommen. Sie verbiss sich in das Holz zwischen ihren makellosen Zähnen. Ob Holz oder Zähne knackten, diese Frage zu stellen fehlte ihr jedes Interesse, geriet sie doch schon in die Fänge der nächsten Wehe. Kurz vor der Mitte der Nacht wurden die Abstände der Messerangriffe auf ihren Unterleib kürzer und kürzer. Winonah befahl ihr aufzustehen und sich an zwei spitz nach oben zulaufenden Zeltstangen festzuhalten. Keuchend und zitternd gegen die aufkommende Ohnmacht ankämpfend, ließ sie sich hochzerren und klammerte sich verzweifelt an die geschälten Fichtenstangen, von denen einige schon mehr als zehnmal drei Winter zählten. Gewiss, dass ihr Unterleib zerriss vernahm sie nur dumpf Winonahs Anweisungen. Ein kräftiger Schlag mit der flachen Hand brachte sie zurück in die Wirklichkeit in Schwarzeiches Zelt. Langsam versagten ihre Beine den Dienst. Winonah fing sie auf und lagerte sie bequem. Da hörte sie zum ersten Mal die Stimme ihres Kindes.

Winonah wusch den kleinen Jungen und wickelte ihn in einen Sack aus Kaninchenfell. Kleiner Vogel lag auf dem Rücken und beobachtete, den Kopf zu Seite gelegt, die Zweitfrau Schwarzeiches bei der Versorgung ihres Kindes. Zu schwach, um eifersüchtig zu sein, gestattete sie sich wenigstens Unmut. Nach endlosen Augenblicken legte ihr Winonah endlich ihren Sohn auf den Bauch.

„Wasser“, bettelte sie. Wortlos wurde ihr von Winonah eine Holzkelle mit Wasser gereicht. Gierig trank die junge Mutter. Sorgenvoll richtete sich ihr Blick nach oben zum Pfeilköcher. Der war nun zur obsessiven Bedrohung für das Neugeborene geworden. Winonah, die Lippen waren ein zusammengepresster dunkler Strich, versorgte sie mit getrocknetem Moos zwischen ihren Beinen, stand zügig auf und sah noch einmal zu ihr herab. Dann verließ sie das Zelt. Kleiner Vogel betrachtete die kleine Nase und die geschlossenen Augen ihres Kindes. Der Kleine war erschöpft. Gleichmäßig hob und senkte sich das Kaninchenfell. Seit langem dachte sie wieder an ihren Vater. Dann griff die Erschöpfung unbarmherzig nach ihr.

Ein Blizzard hielt die Prärie mit eisigen Fängen umklammert. Orkanartig trieb er undurchsichtige Wände aus Schnee über die wellige Landschaft. Kein natürliches Hindernis hielt ihn auf. Nichts konnte sich seiner ungestümen Gewalt entgegenstemmen. Nur das Heulen des Windes war zu vernehmen.

Ängstlich lauschte Nikuucki - Kleiner Vogel - in die morgendliche Dämmerung. Obwohl sie und ihr Stamm um die Macht der Natur wussten, ihr seit Jahrhunderten trotzen gelernt hatten, sorgte sich die ihren neunten Winter erlebende Seele des kleinen Pawnee-Mädchens um den Vater. Draußen heulte der Wirbelsturm sein tödliches Lied. Zwei Tage hielt er nun schon das Dorf gefangen.

Kleiner Vogels Vater, Taaka-Skiri – Weißer Wolf -, war mit anderen Kriegern vor vier Tagen, als nur wenig Schnee den Fährtenlesern gute Beute versprach, zur Jagd aufgebrochen. Normalerweise wussten die Männer der Pawnee sich vor allem und jeden zu schützen. Dieser Sturm war anders. Länger als gewöhnlich blies er Schneemassen auf die schweren Wände und Decken aus Holz, Lehm und Grassoden, eisige, todbringende Kälte im Gepäck. Hoffentlich hatten die Jäger in den nahen Berghängen der südlichen Ausläufer der Big Horn Mountains einen Unterschlupf gefunden, ehe der Sturm über sie hereinbrach. Der Sitte ihres Stammes folgend behielt Kleiner Vogel ihre Gedanken für sich. Leise stand sie auf und schürte das Feuer in der Mitte ihrer Behausung. Die anderen Bewohner schliefen noch auf den seitlich die Hütte umlaufenden Bänken oder taten so. In der Hütte von Weißer Wolf schliefen neben Kleiner Vogel noch ihr älterer Bruder Singender Pfeil, der kleine, sechs Winter zählende Schreit-wie-eine-Eule und die Großmutter. Kleiner Vogels Mutter war kurz nach der Geburt von Schreit-wie-eine Eule vom Großen Geheimnis auf ihre letzte Reise zu den Ahnen geschickt worden. Die angeschürte Glut erhellte das Heim Weißen Wolfes und erweckte die Schatten seiner Kriegs- und Jagdtrophäen an der Wand zum Leben. Fröstelnd warf das Mädchen einen vorsichtigen Blick aus dem vom Schnee zugewehten Eingang aus schwerem Büffelfell. Und starrte in die furchterregend bemalte Fratze eines Oglala-Kriegers.

Ihr Schrei erstarb unter seiner Pranke. An den Haaren wurde sie aus der Hütte gerissen. Ein anderer Oglala-Krieger sprang an ihr vorbei ins elterliche Heim. Der Tumult hatte die anderen Bewohner endgültig geweckt. Schrill stieß Singender Pfeil den Warnruf aus und griff gleichzeitig nach seinen Waffen. Sein Ruf erstarb unter der Steinkeule des Lakota, die seinen Schädel krachend brach. Innerhalb von Sekunden brach über das Pawnee Dorf am Bear Creek infernalisches Gebrüll und Geschrei herein. Wildes Geheul angreifender Oglala Lakota traf auf Schreie und Kommandos überfallener Pawnees. Aus allen Hütten drangen Kampfgetöse und unmenschliches Heulen. Die Pawnee waren im Schlaf von ihren nordwestlich lebenden Erzfeinden überrascht worden. Späher des Dorfes hatten keinen Alarm gegeben und lagen wahrscheinlich mit durchgeschnittenen Kehlen skalpiert im tiefen Schnee. Kleiner Vogel wehrte sich verzweifelt kratzend, beißend und schreiend gegen den eisernen Griff des unbarmherzigen furchteinflößenden Kriegers. Der hob seine Steinaxt und holte zum tödlichen Schlag aus. Im letzten Moment drehte er das Kriegsbeil und schlug mit der flachen Seite auf ihren Kopf. Kleiner Vogel verlor das Bewusstsein.

Bäuchlings über einem Pferdrücken erwachte sie unter einer schweren Büffeldecke. Ihr Kopf dröhnte. Langsam zur Besinnung kommend merkte sie, dass ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren und man ihr die Füße zusammengebunden hatte. In dieser Position sah sie nur die Beine des Mustangs und den Schnee unter ihr. Schnell gab sie den Versuch auf, die von fachkundiger Hand angelegten Fesseln zu lösen. Kalte Angst erfasste jede Faser ihres kindlichen Körpers. Tränen liefen über ihr Gesicht. Von klein auf gewohnt sich jeder Herausforderung ihres Lebens klaglos zu stellen zwang sie sich so gut es ging ihre Sinne zu schärfen und versuchte die Situation zu erfassen. Lakota hatten ihr Dorf überfallen. Weißer Wolf und die anderen Krieger waren zur Jagd in den Bergen. Im Dorf waren außer den Spähern nur alte und junge Männer, erst vor wenigen Monden zum Krieger geweiht, zum Schutz zurückgeblieben. Im Blizzard konnten sich die feindlichen Oglala unbemerkt den Hütten der Pawnee nähern. Wäre sie nicht wach geworden… Der Gedanke an ihre Familie, die sich in der Hütte befunden hatte, raubte ihr beinahe die Sinne. Was war aus Großmutter und ihren Brüdern geworden? Wo war der Vater?

