Die Rankes und das Dritte Reich - Jens Holger Fidelak - E-Book

Die Rankes und das Dritte Reich E-Book

Jens Holger Fidelak

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Beschreibung

Familie Ranke hat sich nach ihrer Vertreibung aus der alten Heimat Deutsch-Südwestafrika in dem kleinen thüringischen Städtchen Arnstadt niedergelassen. Dort erleben August und Helene Ranke mit ihren fünf Söhnen im Januar 1933 den Machtwechsel in Deutschland. Einhergehend mit den gesellschaftlichen Umbrüchen jener Zeit, sucht jedes Familienmitglied seinen Platz in der neuen Ordnung. Wird dabei von Vergangenheit und Gegenwart eingeholt. Oder arrangiert sich mit den neuen Machthabern. Konflikte innerhalb der Familie brechen auf. Im Krieg verhärten sich die Fronten. Schicksale verschmelzen. Auch die nächste Generation gerät in den Strudel von Schuld, Treue, Angst, Hass, Liebe und Verrat. Mit der Fortsetzung von "Hereroland" schreibt der Autor die Geschichte einer deutschen Familie eindrucksvoll fort. Führt den Leser schonungslos in Alltag und Abgründe des Dritten Reiches.

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Jens Holger Fidelak

Die Rankes und das Dritte Reich

Roman

© 2018 Jens Holger Fidelak

Verlag und Druck: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7469-7287-9

Hardcover: 978-3-7469-7288-6

e-Book: 978-3-7469-7289-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Meiner Mutter

Januar 1945. Ostfront. Kurz hinter dem Baranow Brückenkopf an der Weichsel

Der Soldat drängte sich mit seinem verwundeten Kameraden durch die Traube der Wartenden in Richtung der alten Junker. Die Propeller liefen, der Gefechtslärm war nur wenige Kilometer entfernt. Panik war ihm ins Gesicht geschrieben. Über dem rechten Auge glänzte eine halbmondförmige Narbe. Es war ein verzweifeltes Kämpfen um jeden Zentimeter. Die verwundeten Soldaten und ihre wenigen Helfer schienen zu spüren, dass dieses Flugzeug vielleicht ihre letzte Chance war, hier lebend rauszukommen. Am Flugzeugeinstieg standen drei bewaffnete Posten und wehrten teilweise mit den Kolben die Herandrängenden ab. Neben ihnen stand ein Arzt und entschied über die Passagiere. Bei den meisten Fällen schüttelte er den Kopf und erntete ein langgezogenes, unmenschliches Jaulen der zum sicheren Tode verurteilten Kreatur.

Vor den beiden Männern kam es zum Tumult. Fäuste flogen. Schreie! Geschickt nutzte der Soldat die entstandene kleine Lücke und quetschte sich und seinen verletzten Kameraden näher ans Flugzeug. Ein Ellenbogen krachte gegen seine Nase. Unbeirrt arbeitete er sich wie ein Besessener weiter Zentimeter für Zentimeter nach vorn.

Endlich war der Soldat mit der Narbe und seinem verwundeten Kameraden vor dem Arzt angelangt. Von hinten drängten die anderen zerlumpten und nur notdürftig verbundenen Landser unerbittlich. Die Propeller heulten auf. Durch die Massen ging ein Ruck des Entsetzens. Das Drängeln, Drücken und rücksichtslose Um-sich-schlagen erreichte den Höhepunkt.

„Wir müssen sofort los, Herr Major! Wir können nicht länger warten!“, brüllte der Pilot aus dem Inneren der Maschine. Die Menge schrie auf und geriet außer Kontrolle. Die drei Posten verteidigten den Eingang jetzt mit aller Brutalität. Einer der Posten lud durch und schoss in die Luft. Die Meute konnte das nicht mehr abhalten. Der Major kletterte mit Mühe in die Maschine. Sein linker Stiefel wurde ihm von einem Landser abgerissen. Der Major trat nach hinten aus wie ein ungezähmtes Pferd beim Hufschmied. Der Stiefeldieb ging, im Gesicht getroffen, zu Boden und wurde von den Nachdrückenden untergepflügt. Der Soldat mit der Narbe mobilisierte die letzten Kräfte und warf seinen Kameraden mit dem Oberkörper in den Flugzeugbauch, der sich langsam in Bewegung setzenden Junker. Der halb aus der Flugzeugtür Heraushängende schrie viehisch vor Schmerzen. Aus dem Innern der Maschine versuchte jemand den Verletzten wieder aus der Maschine zu stoßen. Die nachrückenden Soldaten verhinderten das. Wie die Kolben einer Maschine schossen die Stiefel der Insassen wieder und wieder aus der Tür in Richtung der von draußen verzweifelt klammernden Landser.

„Nein! Nein! Bitte nicht! Lungensteckschuss, Herr Major. Nein!“ Der Soldat konnte das Tempo der rollenden Maschine nicht mehr halten. Die Tür der Junker schloss.

1933

Eine Kellertür wurde aufgestoßen. Sie zerrten ihn an den Haaren die zwei Treppenstufen hinab, und warfen ihn gegen die Wand. Langsam sackte er zusammen. Als die Tür hinter ihm laut zugeschlagen wurde, verlor er die Nerven und begann zu schluchzen. Er hatte Angst. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Angst verspürt. Sein Entsetzen, die Panik die ihn durchfuhr, wenn er daran dachte, was ihm noch bevorstehen würde, ließen ihn alle körperlichen Schmerzen vergessen. Die klaffende Wunde an der Stirn von dem Schlag mit dem Totschläger. Die gebrochenen Rippen nach den schweren Stiefeltritten. Die gequetschten Finger seiner Hände von der Schraubzwinge, mit der sie ihn gefoltert hatten. Den abgebrochenen Schneidezahn.

„Nachher holen wir dich wieder.“ Dieser lapidare Satz bedeutete für ihn die Rückkehr in die Hölle und hatte sich in sein Bewusstsein gefressen. Lastete tonnenschwer auf seiner Brust. Sein Schluchzen ging über in ein unkontrolliertes Zittern und Zucken. Sein Herz klopfte in verzweifelter Raserei unregelmäßig. In seinen Ohren rauschte es. Durch das Rauschen drangen die Schreie aus den Nachbarkellern. Die furchtbaren Schreie seiner unglücksseligen Kameraden. Jeder dieser Schreie durchfuhr ihn wie glühender Stahl, drang durch Mark und Bein und schürte seine Angst ins Unermessliche. Eines dieser Ungeheuer, glaubte er erkannt zu haben. Sicher war er nicht. Am Ende war das egal. „Lieber Gott…“, flehte er „… bitte lass es aufhören. Bitte hilf mir! Hol mich hier raus! Rette mich!“ Nebenan hörte er eine Tür knallen. Nein! Bitte nicht! Unerbittlich kamen die Stiefeltritte näher. Polternd flog die Tür zu seinem Kellerloch auf.

Noch zehn Minuten. Obwohl er wach war, hielt Heinz die Augen noch geschlossen. Draußen war es bitterkalt. Den ganzen Januar war es kalt gewesen. Die Kälte hatte in der Nacht mit breitem Pinsel weißkörnige Muster auf die Fensterscheiben gemalt. Der Schnee auf den Gehwegen vor dem Haus war alt und schmutzig. Müde zog er die Decke ein letztes Mal bis zum Hals und wärmte sich. Gestern war er erst spät ins Bett gekommen.

Werner, sein Bruder Hugo und er waren im Wirtshaus am Holzmarkt gewesen und hatten lange Diskussionen mit den Schreiber Brüdern geführt. Natürlich ging es um die Nationalsozialistische Bewegung und ihre künftige Rolle in Deutschland. Gustav Schreiber, der ältere der beiden Brüder, agitierte ihren Tisch - und die Nachbartische gleich mit -, mit seiner lautstark vorgetragenen These, dass nur ein Reichskanzler Hitler Deutschland aus dem Versailler Dreck ziehen könne. Hugo hatte versucht zu widersprechen. Zwischen seinen Augen kräuselte sich die Stirn in Falten. Karl Schreiber, breites Kinn und zu wenig Stirn, der aussah wie eine dünne Kopie seines korpulenten Bruders, unterstützte ihn. Beide schwafelten von Demokratie und Gewaltenteilung. Einer faschistischen Gefahr, die Deutschland nicht in eine neue Blüte, sondern in den Abgrund führen würde. „Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!“, zitierte Karl irgendwelche Kommunistenparolen. Den ganzen Abend hatten die drei eine hitzige Diskussion geführt. Werner hatte interessiert zugehört und schließlich Karl auf die Schulter geklopft, als sie sich verabschiedeten. Heinz war das alles ziemlich egal. Politik interessierte ihn nicht. Sein großer Bruder Theo versuchte ihn seit Jahren für die Bewegung zu gewinnen.

