Hoka-Hey - Jens Holger Fidelak - E-Book

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Jens Holger Fidelak

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Beschreibung

November 2013. Unbekannte haben aus Protest auf Pfählen aufgespießte Schweineköpfe auf dem künftigen Baugelände eines geplanten Moscheeneubaus im feinen Leipziger Stadtteil Gohlis aufgestellt. Dr. Bernd Brehm, Dozent am Institut für Sportwissenschaft der Universität Leipzig, ehemals DHfK, ist ein weltoffener Mann, der im festen Glauben an den Rechtsstaat seine Positionen privat als auch öffentlich vertritt. Dann trifft ihn ein doppelter Schicksalsschlag. Sein Leben gerät aus den Fugen, als sich seine Lebenswege zufällig und auf tragische Weise mit denen der Leipziger Unterwelt kreuzen.

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Jens Holger Fidelak

Hoka-Hey

Ein guter Tag zum Sterben

© 2016 Jens Holger Fidelak

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-8071-0

Hardcover:

978-3-7345-8072-7

e-Book:

978-3-7345-8073-4

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Prolog

Der Güterzug mit fünfzehn ziegelroten Waggons im Rücken, hatte den Wagen im Dunkel der Nacht ungebremst erfasst. Das völlig, bis zur Unkenntlichkeit ausgebrannte Fahrzeugwrack, ließ darauf schließen, dass Brandbeschleuniger im Wagen deponiert gewesen sein mussten. Außerhalb, der mit starken Scheinwerfern erleuchteten Unfallstelle, war es auf dieser abgelegenen Strecke zwischen Leipzig und Pegau stockdunkel. Nur in der Ferne leuchteten vereinzelt Lichter und deuteten auf kleine Dörfer in der Nachbarschaft hin. Auf der vom Nieselregen feuchten Straße und an den nass glänzenden Seitenwänden des zum Stillstand gekommenen Güterzuges, wurden die rot blau weißen Lichter der vielen Einsatzfahrzeuge in abertausenden Reflexen gespiegelt. Etwa 400 Meter vom Bahnübergang in Fahrtrichtung entfernt, kreischten die Trennschleifer der Feuerwehr auf dem völlig verkohlten, noch immer qualmenden Blechhaufen, der von dem Auto übriggeblieben war, um an die verbrannten menschlichen Reste hinter dem Lenkrad zu gelangen. In hohen Fontänen stoben die Funken in den Nachthimmel. Die beiden Lokführer saßen mit bleichen Gesichtern, offenbar unter Schock, auf der Ladekante eines hinten geöffneten Krankenwagens und hielten Teebecher in ihren zitternden Händen. Einer rauchte tief inhalierend und starrte dabei unverwandt in den Rauch vor sich. Der andere hatte die Augen geschlossen. Den Kopf dabei tief in den Nacken gelegt, als würde er den vorbeiziehenden Rauch seines Kollegen konzentriert aufnehmen wollen. Nachdem es nach einer Stunde gelungen war, die völlig in den Zug verkeilten Fahrzeugreste zunächst von der Lok zu lösen, konzentrierten sich die beiden Feuerwehrmänner im Beisein und unter Aufsicht der hinzugezogenen Kriminalpolizei auf das Stück um Stück mehr freigelegte Innere des Fahrzeuges. Soweit man das jetzt beurteilen konnte, befand sich nur eine Person im Fahrzeug. Plötzlich hob einer der Kommissare, ein stämmiger, älterer Mann die Hand. Die beiden Schleifer unterbrachen sofort ihre Arbeit. Gemeinsam näherten sich die zwei Polizisten der Karosse und griffen umständlich und unter großer Vorsicht an den scharfen Kanten und Graten vorbei in eine Spalte, die sich im Wageninneren aufgetan hatte. Zuerst hielten sie eine kleine, total verrußte, offensichtlich unbeschädigte Stahlkassette von der Größe eines Lexikons in ihren Händen und übergaben sie einem herbeigeeilten Mitarbeiter der KTU. Kurz darauf zog der jüngere der beiden Kommissare, größer und schlanker als der andere, unter der gleichen Vorsicht wie sein Kollege, eine Pistole aus der gleichen Spalte des zusammengeknautschten Autowracks. Die Kriminaltechnik in ihren weißen Papieranzügen hatte unterdessen mit Spezialschlüsseln die Kassette geöffnet. Einer der Techniker, mit dunklen Rußflecken auf dem weißen Overall beschmiert, hielt sie dem älteren Kommissar geöffnet hin. Dieser zog sich neue, saubere Gummihandschuhe über und rief seinen jüngeren Partner zu sich heran. Vorsichtig griff er in die Schatulle. Betrachtete und drehte den Fund in seinen Händen. Dann blickte er ungläubig zu seinem Kollegen.

1

„Moscheeneubau? Wozu braucht Leipzig eine neue Moschee? Soviel ich weiß, gibt es in Leipzig gerade mal 750 Muslime, die regelmäßig in eine Moschee gehen. Überhaupt, dieser Blödsinn von unserem ehemaligen Bundespräsidenten: ‚Der Islam ist ein Teil von Deutschland‘. Da tut mir doch der Sack weh.“ Micha schüttelte den Kopf und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas.

„Du verwechselst den Islamismus mit dem Islam als Religion“, hob ich an. „Du bist Mediziner Micha. Das was du hier ablässt, ist unterster Stammtisch. Von den rund 1,4 Milliarden Muslimen sind vielleicht Zweihunderttausend militant. Von mir aus auch Dreihunderttausend. Der Rest sind friedliche Menschen, die ihre Religion pflegen. Wenn hunderttausend Deutsche nach Thailand fliegen. Was glaubst du wieviel Kinderschänder darunter sind? Das ist Statistik. Mehr nicht.“ Mein Lieblingsargument.

„So. Das ist Statistik. Da bin ich ja beruhigt. Und die, denen die Verrückten vor laufender Kamera den Kopf abschneiden. Die sind ja richtig erleichtert. Abgesehen davon, Bernd du bist auch nicht blöd. Schon mal was von Parallelgesellschaften gehört? Weißt du wie viele arme Mädchen zuhause eingesperrt werden, weil ihre Alten völlig durchgeknallt sind? Die dürfen nicht allein auf die Straße, die haben noch nie ein Schwimmbad von innen gesehen.“ Micha schüttelte den Kopf. „Bei dreißig Grad im Schatten müssen die mit Kopftuch durch die Kante rennen. Klassenfahrten finden ohne sie statt. Und wenn sie ganz großes Glück haben, dann dürfen sie mit zwölf oder dreizehn ihren vierzigjährigen Cousin heiraten. Irgend so ein Opfer aus Anatolien, weil der Alte sie ihm versprochen hat. Wenn sie sich weigern oder mit gleichaltrigen Jungs abhängen, muss der Bruder sie auf der Straße umlegen. Wegen der Ehre der Familie. Das ist so eine kranke Scheiße und da gibst du diesem korrupten Fatzken Recht, weil er seinen Arsch mit so einer schwachsinnigen Aussage retten will. ‚Der Islam ist ein Teil von Deutschland‘! Den letzten Satz hatte Micha die Stimme verstellt und versucht Wulff nachzuäffen.

„Also ehrlich Micha, komm mal runter. Natürlich ist das nicht in Ordnung. Und ich sage auch nicht, dass die Integrationspolitik nicht verbessert werden muss. Abgesehen davon hat er das gesagt, als es noch nicht um seinen Arsch ging. Aber Tatsache ist, dass hier in Deutschland ungefähr vier Millionen Muslime leben. Davon vielleicht 7400 Salafisten, laut BKA. Freilich sind längst nicht alle integriert. Aber bei unserer Geburtenentwicklung brauchen wir über kurz oder lang Einwanderer, wenn wir unseren Wohlstand sichern wollen.“ Ich trank mein Glas aus.