Überfälle feindlicher Stämme untereinander gab es seit Menschengedenken. Die Pawnee zogen regelmäßig auf den unreinen Pfad um feindliche Dörfer zu überfallen, Frauen und Mustangs zu rauben. Ein Gegenbesuch war dann nur eine Frage der Zeit. Über allem stand jedoch die Aussicht Ruhm und Ehre zu gewinnen, Coups zu landen oder Skalps fremder Kriegern vor ihren Behausungen an langen Stangen aufzuhängen.

Ihre Entführer ritten in alter Tradition der Prärievölker in langer Reihe – eine dunkle Perlenkette im weißen Meer - hintereinander durch hüfthohen Schnee. Der Blizzard legte sich nach drei Tagen endlich zur Ruhe. Über der Hochebene lag unheimliche Stille. Klare und eisige Luft verbiss sich in die Lungen von Mensch und Tier. Die tiefe Furche im kalten Weiß ließ Kleiner Vogel nur raten, wie viele Feinde vor ihrem Pferd den Weg freitrampelten. Hinter ihr befanden sich noch weitere Reiter. Das pulsierende Blut ihres herabhängenden Kopfes steigerte den Schmerz im Schädel ins Unerträgliche. An ihren Vater denkend fiel sie erneut in Ohnmacht.

Die Kolonne stand als sie zu sich kam. Wie lange schon wusste sie nicht und war ihr in ihrer Situation auch herzlich egal. Blieb sie noch eine Weile in dieser Position würde sie sterben. Kleiner Vogel hörte Stimmen. Unverhofft wurde die Decke von ihr gerissen, sie unsanft vom Pferderücken gezerrt und rücklings in den Schnee geworfen. Breitbeinig stand der Mann über ihr, der sie überwältigt und entführt hatte. Hinter der schwarzweißen Kriegsbemalung lauerten grausame Augen die Kleiner Vogel musterten. Angsterfüllt drehte sie den Kopf zur Seite. Offenbar zufrieden, dass seine Beute noch lebte, zerrte er sie an den Haaren hoch und setzte sie auf die Büffeldecke mit der sie zuvor bedeckt war. Wortlos zog er wieder ab. Sie fror erbärmlich. Bei der Rast verzichteten die Oglala auf ein wärmendes Feuer. Sicher, noch immer in den Jagdgründen der Pawnee zu sein, bestimmte Vorsicht ihr Handeln. Das Mädchen schärfte den Blick und sah sich in der Landschaft um. Die schwarzen Schatten der Berge waren nirgends zu sehen. Ihre Entführer waren mit ihr hinaus ins weite Grasland geritten. Selbst im Sommer war es schwer sich dort zu orientieren. Wenn die endlosen grasbedeckten Hügel wie jetzt unter hohem Schnee lagen, war es einem neun Winter alten Mädchen unmöglich. Am Stand der Sonne erahnte sie, dass die Oglala im weiten Bogen über die Prärie zurück in ihr Stammesgebiet im Nordwesten zogen. Kurz blitzte in ihr der Gedanke zur Flucht. Solange Schnee lag war das töricht. Ermutigt durch die Tatsache noch zu leben, beschloss sie alle Kraft aufs Überleben zu konzentrieren und wollte warten, bis eine Gelegenheit zur Flucht kam oder Weißer Wolf seine einzige Tochter befreite.

Winonah war die zweite Frau des Lakota-Kriegers und kinderlos geblieben. Vermutlich der Grund, dass sie Kleiner Vogel nicht als Arbeitstier und ansonsten nutz- und wertloses Geschöpf behandelte. Andere Dorfbewohner bevorzugten dagegen diese Sicht auf ihre Qualitäten. In den ersten Monden weinte Kleiner Vogel nachts lautlos in eine abgewetzte Büffeldecke, die man ihr als Schlafstelle direkt neben dem Zelteingang hingeworfen hatte. Ihr Herz zerriss beim Gedanken an die getötete Familie. Die Hoffnung auf den sie errettenden Vater wurde obsessiver Wunsch schlafloser Nächte. Die zum Glück selten waren. Denn die Oglala-Frauen schonten das Mädchen nicht. Stundenlang schleppte sie Wasser in Büffelblasen vom Fluss in das Zelt Schwarzeiches, schabte gammelige Fleischreste von Fellen, gerbte stinkende Häute mit Hirnmasse, bestickte Leggins. Wehe ihr unterlief ein Fehler. Erbarmungslos prügelten die Frauen auf sie ein. Zeit mit Gleichaltrigen verbrachte sie kaum. Wenn, wurde sie von den Lakota-Mädchen gemieden, die sie verächtlich anstarrten, sich in einer fremden Sprache über sie lustig machten und hin und wieder nach ihr spuckten. Die ihr vergönnten wenigen Momente der Ruhe hockte sie allein vorm Zelt, wartete auf die nächste Arbeit oder schlief spät abends todmüde ein. Manchmal träumte sie sich zurück in ihr Dorf.

Die Lakota hatten sie als einzige von ihrem Kriegszug als Beute ins weit entfernte Lager verschleppt. Zuvorderst war es wie nicht anders zu erwarten um Skalps, Coups und die verbliebenen Pferde der Pawnee gegangen. Der Ritt ins Dorf der Oglala dauerte vier Hände Sonnen. Zu weit weg von ihrem Heim, als dass Kleiner Vogel allein würde fliehen können. Sie war verdammt dazu auf Weißer Wolf zu warten.

Unmissverständlich und sich nicht mit Eingewöhnungszeiten aufhaltend wurde dem verängstigten Mädchen klargemacht, dass sie Schwarzeiches Eigentum war. Schwarzeiche war der Lakota-Krieger, der ihr das Beil über den Schädel gezogen hatte und einigermaßen Ansehen als Krieger und erfolgreicher Jäger im Stamm genoss. Sieben struppige Ponys aus der Herde am Flussufer zählten zu Schwarzeiches Besitz. Im Zelt wohnten neben Winonah noch Schwarzeiches greise Mutter, zwei Söhne, die in wenigen Wintern zu Kriegern werden würden und deren Mutter Wilechala –Mondsichel-, Schwarzeiches erste Frau.

Schneller als ein Habicht auf der Jagd und Kleiner Vogel es wahrhaben mochte vergingen die Monde. Die Zeit, in der Schnee die Zelte bedeckt, kehrte zurück. Weißer Wolf und seine Krieger ließen sich nicht blicken. Umso verzweifelter suchte und fand Kleiner Vogel immer mehr die Nähe Winonahs. Anfangs tauschten sich beide in der allen Plainstämmen bekannten, universellen Zeichensprache aus, erfuhren so ihre Namen und besprachen das Nötigste. Seit sich Winonah bewusst mehr Zeit für Kleiner Vogel nahm, sich immer häufiger schützend vor sie stellte und ihr geduldig nach und nach die schwere Sprache der Lakota lehrte, erwachte der helle Geist des Mädchens. Kleiner Vogel oder Zintkala wie Winonah sie in der Oglala-Sprache nannte, lernte schnell. Ihr einsames Herz gierte nach Winonahs Zuneigung. Als der Frühling den Winter besiegte und die Zeit begann, in der die Stuten Fohlen warfen, verstand und sprach Kleiner Vogel schon einiges in der Sprache der Oglala.

Mitten ins liebliche Tal, das sich um den Platte River schlängelte ragten die Spitzen vieler Tipis. Das Oglala-Dorf war größer als Kleiner Vogels Stamm. Von Winonah erfuhr Kleiner Vogel, dass die Oberhäuptlinge Sota – Rauch - und der an Wintern um einiges jüngere Tashunka Kokikapi - Sie-fürchten-sich-sogar-vor-seinem-Pferd - an der Spitze des Stammes standen. Schwarzeiche war Mitglied in einem Kriegerbund und Unterführer des Kriegshäuptlings.