Theo war, wie so oft in den letzten Monaten, vorgestern nach Berlin gereist. „Im Auftrag des Führers!“ und „Er müsse dahin, wenn er noch groß rauskommen wolle“, hatte er stolz verkündet und seine braune Hemdbluse zugeknöpft. Seit sechs Monaten war Theo Obertruppführer SA. Seither hatte ihn Heinz nicht mehr ohne Uniform gesehen. Konnte sich den älteren Bruder ehrlich gesagt nicht mehr ohne sein braunes Hemd und die Hakenkreuzbinde am Arm vorstellen. Verrückt. Heinz war gestern Abend, wie so oft seit fünf Jahren, in seinen Gedanken in der Backstube gewesen. Genauer über der Backstube. In dem kleinen Zimmer zur Hofseite an dem Ort, an dem sich seine Träume immer wieder trafen. Das Zimmer, in welchem Elisabeth schlief.

Seufzend schlug er die warme Decke zurück und sprang aus dem Bett. Frierend, mit steifen Gliedern, streifte er die mehlbestäubten und mit winzigen Teigresten verklebten Arbeitssachen über. Leise schlich er ins Bad und wusch sich mit kaltem Wasser das Gesicht. Nebenan schliefen die Eltern. Über die knarrende Treppe stieg er vorsichtig ins Untergeschoss hinab. Tastete vorsichtig im Dunkeln bis in die Küche. Er trank ein Glas Milch. Die kalte Milch ließ ihn innerlich noch mehr frösteln. Er hasste Winter. Er hasste es, mitten in der Nacht aufzustehen. Er hasste die Schufterei.

Aber er liebte seinen Beruf. Heinz war mit Leidenschaft Bäcker geworden. Einmal in den frühsten Morgenstunden angekommen, genoss er die Wärme und den frischen Geruch in der Backstube. Teig zu kneten war für seine kräftigen Hände eine sinnliche Erfahrung. Das genaue Mischen des Teiges – mathematische Präzision plus Augenmaß und Gefühl - faszinierte ihn ebenso, wie der präzise austarierte Einsatz von Temperatur und Zeit vor, beim und nach dem eigentlichen Backvorgang. Wer hatte außerdem schon am Nachmittag frei?

Zu dieser Leidenschaft fürs Backhandwerk hatte sich gefügt, dass Elisabeth, die Tochter des Bäckermeisters Vogt, ganz neue Dimensionen leidenschaftlicher Gefühle in ihm ausgelöste. Dimensionen, deren Kraft und Wonnen er manchmal nicht glaubte aushalten zu können. Insbesondere dann, wenn ihm die sieben Jahre jüngere Elisabeth ein Lächeln schenkte. Dann rollte er besonders feine Teigbällchen und schnitt mit verklärtem Blick exakte Kerben auf die Decke, damit die schönsten und knusprigsten Brote und Brötchen Arnstadts vorn im Laden in den hohen dunklen Holzregalen und hinter der Theke landeten. Um dann in Elisabeths Händen zu schwelgen, ehe die sie, in Papiertüten verpackt, der Kundschaft über den Tresen reichte.

Die Kälte des Morgens schlug mit eiserner Faust in sein Gesicht. Weiße Schwaden stiegen vor ihm auf, wenn er gepresst ausatmete. Im restlichen Jonastal schliefen die Bewohner noch, wurden zur Zielscheibe seines Neides. Trotz der Handschuhe, die ihm seine Mutter Helene aus besonders dicker Wolle gestrickt hatte, waren seine Finger bereits klamm, als er das Fahrrad die kleine Auffahrt hinunter auf die Straße schob. Vom Gartenzaun löste sich ein kleines Schneebrett und fiel lautlos nach unten. Im Sommer fuhr er die kurze, relativ steile Abfahrt furios die Kurve nehmend am Stück. Ein Jochbeinbruch im letzten Winter, weil das Gartentor seiner Abfahrt ein unfreiwilliges, jähes Ende bereitete, ließ ihn seither im Winter die sichere Variante bevorzugen.

Knirschend arbeiteten sich die Gummireifen seines Fahrrades durch den gefrorenen Schneematsch. Der unebene, glatte Untergrund verlangte höchste Konzentration und stand der beim Abwiegen der Ingredienzien eines Weihnachtsstollens in nichts nach. Unerbittlich zuverlässig arbeitete sich die Kälte durch die Kleidungsschichten. Auf dem kurzen Anstieg zum Markt musste Heinz absteigen und schieben. Das Hinterrad fand keinen Halt. Er ballte die Finger in den Handschuhen zu einer Faust und schob das Rad nur mit den Handballen am Lenker. Das brachte den inzwischen taub gefrorenen Fingern eine kurze Erholung. Wieder aufgesessen, bemerkte er auf dem Markt in zwei Fenstern zu seiner Rechten Licht. Immerhin war er nicht der einzige, der zu unchristlicher Zeit aufstehen musste, tröstete er sich. Die schmale Abfahrt zum Kohlmarkt wurde ihm beinahe zum Verhängnis. Er konnte gerade noch einen Aufprall an der Hausmauer vermeiden, indem er sich halsbrecherisch auf die Seite legte und dabei mit dem rechten Bein sich und das Fahrrad abfing. Zumindest wärmte ihn das Adrenalin für den Moment. Vorsichtig geworden, fuhr er die letzten Meter und irgendwie gelang es ihm wie jeden Morgen mit völlig gefühllosen Fingern den Schlüssel in das Schloss einzuführen und aufzuschließen. Mit routiniertem Blick in den ersten Stock registrierte er zufrieden, dass Elisabeth noch schlief, ehe er sein Rad leise an der Hofmauer abstellte. Im Hof sah er frische Katzenspuren im unberührten Schnee am Rand des Wohnhauses. Er atmete noch einmal tief die kalte, würzige Luft in die Lungen und öffnete die Tür zur Backstube.

Der alte Vogt hasste Unpünktlichkeit, Faulheit und wenn man seiner einzigen Tochter nachstellte. In den ersten beiden Punkten waren Heinz und er Seelenverwandte. Dass Heinz seine Arbeit in der Bäckerei noch immer innehatte, lag nicht nur daran, dass das Bäckerhandwerk auch in den Zeiten der großen Krise ein sicheres Auskommen bot. In erster Linie lag es daran, dass Heinz seine Liebe zu Elisabeth allein in seinem Herzen trug und niemand davon wusste. Zu Heinz´ Leidwesen traf das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch auf Elisabeth zu. Abgesehen von der Angst und dem Respekt vor ihrem Vater hatte Heinz mit seinen nunmehr siebenundzwanzig Jahren bisher noch nicht einmal den Mut gehabt, Elisabeth seine Liebe zu gestehen. Allerdings musste sie blind sein, wenn sie seine Zuneigung nicht spürte. Und dann waren ja noch jene magischen Momente, in denen sie ihm ein Lächeln schenkte. Und Heinz konnte sehr gut in diesem Lächeln lesen. Da standen alle seine Sehnsüchte bereit zur Erfüllung. Ihm schauderte wohlig, wenn er nur Elisabeth dachte.

Der alte Vogt liebte seine einzige Tochter und das Herumkommandieren in der Backstube. Alkohol gegenüber war er ein aufgeschlossener Zeitgenosse. Das erste sah man. Das zweite hörte man. Das dritte roch man. Das dritte sah man übrigens auch. Die Nase des Alois Vogt war ein dickgeschwollener, großporiger, roter Zinken. Durchzogen von einem feinen Netz blauvioletter Äderchen und geplatzter Kapillare. Eine Säufernase, wie sie im Buche stand.

Heinz schlich vorbei am bereits den Brotteig knetenden Alois Vogt. Der blickte automatisch zur kleinen Uhr, die direkt über der Tür zu dem kleinen Waschraum am anderen Ende der Bäckerei angebracht war und brummte etwas in sich hinein, das Heinz als „Guten Morgen!“ interpretierte und höflich zurückgrüßte. E hängte die schwere Jacke an den Haken hinter der Tür zum Waschraum und machte sich sofort daran, den Backofen anzuwerfen. Dann schleppte er Mehl aus der Vorratskammer in die Backstube und schüttete es in die große Teigknetmaschine. Mit Wasser, Hefe und einer Handvoll Salz setzte er einen neuen Teig an und machte sich dann über die Backbleche her, die gesäubert und eingefettet werden mussten. Heinz war jetzt kaum eine Stunde in der Bachstube und der Schweiß lief ihm in Strömen. Landete in Tröpfchen auf den gefetteten Backblechen. Aus der Erfahrung war Heinz schon deshalb beim Brötchenteig sparsam beim Einsatz von Salz. Auf einmal sehnte er sich nach der klaren Kälte des aufziehenden Morgens hinter den zur Undurchsichtigkeit beschlagenen Scheiben der kleinen Backstube.