„Gegen Einwanderer, die hier arbeiten und Steuern zahlen, hat auch keiner was. Bernd. Du kennst mich. Ich bin doch kein Fremdenfeind oder irgendwie rechts angehaucht. Fakt ist aber, dass die Muslime hier langsam zu einem Problem werden. Fakt ist, dass verstärkt Straftaten von Nordafrikanern verübt werden. Fakt ist, dass auf der Straße aggressiv für den Islam geworben wird. Wenn du ehrlich meine Meinung hören willst? Wer hier Scheiße baut, muss sofort zurück. So einfach ist das.“

„Micha. Der Rechtsstaat verfügt längst über die Mittel zur Ausweisung. Ich stimme dir zu. Hier müsste man konsequenter geltendes Recht anwenden. Aber denk bitte auch an Artikel Eins des Grundgesetzes. Die Religionsfreiheit ist ein Grundrecht. Und ich finde, ein Rechtsstaat muss diese unbequemen Tatsachen auch aushalten. Das zeichnet ihn übrigens vor anderen Staatsmodellen aus.“ Ich kam mir selber blöd vor, mit meinen moralischen Appellen. Michas Meinung war ja so verkehrt nicht. Insgeheim stimmte ich ihm in vielem zu. Aber dennoch regte sich in mir ein unbestimmtes Gefühl, mich hier auf die Seite unserer Regierung zu stellen. Nicht weil ich ein besonderer Gutmensch sein wollte. Sondern aus tiefster Überzeugung in einem demokratischen System leben zu wollen und allen extremistischen Anschauungen bereits in den Anfängen mit Vehemenz entgegenzutreten. Und ehrlich. Ich glaubte an die Überlegenheit und den langen Atem des Rechtsstaates. Nur so ließen sich meine unzähligen Leserbriefe zu allen Themen des öffentlichen Lebens erklären.

Einer dieser engagierten Briefe gegen jede Art von religiöser Intoleranz, der im Spiegel abgedruckt wurde, worauf ich besonders stolz war, sozusagen mein Ritterschlag als Demokrat, war auch der Grund gewesen, weshalb man mich zur Bürgerversammlung eingeladen hatte. Der Iman hatte mich persönlich angeschrieben und hoffte in mir einen rückhaltlosen Unterstützer des Moscheeneubaues im Publikum sitzen zu wissen. Denn noch hatte die Stadt die Pläne nicht genehmigt.

Das war auch der Grund für unseren außerplanmäßigen Besuch im Pilot. Die zuvor gerade zu Ende gegangene Bürgerversammlung, an der Micha und ich teilgenommen hatten. Im noblen Leipziger Stadtteil Gohlis, wollte die Religionsgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat, eine neue Moschee für einhundert Personen errichten. Der zweite Neubau einer Moschee in Ostdeutschland überhaupt! Mit Minarett! Im Vorfeld gab es kritische Stimmen. Eine Bürgerbewegung hatte sich gegen den Neubau gegründet. Höhepunkt dieser Ablehnung war das Pfählen von blutigen Schweineköpfen auf dem künftigen Baugelände. Der Staatsschutz ermittelte seitdem. DieReligionsgemeinschaft Ahmadiyya Muslim Jamaat, kurz AMJ, versteht sich als weltweite islamische Reformbewegung. In Deutschland hat die Gemeinschaft ungefähr 35.000 Mitglieder. Sie verfügt bundesweit über mehr als 30 Moscheen und etwa 225 Gemeinden. Außerdem betreibt sie einen TV-Sender und einen Verlag. Der Verfassungsschutz stuft sie als konservativ, aber nicht als extremistisch oder gewalttätig ein. Micha und ich waren als Anwohner zur Bürgerversammlung eingeladen worden. Während der Podiumssitzung war es hoch hergegangen. Die Vertreter der Stadt versuchten zu beschwichtigen. Die Muslime freuten sich schon auf den friedensstiftenden Charakter des neuen Gotteshauses. Die Gegner des Neubaus entwarfen Schreckensszenarien von Bürgersteigen voller Burkas, Extremistenrek-rutierung, -ausbildung und ideologischer Indoktrination in Hinterzimmern. Hier argumentierten die Neubaubefürworter durchaus nachvollziehbar mit dem Argument, dass auf dem Bauplan keine Hinterzimmer zu verifizieren seien. Davon unbeeindruckt, wurde der Vorplatz der Moschee von den besorgten künftigen Nachbarn zum möglichen Drogenumschlagplatz und am Wochenende zum Koranmarkt stilisiert.

Micha und ich blieben noch eine ganze Weile im Pilot hängen. Im weiteren Verlauf des Abends wandten wir uns verstärkt klassischen Männerthemen zu. Micha war frisch getrennt und konnte so einige erfrischend neue Thesen zur Nichtkompatibilität von Mann und Frau beisteuern. Umso origineller sein Lösungsmodell. Er versuchte mit einer zwanzig Jahre jüngeren Gefährtin, der Manu, den kompletten Neuanfang. Für mich noch überraschender war der Fakt, dass er als Sportmediziner sich wegen einer Beziehung zur neuen Krankenschwester des Institutes von seiner zukünftigen Exfrau, ebenfalls Krankenschwester am Institut, trennte. Die räumliche Nähe der beiden Rivalinnen am Arbeitsplatz erleichterte nicht unbedingt den aktuellen Alltag Michas. Als guter Freund hörte ich einfach zu und gab ihm den einzig mir vernünftig erscheinenden Rat. Saufen und Abwarten. Ansonsten Abwarten und notfalls Saufen. Ich hätte auch ehrlich sein können. Hätte Micha sagen können, dass er bescheuert ist zu glauben, mit der neuen Schnalle auch nur einen Deut glücklicher zu werden. Hätte von seinen beiden kleinen Kindern anfangen können, die jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit ohne Vater aufwachsen werden. Schon die Anfänge des aufziehenden Rosenkrieges zwischen Micha und seiner Ex malten dieses Bild mit Gewissheit in Michas aktuell noch schwanzgesteuerten Himmel voller Geigen. Ich ließ es bleiben. Ich empfand es als anmaßend mich in Michas Beziehungskiste einzumischen. Seine Frau Marion kannte ich auch. Abgesehen davon, dass ich sie nie geheiratet hätte, tat sie mir leid.

Ich bestellte noch zwei Bier bei Marcel.

2

Er war Anne sofort aufgefallen, als er mit seinem Freund Ingo über den Flur in die kleine Küche eintrat, in der sie gerade damit beschäftigt gewesen war, einen Aschenbecherersatz zu suchen. Sie griff nach einer kleinen, blaugrauen Untertasse in dem Regal schräg über der Spüle, als die beiden, offensichtlich auf der Suche nach Getränken, diskutierend in den Raum traten.

„Die Migrationsbewegungen in Nordafrika sind erst der Anfang sagst du. Heißt das, es kommen noch mehr Flüchtlinge übers Mittelmeer oder über den Balkan nach Europa?“ Ben - den Namen hatte Ihr ihre Freundin Christin später auf der Couch im sogenannten Wohnzimmer, dem eigentlichen Zentrum der Party zugeraunt, kurz bevor Sie an diesem Abend die einzigen drei Worte miteinander gewechselt hatten - schien sie gar nicht zu bemerken. Er antwortete aus ihrer Sicht ziemlich aufgedreht.

„Alter. Das ist erst der Anfang! In zehn oder fünfzehn Jahren kommen hier Massen. Nur wegen des Wassers. Die haben dort irgendwann kein Wasser mehr! Und rate mal, wo sie dann hinkommen? Genau! Hierher kommen sie. Denn wir haben Wasser. Mehr als alle anderen.“

„Darf ich?“, fragte sie und drängte sich an Ingo vorbei in den großen Raum um Christin den Aschenbecher zu bringen. Ben hockte mit dem Rücken zu ihr vor der geöffneten Kühlschranktür und suchte offensichtlich Bier. Dabei fiel ihr Blick auf mehrere aufgerissene Wurstpackungen, die ungeordnet in den Schüben des Kühlschrankes vor sich hin gammelten. Ein unangenehmer Geruch stieg ihr in die Nase. Er schien sie völlig zu ignorieren. „Das meiste Trinkwasser ist an den Polkappen gefroren und steht somit nicht zum unmittelbaren Verbrauch zur Verfügung. Und wenn es schmilzt, dann wird es vom Meerwasser versalzen“, hörte sie ihn beim Hinausgehen weiter dozieren.