Es begab sich zu der Zeit – zwei und ein weiterer Winter, Kleiner Vogels zwölfter, waren vergangen - in der das Gras wächst. Die Oglala schlugen ihr Winterlager in den He Sapa, den Schwarzen Bergen ab und zogen in die Ebenen. Kleiner Vogel hatte Winonah und Mondsichel beim Abbau des Tipis geholfen. Schwarzeiches verhutzelte Mutter, der man anmerkte, dass ein Großteil ihres Lebens in der Ablehnung eben jenes Lebens vergangen war, schaute skeptisch zu und hielt ihr faltiges Gesicht in die Frühlingssonne. Gemeinsam schlugen die drei Jüngeren schwere Büffelhäute von den gekreuzten Fichtenstangen, ordneten die Besitztümer Schwarzeiches, packten alles in große Ballen und beluden damit Hunde, Packpferde und Travois. Mondsichel, die bezüglich Lebensfreude glatt als Tochter und nicht als Schwiegertochter der sonnenhungrigen Alten durchging, behandelte Kleiner Vogel noch immer wie Luft. Winonah lächelte ihr bei der anstrengenden Arbeit freundlich zu.

Voran die Häuptlinge, dahinter in langer Schlange aufgereiht die Krieger, am Schluss des Zuges Frauen und Kinder, teils auf den großen Ballen der Travois sitzend, teils laufend, setzte sich, umkreist von den Männern der Lagerwache, der ganze Stamm in Bewegung. Stahlblau strahlte der Himmel über dem sich begrünenden Grasmeer endloser Präriehügel. Über ihnen lärmten Vögel und begrüßten mit den Menschen die warme Jahreszeit. Das monotone Schleifen der Zeltstangen und leises Stampfen der Pferdehufe orchestrierten den Zug. Kleiner Vogel schritt neben Winonah an der Seite eines Packpferdes. Gemeinsam summten sie ein altes Lakota-Lied, dass Winonah ihr beigebracht hatte.

Zwei Tage schleppte sich der lange Tross schon durchs keck aufsprießende Gras. Kleiner Vogel unterdrückte die Erschöpfung und ließ sich Strapazen nicht anmerken. Wenn Rauch und Sie-fürchten-sich-sogar-vor-seinem-Pferd das Zeichen zum Nachtlager gaben, half sie klaglos Schwarzeiches Fellgespielinnen beim Bau eines kleinen Notlagers. Dazu wurde eine große Zeltstange in zwei Astgabeln verkeilt und über dieses Gestell Büffelhäute gespannt.

Der heutige Morgen begrüßte sie nicht so klar wie die vergangenen. Gelber, diesiger Dunst waberte über der nicht enden wollenden Weite. So dicht, dass die Spitze des Zuges sich in den Blicken der hinten marschierenden Frauen in Schemen auflöste. Unvermittelt hielt der gesamte Treck. Wildes Geschrei von der Spitze erreichte die hinteren Reihen. Aufregung und Angst machten sich breit. Kleiner Vogel drängte sich an Winonah. Die legte ihren Arm um das Mädchen, von Mondsichel verächtliche Blicke erntend. Die Lagerwache, die auch für die Ordnung im Stammeszug verantwortlich war, sprengte auf ihren Ponys an den Flanken herbei und informierten die aufgeregt wartenden Frauen und Kinder.

„Watschitschun! Es gab einen Kampf! Wir haben Leichen gefunden. Niemand ist zu sehen“, riefen sie den Wartenden zu. Watschitschun! Bleichgesichter! Kleiner Vogel gefror das Blut. Gehört hatte sie schon von jenen Menschen mit bleicher Haut, die hinterm Sonnenaufgang bis zum großen Wasser lebten. Die Alten der Pawnee und der Lakota wussten einiges über die Weißen zu berichten, die im Süden und Osten an den Grenzen der Jagdgründe der einheimischen Stämme lebten. Selten handelte es sich dabei um Gutes. Diese geheimnisvollen Wesen besaßen mächtige Medizin. Zum Glück war sie noch nie einem begegnet. Angst durchströmte sie. Ihre kleine Hand suchte Winonah.

„Niemanden sehen heißt auch, nicht auf einen Feind gestoßen zu sein“, flüsterte Winonah ihr ins dichte schwarze Haar, dass Kleiner Vogel wie alle Oglala-Mädchen zu zwei fest geflochtenen Zöpfen trug. Zögerlich kam der lange Zug wieder in Bewegung, nachdem die Krieger Entwarnung gegeben hatten. Bald schon konnte Kleiner Vogel auf der rechten Seite im Präriegras einen großen eigentümlichen Haufen Holz erkennen. Zum ersten Mal im Leben sah sie einen Planwagen. Neben dem umgestürzten Fahrzeug lagen Leichen. Eine Hand und drei Finger voll. Krieger hielten auf dem Kampfplatz Wache und spähten über die Grashügel. Andere standen in kleinen Gruppen zusammen begutachteten und besprachen den Fund. Einige bedienten sich an den merkwürdigen Dingen der Watschitschun, die sie noch nie gesehen hatten. So tief waren Weiße noch nie in ihre Jagdgründe vorgedrungen. Die Oglala waren angespannt. Das spürte Kleiner Vogel und rang zwischen Angst und Neugier. Dann fasste sie sich ein Herz und löste ihre Hand von Winonah. Die sah erstaunt herab. Dann verstand sie. Zusammen liefen sie die wenigen Schritte neben der Kolonne zur ersten Leiche. Kleiner Vogel hielt erschrocken die Hand vor den Mund. Da lag zweifellos ein Mensch. Aber so etwas war ihr noch nie zu Gesicht gekommen. Böse Medizin. Das spürte sie sofort. Das Bleichgesicht trug ungewöhnliche Kleidung. Und hatte Haare im Gesicht. Durch das Blut, welches der Skalpschnitt über das gesamte Gesicht hatte laufen lassen, schimmerte Haut, hell wie ein Fischbauch. Aus dem geöffneten Mund ragten vereinzelt gelbbraune Zähne. Kleiner Vogels Magen zog sich zusammen. Sie hatte genug gesehen und zerrte Winonah wieder zurück in die Kolonne. Die blieb stehen. Als sich Kleiner Vogel mürrisch umdrehte, störrisch an Winonahs Hand reißend, bemerkte sie den Leichnam eines roten Kriegers. Nur wenige Schritte vom Watschitschun mit den Haaren im Gesicht. Ihr Schrei erstarb. Die Beine knickten wie Strohhalme. Winonah fing das bebende Mädchen auf. Den toten Krieger zierte die typische Haartracht eines Pawnee! Links und rechts kahlgeschoren, zogen sich die Reste des buntgefärbten Haarschopfs wie ein Balken längs über den Schädel. Der tote Krieger war Weißer Wolf!

Zu den Männern die sich neben der Szenerie unterhielten gehörte auch Schwarzeiche. Durch den merkwürdigen Klagelaut Kleiner Vogels aufmerksam geworden, kam er herbei. Grob riss er Kleiner Vogel aus den Armen Winonahs und schleifte sie an den Haaren vor den Leichnam. Höhnisch fragte er Kleiner Vogel, ob sie den feigen Hund vom Stamme der Pawnee kenne. Bevor er eine Antwort bekam, stieß ihn Winonah wütend weg und legte sich schützend auf Kleiner Vogel. Andere Oglala wurden jetzt aufmerksam. Einige Männer lachten und genossen das kostenlose Unterhaltungsprogramm. Hauptdarsteller Schwarzeiche, von der Situation überrascht und wie sein blöder Gesichtsausdruck den Zuschauern verriet sichtlich überfordert, senkte den zum Schlag gegen seine Frau erhobenen rechten Arm und löste langsam die linke Hand vom Messer an seinem Gürtel. Betont aufrecht ignorierte er die am Boden Liegenden und schritt majestätisch von dannen.