Großzügig gerechnet wechselten der alte Vogt und er an diesem Morgen vielleicht vier oder fünf Worte. Über die Jahre waren die Rollen verteilt. Das Gebrüll setzte in der Regel ein, wenn Frau Vogt und Elisabeth den kleinen Laden für die bald eintreffende Kundschaft, vorbereiteten. Ab da meldete sich im alten Vogt der Feldwebel aus dem Ersten Weltkrieg. Und Heinz beneidete keinen der Soldaten, der mit Vogt zusammen vor Verdun gelegen hatte. Manchmal fragte er sich sogar, wieso damals keiner den Mut gehabt hatte, diesen brüllenden, charakterlich fragwürdigen Säufer einfach abzuknallen. Wenn seine Schulkenntnisse stimmten, wäre das an der Westfront nicht weiter ins Gewicht gefallen. Solche Gedanken kamen Heinz immer dann, wenn Alois Vogt mit Schüsseln und anderen Utensilien nach seiner Frau und Elisabeth warf, wenn diese nicht schnell genug auf seine Kommandos reagierten. Oft genug war ihm Heinz dann in den Arm gefallen und hatte für Ruhe und Ordnung gesorgt. Anschließend hatte sich Elisabeth - noch immer schluchzend - schutzsuchend an ihn geschmiegt. Träume nur zu, du verdammter Versager!

Im echten Leben knetete Heinz mit gesenktem Kopf den Teig oder reinigte die Bretter und tat so, als merke er gar nicht, wie in der kleinen Backstube jemand völlig die Kontrolle über sich verlor

Heute blieb der Meister ungewöhnlich ruhig. Selbst als Heinz unzweifelhaft Geräusche aus dem kleinen Ladengeschäft vorn vernahm, blieb der Alte konzentriert bei seinen Brötchen. Was war da los?

Bevor Elisabeth das kleine Waschtischchen mit dem darüber angebrachten, ovalen Spiegel verließ, übte sie noch einige wenige verführerische Blicke. Oh ja. Hübsch war sie. Das zu wissen, war einfach nur ein schönes Gefühl. Beruhigend. Und aufregend zugleich. Außerdem unerlässlich für ihre langfristigen Pläne. Wenn es jemandem gelingen sollte, sich von einem der fünf unverheirateten Ranke Söhne einen Ring an den Finger stecken zu lassen, dann kam man in dieser Frage an ihr nicht vorbei. Sie legte vorsichtig eine Haarsträhne an die ihr passend erscheinende Stelle. Sie gefiel ihm auch! Das spürte eine Frau, auch wenn sie gerade erst Zwanzig geworden war.

Natürlich war er der adretteste von den Fünfen. Obwohl alle stattliche Burschen waren - mal abgesehen von Hugo, der war irgendwie komisch, fand sie - und jeder von ihnen zu begehrten Partien in Arnstadt zählte. Denn ihre Eltern hatten, woher auch immer, Geld. Und dann diese Augen. Sie zog einen Schmollmund vor dem Spiegel und näherte sie sich langsam ihrem eigenen Spiegelbild und hauchte mit geschlossenen Augen einen Kuss. Fasziniert betrachtete sie danach, wie der kondensierte Atem auf dem Spiegelglas wie von Zauberhand langsam verschwand. Auf dem Waschtisch entdeckte sie eine Wimper. Vorsichtig schob sie sich die mit der Fingerkuppe ihres linken Zeigfingers auf die Fingerkuppe des rechten Zeigefingers. Langsam, ganz langsam, die Luft dabei gleichmäßig und tief durch die Nase einziehend, hob sie die Wimper wie mit einem Flaschenzug bis zur Höhe ihrer Nasenspitze und fixierte mit schielenden Augen den kleinen schwarzen gebogenen Strich. Augen zu. Wunsch ausdenken. Pusten. Zufrieden sah sie auf die blanke Fingerkuppe.

Ach, die Welt könnte so schön sein. Wenn da nicht ihr Vater wäre. Elisabeth war klar, dass nur ihr Vater der Grund war, dass er sich ihr gegenüber noch nicht offenbart hatte. Jedes Mal, wenn er den Laden betrat, machte ihr Herz einen kleinen Sprung und sie schwebte zwischen Regalen und Ladentheke. Las in seinen Augen die Leidenschaft, mit der er sie begehrte. Schon bei dem Gedanken daran, wie er mit seiner schicken Uniform das nächste Mal Brötchen bei ihr kaufen würde, wurde ihr Höschen feucht. Kichernd fühlte sie mit dem Finger ihre erwachende Lust. Draußen rumpelte die Mutter über den schmalen Flur. Elisabeth erschrak sich fast zu Tode. Ängstlich vergewisserte sie sich, dass sie die Tür abgeschlossen hatte. Entwarnung. Sie hauchte Theo noch einen letzten Kuss in den Spiegel und machte sich auf den Weg hinunter in den Laden.

Die Kundschaft hatte heute nur ein Thema. Endlich hatte der greise Reichspräsident den Herrn Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Schröder von nebenan kam mit ihren zwei Kindern an der Hand in den Laden und strahlte. Ihr Mann war in der SA und Theos Vorgesetzter.

„Na, Fräulein Elisabeth“, begann sie ungewohnt aufgeräumt das Gespräch. An ihrem Hut war eine Kirschblüte aus Seidenstoff angesteckt. „Morgen kommt mein Mann zurück aus Berlin. Kann ich bei Ihnen eine Torte für morgen bestellen. Am besten Mohntorte. Die liebt mein Karl doch so sehr. Und wenn gute Zeiten anbrechen, sagt mein Karl immer, dann soll man es sich auch gut gehen lassen.“ Sie blickte sich Zustimmung heischend um. Aber außer ihren beiden Kindern, die ihre rotzigen Nasen gegen die Glasscheibe der Kuchenauslage drückten und erfolgreich kurz davor waren, bei Elisabeth einen kleinen Wutschrei zu provozieren, war niemand im Laden.

„Selbstverständlich, gnädige Frau“, antwortete Elisabeth brav und notierte mit Bleistift in ihrem Block. Die Schröder bemerkte nicht, wie sie innerlich frohlockte. Morgen schon kam Theo mit Schröder und den anderen von der SA aus Berlin zurück. Als sie Heinz gestern beiläufig nach seinem Bruder fragte, hatte der nur mit den Schultern gezuckt. Dabei hatte sie ihn betont freundlich angelächelt. Naja, jetzt wusste sie ja, was sie wissen wollte.

„Auf Wiedersehen Frau Schröder und grüßen sie Ihren Mann“, verabschiedete sie sich freundlich.

So ähnlich war es heute bei den meisten. Die alte, schneckenfette Kohl, die fesche Zimmermann, die Breske mit ihrem irreparablen Hüftschaden. Selbst die zuverlässig verkniffene Freital mit ihrer Sommer wie Winter aschfahlen Haut. Alle plauderten gelöst und freuten sich auf die neuen Zeiten, die nun hoffentlich anbrechen würden. Man hatte lange genug geduldig darauf gewartet, dass endlich mal jemand mit überzeugenden Ideen in Berlin an die Macht kommen würde. Einer, der sich was traute. Nicht diese alten, abgewirtschafteten, verschrobenen Politiker, die das Land weiter in den Abgrund führten.

Alle. Außer der Rosenthal. Meist ein Ausbund an mühsam erzwungener Fröhlichkeit, aber immer ausgesprochen nett, die zusammen mit der aufgetakelten, abgetakelten Bergmann in den Laden kam, machte ein leidendes Gesicht. Das Leiden Jesu bestellte dann auch nicht wie üblich mit gespielter Vorfreude auf die zu erstehen gedachten Leckereien. Wortkarg. Ja sie war wortkarg, freute sich Elisabeth, endlich den treffenden Begriff gefunden zu haben. Als sie hinterher ihre Mutter Hertha fragend anblickte, schüttelte die den Kopf und zuckte mit den Schultern.

Vaters Wutausbruch, mit dem sonst fast jeder Morgen begann, war heute ausgeblieben. Elisabeth wischte gerade angeekelt den Rotz der Schröder Bälger von der Theke ab, da ging die Tür der Backstube auf. Heinz brachte ein neues Blech mit dampfenden Brötchen.

„Wohin damit?“, fragte er sie. Sie nickte mit dem Kopf in die Richtung der großen Weidenkörbe neben dem Regal, weil in der Auslage noch genügend Brötchen waren. Mit seinen muskulösen Armen leerte Heinz mühelos das Blech in den Korb und stellte sich dann vor sie.

„Elisabeth?“ Sie sah ihn fragend an. Fasste nebenbei den Entschluss den Lappen in ihrer Hand nicht auszuwaschen, sondern gleich wegzuwerfen.