Sie merkte, dass sie schon ganz schön angetrunken war. Muss halt auch mal sein, beruhigte sie sich. Im Wohnraum angekommen, stellte sie den Unterteller bei Christin ab. Die nickte nur kurz und war weiter in ihr Gespräch mit On Off Martin vertieft. Anne konnte Martin nicht leiden. Sie wusste genau, ein Zeichen von ihr und er würde, ohne mit der Wimper zu zucken, mit der besten Freundin - für die hielt sie sich nämlich - seiner Freundin Christin ins Bett steigen. Zum Glück für alle Beteiligten wusste nur Anne, dass es zu Beginn der Beziehung zwischen den beiden zunächst sie es war, die verzweifelt auf ein Zeichen von Martin gewartet und gehofft hatte, dass er mit ihr - also der besten Freundin von Christin - ins Bett steigen wolle. Aber dieses arrogante Arschloch hatte sie mit Absicht ignoriert. Stattdessen betrog er seine Christin mit der Schnepfe aus der Unibibliothek. Sie hatte die beiden Händchen haltend im Café gesehen. Und für das erste Off in Christins und Martins Beziehung gesorgt. Aber nicht aus gekränkter Eitelkeit. Sie musste damals schon gespürt haben, was für ein widerliches Schwein dieser Martin war. Damals, das war, als sie sich zu ihrer 24 Stunden Observation entschloss. Nein. Christin hatte sowas einfach nicht verdient. Und auch wenn es ihr verdammt schwer gefallen war, Anne hatte tapfer zu ihrer Freundschaft gestanden und Christin alles erzählt. Zum Glück war Christin so fertig und völlig am Boden zerstört gewesen, dass sie gar nicht nachfragte, wer die Fotos von den Beiden geschossen hatte. Und warum ausgerechnet ihre beste Freundin Anne auch beim zweiten Off in der Beziehung der Beiden, eine mit ihren zufälligen Fotos vom Tatort - diesmal waren es Fotos vom Einchecken in eine Hotellobby mit der Tussi hinter der Bar im Mediziner Studentenclub - mehr als glaubwürdige Zeugin war. Stattdessen hatte Martin dieser Arsch noch am selben Abend bei ihr vor der Tür gestanden und sie angeschrien, sie solle ihn endlich in Ruhe lassen. Sie sei eine völlig kranke und durchgeknallte Stalkerin. Dabei wäre sie eigentlich eine ganz arme Sau. Und eigentlich tue sie ihm leid! Seitdem strafte sie ihn damit, dass sie so tat, als wäre er Luft. Er versuchte das gleiche natürlich mit ihr. Aber sie wusste es besser. Ein Zeichen und er würde auf Knien vor ihr kriechen. Aber nein Freundchen! Den Zahn würde sie ihm schon noch ziehen. Aber jetzt galt ihre ganze Aufmerksamkeit zunächst den beiden Neuankömmlingen, die beide mit einem Bier in der Hand eingetreten waren. Ben lehnte lässig an einer Anrichte und hörte konzentriert zu, als Ingo auf ihn einredete. Hin und wieder hob er seinen gebräunten Arm und führte die Bierflasche zum Mund. Beim Trinken schloss er jedes Mal die Augen. Süß. Sie stellte sich zu der Gruppe von Laura, Jenny, Diana, Oskar und Tom. So, dass sie ihn ungestört betrachten konnte und dennoch den Eindruck erweckte, an dem Gruppengespräch über die nächste Semesterabschlussparty teilzunehmen. Gerade, als sie mit sich zufrieden konstatierte, einen idealen Beobachtungspunkt eingenommen zu haben, um ungestört Ben zu betrachten, drehte der sich um und sah ihr direkt in die Augen.

„Ey! Geht`s noch, pass doch auf“, zeterte Jenny, der sie beim abrupten Abwenden ihren halben Gin Cola über die hellgrüne Jeans geschüttet hatte.

„Was ist denn mit der los?“, hörte sie auf ihrer panikartigen Flucht zur Toilette Oskars Stimme hinter sich im allgemeinen Lärm aus Musik, sinnlosem Getratsche und Gläserklirren, untergehen. In ihrer Hektik hatte sie verpasst, draußen das Licht anzuschalten. Auf keinen Fall wollte sie jetzt noch mal raus. Mit vor Aufregung zitternden Händen, kramte sie im Dunkeln aus ihrer Handtasche eine Zigarette. Wo war denn nur das verdammte Feuerzeug? Sie brauchte mehrere Versuche, das Ding endlich anzuzünden. Schließlich gelang es ihr und sie inhalierte einen tiefen Zug. Geraucht werden sollte zwar nur auf dem Balkon, so die ungeschriebene Regel bei den Partys in Toms und Oskars Studenten WG-Wohnung, aber die beiden Schwuchteln sollten sich mal nicht so haben. Wegen des bisschen Zigarettenqualms so einen Aufriss zu machen. Hoffentlich hatte Ben nicht mitbekommen, wie sie ihn angestarrt hatte. Sie wusste, dass diese Frage nur mit einem eindeutigen ‚Nein‘ beantwortet werden konnte und schüttete kopfschüttelnd den Rest Gin Cola, den sie im Glas vorsichtig neben dem Toilettenbecken abgestellt hatte, in sich rein. Zog an ihrer Zigarette und nahm den Kopf nach hinten in den Nacken.

Angetrunken und nach etwas Entspannung suchend, lehnte sie sich an die Wand hinter ihr. Die Rauchwolke über ihrem Kopf sah aus, als ob sie in regelmäßigen Abständen die Farbe veränderte. Von grauweiß zu rotgrauweiß und wieder zu grauweiß und wieder zu rotgrauweiß. Wo zu Teufel kam denn plötzlich dieses unerträgliche Piepen her? Und warum klopften draußen welche wie besessen an die Toilettentür?

Dass Schwuchteln so grob sein können, wenn sie mit Frauen sprechen, sollte man ruhig mal ein bisschen unter die Leute bringen, dachte sie, als sie sich zwei Stunden später - der ganze Trubel schien sich endlich zu beruhigen - auf dem Sofa halb zusammengrollt in die Ecke gehockt hatte. Von wegen kultiviert.

„Wie doof muss man sein, auf der Toilette zu qualmen, wenn man vorher gesagt bekommen hat, dass die ganze Wohnung mit Feuermeldern ausgestattet ist? Dass man deshalb nur auf dem Balkon rauchen soll, der ja nun wahrlich groß genug ist.“ Als ob sie jedes Mal zuhört, wenn einer einen belehrt. Am liebsten hätte sie Oskar angeschrien, ob er seinen Freund auch jedes Mal belehrt wie man AIDS verhindert, bevor er sich über seinen Arsch hermacht. Irgendein Instinkt hatte sie aber davon abgehalten den beiden Wichsern den Spiegel vors Gesicht zu halten. Nein. Da war sie einfach zu clever. Stattdessen heulte sie ein bisschen und meinte, es tue ihr so leid. Sie wisse selber nicht, was sie geritten habe, bla bla bla. Jedenfalls hatte sich die Lage jetzt beruhigt. Sie beobachtete, wie Martin mit Jenny quatschte und hätte wetten können, dass die nächste Demütigung ihrer besten Freundin und damit ja auch irgendwie ihrer selbst, bereits in Arbeit war, als Christin mit zwei neuen Drinks in den Händen auf sie zukam und sich neben ihr, aufs weiche, dunkelgraue Sofa, fallen ließ.

„Hier trink was. Das beruhigt.“ Dankbar schüttete sie den halben Drink mit einem Zug in sich hinein, als links aus der Terrassentür Ben und Ingo ins Zimmer traten und sich an dem langen Esstisch niederließen. Offenbar ging es immer noch um Politik oder so was. Jedenfalls hörte sie beim Eintreten der beiden, wie Ingo zu Ben sagte:

„Glaubst du wirklich, 14 Milliarden Menschen bis 2100? Das wäre ja der blanke Irrsinn. Eine einzige Katastrophe für unseren Planeten“ oder irgend sowas in der Richtung. Ben hatte eifrig genickt und dabei ihren Blick aufgefangen. Hatte er sie angelächelt? Oder hatte er gelächelt, weil er die Verrückte in ihr identifiziert hatte, die erst abgehauen ist, als er sie angeblickt hat. Um fünf Minuten später die Party spektakulär zu würzen, indem Sie den Feueralarm ausgelöst hat? Hat er sie etwa mitleidig angelächelt?