„Atè, Vater?“ flüsterte Winonah, die sofort begriffen hatte. Kleiner Vogel krampfte zusammen und nickte weinend. „Bleib bei ihm…“, flüsterte Winonah „…ich komme wieder.“ Sie strich dem zitternden Mädchen übers Haar und sprang auf.

Später kehrte sie zurück und führte eines der Packpferde, eine Schimmelstute, an der Hand. Hinterm Pferd ritten drei junge Krieger mit Fichtenstangen im Gepäck. Schwarzeiche war nirgends zu sehen. Winonah sprach leise mit den drei Männern, setzte sich neben Kleiner Vogel, nahm ihren Kopf auf den Schoß und begann leise das Trauerlied der Lakota zu singen. Irgendwann setzte sich Kleiner Vogel auf, kroch zu Weißer Wolfs Leichnam und nahm Abschied. Dann setzte sie sich zu Winonah und stimmte in den Gesang mit ein. Tränen liefen über ihre Wangen. Ihr Vater hatte sie nicht vergessen. Weißer Wolf war gekommen sie zu holen. Das war der einzige klare Gedanke, den sie fassen konnte. Watschitschun hatten ihn getötet.

Unterdessen entzündeten die drei Krieger ein kleines Feuer neben den Frauen ohne sie in ihrer Trauer zu stören. Dann zogen sie sich zurück und errichteten aus den mitgeführten Fichtenstangen ein Gerüst. Stabil und hoch genug, um Wölfe und anderes Getier fernzuhalten. Als die Mondsichel die Hälfte ihrer Nachtfahrt am schwarzen Himmel hinter sich gebracht hatte, erhob sich Winonah. Zwei der Männer kamen zum toten Pawnee, hoben ihn vom Boden auf und betteten ihn auf das vorbereitete Gerüst. Winonah hatte den gebrochenen Bogen aufgelesen und legte ihn neben seinen Besitzer. Zusammen mit Kleiner Vogel umhüllte sie den Leichnam mit einer Büffellederdecke. Ein letztes Mal warf die Tochter einen Blick auf ihren Vater und nahm endgültig Abschied.

Gemeinsam verbrachten die vier Lakota und Kleiner Vogel schweigend den Rest der Nacht am Lagerfeuer. Am Morgen erhob sich Winonah als erste. Kleiner Vogel kniete sich vor das erlöschende Feuer, nahm vom Rand Asche und bedeckte damit Haare und Gesicht. Wortlos ging sie zu einem der Krieger und streckte die Hand nach seinem Messer aus. Bereitwillig reichte ihr der junge Mann die in einen Griff aus Esche eingelegte Steinklinge. Das Mädchen nickte dankbar, schnitt sich ohne zu zögern beide Zöpfe ab, warf sie ins Feuer und schnitt sich danach tief in die Unterarme. Winonah trat zu dem trauernden Mädchen, nahm ihr vorsichtig das Messer ab und suchte Kleiner Vogels traurigen Blick. Dann legte sie ihr beide Hände auf die Schultern.

„Meine kleine Schwester!“

Sechs Sonnen beschienen das Grab Weißen Wolfes und bleichten seine Haut. Dann erreichten die Oglala ihr Sommerquartier am Ufer des Rapid Creek. Der sich, aus den Bergen, welche die Sonne in ihren Schoß aufnahmen kommend, wie eine Schlange durch die Idylle der Prärieausläufer seinen Weg nach Sonnenaufgang suchte. In kurzer Zeit hatten die Frauen den Zeltkreis errichtet und waren mit dem Einräumen der Tipis beschäftigt. Knaben trieben die Pferdeherde zusammen und bewachten sie, bis die jungen Krieger einen einfachen aber wirksamen Pferch aus den Weiden am Flussufer errichtet hatten. Das Schlagen ihrer Steinbeile mischte sich mit dem Gesang der Vögel am Ufer.

Winonah hatte Kleiner Vogel als Schwester angenommen. Bei den Völkern der westlichen Prärie übliche Praxis und zugleich heilige Zeremonie, die von allen Stämmen und deren Mitgliedern sehr ernst genommen wurde. Sehr ernst! Vergleichbar dem Sonnentanz oder der Heiligen Pfeife des Stammes. Kleiner Vogel war jetzt Winonahs jüngere Schwester und wäre damit nicht mehr ausschließlich Schwarzeiches Eigentum. Nur noch im erweiterten Sinne. Als Drittfrau war Kleiner Vogel noch zu jung. Abgesehen davon hätte Mondsichel ihrem Mann in der Nacht die Kehle aufgeschlitzt. Schwarzeiche musste allerdings in Winonahs Adoptionspläne einwilligen. Solche Entscheidungen trafen Männer gewöhnlich ohne weiblichen Rat oder Einflüsse, wollten sie sich nicht zum Gespött des Stammes machen. Schwarzeiche glotzte Winonah verständnislos an, als die ihm die neue Zeltstruktur nahelegte, sagte aber weiter nichts. Damit war die Sache durch. Kleiner Vogel wurde vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied der Oglala. Schläge, Demütigungen, Strafen und Isolation gehörten ab sofort der Vergangenheit an. Kleiner Vogel ging seither mit ihren Altersgenossinnen gemeinsam in den kühlen Stunden des anbrechenden Morgens Baden, wenn der Ausrufer die Zeltinsassen des Dorfes geweckt hatte. Zusammen mit Winonah und Mondsichel – die, ihr nach wie vor nicht freundlich gesonnen, sie jetzt immerhin mit Respekt behandelte – ging Kleiner Vogel täglich den umfangreichen Arbeiten einer Squaw nach und führte Schwarzeiche zusammen mit seinen Frauen den Haushalt. Schwarzeiche selbst, der die Entscheidung Winonahs weiter unkommentiert ließ, änderte sein Verhalten ihr gegenüber nicht.

Im ewigen Kreislauf der Zeit schlugen zwei weitere Winter ohne größere Ereignisse das Land in seinen eisigen Bann, abgesehen davon, dass Mondsichel im letzten Sommer beim Sammeln von Beeren und Kräutern von einem Grizzlybären überrascht und zerfleischt wurde und ihrer Schwiegermutter, die im Jahr zuvor beim Marsch ins Winterquartier wort- und grußlos den Zug der Menschen verließ, um sich zum Sterben in den Schnee zu setzen, ins Reich der Ahnen, in die ewigen Jagdgründe gefolgt war.

Kleiner Vogel stickte, im Zelt vor der grellen Sonne Schutz suchend, lakotatypische Muster auf ein hirschledernes Hemd Schwarzeiches. Konzentriert zog sie die Ahle aus Knochen durchs wertvolle Material. Letzten Winter hatte Schwarzeiche am Fuße der He Sapa einen seltenen weißen Hirsch aufgespürt und erlegt. Solch besonderen Tieren schrieben die Lakota seit jeher mystische Kräfte zu, die auf den Träger dieser Kleidung übergingen. Kleiner Vogel war sich der Verantwortung bewusst den künftigen Festrock Schwarzeiches fertigzustellen. Wann sie zuletzt an ihren Vater oder ihre Familie gedacht hatte, wusste sie selbst nicht mehr genau. Allein mit gekreuzten Beinen saß sie vor dem kleinen Kochfeuer. In ihrem Rücken hingen ein zotteliges Braunbärenfell, Schwarzeiches Bogen und Köcher und andere heilige Gegenstände, die zu seiner Medizin und den anderen Zeltinsassen gehörten. Und die alte Büchse! Schwarzeiches ganzer Stolz. Auf Umwegen ins Zelt gelangt.