„Ja?“ Er fühlte sich sichtlich unwohl und sie genoss seine Unsicherheit. Legte nach. „Was ist denn, Heinz?“, hauchte sie in Richtung der zitternden Espe. Er atmete schwer. Vermied es, ihr in die Augen zu schauen. Herrlich!

„Möchtest du übermorgen mit zum Tanzen kommen?“, brachte er schließlich mit rauer Stimme hervor. Sie erschrak. Blickte ängstlich über seine Schulter in Richtung Backstube, in Richtung Gefahr.

„Bist du verrückt?“ Sie zerrte ihn in die äußerste Ecke des Ladens. Da öffnete sich die Tür zur Straße und Kundschaft - der gutmütige Herr Reimers von gegenüber schob zuerst seinen Stock und dann seinen klapperdürren Körper durch die Tür – trat ein. Sie tadelte Heinz mit einem letzten Blick und lief zur Theke. Den Lappen ließ sie zu Boden fallen. Hinter ihrem Rücken schlich ein zerstörter Quasimodo zurück in die Backstube.

Sie kamen zu zweit und er schrie. Schrie ihnen seine Todesangst, seine Panik entgegen und wehrte sich verzweifelt. Der stumpfe Einschlag eines Gummiknüppels in seinem Gesicht ließ ihn verstummen. Lachend schleiften sie ihn durch den Kellergang zurück in die Kammer des Grauens. Ihr Hohn und Spott schallte in sein vom Schmerz betäubtes Bewusstsein. Er erbrach sich über einen am Boden liegenden Körper, der blutüberströmt und mit bizarr verrenkten Gliedmaßen leblos auf dem rotbraunen Kellerboden lag. Frieder! Er vernahm das perverse Schmatzen der Soldatenstiefel im Blut ihrer Opfer.

Zusammen mit den anderen Genossen des Rotfrontkämpferbundes war er im Wirtshaus Zur Linde in Berlin Karlshorst gewesen. Dabei hatte Gertrud ihn gewarnt, angefleht, an diesem Abend nicht zu seinen Freunden zu gehen. Mit beiden Händen hatte er sie an den Armen gefasst und ihr eindringlich ins Gewissen geredet, wie notwendig es gerade jetzt war, dass die Genossen zusammenhielten. Zwischendurch schien sie zu begreifen, wie wichtig ihm dieses Treffen war. Sie umarmte ihn, gab sich einsichtig. Bewunderte seinen Mut und seinen Idealismus. Seine Erleichterung währte nur kurz. Wieder begann sie zu weinen und erinnerte ihn an das gemeinsame Kind in ihrem Bauch. Seit drei Wochen war sie schwanger! Genervt von ihrer Uneinsichtigkeit, riss er sich schließlich los und knallte mit der Tür. Ihr hysterisches Geschrei im Treppenhaus ignorierte er, zwei Stufen auf einmal nehmend, erfolgreich.

Aufgeregt hatten sie die Ereignisse der letzten Tage diskutiert. Nach der Niederlage bei der Reichspräsidentenwahl im vorigen Jahr war es auf der Straße ruppiger geworden. Kaum ein Tag verging, an dem es nicht zu Auseinandersetzungen zwischen den Braunhemden und den Kommunisten gekommen war. So manches Mal hatte sich die SA blutige Nasen geholt. Aber mit einer Ausdauer, die selbst ihren erbittertsten Gegnern Respekt abverlangte, suchten sie weiter jede Gelegenheit zur Konfrontation. Seit dieser kleine hinkende Goebbels hier in Berlin die Nazis anführte, waren alle Dämme gebrochen. Breuer, Sandel und er hatten gemeinsam mit fünf anderen Genossen überlegt, was im Falle der tatsächlichen Ernennung Hitlers zum Reichskanzler zu tun wäre. Sandel glaubte, ein Generalstreik wie 1920 wäre ein probates Mittel, die Nationalsozialisten zur Räson zu bringen. Dann würde Hitler genauso schnell, wie er an die Macht gekommen war, wieder aus dem Amt fliegen. Frieder Breuer, der Intellektuellste ihrer Runde, ereiferte sich zum hundertsten Mal am Verrat der Sozialdemokraten und träumte von einer geschlossenen Arbeiterfront gegen die Nazis. Eine gespaltene Arbeiterklasse sei eine kampfunfähige Masse. Arnos Einwand, dass bereits viele Kollegen und Kumpel Mitglieder der neuen Partei waren und in der SA mitmarschierten, wischte Breuer im Stil eines großen Agitators mit generöser Geste beiseite. Lenin und die Bolschewiki haben vorgemacht, wozu eine geschlossene Arbeiterklasse in der Lage ist. Feierabend! Sandels Gedanken eines Generalstreikes aufgreifend, forderte er im Anschluss eine gewaltsame Proletarische Revolution, um die Bourgeoisie ein für alle Mal aus Deutschland zu vertreiben.

„Denkt an Marx und Engels! Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“, schloss er seinen Vortrag und hob das Bierglas. In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen und ein Stoßtrupp der SA stürmte die Linde. Es fielen Schüsse, einige der Gäste schrien und versuchten zu fliehen. Trillerpfeifen kreischten durch die verrauchten Räumlichkeiten. Tische, Bänke, Gläser fielen. Der Tisch mit den Rotfrontkämpfern war aufgesprungen. Mit Stuhlbeinen bewaffnet, versuchten sie, die prügelnden Horden abzuwehren. Doch schnell hatte Arno Scholz erkannt, dass ihnen die Übermacht der SA keine Chance ließ. Verzweifelt warfen sie mit Biergläsern nach den vorwärtsknüppelnden Braunhemden. Schon waren die ersten an ihrem Tisch und droschen rücksichtslos mit Eisenstangen und Gummiknüppeln auf die acht Männer ein. Sandel sank als erster zu Boden. Dann fehlte Scholz jede Erinnerung.

Er erwachte vom infernalischen Geschrei und dem bestialischen Gejohle in der Kammer des Schreckens. Achtlos von ihnen, ohne Bewusstsein in eine Ecke geworfen, bemerkten seine Peiniger nicht gleich sein Erwachen. Was er sah, würde er nie wieder aus seinem Gedächtnis löschen können. Im Raum lagen überall grausam zugerichtete Männer in Blutlachen. An der Wand gegenüber hingen zwei Unglückliche mit den Händen auf dem Rücken an großen eisernen Haken. An ausgekugelten Schultern hängend und vor Schmerzen viehisch schreiend, wurden sie von ungefähr zehn SA Männern mit Knüppeln, Zangen und brennenden Zigaretten gefoltert. Die Braunhemden feuerten sich gegenseitig an. Als ein großgewachsener SA Mann mit einer Kneifzange in die Genitalien des einen Opfers zwickte und dabei genüsslich in die irrwitzig verdrehten Augen seines brüllenden Opfers sah, übergab sich Arno ungewollt. Da traf ihn der Blick eines der Schergen. Ein grausames Lächeln ließ Arno aufwimmern. Schützend hob er die Hände vors Gesicht.

„Schaut mal Jungs! Das Kommunistenschwein ist wieder zu sich gekommen. Jetzt kann er endlich mitfeiern.“ Heiteres Lachen mischte sich mit dem ohnmächtigen Schreien und Stöhnen der gequälten Seelen an den Haken.

„Theo! Das ist deiner!“, rief ein SA Mann laut durch den Raum. Gleichzeitig wurde Arno brutal an den Haaren hochgerissen.

„Macht mal Platz“, forderte der Mann, der ihn hochgezerrt hatte, die anderen auf. Zu seinem Entsetzen sah Arno, wie der inzwischen ohnmächtig gewordene – oder schon tote Kamerad? -, es war Kurt Sandel, vom Haken gerissen und weggeschleift wurde.

„Nein!“, entfuhr es ihm angesichts des Unglaublichen, was hier vorging. Schallendes Gelächter.

„Na gut, dann später. Machen wir erstmal mit deinen Genossen weiter. Aber vorher gibt es für dich noch ein paar Kostproben, damit du weißt, was dich nachher zur Feier des Tages erwartet. Und zum Schluss bist du dran. Ganz alleine. Versprochen.“ Belustigtes Lachen. „Nachher holen wir dich wieder!“

Im Keller war es jetzt gespenstisch ruhig. Seine Sinne kehrten langsam zur Ordnung zurück. Das Furchtbarste, was ihm passieren konnte. Er wusste nicht mehr, in welcher Reihenfolge sie ihn gefoltert hatten. Erst die Schraubzwingen an den Händen und dann die Schläge mit dem Totschläger und die Stiefeltritte oder erst die Schläge, dann die Tritte und zum Schluss das Zerquetschen seiner Finger? Arno Scholz wusste nur, dass ihn die Hölle im Jenseits nicht mehr schrecken würde. Es roch nach Eisen, Zigaretten, Schweiß und Scheiße in dem stickigen Raum. Irgendwo klirrte eine schwere Kette. Sie kamen zurück!