„Sag mal, wer ist eigentlich der komische Typ, mit dem Ingo dort abhängt?“, hörte sie sich Christin fragen.

„Komisch? Wieso komisch? Der ist doch ganz nett. Um nicht zu sagen, der ist doch eigentlich total süß. Das ist Ben. Und wenn ich nicht mit Martin gerade so glücklich wäre…- ihr Blick musterte Ben ungeniert von oben bis unten - ich würde für nichts garantieren“, kicherte Christin, die sich bei den letzten Worten verschwörerisch zu ihr gebeugt hatte. Anne nahm ungewollt den alkoholgeschwängerten Atem ihrer Freundin wahr. Ein Seitenblick auf Martin, der mittlerweile immer näher an Jennys Ohr zu rücken schien, ließ sie innerlich aufstöhnen. Bei dem Gedanken, wieder tagelang Martin und dieser doof-geilen Jenny hinterher spionieren zu müssen, was sich angesichts seines letzten, unmöglichen Auftrittes vor ihrer Wohnungstür ungleich komplizierter gestalten würde als bisher, wurde ihr schlecht. In der Küche knallte ein Sektkorken. Zunehmend betrunken, drängte Anne sich durch die Menge zur Garderobe und wühlte in den Taschen ihres Parkers eine neue Schachtel Zigaretten hervor. Auf dem Rückweg zum Sofa gelang es ihr einen unauffälligen Blick auf Ben zu erhaschen. Dieser hatte unterdessen einen größeren Zuhöreranhang gefunden. Am Tisch saßen jetzt sieben Leute. Darunter die grenzdebile Caro und der dicke Steffen. Auch die beiden Turteltauben Martin und Jenny hatten Platz genommen. Alle schienen an einer Diskussion beteiligt zu sein. Es ging um den Moscheeneubau in Gohlis. Ben und Ingo vertraten leidenschaftlich den Standpunkt, dass das Grundgesetz allen Menschen die freie Ausübung ihrer Religion zusicherte. Der dicke Steffen nannte sie daraufhin politisch korrekte Schwätzer. Martin klopfte ihm dafür anerkennend auf den Rücken. Er fände ohnehin, dass schon genügend Fidschis und Türken in Leipzig leben würden. Man müsse bloß mal in die Eisenbahnstraße gehen. Auch an der Uni laufen immer mehr von denen rum.

„Stimmt. Gestern habe ich zwei von denen gesehen, wie sie mit Turban in den Hörsaal gekommen sind.“ Caro machte ihrem Ruf wieder alle Ehre.

„Mensch, das sind Inder. Die sind Hindus. Die meisten jedenfalls.“ Ingo wirkte genervt. Jenny kicherte blöd dazu. Anne war entsetzt. Die arme Christin. Dieser Martin war nicht nur ein Arschloch. Er war ein fremdenfeindliches Arschloch, das zu allem Überfluss auch noch Jura studierte. Wo sollte das alles Mal hinführen. Sie selber machte sich nichts aus Religion. Ein typisches Kind des Ostens. Für sie war das alles suspekt. ‚Schönen Gruß an den Weihnachtsmann!‘ So hatte ihr Vater damals, als sie noch eine Familie waren, die Ankündigung seiner Schwester kommentiert, Ostern die Kirche zu besuchen.

Ben, ein hellblaues Polo von Lacoste spannte sich über seinen definierten Oberkörper und passte, wie sie später herausfand wunderbar zu seinen blauen Augen, blickte Steffen ins Gesicht und hörte ihm aufmerksam zu, als der von seinen Erfahrungen im letzten Türkeiurlaub berichtete. Den Trick mit der Kleidung die Augenfarbe zu unterstreichen, kannte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Überhaupt spielte Mode für sie höchstens eine Nebenrolle im Leben. Nicht, dass sie nicht eitel gewesen wäre. Zum Glück hatte sie eine Figur, die ihr erlaubte, ziemlich alles zu tragen. Mit ihren langen, leicht gewellten, aktuell etwas zu dunkel gefärbten Haaren, weil diese blöde Friseuse nur hell und dunkel konnte und dafür auch noch 60 Euro von ihr verlangt hatte, sah sie eigentlich recht hübsch aus. Ihr Äußeres sei auch nicht das vordringlichste Problem ihrer Beziehung, hatte Justus vor einem halben Jahr zu ihr gesagt, bevor er sich mit seiner dürren, bebrillten Annika, aus ihrer Sicht einem echten Problem zugewandt hatte. Angeblich seien die beiden sehr glücklich, glaubte Christin neulich mal in einem Nebensatz fallen lassen zu müssen. Ausgerechnet Christin! Bestimmt waren die beiden glücklich. Glücklich, wenn sie ihre nichtssagende ‚Wir-studieren-beide-Pharmazie-Konversation‘ führten. Glücklich, wenn sie gemeinsam zum Fußball latschten. Wo sie sich dann mit den anderen Freunden von Justus trafen. Seinen ach so tollen Kumpels vom Fußballverein. Die hatte sie zur Genüge ertragen. Ihr Fazit schon damals: Zusammen noch blöder als in der Gruppe!

Bens Haare waren kurz und dunkelblond, die Augen schmal. Sein Gesicht wirkte männlich und irgendwie doch nicht. Nicht androgyn. Männlich, aber irgendwie nicht hart. Beim Lachen blitzten seine gleichmäßigen Zähne. Wenn er konzentriert sprach, so wie jetzt, zur ihn wahrscheinlich am liebsten gleich in ihr Bett zerren wollenden Jenny, dann kräuselte seine Stirn. Die Augen wurden zu regelrechten Schlitzen. Sie konnte eine Ohnmacht gerade noch verhindern, als er zu ihr aufsah und sein Blick sie fixierte. Sie hielt wider Erwarten diesem Blick stand. Die Gefahr einer Ohnmacht war aber noch nicht gebannt, wie sie entsetzt merkte, als er ihr plötzlich freundlich zulächelte. Sie nickte knapp wie eine Angestellte, der man mitgeteilt hatte, sie habe morgen kein frei, sondern muss vier Stunden länger arbeiten. Dann rettete sie sich auf die Terrasse. Dort nahm sie Tom das Glas aus der Hand und schüttete es auf ex runter.

„Na na na junge Frau. Jetzt ist wo innen auch der Feuermelder angegangen und du musst löschen?“

„Gib mir lieber mal Feuer“, versuchte sie die Situation einigermaßen zu entschärfen, bevor ihr noch was rausrutschte, zu der Unverschämtheit von vorhin. Denn eigentlich mochte sie Tom und seinen Freund Oskar. Aber für Sentimentalitäten war hier und jetzt kein Platz. Er hatte sie angelächelt, so viel war sicher. Und sie hatte, wie auch immer, reagiert. Hatte ihm mitgeteilt, sein Lächeln war angekommen.

„Tom. Ich könnte noch was zu trinken gebrauchen“, schnurrte sie versöhnlich und lehnte kokett ihren Kopf an seine Schulter.

„Bist du sicher?“, schmunzelte der und begab sich auf den Weg nach drinnen. Durch die Tür konnte sie sehen, wie sich Ben und Ingo erhoben und sich aller Wahrscheinlichkeit nach verabschieden wollten. Sie warf die Kippe zu Boden. Dachte kurz über die Verschwendung nach. Denn von ihren paar Kröten waren Zigaretten aus der Packung eigentlich Luxus. Sie hatte sich extra für die Party eine Schachtel für fünf Euro (!) gekauft, um auf das nervige Selberdrehen zu verzichten. Und um nicht ständig Tabakreste von der Lippe zupfen zu müssen. Rasch und möglichst unauffällig huschte Anne in den Flur. Um dort, wie zufällig, in ihrer Jacke zu kramen.