Mit anderen Kriegern war Schwarzeiche vor Beginn der großen Jagden wieder einmal in Richtung der Tagesmitte gegen die den Lakota verhassten Pawnee gezogen, Skalps und Coups, vielleicht auch Ponys und Frauen zu erbeuten. Das Übliche eben. Vier Oglala traten den Heimweg nicht mehr an. Die Pawnee, auf welche die Lakota stießen, hatten an den Grenzen ihrer Jagdgründe Kontakt mit weißen Händlern aufgenommen und waren im Tausch gegen Pelze in den Besitz alter Donnerstöcke gekommen. Schwarzeiche war es als einzigem gelungen einen Pawnee zu töten und dessen Büchse zu erbeuten. Befreit von jeder Ahnung wie man diesen Stock zum Brüllen brachte gereichte allein dessen Besitz zu Ehre und Anerkennung. Neben den anderen Trophäen war die Büchse Blickfang seines Zeltes. Schwarzeiches Söhne, zu jungen Kriegern geweiht, hatten das Zelt verlassen und wohnten beide in eigenen Tipis mit ihren Frauen bei den Brule-Lakota. Winonah, unterwegs mit anderen Frauen die sechs Büffel aufzubrechen und zu verarbeiten, die einer Gruppe von Jägern gestern zufällig vor die Pfeile gekommen waren und erfreulicherweise Abwechslung von frischem Fleisch in die Kochtöpfe der Oglala brachten, denn noch war es einiges an Zeit, ehe die Sioux die großen Büffelherden in den Ebenen erwarteten, würde nicht vorm nächsten Tag im Zelt eintreffen.

Flatternd schlug die Plane vom Eingang zurück. Kleiner Vogel vernähte gerade das Ende einer Sehne am linken Ärmel des Hirschhemdes und machte sich nicht die Mühe zum eintretenden Zeltinhaber aufzusehen. Ein Fehler.

Pelzhändler am unteren Platte River machten seit einigen Sommern gute Geschäfte mit ortsansässigen Pawnee. Zum Beweis baumelte die erbeutete Büchse wie ein riesiger Knochen, das flackernde Licht in viele winzige gelbe und rote Punkte auf seinem polierten Lauf einfangend, in Schwarzeiches Zelt. Neben veralteten Gewehren gehörten auch alkoholische Getränke zum umfangreichen Sortiment ihrer Tauschware. Und so hatte beim Kampf der Oglala mit den Pawnee nicht nur die Büchse aus dem Zelt den Besitzer gewechselt. Darüber hinaus gehörten ein Skalp und zwei Flaschen Brandwein, den Lakota wie andere Stämme auch als Feuerwasser gleichsam verehrten und fürchteten, zur Beute, was den Verlust der vier Krieger nicht wett-, doch erträglicher machte. Bei der geselligen Auswertung ihres Kriegszuges musste jener Brandwein eine Rolle gespielt haben. Mit blutunterlaufenen Augen warf sich Schwarzeiche auf Kleiner Vogel und zwang ihre Schenkel auseinander.

Der Beutel mit den Kieseln am Zelteingang wurde energisch gerüttelt. Kleiner Vogel erwachte. Ihre erste Sorge galt dem Kind. Noch immer schlief der Kleine friedlich und fest und Kleiner Vogel war dankbar, hatte sie doch Angst vor dem was alles auf sie zukommen würde, wenn das Kind erwachte. Zeitgleich betrat Winonah das Zelt – sie musste in der Zeit, in der Mutter und Kind geschlafen hatten ununterbrochen beschäftigt gewesen sein, über dem Feuer hing ein schwarzverkohlter Topf mit Fleischbrühe, sämtliche Felle waren gereinigt, zusammengeräumt und ordentlich an ihren Plätzen verstaut, neben dem Feuer lag eine halbgefüllte Büffelblase mit frischem Wasser - und das Baby öffnete blinzelnd die Augen. Seine kleinen Finger wurden zur Faust und als wäre sein Gähnen nur Übung gewesen, schrie er mit weit aufgerissenem Mund seinen Hunger in die Welt.

„Schwarzeiche möchte seinen Sohn sehen. Soll ich ihn zu dir lassen?“ Kleiner Vogel war zu erschöpft um Zwischentöne herauszuhören. Wenn Schwarzeiche überhaupt in etwas gut war, dann darin alle Frauen in seinem Zelt unglücklich werden zu lassen. Müde schüttelte sie den Kopf, froh das quengelnde Kind für den Moment loszuwerden. Erst in drei Tagen erlaubte ihr der Brauch ihn zu stillen. Sie hob den zornroten Knaben leicht an und zeigte mit den Lippen zum Zeltausgang. Winonah verstand, nahm den Kleinen vorsichtig hoch und verschwand nach draußen.