„Los Theo! Jetzt zeig mal, was du kannst!“, war das Letzte, was Arno Scholz in seinem Leben hörte.

Das Hotel Krone am Arnstädter Bahnhof war ein beliebter Treffpunkt für alle Musik- und Tanzbegeisterten. Über Heinz´ kräftigen Oberkörper spannte sein bestes Hemd. Er stand mit seinen Brüdern Hugo und Gerhard und Werner Scholz, seinem Freund, in der Nähe der Theke. Mit Bierkrügen in der Hand musterten sie die anderen Anwesenden. Vorn spielte eine Kapelle von fünf Leuten. Die meisten Besucher der Krone tanzten wie verrückt nach den neuen Rhythmen, die aus Amerika kamen. Die Lampen tauchten die Qualmwolken im Saal in helles Gelb. Franz zeigte auf eine dralle Blondine, die wie spastisch mit den Beinen zuckte und sich völlig dem Tanz hingab. Dabei hatte Heinz nur für eine Sache einen Blick. Noch war sie nicht da, aber es war auch noch eine gute halbe Stunde Zeit, bevor sie sich verabredet hatten. Er sah auf die alte Taschenuhr seines Vaters August, die der ihm zu seinem Zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. „Weil du damals deine Mutter und deine Brüder so tapfer beschützt hast, mein Sohn“, hatte er gesagt und Heinz musste mit den aufsteigenden Tränen kämpfen. Nicht weil er an die schlimmen Momente ihrer Flucht in Afrika dachte, sondern weil er so lange auf ein Lob des Vaters gehofft und nun endlich bekommen hatte. Theo, der verächtlich danebengestanden hatte, traute sich diesmal nicht, eine bissige Bemerkung zu machen. Wohl weil er sah, dass der Alte tatsächlich berührt war und Theo vor nichts und niemand Angst hatte. Der Vater machte da eine Ausnahme.

Vorgestern Nachmittag, Heinz machte sich gerade auf den Heimweg, hatte sich Elisabeth plötzlich auf dem Hof der Bäckerei vor sein Fahrrad gestellt. In ihrem zu Zöpfen geflochtenen Haaren verfingen sich die wenigen, sanft herabrieselnden Schneeflocken. Heinz schaute fasziniert zu. Versuchte sich abzulenken.

„Sag mal. Was war denn das vorhin?“, stellte sie ihn zur Rede. Der alte Vogt lag längst oben - lange bevor Heinz die gesamte Backstube saubermachte war er gegangen - und soff sein tägliches Pensum. Im Moment war also keine Gefahr.

„Entschuldigung“, sagte Heinz aus tiefstem Herzen. „Ich wollte dich nur fragen, ob du vielleicht Lust hättest, übermorgen mit zum Tanzen in die Krone zu kommen. Sie glotzte ihn an, als wäre er eine bärtige Frau.

„Ha! Tanzen! Übermorgen? Etwa mit dir?“ Sie sah nicht, wie sein Herz zu einer Trockenpflaume verkrumpelte.

„Tut mir leid“, sagte er mit gesenktem Kopf und fummelte an seinem Fahrradlenker. Der linke Griff hatte einen unscheinbaren Riss. Im Frühjahr, wenn die Bäume Knospen trugen und das erste Grün das Grauschwarz des Winters verdrängten, würde er ihn tauschen.

„He! Warte mal. Ich meine, du willst mit mir tanzen? Übermorgen?“ Ihre Stimme klang jetzt versöhnlich und der Schmerz in seiner Brust wechselte von unerträglich zu ein bisschen unerträglich. „Wer kommt denn noch? Deine Brüder?“

„Kann sein. Denk schon“, brummte er und die Kälte machte sich schon wieder über ihn her. Sollte er nicht besser beide Lenkergriffe gleichzeitig wechseln?

„In der Krone, sagst du. Wann wollen wir uns denn treffen? Aber sag bloß nichts meinem Vater davon. Dem muss ich irgendeine Geschichte auftischen.“ Sie kicherte vertrauensselig und die Trockenpflaume erhöhte ihre Schlagzahl. Dankbar schaute er zu ihr auf.

„Du kommst mit?“

„Hab ich doch gerade gesagt.“

„Ich sag dir morgen genau Bescheid. Muss erst noch mal in die Zeitung schauen, wann es genau losgeht. Auf alle Fälle soll es wieder diese neue Musik, diese Negermusik aus Amerika geben. Das wird bestimmt toll.“

„Bestimmt“, lächelte sie geheimnisvoll und um die pralle Pflaume zogen Schmetterlinge ihre Bahnen. Ein kurzer Kontrollbiss auf die Zunge. Nein! Quasimodo träumte nicht.

Er hatte es nicht ausgehalten bis nach Hause und war gleich von der Arbeit mit dem Fahrrad zur Krone gefahren, um den Aushang zu lesen.

Mutters Geburtstag war gestern. Zu Siebent saßen sie wie die Ritter der Tafelrunde um den dunklen ovalen Esstisch im Esszimmer. August hatte Helene eine Brosche geschenkt. In die Mitte der Brosche waren die Umrisse von Deutsch-Südwestafrika eingraviert. Dort, wo sich Windhuk befand, war ein einziger, winziger Stein. Auf die Rückseite hatte August Freyatal gravieren lassen. Mutter hatte geweint und immer wieder „Ach mein liebster Gustl“ geschluchzt. Beide verklärten Afrika, wann immer das Gespräch darauf kam. „Dort haben wir unser Glück gefunden. Dort haben wir Euch in die Welt gesetzt!“, war der Standardsatz, mit dem ihre romantischen Erzählungen meist begannen und oft genug viel zu spät endeten.

Die Vergewaltigung der Mutter, der verdammte Krieg und die jahrelange Abwesenheit des Vaters wurden in ihren Erinnerungen zu unvergesslichen Abenteuern vergoldet. Welch Gnade. Heinz sagte dazu nichts, dachte sich aber seinen Teil. Zumindest stimmte es, dass aus seinen, aus einfachen Verhältnissen stammenden Eltern, nach ihrer Zeit in Afrika vermögende Leute geworden waren. Selbst die Söhne rätselten, warum? Die Arbeit des Alten als Buchhalter beim Großhändler Linn wurde zwar gut bezahlt, konnte aber nicht das Barvermögen der Eltern erklären. Hier hielten sich die beiden Alten allerdings sehr bedeckt. Sie hätten viel gespart während der wundervollen Zeit auf Freyatal und der Vater während der Zeit in der Schutztruppe beim Glücksspiel ein glückliches Händchen gehabt. Das große Haus im Jonastal, welches sie nach seiner Rückkehr in die Heimat sofort bezogen, nachdem er eines Tages plötzlich vor ihrer kleinen Wohnung An der Weisse stand, hatte er angeblich auch beim Kartenspiel von einem adligen Offizier gewonnen. Keiner der fünf Brüder konnte sich erinnern, jemals Spielkarten im Haus der Eltern gesehen zu haben. Heinz war sich noch nicht mal sicher, ob der alte Herr überhaupt Karten spielen konnte.

Zur Feier des Tages gab es - auf ausdrücklichen Wunsch der Jubilarin - das Lieblingsgericht des Hausherrn! Thea, ihr ostpreußisches Hausmädchen mit zu viel Hüfte, zu wenig Brust und kaum Hirn für Heinz´ Geschmack, das Helene auch in der Küche half, stellte die dampfenden Schüsseln mit traditioneller Mecklenburger Kost auf den Tisch. Hackbraten! Heinz hasste Hackbraten, was seine Mutter aber nicht davon abhielt, jeden Sonntag Hackbraten zu servieren. Den eigenen Geburtstag nutzte sie nun zusätzlich, um dem Alten sein Lieblingsgericht aufzutischen. Das wie von selbst auch Theos Lieblingsgericht wurde. Während Heinz sich von Franz die Schüssel mit den Kartoffeln reichen ließ, beobachtete er seinen großen Bruder. Der langte bereits kräftig zu und hatte die Ärmel seiner SA Bluse sorgfältig hochgekrempelt. Die Unterarme waren kräftig und von blonden Härchen übersäht, die bis auf die Handrücken runterwuchsen. Mit vollem Mund erzählte er seinem Vater vom Erfolg seiner Berlinreise. Der hörte kauend zu.

„Der Schröder meinte hinterher zu mir, ich würde es noch sehr weit bringen in der SA.“ Helene blickte voller Stolz auf ihren Großen. Auch Franz hing an den Lippen seines Bruders. Hugo kämpfte mit dem Hackbraten genauso wie Heinz und Gerhard summte irgendwas leise vor sich hin. August nickte stumm. Heinz hob die Serviette auf, die ihm zwischen die Knie gerutscht war.