„Das nächste Mal bei uns. Da feiern wir dann hoffentlich die bestandenen Klausuren. Vorausgesetzt, die Profs von der Uni haben sie von ihren Lakaien schon korrigieren lassen“, redete Ingo grinsend auf Tom ein. Der kam gerade mit zwei Drinks in der Hand aus der Küche und hatte sich den beiden in den Weg gestellt. Oskar und Ben umarmten sich kurz. Danach umarmte Ben Tom, der dabei die beiden Drinks - wie ein Pinguin seine Flügel - seitlich von sich streckte. Ingo umarmte solange Oskar und dann auch noch Tom und schließlich öffnete Ben die Tür. Anne hatte mittlerweile alle Taschen ihres Parkas von oben nach unten ‚durchsucht‘ und begann gerade wieder von vorn, als sie sich plötzlich zur Tür drehte und ihr Blick heute schon zum vierten Mal auf den von Ben traf.

„Also dann“, sagte Ben und hob lässig die linke Hand und winkte ihr kurz mit den Fingerspitzen zu, ohne sie aus den Augen zu lassen.

„Tschüss“, krächzte sie hervor und zwang sich seinem Blick standzuhalten. Dann trat Ingo zwischen die beiden. Schob Ben die Treppe hinunter und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Ungefähr vier Wochen sah und hörte sie nichts von ihm. Dabei hatte sie das Gefühl verraten worden zu sein. Immerhin hatte er sie angelächelt und zum Abschied ‚Also dann‘ zu ihr gesagt. Klar, die anderen hatte er auch angelächelt, an diesem Abend. Aber erstens nicht so wie sie, da war sie sich absolut sicher. Zumindest immer am Anfang ihrer permanent wiederkehrenden Rekapitulationen der Geschehnisse, jenes für sie schicksalhaften Abends. Mit Sicherheit hatte er zu keinem der anwesenden Mädchen ‚Also dann‘ gesagt. Für sie stand außer Zweifel, dass er ihr damit sagen wollte ‚Also b i s dann‘. Und wenn das keine Verabredung für später gewesen sein soll? Was denn dann bitteschön? So unauffällig wie möglich, kam sie deshalb beim Zusammentreffen mit den anderen Partygästen, immer wieder gern auf die Geschehnisse des Abends zu sprechen. Aber egal, ob mit Christin in deren Zimmer beim Lernen für die Romanistik Klausur, mit Tom in der Mensa zu ungenießbarem Jägerschnitzel mit Makkaroni oder mit der blöden Jenny, der sie einmal nicht mehr ausweichen konnte, während einer Observation im Kaufhaus, als sie offenbar nur noch halbherzig bei der Sache gewesen war. Immer beschränkten sich die Gespräche auf die Nummer mit dem Feuermelder. Tapfer hörte sie zu. Und sagte dabei Sätze wie: ‚Ich bin ja manchmal so blöd, das gibt es gar nicht‘ oder ‚Bloß gut, dass keine Sprinkleranlage in der Toilette oder in der Wohnung installiert war‘. Und musste dann auch noch mitkichern und mitlachen, wenn die anderen ihre billigen Vorlagen genüsslich um weitere mögliche Katastrophen oder Beispiele ihrer einzigartigen Blödheit ergänzten. Insgeheim erhoffte sie sich von diesen Gesprächen vielmehr den Hinweis: ‚Du, weißt du eigentlich, dass der Ben sich nach dir erkundigt hat. Musst ja mächtig Eindruck auf den gemacht haben. So wie der hinter deiner Telefonnummer her ist‘. Stattdessen fabulierte sie Sätze wie: ‚Wie geht`s eigentlich Ingo? Das war ja ein Typ, den der da auf der Party mit im Schlepptau gehabt hat. Der hat mich immer so komisch angesehen. Also ganz dicht war der nicht‘. Darauf wurde ihr meist mehr oder weniger offen mitgeteilt, dass Ben allgemein ein sehr beliebter Mitstudent war, den viele sympathisch fanden und sie offensichtlich über gestörte Wahrnehmungsfähigkeiten verfügte. So kam sie also nicht weiter.

Bis ihr der Zufall, sie nannte es das Schicksal, ausgerechnet in Form ihrer besten Freundin Christin, helfen sollte. Das Schicksal nahm seine Wende im Kino, als die beiden nebeneinander, eine mittlere Portion Popcorn und zwei Cola Zero in den Händen, der Werbung folgten. Natürlich war sie vorher wieder auf die Party zu sprechen gekommen. Hatte über ihre eigene Dämlichkeit mit Christin lachen müssen und sich dabei gedacht, dass die blöde Kuh wahrscheinlich gar nicht weiß, dass ihr Martin hinter Jenny her ist. Auch wenn die aktuelle Beweislage dünn war. Die Observationen hatten bislang noch keine eindeutigen Belege geliefert. Aber sie war an der Sache dran. Und dann Schätzchen, öffnen wir dir mal die naiven Augen. Und mal sehen, wer dann lacht. Aber das war jetzt zweitrangig.

„Findest du?“, antwortete Christin, als die Finalfrage: ‚wer denn nur dieser komische Vogel gewesen sei, mit dem Ingo sich da abgegeben hatte‘, erneut von ihr geschickt an das Ende des Gespräches lanciert worden war. Dabei griff sie gelangweilt in den kleinen Eimer mit Popcorn und steckte eine halbe Handvoll in den Mund. Dann, noch kauend: „Ich find den total sympathisch und unheimlich scharf. Sein Vater ist an der Uni im Hochschulsport. Und soviel ich weiß, arbeitet Ben dort auch als Hilfsassistent in der Sportpraxis und gibt für den Studentensport Tennis und Basketballstunden.“

Als sie aus der Umkleidekabine trat, fühlte sie sich wie eine Astronautin kurz vor dem Einstieg ins Space Shuttle. Zum Glück war es Mai und draußen warm. Eine komplette, ganzjährige Tennisausrüstung hätte sie dazu gezwungen die nächsten drei Monate Tütensuppen zu essen. Widerwillig hatte sie den schwarzen Tennisrock mit dem schwarzen Polohemdchen ausgesucht und dachte vorm Spiegel: Ich sehe ja aus wie eine Schiedsrichterin. Aber das waren die beiden einzigen gesenkten Artikel in ihrer Größe. Und sie brauchte ja auch noch geeignete Schuhe, wie ihr ihr Cousin Daniel gesagt hatte. Daniel wohnte in Berlin, war vier Jahre älter als sie und wie sie wusste, hatte er früher Tennis gespielt. Zumindest wurde ihre Tante damals bei den seltenen Familienzusammenkünften nie müde aufzuzählen, wie viele Hobbys ihr interessierter und vielseitig begabter Junge doch hatte. Und noch länger ließ sie sich darüber aus, wie erfolgreich ihr Daniel auch noch in all seiner Vielseitigkeit war. Nachdem der Daniel dann sein Medizinstudium geschmissen hatte, bzw. das Physikum eine für ihn unüberwindbare Hürde gewesen war und der Daniel jetzt Musik machte und nachts in Berlin Taxi fuhr, um den Unterhalt für sein uneheliches Kind aufzubringen, dass er mit einer Krankenschwester im ersten Semester gezeugt hatte, und bei der er kurz nach dem Physikum ebenfalls durchgefallen war, waren diese Exzesse nach und nach abgeklungen. Tante Hedi mied in letzter Zeit Familienfeste. Der ehemalige Jugendmeister des TC Blau Weiß Henningsdorf war einigermaßen überrascht, als Anne sich bei ihm meldete: ‚Um mal zu hören wie es so geht‘. Cousin und Cousine hatten sich nie was zu sagen gehabt. Die gegenseitige Nichtbeachtung war anerkannter Status Quo. Jedenfalls gab er sich sehr zugeknöpft. Aber als er merkte, dass Anne tatsächlich nur ein paar Sachen über Tennis erfragen wollte, von denen sie offensichtlich keine Ahnung hatte und als sie nicht darauf aus war, seine aktuelle work-life-balance zu hinterfragen, gab er bereitwillig Auskunft und verabschiedete sich sogar mit: ‚Das war ja eine Überraschung‘. Der Tipp mit den Schuhen erschien ihr besonders wertvoll, weil sie tatsächlich gehört hatte, dass man sonst vom Tennisplatz geschmissen werden konnte. Wobei ihr völlig neu war, dass es unterschiedliche Sorten von Tennisplätzen gab. Leider nicht nur der Tipp, sondern auch die Schuhe waren wertvoll. Schließlich ging sie volles Risiko und kaufte die einzigen gesenkten Damentennisschuhe von Dunlop in Größe 40, obwohl sie eigentlich 38,5 hatte. Der nette Verkäufer versicherte ihr aber, dass das bei Anfängern nicht so schlimm sei. Sie solle dicke Socken anziehen und die Schuhe, von unten beginnend, eng zuschnüren. Später stellte sich heraus, dass die zu großen Schuhe tatsächlich ihr geringstes Problem bei diesem, wie sie schnell herausfand, für sie hochkomplexen Rückschlagspiel, darstellten.