*

Aus früher Kindheit trug Hans kaum Erinnerungen im Gepäck. Daraus schloss er, dass sie sich nicht erwähnenswert von der Kindheit anderer Buben in Dranske und den weit verstreut liegenden Rügener Fischerdörfern unterschied. Sobald seine Erinnerung einsetzte, half er an der Seite seines älteren Bruders Hagen dem Vater auf dem Hof oder fuhr mit ihnen hinaus zum Fischen. Manchmal war es so kalt, wenn er mitten in der Nacht seine Öljacke überzog und mit klammen Händen die Taue von Vaters Ruderboot von den wie mit Zuckerguss überzogenen, vereisten Bunen losband, dass er seine jüngere Schwester Hiltrud – Trudes fünfzehnter Streich, nachdem sie zuvor in der Nachbarschaft noch einem gesunden Jungen in die Welt geholfen hatte – beneidete. Die schlief einfach weiter in der kleinen Kammer über dem Schlafzimmer der Eltern, die sich drei Kinder zum Schlafen teilen mussten und nicht wesentlich größer war, als das selbstgebaute Bettgestell mit den Strohmatratzen, auf denen sie sich in kalten Winternächten aneinanderschmiegten, um nicht zitternd einschlafen zu müssen. Hagen, Erbe der zierlichen Gestalt seiner Mutter und obwohl über ein Jahr älter nicht viel größer als Hans, saß derweil schon schlotternd zwischen den Riemen und hatte sich ungefragt den Platz gesichert, der beim Losfahren trockene Füße garantierte. Ihren Vater, der das riesige Netz, das wie ein dunkler Haufen Seetang am Bug des Schiffes lag zum Auslegen vorbereitete, interessierte es nicht die Bohne ob der kleine Hans beim Abstoßen des Bootes nasse Stiefel bekam oder nicht. Wenn sie nach Stunden zurückkehrten, oft nicht viel mehr Fisch im Netz als bis zum nächsten oder übernächsten Tag reichend – an Verkauf war in den seltensten Fällen zu denken – spürte Hans seine Füße nicht mehr. Der Schmerz auftauender Füße zog sich durch seine Kindheit wie ein roter Faden. Bis zu dem Tag, da war er sieben oder acht Jahre alt, als er endlich groß und kräftig genug war, um trocken vom Ufer ins ablegende Boot zu springen. Trotzdem liebte Hans den Bodden mindestens so innig wie das Meer, fürchtete er beide zwischen atemberaubender Schönheit und tückischen Gefahren wechselnde Gewalten seiner Heimat zwischen Ostsee und Bodden, wie er sie als Geschenk Gottes bewunderte. Vielleicht fühlte er auch, dass in ihm dieselbe Wildheit und trotzige Widerstandskraft schlummerte, die seiner Heimatinsel Rügen so selbstverständlich innewohnte. Nördlich, nur Minuten vom Hof entfernt, war das Land zwischen Meer und Bodden wenige Meter schmal, bogen sich Dünengras und Kiefern im Wind, roch es nach Tang und Fisch, schmeckte die klare Luft salzig und gellte übermütiges Möwengeschrei über dem Kopf des Knaben, der sich sonntags nach dem Gottesdienst manchmal stundenlang hierher zurückzog, um allein zu sein und dem Klang des Meeres lauschte. Hans träumte ein großer Seefahrer zu werden, der mit seinen verwegenen Kameraden von Dranske aus die Weltmeere bereiste, um fremde Welten kennenzulernen. Von den vier Büchern in ihrer Schlafstube unterm Bettgestell waren die illustrierten Ansichten der Natur Alexander von Humboldts, ihm das Liebste. Zusammen mit Hagen blätterte Hans stundenlang bei Kerzenschein – Hiltrud schlief schon, ihr leiser Atem hob und senkte die Schlafdecke gleichmäßig wie ein Blasebalg – und überboten sich gegenseitig mit phantasievollen Erzählungen künftiger Abenteuer. Lesen und Schreiben hatte ihnen die Mutter an langen Wintertagen auf einer Schiefertafel beigebracht. Hans genoss still die Gewissheit in diesem Punkt seinem älteren Bruder um einiges voraus zu sein. Seine Buchstaben unterschieden sich nicht von den Vorlagen. Im Zeichnen mit Bleistift auf den wertvollen, weil seltenen Papierbögen aus Mutters Briefmappe im Hause Gerber, entdeckte der kleine Hans in sich ungewöhnliche Talente. Ihr Vater, selbst in höchstem Maße eingeschränkt des Lesens und Schreibens mächtig, sah in Gerdas rührigem Bemühen die viel zu weit entfernte und damit für die Dransker Kinder unerreichbare Volksschule in Bergen zu ersetzen, sinnlose Zeitverschwendung. Missmutig schloss er lauter als nötig die Türen, um im Nebenraum weitere Geräusche, allesamt Unmutsäußerungen akustischer Art, ausschließlich zum Stören der Lehrenden wie der Lernenden, zu produzieren. Mal verschob er einen Schrank, der zwanzig Jahre nicht vom Fleck gerückt worden war. Oder er begann „Aufzuräumen“, zog Schubladen hervor, leerte sie aus und rief nach Gerda – die, ihn tapfer ignorierend, vor den Kindern allen Ärger weglächelte und weiter mit zarter Hand Buchstaben auf die Schiefertafeln malte - sie solle endlich Ordnung in ihren Haushalt bringen. Aus ihm war schließlich auch ohne Lesen und Schreiben ein anständiger gottesfürchtiger Mann geworden, der im Stande war, die Familie zu ernähren. Darauf kam es letztlich an im Leben. Mit gesenktem Kopf ertrug Gertrud die aus den Nebenräumen herübergebrüllten Belehrungen nachsichtig und strich beruhigend mit der Hand über die semmelblonden Schöpfe der zwei Buben. Auch für Hagen gab es nur den Plan mit einem großen Schoner die Weltmeere zu durchpflügen. Beide Kapitäne schworen einander sich in Südsee, Südamerika oder irgendwo bei den Negern in Afrika mit ihren Schiffen zu treffen, Schätze, Sklaven, exotische Pflanzen, wilde Tiere - was man eben auf einem Entdeckerboot so mit sich führte - brüderlich zu tauschen. Die Lösung mit den zwei Schiffen war Hans nicht ganz freiwillig in den Sinn gekommen. Erst nachdem ihm Hagen im Nebensatz bei der Ein-Schiff-Variante deutlich gemacht hatte, wer Kapitän dieses Unikates sein würde. Im Rahmen präziserer Zukunftsplanungen war für Hans kein Platz in der Kapitänskajüte vorgesehen. Als seine Nase blutete sah sich Hans unter Druck die Diskussion darüber abzubrechen. Diverse Rachephantasien des künftigen Meuterers, dazu war Hans nämlich fest entschlossen, sollte er je unter Kapitän Hagen dienen müssen, erwiesen sich leider als nicht komplikationsfrei umsetzbar. Was in ihm notgedrungen die Idee zum eigenen Schiff gebar. Hagen, misstrauisch zögerlich die neuen Entwicklungen zur Kenntnis nehmend und seinen kleinen Bruder anstarrend wie eine verstörte Eule bei Tageslicht, legte schließlich den Arm über die Schulter des Jüngeren und ließ ihn sogar vom Apfel in seiner Hand abbeißen, den ihm Johann zugesteckt hatte. Schnell wurden beide wieder ein Herz und eine Seele. Ein Zustand, der dem sensiblen Hans stets gelegen kam und für den er schnell lernte zurückzustecken, nicht ahnend was die Zukunft ihm an Zugeständnissen noch abverlangte.

An dem heißen Sommertag im August, die Blätter der Blumen im kleinen Hofgarten hinterm Stall hingen lust- und saftlos herab und zwei Spatzen badeten notgedrungen im Staub, als Hans Mutter bei ihrer vierten Niederkunft Trudes Schnitt empfindlich drückte - was die freilich nicht von einer Fortsetzung ihrer Tätigkeit als Geburtshelferin abhielt - und Gerda zwei Tage später auf dem kleinen Dransker Friedhof neben der Kirche aus rotem und gelbem Backstein zusammen mit der kleinen Schwester, der in dieser Welt kein Name beschieden war, zu Grabe getragen wurde, waren Hagen und Hans am Mittag aufgeregt durch die Dünen nach Hause gerannt. Die ihren Zenit genießende Sommersonne verprügelte die blonden Köpfe, bestrebt den letzten Gelbschimmer aus den Haaren zu brennen. Im Auftrag des Vaters, der an diesem Tag seiner Anspannung geschuldet nicht mehr nüchtern sie lallend und fahrig wie ein Fischhändler, der zusehen muss wie seine Ware in der Hitze verdirbt zum Boot scheuchte, ruderten sie zum ersten Mal allein hinaus auf den wie ein schwarzer Teppich vor ihnen ausgebreiteten, morgendlich friedlichen Bodden, fuhren die Aalreusen ab und schleppten überglücklich und vor Stolz platzend jeder einen Eimer mit vier fetten Aalen in der Hand heim. Beim obligaten Wettrennen zum Haus spritzte das Wasser aus den Eimern und befeuchtete die Hosen der Jungs von den braungebrannten Knöcheln bis zum Schritt. Hans stolperte. Mit einem Schwung Wasser schwappte ein Aal über den Eimerrand in den Sand. Kniend fing Hans die sich davon windende schleimige Schlange ein und sah durch wütende Tränen Hagen hinterher, der schadenfroh jubelnd den Abstand zwischen ihnen vergrößerte und als erster dem Lob des Vaters entgegenlief. Klatschnasses grobes Leinen rieb erbarmungslos zwischen Hans Beinen, als er endlich den elterlichen Hof betrat. Das bleiche Gesicht des Vaters, die halbvolle Flasche Sanddornschnaps in dessen Hand, durch die das Licht wie Bernstein schimmerte, der ausdruckslose Blick Hagens erschraken Hans dermaßen, dass der Eimer mit den Aalen scheppernd, seltsam glucksend auf den Boden fiel. Zu seinen Füßen verknäulten sich schwarzbraunglänzende Fische im versiegenden Wasser und brachten noch mehr Tod auf den kleinen Hof.

Aufgereiht wie Orgelpfeifen saßen sie eine Stunde später am Totenbett ihrer Mutter. Nebenan in der Küche sprachen die schnell ihre Fassung zurückerlangte Trude und Vater Heinrich gedämpft mit dem von Johann eilig herbeigerufenen Pfarrer Beringer, dessen Augenbrauen an ungeschnittene Hecken erinnerten. Die Beerdigung von Mutter und totgeborenem Kind war Inhalt der mit Rücksicht auf sie geflüsterten Worte. Soviel schnappte Hans auf, obwohl er eigentlich nicht zuhörte. Gläser klirrten. Weil es draußen drückend heiß war und - für Dranske ungewöhnlich - kaum ein Luftzug über die Insel wehte, hatte man Fenster und Vorhang geschlossen und im Zimmer mit Kerzen für Licht gesorgt. Flackerndes Kerzenlicht färbte Gerdas Züge grau und bleich. Freigespülten Muschelrücken im Sand gleich ragten die Jochbeine hervor. Hiltrud, zwischen den Brüdern in ihrem dunkelblauen Sonntagskleid - eigentlich nur dem Kirchgang vorbehalten - sitzend, weinte bitterlich. Hagen schaute wie versteinert auf seine Mutter. Hans hingegen kämpfte die ganze Zeit dagegen an nicht dem Drang nachzugeben, sich auf die Mutter zu werfen und sie zu umarmen. Irgendwer, Trude, der Vater oder vielleicht der herbeigerufene, dank Oles Brennkunst inzwischen auch nicht mehr ganz nüchterne Beringer, hatte Gerdas Augen geschlossen und ihre Hände auf der Brust gefaltet. Die friedvolle Inszenierung täuschte den dreizehnjährigen Hans nicht. Schmerz und Todeskampf standen seiner Mutter ins Gesicht geschrieben. Vom toten Säugling keine Spur. Erst am Tag der Beerdigung erfuhren Hans und seine Geschwister vom Vater, dass es ein kleines Mädchen war.