„Hattest du keine Angst vor den Roten?“, mischte sich Franz, ehrlich interessiert, ein. Um Theos Mund zog sich ein grausames Lächeln, das Heinz nur zu gut von früher kannte, aber von dem er der einzige zu sein schien, der es wahrnahm.

„Sind zähe Burschen dabei. Mein lieber Mann. Kannst mir glauben Franz, das war kein Spaziergang. Aber…“ Er hob dozierend den Finger und nur Helene folgte mit den Augen, „… den Kommunisten haben wir tüchtig eine verpasst. Die werden diese Nacht nie vergessen. Das schwöre ich dir.“ Er lachte selbstzufrieden. Selbst auf den Fingern waren diese blonden Härchen. War Heinz wirklich der einzige am Tisch, der in Theos Augen auf etwas Abstoßendes stieß?

„Mensch Junge, pass bloß auf dich auf!“, meldete sich das Geburtstagskind besorgt.

„Meinst du, ich kann auch in die SA und dort was werden?“, fragte Franz. Gerhard sah überrascht zu seinem Bruder.

„Erst wenn deine Ausbildung beendet ist. Wie oft soll ich das noch sagen“, grummelte August.

„Hör auf deinen Vater, Franz!“, unterstrich Helene das Gesagte.

„Tüchtige Jungs brauchen wir immer. Wenn es soweit ist, werde ich als Obertruppführer ein gutes Wort für dich einlegen, Bruderherz. Versprochen.“ Franz strahlte. Gerhards linke Braue hob sich.

„Bist du sicher, dass das was für dich ist?“, mischte sich Hugo ein, was Heinz irritierte. Zuhause hielt sich Hugo sonst immer zurück mit seiner Kritik an den Nationalsozialisten. Schon aus Rücksicht auf Onkel Christian. Mal ganz abgesehen vom Zorn des Alten.

„Ach du. Geh doch zu deinen Negermusikern und tanz wie ein Affe!“, ereiferte sich Franz. Helene atmete tief und blickte hilfesuchend zu August. Der schob gerade mit der Gabel einen üppigen Bissen Hackbraten in sich hinein. In seinem Mundwinkel verfing sich dabei ein Tropfen der mit einer Mehlschwitze angedickten, dunkelbraunen Soße.

„Wieso bist du eigentlich noch nicht bei der SA?“, wandte sich jetzt Theo, in einem Heinz, mit Blick auf die Feststimmung bedenklich stimmenden Ton, Hugo zu.

„Vielleicht gibt es noch was Anderes auf der Welt, als brüllend auf der Straße rumzumarschieren, „Heil Hitler!“ zu rufen und irgendwelche Lieder zu grölen?“, sprang Heinz Hugo zur Seite. Der sah zu Heinz und schüttelte lächelnd den Kopf. Theos Augen hatten sich schon wieder bedrohlich verengt und fixierten jetzt Heinz. Helene klapperte verzweifelt mit der Gabel auf ihrem Teller gegen die peinliche Stille.

„Vielleicht habe ich einfach keine Lust auf das Suppenfressen am Freitag? Auf diese primitive Hilfssoldatentruppe und ihre Witzfigur von einem Anführer?“, sagte Hugo ganz ruhig zu Theo, der sein Besteck bereits zur Seite gelegt hatte.

Donnernd krachte die Faust auf den Tisch. Teller und Schüsseln tanzten kurz und scheppernd auf. Gläser schwankten bedrohlich. Die Kelle fiel aus der Sauciere und hinterließ einen dunklen Fleck Bratensoße, dessen Umrisse Australien ähnelten, auf dem gestärkten Leinen. Alle fuhren zusammen. Helene griff sich mit schreckgeweiteten Augen und offenem Mund, die Gabel in der Hand, an die Brust. „Schluss jetzt!“, brüllte August. „Hört sofort auf damit! Eure Mutter hat Geburtstag!“ Er langte nach links und verabreichte Hugo eine schallende Ohrfeige. Die nächste Ohrfeige fing sich der dämlich grinsende Theo ein. Helene heulte laut auf. Aber August kam jetzt erst richtig in Form. „In meinem Haus wird nicht gestritten, wenn meine Frau Geburtstag hat!“, schrie er mit sich überschlagender Stimme. Heinz, Franz und Gerhard konnten sich gerade noch retten, als August den Tisch mit beiden Händen packte, nach oben stemmte und komplett umkippte. Das Scheppern und Rumpeln hätte Tote aufgeweckt. Thea, die gerade aus der Küche an den Tisch kommen wollte, um Soße nachzureichen, sah zu, dass sie Land gewann.

Genauso schnell wie er ausgeflippt war, fing sich August wieder. Mit blitzenden Augen fuhr er seine fünf Söhne an: „Ihr räumt jetzt hier sofort auf und wenn ich wiederkomme, ist die ganze Bude blitzblank, sonst…“ August nestelte am Gürtel und fummelte ihn umständlich aus den Schlaufen der Hose. Helene war in die Küche geflohen und kam jetzt mit der zitternden Thea zurück. Wortlos knieten sich seine Söhne nieder und begannen das Geschirr aufzusammeln. „Verdammter Rücken“, stöhnte August im Hinausgehen. „Wenn nachher euer Onkel Christian kommt, ist hier alles blitzsauber oder ihr werdet euch wünschen, nicht auf die Welt gekommen zu sein.“

„Da vorn ist Elisabeth“, wurde Heinz von Werner aus seinen Gedanken gerissen. Werner Scholz war sein Schulfreund aus alten Zeiten und arbeitete im Gleisbau bei der Bahn. Auf Zehenspitzen suchte Heinz über die Köpfe der Tanzenden hinweg einen Blick auf Elisabeth zu erhaschen. Sein Herz hatte ein paar Takte zugelegt, der Mund, trotz des Bierglases in der Hand, trocken. Seine Zunge klebte am Gaumen. Endlich sah er Elisabeth. Und sie war nicht allein. Sie hatte sich bei ihrer Freundin Hedwig, die alle nur Hedi nannten, eingehakt. Elisabeth trug ein geblümtes Kleid, das ihre Figur umschmeichelte. Neben Hedi, der ihre gelegentliche Schwäche für Buttercremetorten durch ihr schlichtes, graues Brokatkleid anzusehen war, wirkte sie auf Heinz zart und gebrechlich. Sofort übernahmen seine Beschützerinstinkte das Kommando. Doch wie in der Backstube sah er stumm zu, als Elisabeth grob von einem der wie wild zur Negermusik Tanzenden zur Seite gestoßen wurde, weil der sich von ihr in seinen Radien gestört fühlte. Noch während er die beiden beobachtete, wie sie sich langsam durch die tanzende Menge schoben, wurde es am Eingangsbereich ungewöhnlich laut. Gerade hob er den Arm, um Elisabeth ein Zeichen zu geben, damit sie ihn und seinen Bruder Hugo sah, da drangen vom Eingang her mehrere SA - Männer auf die Tanzfläche und schoben die ausgelassen tanzenden jungen Leute grob zur Seite, während sie auf die Kapelle zustürmten. Als die Braunhemden bei den Musikern angekommen waren, erstarb nach und nach die Musik. Als letztes verstummte röchelnd ein Saxophon. Heinz erkannte Theo.

Mittlerweile hatten Hedi und Elisabeth sie erreicht. Artig gab man sich die Hand. Kichernd kostete Hedi von Werners Bier. Hugo war verschwunden.

„Hallo Elisabeth. Schön, dass du gekommen bist.“ Der Frosch in seinem Hals kitzelte erbarmungslos.

„Hallo. Was ist denn hier los?“ Schon hatte sie ihm den Rücken gekehrt und blickte zur Bühne. Auf der Tanzfläche wurde es unruhig, Buhrufe und Pfiffe nahmen zu. „Musik!“, brüllte einer aus der wartenden Menge.

Unterdessen hatte die SA einen Halbkreis vor der Bühne gebildet. Mit Händen auf dem Rücken und gespreizten Beinen starrten sie auf die unruhige Menge. Theo stand jetzt dort, wo vorhin noch der Sänger der Kapelle wild zappelnd ins Mikrofon gesungen hatte und blickte triumphierend in den Saal. Die Musiker standen verstört auf der Bühne rum. Einige versuchten, ihre Instrumente sicher in den mitgeführten Kästen zu verstauen.

„Volksgenossen…“ Das Mikrofon jaulte und krächzte, als Theo zu nah und zu laut hineingebrüllt hatte. Das Pfeifen und die Schmährufe nahmen zu. An der Seite der Bühne sah Heinz plötzlich Hugo zusammen mit seinem Freund Robert, dem Sohn vom Besitzer der Krone, die von einem SA Mann gehindert wurden, auf die Bühne zu steigen.