In der Umkleidekabine des Tennisgeländes saß sie auf einer abgewetzten, ehemals grauen Holzbank und beobachtete eine 180 Zentimeter große Blondine, die sich später als Nadine entpuppen sollte, wie sie sich ihre Titten unter ihrem ultrakurzen, rosa Adidas Tenniskleidchen hochschob. Und dann im Spiegel prüfte, ob der farblich abgestimmte, extra knappe Slip, auch ja zu sehen war, wenn sie auf und ab hüpfte. Na klasse! Zum Schluss musste Nadine noch Lippenstift nachziehen und etwas Lipgloss auflegen, Stirnband und Zopf perfekt ausrichten und ab auf den Platz. Am liebsten wäre Anne in den Katakomben des Tennishauses sitzen geblieben. Aber nun war sie so weit gekommen. Als der Spiegel endlich von Nadine freigegeben war, überprüfte sie ihr Traueroutfit in dem fleckigen Teil. Schaute auf die Dunlop Flossen an ihren Füßen und schnappte sich den gebrauchten Tennisschläger, den sie zufällig bei einem A&V in der Fensterauslage gesehen hatte. Als sie mit dem Händler zu feilschen begonnen hatte, weil sie zehn Euro für unangemessenen Wucher hielt und sie sich in ihrer Rage schon so weit vorgewagt hatte, dass sie ihm drohte, sich für das selbe Geld gleich einen neuen Schläger bei Karstadt Sport zu kaufen, hatte der ihr den Schläger in die Hand gedrückt und gesagt, sie solle abhauen. Eine Verrückte daheim reiche ihm für den Tag.

Auf dem leeren Platz stellte sie sich neben die drei anderen Mädchen, die wie Nadine alle mit ihren Handys beschäftigt waren und eifrig tippten und wischten. Zu ihrer Beruhigung stellte sie fest, dass bis auf Nadine die anderen Mädchen alle in mehr oder weniger auffälligen Tennisklamotten aufgelaufen waren. Auch sonst glänzten sie nicht durch irgendeine Form von Extravaganz. Plötzlich kam hinter einer grünen Wand mit Werbung für ein Autohaus, die den nächsten Platz von ihrem künftigen Schlachtfeld abtrennte, ein gutgelaunter Ben um die Ecke. In der Linken lässig einen Schläger haltend und mit der Rechten einen Einkaufskorb schiebend, der randvoll mit gelben Tennisbällen gefüllt war, auf denen noch fünf oder sechs Tennisschläger aufgestapelt waren.

„Hallo die Damen“, grinste er. Und erst dann schien er sie zu bemerken. Denn obwohl Nadine „Oh! Bist du schon schön braun Benni“ flötete und die anderen ein langgezogenes, freudbetontes „Hey Ben“ im Chor anstimmten, das ihr leises „Hallo“ übertönte, blickte er Anne unverwandt an.

„Du aber auch Nadine“, sagte er, ohne den Blick von Anne zu wenden. Sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Ihr Herz hatte den gleichen Weg bereits genommen und befand sich auf Höhe Rock. „Hey“ kam er direkt auf sie zu, umarmte sie und flüsterte in ihr Ohr: „Das ist aber eine schöne Überraschung. Du glaubst gar nicht, wie ich mich freue, dich wiederzusehen Anne.“

Nadine gab ihr hinterher eindrucksvoll nonverbal zu verstehen, dass sie wohl nie Freundinnen werden würden. Und auch die anderen, bis dato unbeteiligten drei Grazien, schienen in ihrem Weltbild wohl mehr als erschüttert. Noch dazu, als nach der Erwärmung die ersten Bälle geschlagen wurden und Ben sich ausschließlich mit Anne befasste. Zunächst aus pädagogischen Zwängen heraus, denn Anne hatte mindestens genauso wenig Ahnung wie Talent. Dennoch schien es ihm Spaß zu machen und er bemühte sich rührend und mit viel Geduld. Lobte wenn eigentlich Kopfschütteln angebracht gewesen wäre und brachte schließlich die Stimmung im Rest der Übungsgruppe auf Beerdigungslevel, als er Anne vor den anderen fragte, ob sie nicht Lust hätte, nach der Stunde noch ein bisschen mit ihm Einzelunterricht zu nehmen: „Um Grundlagen zu schaffen, damit es beim nächsten Mal noch besser laufen würde. Denn für eine Anfängerin machst du dich total toll“. Er kannte ihren Namen! Also hatte er sich nach ihr erkundigt, strömte es in immer schöneren Gefühlswallungen wieder und wieder durch ihren Kopf. Erfasste ihren ganzen Körper und irgendwann hatte sie nur noch Angst aufzuwachen.

Nach dem Training saßen sie auf der Bank neben dem Court in der Sonne. Überall, um und auf der Tennisanlage, hatte sich das satte Grün des beginnenden Sommers breit gemacht. Irgendwo, auf einem ihren Blicken verborgenen Platz auf der Anlage, ploppten die Bälle anderer Tennisspieler. Anne streckte die müden Glieder und genoss den Augenblick. Bitte sag was, egal was, ich spring drauf an, dachte sie gerade, da fragte er sie, ob sie schon gegessen habe. Nach Essen war ihr im Moment überhaupt nicht zumute.

„Immer wenn ich Sport mache, könnte ich hinterher einen ganzen Ochsen verschlingen“, lachte sie fröhlich. Und bekam im gleichen Moment Panik, dass er nachfragen könnte, was sie sonst noch so für Sport mache. Sport war so ziemlich das Letzte, was sie sich freiwillig antat, abgesehen von sporadischen Spaziergängen.

„Was machst du denn sonst noch so für Sport?“, griff er unbekümmert und ehrlich interessiert den Faden auf. Dabei streifte er sich die Strümpfe von den Füßen und bewegte erleichtert die Zehen an der frischen Luft.

„Wandern“, rutschte es ihr heraus. Ein wenig verwundert sah er an ihr herab. Ihre Beine waren ebenso alabasterfarben, wie ihr Teint und ihre Oberarme. Wobei das schwarze Polo diese Wirkung drastisch unterstrich. Seine perfekten Beine waren gleichmäßig gebräunt, wie der Rest des Körpers. In seiner komplett weißen Tenniskleidung sah er aus, wie die Typen in Wimbledon.

„Ach so“, sagte er und ging zum Glück nicht weiter darauf ein. „Kommst du mit in die Mensa? Ich lad dich ein, wenn ich darf.“

In der Kabine biss sie sich in die Hand, um nicht loszuschreien. Jetzt versau es nicht wieder, flehte sie sich selber an. Für einen Drink hätte sie jetzt gemordet, so viel war sicher. Komisch, dabei fühlte sie sich, als hätte sie gerade einen herrlichen Cocktail zu sich genommen.