*

Die vom Rauch an den Spitzen dunkel geräucherten Zeltstangen der Oglala ragten im typischen Kreis - alle Zeltöffnungen zeigten der aufgehenden Sonne entgegen - nahe dem Rapid Creek aus dem Grasmeer. Späher waren ausgesendet nach umherziehenden Büffelherden auszuschauen und die große Jagd vorzubereiten, die den Menschen baldigst volle Fleischkessel und im nächsten Winter warme Felle und Trockenfleisch garantierte. Im idyllisch gelegenen Lager herrschte friedvoll entspanntes, der Wärme des Tages angemessenes Treiben. Krieger saßen vor ihren Zelten, pflegten Waffen, schnitzten Figuren aus Holz oder reparierten ihre Pfeifen. Frauen, gebückt unter der Last von Wasserblasen und Feuerholz schleppten sich vom Fluss zurück in die Zelte. Andere wuschen am Flussufer mit Sand und runden Steinen die Kleider ihrer Familien. Kinder tobten lärmend um die Tipis oder malträtierten die Hundemeute mit Steinwürfen. Der Dorfjugend war das Hüten der Pferdeherde am Creek vorbehalten. Nebenher gab sie sich den Freuden des Wettstreites beim Reiten, Schwimmen und Bogenschießen hin.

Schwarzeiches Zeltausgang öffnete sich. Eine junge Frau mit Kind in der Trage auf dem Rücken trat heraus und schirmte sich mit der Hand gegen die blendende Sonne. Zielgerichtet lief sie hinunter zum Fluss, vorbei an großen Weiden, deren ausufernde Äste das Wasser küssten, in Richtung der Pferde des Stammes. Unterwegs wurde sie freundlich von den vom Fluss zurückkehrenden Frauen gegrüßt. Sie trug ein Kleid aus Antilopenleder, fein bestickt und hatte ihr Haar zu zwei langen herabhängenden Zöpfen geflochten. Der Scheitel, penibel mit dem Kamm aus Fischbein in der Mitte des Kopfes gezogen, vollendete die Symmetrie ihres ebenmäßigen Gesichts. Ihre Haut trug die Farbe eines Kindes der Prärie. Das Dunkel ihrer Augen besaß die Tiefe geheimnisvoller Höhlen in den He Sapa, den heiligen Schwarzen Bergen. Vor der stolzen Herde buntgescheckter Ponys verweilte sie. Erneut schirmte sie mit der Hand ihre Augen gegen die grelle Sonne. Junge Burschen, betraut mit der Aufsicht über die Pferdeherde, beachteten sie nicht und vertieften weiter ihre Gespräche. Zwei von ihnen lagen auf dem Rücken. Einer kaute auf einem Grashalm. Auch sie unterhielten sich. Dann lachte der mit dem Grashalm auf.

Für die Frau war das Gespräch der Jungen nicht von Interesse. Sie war auf der Suche nach dem zwölf Winter zählenden Zuzeca – Schlange - , ihrem Erstgeborenen. Da war er! Mit Altersgenossen und Mitgliedern vom Bund der Koyoten badete er im Fluss. Pechschwarz glänzend tauchte sein Kopf aus den klaren Fluten des Rapid Creek auf. Um sofort wieder darin zu verschwinden. Kleiner Vogel, die keine Lust hatte darauf zu warten bis ihr Sohn sie irgendwann einmal entdeckte, ging die wenigen Schritte zu den beiden im Gras liegenden Burschen. Einer von ihnen richtete sich auf. Sie erkannte den Jungen. Es war Hoka-cik`ala - Kleiner Dachs -, der mittlere Sohn von Mni Heyah - Kein Wasser -, der schon drei Winter mehr als Schlange gesehen hatte.

„Geh und hol Schlange“, bat sie ihn. Kleiner Dachs nickte und war sofort zwischen den Pferdeleibern verschwunden. Von ihrem erhöhten Standort konnte Kleiner Vogel beobachten, wie ihr Sohn von Kleiner Dachs auf sie aufmerksam gemacht wurde. Wenig später tauchte seine gerade gewachsene Gestalt zwischen den Pferdeleibern auf. Schlange trug nur den Lendenschurz. Unter der Haut der schlaksigen Arme des Heranwachsenden spielten starke Sehnen im Gegenlicht der Sonne.

„Mutter?“, sagte er erstaunt. Zum Glück sieht er seinem Vater nicht ähnlich, dachte Kleiner Vogel. Eher schon seinem Großvater, Weißer Wolf. Ehrlich gesagt unterschied sich Schlange nicht von den anderen großgewachsenen Lakota seines Alters. Was gut so war, wie sie im Inneren spürte.

„Du sollst ins Zelt kommen“, sagte sie mit warmer Stimme. „Wir haben Besuch.“ Schlanges Augen wurde groß. Er wusste sich zu beherrschen, gleichwohl ihm die Neugierde unterm Skalp brannte. Betont gemessenen Schrittes lief er an seiner Mutter vorbei und ging voran. Plötzlich blieb er stehen, drehte sich um und ging auf die Mutter zu. Jetzt fragt er doch, freute sich Kleiner Vogel. Doch Schlange tat ihr den Gefallen nicht. Sondern griff hinter ihren Rücken in die Trage aus Weidenzweigen und Hasenfell, nahm seine kleine Schwester aus ihrem Gestell und warf sich das vor Freude quiekende Mädchen über die Schulter. Freuden durchströmten Kleiner Vogels Seele, die nur einer Mutter bekannt. Noch aufrechter als sonst folgte sie stolz ihrem wohlgeratenen Sohn.

Schlange betrat nach seiner Mutter das elterliche Zelt, die sofort hinterm Zeltvorhang im dämmrig hinteren Bereich des Tipis verschwand. Gewahr werdend, wer zusammen mit seinem Vater Schwarzeiche um die Feuerstelle in der Zeltmitte Platz genommen hatte und bedächtig Pfeife vor sich hin rauchte, schnürten ihm Ehrfurcht und Aufregung die Kehle zusammen. Was um des Großen Geheimnis Willen sollte er hier?

Wi-sapa - Schwarzer Mond -, legte bedächtig seine Tonpfeife neben sich auf den Boden und musterte den Knaben. Dann forderte er ihn mit den Augen auf am Zeltfeuer Platz zu nehmen. Schlange tat wie ihm geheißen. Beide Männer schwiegen. Schlange hütete sich, das Wort zu ergreifen. Einem Jüngeren geziemte es nicht Gespräche zu beginnen. Die Tatsache, dass Schwarzer Mond der von allen geachtete Geheimnismann und Heiler ihres Zeltdorfes war, fror Schlanges Zunge von allein ein.

Länger als zwei Winter hatte Schwarzer Mond nun schon den letztgeborenen Sohn Schwarzeiches beobachtet. Den Vater von fünf Töchtern und zwei Söhnen – sein jüngster Sohn Tshe-ton Wa-ka-wa Ma-ni - Habicht-der-im-Gehen-jagt -, gehörte zu den vier Kriegern, die beim letzten Gang auf dem unreinen Pfad des Krieges gegen die Pawnee nicht zurückgekehrt waren - und mit von vielen Wintern grauen Strähnen im Haar, trieb seit längerem die Suche nach einem Nachfolger um.