„…Volksgenossen! Seit drei Tagen ist unser Führer Adolf Hitler Reichskanzler.“ Vereinzelt durchdrangen jetzt „Jawohl!“- und „Hoch!“- Rufe den allgemeinen Lärm. Theo nickte zufrieden. „Im Sinne der Gesunderhaltung des deutschen Volkskörpers und der deutschen Kultur wird hier in Arnstadt ab sofort das Spielen und Hören von amerikanischer Negermusik und anderen nichtarischen Melodien untersagt. Das Musikprogramm ist mit sofortiger Wirkung beendet!“ Das Pfeifkonzert gewann jetzt eindeutig die Oberhand. Vereinzelt versuchten die Feiernden, die SA Mauer zu durchbrechen und auf die Bühne zu gelangen. Heinz bemerkte, dass Hugo sich in einer handfesten Auseinandersetzung mit zwei SA Leuten befand. Er sprang rücksichtslos durch die Menge, seinem Bruder beizustehen. Krachend landete seine Faust im Gesicht des SA Mannes, der Hugo gerade im Schwitzkasten hielt und von der Bühne wegzerren wollte. Hugo wurde aus der Umklammerung gelassen. Dafür sah sich Heinz plötzlich mit drei SA Leuten konfrontiert und war gezwungen, deren Angriffe abzuwehren. Sein vom jahrelangen Teigkneten brettharter Oberkörper und die stählernen Unterarme fingen die ersten Schläge ab. Mittlerweile war um ihn herum eine Massenschlägerei im Gange. Im Augenwinkel sah er noch, wie Theo von der Bühne sprang. Ein Gummiknüppel am Hinterkopf unterbrach seine Gedankenwelt.

„Wally! Kommst du bitte zum Frühstück?“

„Gleich Mum. Ich muss mir nur noch die Haare durchkämmen.“ Geschickt kämmte Wally ihre blonden Locken durch und flocht sich zwei lang herabhängende Zöpfe. Zufrieden mit Haar und Kleid – sie trug das weiße Leinenkleid, das sie sich vorige Woche aus London mitgebracht hatte – löste sie sich vom großen Spiegel des Badezimmers und eilte die Treppe hinab in die Küche. Bereits auf der Treppe duftete es verführerisch nach Kaffee, gebratenem Schinken und geröstetem Toast. Flink huschte sie auf ihren Platz, nicht ohne vorher ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange zugeben und legte sich die Serviette auf die Knie.

„Liebling. Hast du alles fertig eingepackt?“ Freya führte die Tasse zum Mund.

„Ja, Mum“, antwortete Wally leicht genervt. Sie war jetzt neunundzwanzig Jahre und ihre Mutter behandelte sie immer noch wie ein Kind. Gleich würde sie wieder fragen, ob sie nicht vielleicht einen netten jungen Mann kennengelernt hätte, der ihr gut genug wäre. Natürlich würde sie nur fragen, weil sie sich solche Sorgen um ihre Zukunft mache. Seufzend griff sie zum Toast.

„Ach Kind. Ich freue mich so für dich. Berlin! Ich liebe Deutschland! Vielleicht findest du ja dort endlich einen Mann, der gut genug für dich ist. Halt! Sei nicht schon wieder genervt von deiner Mutter. Ich will nur dein Bestes, mein Engel. Als Mutter mache ich mir doch einfach nur Sorgen um deine Zukunft.“ Wally reagierte mit einem nachsichtigen Lächeln. Als ob es ihr nicht selber peinlich wäre, als einziges der drei Geschwister noch bei den Eltern zu wohnen. Als spätes Mädchen galt man in so einem Fall bei Freundinnen und Bekannten der Mutter. Das war ihr herzlich egal. Bisher war der Richtige einfach noch nicht dabei.

Sie griente in sich hinein, wenn sie die Liste der Männer durchging, die ihre Mutter sorgsam für sie ausgewählt und die hier im Haus vorstellig geworden waren. Timothy, dessen Homosexualität wie ein Dom im Raum stand, nur Mum schien es nicht zu begreifen. Selbst Dad hatte die Augenbrauen gehoben, als Timothy mit seiner Fistelstimme das Tischgespräch mit Angelanekdoten zu bereichern glaubte. Und Spencer erst. Spencer war der Sohn ihrer Freundin Dorothee. Auf den ersten ein Blick ein hübscher und sympathischer Bursche mit seinem feuerroten Schopf und den hellgrauen Augen. Nur leider war Spencer dumm wie zwei Sack Bohnenstroh. Als sie ihn höflich gefragt hatte, ob er auch schon einmal in Europa war, hatte er den Kopf geschüttelt und gemeint, die lange Fahrt über den Atlantik habe ihn bisher von Besuchen abgehalten. Ihr schallendes Lachen hatte damals dafür gesorgt, dass Tante Dorothee seither ihr hübsches kleines Haus mit Blick auf das Meer in Brighton nicht mehr betrat. Einzig Matthew war ihr zumindest vorübergehend als einigermaßen interessant und männlich anziehend erschienen. Doch als der sie bereits beim zweiten gemeinsamen Spaziergang unten an der Pier zuerst verbal - Wie viele Kinder wünschen Sie sich eigentlich später einmal, Wally? - und dann am Abend vor der Tür zu ihrem Haus körperlich bedrängte, weil er offenbar allen Ernstes glaubte, sie würde sich von ihm küssen lassen, hatte sie ihm eine Ohrfeige verpasst. Überrascht hatte sie dabei nicht, dass sie nie wieder von ihm hörte. Überrascht hatte sie, dass nicht ein Moment der Reue ihren Alltag trübte. Nein, mit Männern hatte sie offenbar kein Glück. Aber in ihr schlug ein unverwüstlich romantisches Herz. Geduld hieß das Gebot der Stunde!

Wenngleich sie ihrer Mutter in Sachen Schönheit nicht das Wasser reichen konnte, so war sie doch eine ansehnliche, selbstbewusste junge Frau. Rebecca, Papas Liebling, hatte das unverschämte - aus Wallys Sicht unverdiente - Glück, in Sachen Schönheit der Mutter nicht nur nachzueifern. Mit der Jugend im Rücken hatte sie Mutter in den letzten zehn Jahren abgehängt. Insofern war es kein Wunder gewesen, dass sie schnell das Elternhaus verließ und nun bei ihrem George in Oxford wohnte. Vor zwei Jahren hatte sie mit den Zwillingen Henry und Harry, Wally zur stolzen Tante gemacht. Und Steven? Wally biss mit Appetit in den Toast. Es knirschte und feinste Brotkrumen rieselten von ihren Mundwinkeln hinab auf die Serviette. Ihr Bruder Steven, den sie abgöttisch liebte, sah aus wie sein Vater Mark. Oft sagte Grandma Kathrin, wenn sie zu Besuch in Lyme Regis waren, der Junge sieht aus, wie mein kleiner Mark und strich Steven seit Kindertagen über sein Haar. Nur sie, Wally schlug völlig aus der Bahn. Kräftiger gebaut als alle Familienmitglieder, größer und im Gegensatz zu ihren Geschwistern nur mit einem Übermaß euphemistischer Phantasie einem der beiden Elternteile zuzuordnen. Mum behauptete steif und fest, sie sei eine Kopie ihrer Großmutter Marie, also Freyas Großmutter väterlicherseits. Nur war diese großgewachsene elegante Französin seit mehreren Jahrzehnten tot. Photographie gab es zu Maries Lebzeiten noch nicht. Also träumte sich Wally manchmal in die Rolle, ihrer geheimnisvollen hugenottischen Großmutter zu ähneln. Begeistert hatte sie deswegen begonnen, Französisch zu lernen, aber schnell zuerst die Lust, dann das Interesse verloren. Selbstverständlich sprach sie fließend Deutsch, das war ihre Muttersprache. Aber seit sie sich erinnern konnte, dachte und träumte sie auf Englisch.