Ihre Ängste schienen zunächst unbegründet, als Ben auf dem Fußweg zur Mensa schüchtern nach ihrer Hand fasste, um ihr auf einen hohen Treppenabsatz zu helfen. Sie stieg hinauf, blieb stehen und sah ihm in seine blauen Augen. Dann schloss sie ihre Lider und reckte sich ihm entgegen. Jetzt oder nie! Als sie die Augen wieder öffnete, starrte Ben sie an. Eine Mischung aus Angst und Verzweiflung in den nun aufgerissenen, blauen Augen. Und seine Hand schien die ihre nie wieder loslassen zu können.

„Ich... ich ...“ Oh Mann! Das durfte doch jetzt nicht wahr sein. „Ja?“, hauchte sie ihm entgegen und streckte sich mit geöffneten, alles verheißenden Augen noch näher an seine Lippen. Die Panik in seinen Augen nahm dadurch eher zu, als ab. Irgendwie gelang es ihm jetzt doch seine Hand von ihrer zu lösen. Dabei trat er einen Schritt zurück, so dass sie, auf Zehenspitzen an ihn gelehnt, einen Ausfallschritt nach vorn machen musste und mit ihrem hochgereckten Kinn in seinem Brustkorb einschlug und sich dabei auf ihre Zungenspitze biss.

„Mhmm.“ Sie hielt sich die Hand vor den Mund.

„Sorry. Oh mein Gott! Hast du dir wehgetan? Oh Mann! Du blutest ja. Zeig mal her. Das wollte ich nicht. Oh! So eine Scheiße. Verzeih mir bitte“, wimmerte Ben los. In seinen Augen wechselten sich Unglück und Schuldgefühl gegenseitig ein und aus.

„Nich so flimm“, lispelte sie hervor. Dabei hatte sie das Empfinden, dass hinter der vorgehaltenen Hand ein Hammer permanent auf ihrer Zungenspitze einschlug.

„Zeig mal her“, forderte er sie erneut auf und griff zärtlich und mit größter Vorsicht unter ihr Kinn. Neigte und drehte den Kopf leicht zur Seite. Dabei betrachtete er ihre ausgestreckte Zunge eingehend. „Zum Glück nur ein ganz kleiner Riss. Mann, dass das gleich blutet. Wenn ich dir nur helfen könnte“, jammerte er und bewegte ihren Kopf wie den einer Marionette von links nach rechts und von unten nach oben, ihre Zunge dabei von allen Seiten untersuchend. Endlich nahm er sie in den Arm und sie bekam Gelegenheit ihre Zunge wieder einzufahren und vorsichtig am Gaumen und den Zähnen abzutasten. Dann griff er sie bei den Schultern und hielt sie von sich weg. „Kannst du überhaupt noch essen?“, fragte er mit besorgtem Blick.

„Eis wäre gut“, kam ihr die rettende Idee. Sie zuckte zusammen, als beim S die Zungenspitze auf den oberen Gaumen traf.

„Klar, na klar Eis“, stellte er mit großer Erleichterung fest, als habe er soeben ein Mittel gegen eine Geißel der Menschheit in Erfahrung gebracht. „Los komm!“

In der kleinen Eisdiele erfuhr sie dann zur ihrer großen Erleichterung, dass Ben nicht schwul war. Die Angst davor hatte sie den Schmerz auf der Zungenspitze beinahe vergessen lassen, nachdem sie plötzlich die einzig logische Erklärung für sein Verhalten ganz klar vor Augen gehabt hatte. Er war auch keine ungeküsste Jungfrau, die gemäßigte Variante ihrer angstvollen Vermutungen. Er hatte nur bereits eine Freundin, wie sie, nachdem sie die Möglichkeiten von transsexuellen oder bisexuellen Hemmnissen besorgt durchgespielt hatte, mit sie selbst bedenklich stimmenden, unaufhaltsam voranschreitenden, moralischem Werteverfall, feststellte.

„Das ist doch toll“, rutschte es ihr heraus. Sie entlockte ihm damit einen fragenden, unsicheren Blick.

„Nein. Das ist gar nicht toll, denn seit ich dich auf der Feuermelder Party gesehen habe, bin ich völlig durcheinander. Zwischen mir und meiner Freundin läuft es nicht gerade gut im Moment.“ Feuermelder Party. Na klasse.

„Wie heißt sie denn? Kenn ich sie?“

„Glaub ich nicht. Andrea ist seit vier Monaten in Neuseeland und bleibt noch mindestens ein halbes Jahr.“

„Wie kann es denn dann im Moment nicht so gut laufen, wenn ihr euch seit Monaten gar nicht seht?“ Wortlos holte er sein Handy hervor und scrollte darauf rum. Dann hielt er ihr das Display vor die Nase.

Lieber Ben, ich glaube ich mich habe mich nicht nur in Neuseeland, sondern auch in Geffroy, meinen Segellehrer verliebt. Ich brauche jetzt einfach erstmal ein bisschen Zeit für mich. Das heißt aber nicht, dass ich Dich nicht auch liebe, aber im Moment bin ich einfach so durcheinander und Du bist so weit weg und schließlich habe ich ja auch das Recht auf ein bisschen Glück, hier, so weit weg von zuhause. Ich drück Dich. Melde mich wieder, wenn ich meinen Segelschein in der Tasche habe. Andrea.

„Die ist doch nicht ganz dicht“, kommentierte sie das soeben gelesene. Als sie den, wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunkenen Ben auf seinen Eisbecher starren sah, stand sie auf. Kurvte um den kleinen runden Tisch der Eisdiele, setzte sich neben ihn auf die kleine Bank. Sie nahm seine Hand und streichelte mit der anderen seinen Handrücken.

„Du Armer. Wenn ich nur wüsste, wie ich dir helfen könnte?“, heuchelte sie, sehr wohl im Besitz klarer Strategien, Ben aus seiner verfahrenen Situation zu befreien. Sehr klarer Strategien!

„Du bist so lieb.“ Ben blickte sie dankbar an. Dann begann er unbekümmert, dabei schweigend vor sich hin starrend, mit der freien Hand den Eisbecher in sich rein zu löffeln. Da wartete noch eine gehörige Menge Arbeit auf sie.

3

Die Versammlung war in seinen Augen völlig sinnlos gewesen. Schuster tat es leid, um die Zeit, die er mit solchem Unsinn verbringen musste. Nach der Geschichte mit den Schweineköpfen hatte sein Chef ihn zum Leiter einer Sonderkommission mit dem Namen ‚Minarett‘ gemacht. Kleinhardt und er nannten die SOKO intern lieber ‚Sülze‘. Jedenfalls mussten sie seither alle Veranstaltungen, die mit dem Moscheeneubau zusammen hingen, beobachten. Oft saßen sie stundenlang im Auto und warteten vor der Zentrale der Ahmadiyya Gemeinschaft, dem Gebetszentrum in der Eisenbahnstraße. Achteten darauf, wer das hellgelb getünchte Haus betrat und wer es wieder verließ. Insofern war der Besuch der Bürgerversammlung noch eine Abwechslung. Trotzdem hatte Schuster die Schnauze voll. Auf seinem Schreibtisch lagen noch genug unbearbeitete andere Fälle, warteten noch unzählige Berichte und Protokolle darauf, endlich geschrieben und zu den Akten geheftet zu werden. Aber sein neuer Chef, Dr. Wichmann, dieser aufgeblasene Wichser aus dem Westen, hatte der Moschee Geschichte höchste Priorität gegeben. Jeden neuen Tag fragte sich Schuster, welche Qualifikationen Wichmann eigentlich mit sich brachte. Nach seinem Eindruck hatte der von gar nichts eine Ahnung. Geschweige denn handelte es sich bei ihm um eine charismatische Führungspersönlichkeit. Wahrscheinlich verfügte er über das richtige Parteibuch. „Wie früher“, hatte er dem jüngeren Kleinhardt erklärt. Zum Glück hatte er Kleinhardt als Partner bekommen. Seit der Trennung von seiner Frau vor sechs Jahren, kämpfte Schuster mit einem Alkoholproblem. Genauer seit dem Zeitpunkt, als er merkte, dass er seine Gisela nicht würde zurückbekommen können. Über Jahre war es ihm gelungen, die Sache unter Verschluss zu halten. Doch dann hatte Kleinhardt ihn zuhause abholen wollen.