Seine noch immer scharfen Augen hatten schon viel gesehen. Geboren und aufgewachsen in einer Zeit, in der man zwar von den weißen Männern hinterm Sonnenaufgang schon gehört hatte, bekam er erst mit zehn und fünf Wintern die ersten Watschitschun zu Gesicht, als zwei erfrorene Fallensteller von umherziehenden Kriegern seines Stammes bei der winterlichen Jagd steifgefroren im Schnee gefunden und ihre Leichen ins Dorf gebracht wurden.

Die Väter seiner Väter hatten noch in der Nähe der großen Seen gelebt, wo die Wälder dicht wie Gestrüpp waren, ehe der ganze Stamm weiter Richtung Sonnenuntergang aufgebrochen war, um ihren mächtigen Feinden vom Volk der Anihshinabe zu entgehen. In langen Kämpfen behaupteten sich die Lakota gegen die Krieger der Arikara und Mandan auf die sie bei ihrer Flucht trafen. Hundert und zehnmal sechs Winter vor seiner Geburt überschritten die Vorväter den Missouri und gelangten immer weiter nach Sonnenuntergang den riesigen Herden der Büffel folgend bis an die He Sapa. Während ihre neuen Feinde, die in festen Hütten aus Erde und Holz lebten Ackerbau betrieben und nur im Sommer zur Büffeljagd in die Jagdgründe der Oglala einfielen, in dieser Zeit von Krankheiten der Weißen bis auf wenige Seelen dahingerafft wurden, blieben die in den Ebenen umherziehenden Lakota weitestgehend verschont und dehnten im immerwährenden Kampf gegen ansässige Cheyenne, Kiowa, Absarokee, Shoshoni und Pawnee ihre Jagdgründe weiter aus. Schwarzer Mond zählte fünf Winter, sein Herz trug noch nicht schwer an den Sorgen seines Volkes, als die Häuptlinge der Lakota einen ersten Vertrag mit den Watschitschun schlossen und man vereinbarte in Frieden zu leben. Der Vater seines Vaters, der als erster den Namen Schwarzer Mond als Krieger führte, war in ihrem Stamm ein Heiliger Mann und hatte ihn, seinen Enkel auserkoren sein wichtiges und im Stamm angesehenes Amt zu übernehmen, wenn er von Wakan tanka, dem Großen Geheimnis in die Welt der Ahnen gerufen wurde. Als bei einem Überfall der Maisfresser auf ihren Stamm ein Pawneepfeil das rechte Auge seines Großvaters durchbohrte und im Kopf steckenblieb, trat dieser seine letzte Reise an. Sein eigener Vater war als junger Krieger von einem Kriegszug gegen die langhaarigen Crow in Decken gewickelt zurückgekehrt und leblos seiner zu Stein erstarrten Mutter vor die Füße gelegt worden.

Nach dem Tod des Großvaters wählten der Ältestensrat und die Häuptlinge ihn zum neuen Wicasa Wakan – Heiligen Mann - und Pejuta Wacasa – Heiler – ihres Stammes.

Ungewollt wurde er so Augen- und Ohrenzeuge der unglücklichen Auseinandersetzung zwischen Rauch und Mato Tatanka - Bulliger Bär -, der einst am selben Tag wie Schwarzer Mond das Licht erblickt hatte und damals zehnmal vier und einen Winter zählte. Zu dieser Zeit lagerten die Oglala im Winterquartier am gemächlich dahinfließenden Chugwater Creek unweit weißer Handelsstationen. Zwischen Bulliger Bär und dem jüngeren Rauch schwelten schon länger Eifersüchteleien. Bulliger Bär sonnte sich in seinem Ruhm und genoss die Würde eines Oberhäuptlings. Rauch, so ehrgeizig wie dick, träumte hingegen von einem Stamm der Oglala, der ihn an seiner Spitze wollte. Unglücklicherweise gab es neben üppigen Vorräten an Büffelfleisch für den Winter - im Herbst hatte man gutes Fleisch auf den Ebenen gemacht - auch reichlich Miniwaken – Feuerwasser - in den Tipis. Es gehörte zur traurigen Wahrheit seines Stammes, dass neben Gewehren, Messern und Beilen aus Stahl, Stoffen, Perlen für die Stickereien der Frauen und natürlich Munition, Feuerwasser ziemlich weit oben auf der Tauschliste einiger Lakota stand. Schwarzer Mond vergaß diesen Tag schon deshalb nicht, weil er selbst der Versuchung nicht widerstand jenes geheimnisumwobene Getränk des weißen Mannes reichlich zu verkosten. Freilich nur in der Absicht seine Möglichkeiten auf dem Weg in die Welt der Geister um einen weiteren Pfad zu erweitern. Erstmals in seinem an Wintern reichen Leben war Schwarzer Mond betrunken. Nie mehr fand er danach wieder so schnell in den Zustand der Zwiesprache mit dem Großen Geheimnis. Kein stundenlanges Schwitzen, tagelanges Fasten und ihm selbst manchmal endlos vorkommende monotone Gesänge zu noch monotonerem Trommeln. Eine halbe Flasche Brandy und das Diesseits begann sich zu verändern. Seine Augen sahen unbekannte Dinge. Nach anderthalb Flaschen – sein ganzer Körper war herrlich taub - gerieten die Gegenstände um ihn herum in Bewegung. Geräusche drangen zu ihm durch, die nur der Welt der Geister zuzuordnen waren. Bezahlt hatte er für seinen wissbegierigen Ausflug in das Reich des Rausches und der Träume mit einer zweitägigen Rosskur seines Körpers und der Bekanntschaft nie für möglich gehaltenen Kopfschmerzes. Den teilweisen Gedächtnisverlust über die für den ganzen Stamm verhängnisvollen Geschehnisse nicht mitgezählt.

Mit den anderen Würdenträgern hatte er im Zelte Rauchs mehrere Flaschen höllisch brennendes, die Sinne schneller als jeder ihm vorher bekannte Trunk benebelndes Feuerwasser runtergeschüttet. Irgendwann – hier setzte seine Erinnerung aus – musste es zwischen Rauch und Bulliger Bär zum Streit gekommen sein. Der damit endete, dass Machpya Luta - Rote Wolke -, blutjung und gerade von der Jagd zurückgekehrt, angesichts der lallenden und ins Gras brechenden Führungstruppe seines Stammes tobte und Bulliger Bär tötete. Weil der ihn beleidigt haben sollte. Ehrlicherweise konnte sich Schwarzer Mond nicht mehr daran erinnern. Jedenfalls war das keine kleine Sache einen Oberhäuptling des eigenen Stammes zu töten. Über die Auseinandersetzung was mit Rote Wolke geschehen sollte, von Tötung aus Rache über den Wunsch nach Verbannung aus den Zelten der Oglala bis zu offenen Beifallsbekundungen reichte die Spanne, zerfiel der Stamm in zwei Lager, die sich bis in die jüngere Gegenwart unversöhnlich gegenüberstanden. Getrieben vom schlechten Gewissen und weil er in Rauch und Rote Wolke mehr Vertrauen hatte als in die andere Seite der Anhänger von Bulliger Bär, zog Schwarzer Mond zusammen mit deren Zelten, den sogenannten Rauch-Leuten, weiter nach Norden fort, während die anderen, die Bären-Leute, zunächst am Chugwater Creek verblieben.

Zehn Winter nach diesen Ereignissen unterzeichneten die Lakota wieder einen Vertrag mit den Watschitschun. Schwarzer Mond rechnete mit den Fingern zurück. Schlange musste damals gerade mal einen Winter gesehen haben. Dass die Watschitschun sich nicht an alle der damals gegebenen Versprechen hielten war den Lakota längst aufgegangen. Aber noch hielt der Frieden und das war gut so für beide Seiten schloss Schwarzer Mond seine Erinnerungen.