Es war als Überraschung gedacht gewesen. Schuster hatte an diesem Tag Geburtstag und eigentlich dienstfrei. Kleinhardt hatte heimlich eine Bootstour mit ein paar Kollegen organisiert. Mit anschließendem Grillen. Vermutlich total besoffen, hatte Schuster die Tür zu seiner kleinen Zweiraumwohnung im Hochhaus am Bahnhof nicht richtig verschlossen. Kleinhardt betrat, nach mehrmaligen, erfolglosen Rufen, vorsichtig die Wohnung. Und sah Schuster in seiner eigenen Kotze liegen. In einem Meer aus Müll, leeren Flaschen und stinkenden, angeschimmelten Pizzaresten. Frank, sie duzten sich seit jenem Tag, hatte daraufhin zum Handy gegriffen und die Bootstour und den Grill abgesagt. Hatte alle eingeladenen Kollegen informiert. Schusters Mutter sei krank und der Herr Hauptkommissar bereits auf dem Weg zu ihr nach Brandenburg. Dann hatte er Schuster ausgezogen und unter die Dusche gesetzt. Den Rest des Tages verbrachte Kleinhardt damit, nachdem er Schuster frisch gewaschen in dessen Bett gelegt hatte, die Wohnung vom Müll zu befreien, die Wäsche zu waschen und zu Putzen. Am Abend, als Schuster langsam aus seinem Vollrausch erwachte, hatte Kleinhardt eine Hühnersuppe gekocht. Bevor er an diesem Abend die Wohnung verließ, tranken die beiden noch zusammen ein Bier. Keiner sagte ein Wort, bis Schuster das Schweigen brach.

„Und? Was wirst du jetzt tun?“, fragte er, gequält in sein Bier vor sich hin starrend.

„Ich fahr jetzt heim und hole dich morgen früh zum Dienst ab.“ Damit stand Kleinhardt auf und verließ die Wohnung. Das Thema Alkoholismus wurde von beiden nie wieder angesprochen. Im Gegenteil, so manchen Umtrunk hatten sie gemeinsam genommen. Dabei achtete Kleinhardt immer darauf, dass Schuster bei Bier blieb und rechtzeitig die Notbremse zog. Dann schleppte er ihn in der Regel heim. Aber seit diesem Tag vertrauten sich beide einander und in den oft stundenlangen Phasen des Wartens, erzählten sie sich gegenseitig (fast) alles. Schuster wusste von Kleinhardts ständig wechselnden Freundinnen, seinen gelegentlichen Joints und von seinem Traum, einmal quer mit dem Cabrio durch die USA zu reisen. Er kannte Franks Ängste, aus Versehen Vater zu werden. Kleinhardt bekam dafür aus erster Hand rückwirkend Informationen über den schleichenden Niedergang von Schusters, leider kinderlos gebliebener, Ehe.

So richtig verstehen konnte Schuster die Aufregung der braven Bürger aus dem feinen Gohlis nicht. Er hielt sich für tolerant. Jeder nach seiner Fasson. Sein Verhältnis zum Glauben hatte sich in den Jahren verändert. Noch getauft und mit Tischgebet aufgewachsen, stellte sich die Frage nach der Existenz Gottes in seiner Kindheit nicht. Später, als Heranwachsender, sah er sich durchaus als Christ, seine Kirchgänge beschränkten sich aber auf Weihnachten und Ostern. Irgendwann im Laufe seines Berufslebens, bei dem er mit allen Abgründen menschlicher Verwerflichkeit konfrontiert wurde, stellte er angesichts unschuldig, bestialisch ermordeter Kinder den liebenden Gott in Frage. Rational wurde er vom Alltag schleichend in seiner Überzeugung verunsichert. Trost fand er in der Überlegung, dass in jedem Menschen ein religiöses Moment verankert sein musste. Sonst würden nicht über 99 Prozent der Menschheit in irgendeiner Religion ihr zuhause finden. So entwickelte er sich ungewollt zum Agnostiker. Doch in den endlosen, einsamen Stunden, in denen er sich besoff und dabei im wahrsten Sinne an Gott und die Welt dachte, von Gisela mal ganz abgesehen, kam ihm plötzlich die Erkenntnis. Genauso wie bei ‚Gott und die Wilmots‘ von John Updike, pflegte er ab da seine Haltung zu begründen. Kleinhardt fasste es einmal so zusammen: Vom Agnostiker zum Diagnostiker. Das hatte ihm gefallen. Und seitdem sorgte Schuster, immer wenn es um Konfessionen ging, für aufgerissene Augen, wenn er sich als Marxist bezeichnete. Stets mit dem Zusatz: „Aber nur in Fragen der Religion“. Kommunismus war ihm ebenso suspekt wie jede Art von Autokratie oder Diktatur. Aber wenn er ganz ehrlich war, bei aller Toleranz, ein Minarett, direkt neben seiner Wohnung, womöglich noch mit Muezzin alle paar Stunden. Das sorgte gewiss nicht für steigende Immobilienpreise in der Gegend. Und wozu eigentlich? Er konnte sich nicht entsinnen, je davon gehört zu haben, dass derzeit in der arabischen Welt irgendwelche Christlichen Kirchen für ein paar bekennende Gläubige in die Metropolen gebaut wurden. Da kamen in den Nachrichten ganz andere Botschaften an die westliche Welt. Das konnte er aber nicht lösen. Seine Aufgabe bestand darin herauszufinden, wer die Schweineköpfe dort aufgespießt hatte. Zunächst vermuteten Kleinhardt und er klassisches rechtes Milieu. Aber das führte zu keinem brauchbaren Ergebnis. Schuster war mittlerweile relativ sicher, dass diese Aktion von besorgten Kleinbürgern, mit traditionellem Fremdenhass hinter der geschlossenen Wohnungstür, verübt worden war. Die Chance, hier jemanden ohne Zeugen festzunageln, lag bei null. Entsprechend motiviert versah Schuster in der SOKO seinen Dienst. Der Besuch der Veranstaltung war hatte ihn und Kleinhardt auch keinen Schritt weiter gebracht. Sie notierten sich nur ein paar Namen von Gegnern des Moscheeneubaus und würden denen noch einmal intensiver auf den Zahn fühlen.

4

Asis Mohadi, einer der kleineren Fische aus der Leipziger Dealer Szene vorm Hauptbahnhof, wohnhaft im Viertel um die berüchtigte Eisenbahnstraße und der Polizei hinlänglich bekannt, saß in seiner Wohnung und trank genüsslich ein Bier. Sein erstes, nachdem er heute aus der Haft entlassen wurde. Trotz wiederholter Verstöße gegen das Betäubungsmittelverbot, hatte es bisher immer nur zu kleinen Aufenthalten im Knast gereicht. Kaum draußen, knüpfte Asis dort an, woran man ihn gerade gestört hatte, bevor er in den Knast musste. Von den Aktivitäten seines Chefs hatten die Bullen einen relativ bestimmten Verdacht, aber nie einen Beweis. Nach den Vermutungen der Polizei, kontrollierte ein gewisser Al Raschid den Standort Leipzig und hatte mit seiner gemischtarabischen Truppe sowohl die Bulgaren, wie auch die Russen und die Rumänen unter Kontrolle. Mit den Albanern hatte er einen Deal, wonach diese in der Provinz und in der Landeshauptstadt schalten und walten durften, wie sie wollten. Die Albaner, die das ursprünglich anders geplant hatten, soll er dadurch ruhiggestellt haben, dass er zwei von ihnen mit abgeschnittenen Eiern in die Auffahrt zu einer Villa in Süd Gohlis hatte ablegen lassen, in der der Clan Chef residierte. Um dem uralbanischen Drang nach Blut- und Familienrache vorzubeugen, hatte er zudem, so sagte man sich in der Szene, zwei hübsche Töchter des Clanchefs und dessen kleinsten Sohn als Geiseln in seine Villa nach Markleeberg bringen lassen, in der er sie wie seine eigenen Kinder aufzog und, wenn sie und ihr richtiger Vater lieb waren, durften sie einmal in der Woche miteinander skypen.