Mark war seit zwei Wochen in London. Seit er vor drei Jahren zum General befördert worden war, sah ihn die Familie noch seltener. Natürlich liebte sie ihren Dad. Umso schwerer war es für sie gewesen, als sie zuerst nur eine Ahnung in sich trug, die aber mit voranschreitendem Alter einer grausamen Gewissheit wich, dass diese abgöttische Liebe nicht in der gleichen Weise erwidert wurde. Dabei war der Vater ihr gegenüber immer aufmerksam. Überfürsorglich! Aber die Blicke, die Mark seinem Augenstern Rebecca schenkte und nach denen sie sich seit ihrer Kindheit so sehr sehnte, diese Blicke voller Liebe und Bewunderung, waren ihr nie vergönnt. Mit ungefähr sechzehn Jahren litt sie so sehr darunter, dass sie überlegte, von zu Hause wegzulaufen. Heute wusste sie nicht mehr genau, welche der vielfältigen Umstände dazu geführt hatten, dass sie über die Planung dieses Unterfangens nie hinausgekommen war. Ihre Mutter Freya, die sie einmal weinend auf dem Bett in ihrem Zimmer fand, und der sie unter Tränen ihr Unglück entgegenschrie, hatte sie in den Arm genommen und wie ein Kleinkind gewiegt. Das wäre völliger Unsinn. Mark habe alle drei Kinder genauso lieb. Sie als Mutter wüsste das und würde es im Übrigen auch spüren. Damals war sie froh, dass Mutter sie belog, um sie zu trösten. Freya konnte man in Erziehungsfragen gewiss vieles vorwerfen. Aber Wally spürte, dass sie in den Augen der Mutter eine Sonderstellung unter deren drei Kindern genoss. Warum, wusste sie nicht. Aber es tröstete sie zumindest über die Ungleichbehandlung durch ihren Dad hinweg. Damals hatte sie sich geschworen, sollte sie je Kinder haben, dann würde sie diese bis zum letzten Atemzug gleich liebhaben. Bis zum letzten Atemzug! Bis über den eigenen Tod hinaus!

Deswegen war sie auch einigermaßen überrascht, als Dad sie zu sich ins Arbeitszimmer rief und ihr eröffnete, dass ein befreundeter General in Berlin zu tun hätte und eine Übersetzerin bräuchte. „Das wäre doch was für dich, Liebling?“, hatte er lächelnd gefragt und sie warmherzig angesehen. Sofort war sie ihm um den Hals gefallen. Berlin! Sie liebte Deutschland mindestens genauso wie Mum. Seit sie vor vier Jahren im Urlaub in Deutschland waren, hatte sie mit dem Gedanken gespielt, irgendwann in Deutschland zu leben. Ihr künftiger Traummann sprach übrigens fließend Deutsch. Wenn sie sich – leider viel zu selten - in Wallys Träumen wieder und wieder leidenschaftlich, voll heißem Verlangen, begegneten. Natürlich war sie klug genug, der Mutter von solchen Perspektivplänen nicht zu erzählen. Sonst hätte Freya bestimmt längst eine Liste möglicher guter Partien aus ihrem deutschen Verwandtschafts- und Freundeskreis zusammengestellt. Nicht ohne Stolz erzählte die Mutter gelegentlich bei größeren Festen von ihrer Vergangenheit als Freifrau von Rieben. Mit ihrem Schwager Edzard von Rieben, dem Bruder ihres verstorbenen, ersten Ehemannes stand sie in regelmäßigem Briefkontakt. Gleich als Freya erfuhr, dass Wally – geplant waren erstmal für drei Monate - nach Berlin gehen würde, packte sie einen ganzen Koffer mit Geschenken für Onkel Edzard.

Frierend stand Wally auf dem kleinen Fischerboot, mit dem sie den Kanal überquerten. Hier war es sehr windig und die Wellen schlugen hoch an die Bordwand. Die Flaggen des Kutters, schräg am Mast angeleint und von Sonne Wind und Regen in einen jämmerlichen Zustand überführt, flatterten ratternd im Wind. Mit dem Zug war sie von Brighton nach Dover gereist und dort auf die Mary Blue gestiegen. Sie reiste allein. General Miles, ein alter Freund ihres Vaters aus Afrika, wie der bei jeder Gelegenheit unterstreichen zu müssen glaubte, weilte bereits in Berlin. Ihre Aufgabe bestand laut Vereinbarung im Wesentlichen darin, für den General bei dessen Verhandlungen im deutschen Außenministerium zu übersetzen. Darüber hinaus las sie in dem Arbeitsvertrag, den Dad ihr zur Unterschrift in seinem Arbeitszimmer vorgelegt hatte, dass alle Schriftstücke des Generals in Englisch als auch in Deutsch ausgefertigt werden müssten. Schemenhaft sah sie die französische Küste näherkommen. Sie zog sich den Schal enger um den Hals. Es windete. Ihr war kalt. Im nach Fisch und sonst was stinkenden Bauch des Bootes Schutz vor Wind und Kälte zu suchen war keine Alternative. Anspannung befiel sie. Eine Mischung aus Vorfreude und Angst, den Anforderungen des General Miles doch nicht gewachsen zu sein. Vom Festland her kamen die ersten Möwen neugierig herbeigeflogen und kreisten schreiend über ihrem Boot. Der Kapitän des Fischkutters verlangsamte die Fahrt. Das helle Bellen der Maschine ging in ein gemächliches Tuckern über, das von den am Bug brechenden Wellen fast vollständig verschluckt wurde.

Sie erreichten den Kai. Wally verabschiedete sich von dem gemütlichen Kapitän. Aus den unter der speckigen Kapitänsmütze abstehenden Ohren wuchsen Büschel grauweißer Haare. Der Schiffsjunge, vielleicht der Enkel des Kapitäns, brachte Koffer und schwere Reisetasche. Artig stellte er sie neben ihr ab. Verloren blickte sie sich um. Außer zwei Hafenarbeitern und drei Fischern, die ihre Netze sortierten, war das Hafengelände verwaist. Im Hintergrund sah man einige schmutzige, angegraute Häuser und dahinter die Dächer von Calais. Über ihr stritten Möwen. Wally war noch dabei sich zu orientieren, da kam ein Personenkraftwagen näher. Zwischen zwei auf Dock gelegten Fischerkähnen fuhr ein bordeauxroter Renault Vivastella auf sie zu. Zwei Meter vor ihr hielt der Wagen. Ein Fahrer in britischer Uniform sprang heraus.

„Miss Walish?“ Sie nickte. Zu ihrer Überraschung erleichterte es sie, als sie ihre Vatersprache vernahm. „Sergeant Peek“, stellte sich der Fahrer vor. „Wenn ich Sie bitten darf.“ Er machte eine Geste zum Auto und lief vor, ihr die Tür aufzuhalten. Vorsichtig führte er ihre Hand, als sie den breiten Schweller bestieg und ins Fahrzeug kletterte. Im Wageninneren roch es nach schwerem Leder und Öl. Peek verstaute Koffer und Tasche. Nahm dann am Volant Platz. Er drehte den Kopf. Die braunen Augen standen etwas zu weit auseinander. Das Kinn floh empfindlich weit Richtung Halskragen. Sein Profil wirkte dadurch grotesk instabil. „Ich soll Sie zuerst in Ihr Berliner Hotel fahren. Der General erwartet Sie dann morgen um neun Uhr am Abend im Restaurant des Hotels.“

„Danke schön“, antwortete sie höflich und lehnte sich in die Rücksitzbank. Jetzt ging es also wirklich los. Es wurde ernst. Sie atmete tief und konzentrierte sich dann auf den Blick aus dem Autofenster. Peek fuhr los. Beide bemerkten den schwarzen Wagen nicht, der ihnen folgte.

„Ihr Vater hat mir gar nicht verraten, was er für eine entzückende Tochter hat.“ Der General beugte sich verschwörerisch nach vorn. Wally blickte auf seine Stirnglatze. Das Lampenlicht brach sich glänzend auf seiner Kopfhaut. Verdammt. Sie hatte den kleinen Runden Schminkspiegel vergessen.

„Oh vielen Dank“, ließ sie sich auf ihren künftigen Chef ein. Dessen Lächeln wurde mit jeder Sekunde anzüglicher. Die gelben, unregelmäßig gewachsenen Zähne kamen - wie im Märchen - immer näher. Selbstgerecht registrierte er ihre höfliche Reaktion. Wally wäre am liebsten aufgesprungen und aus dem Restaurant gerannt. Was glaubte dieser alte, grottenhässliche Knacker eigentlich? Aber ihre Erziehung und der Respekt vor einem engen Freund des Vaters ließen sie brav am Tisch sitzen. Nur nichts anmerken lassen. Contenance, Contenance! Im Zweifel immer Contenance, pflegte Oma Kathrin zu sagen. General Miles blühte richtig auf in der Gesellschaft einer jungen attraktiven Frau. Großspurig bestellte er einfach für beide eine Fischplatte und orderte dazu einen französischen Weißwein. Um Wally zu beeindrucken, ließ er die erste Flasche nach dem Öffnen und der Geruchsprobe am Korken, zurückgehen. Und Wally war beeindruckt, wie gelassen der Kellner mit diesem arroganten Arschloch umging. Nervös spielte sie mit ihrem Taschentuch unterm Tisch. Das konnte ja noch heiter werden. Miles quatschte gerade über seine Erfahrungen mit französischen Weinen. Die gelben Hauer lechzten nach Zustimmung und Bewunderung. Wallys Appetit erledigte sich gerade. Unauffällig ließ sie ihren Blick schweifen. Drei Tische weiter, fielen ihr zwei junge Männer in grauen Anzügen auf, die intensiv miteinander sprachen. Einer der beiden war großgewachsen, blond und in seinem wettergebräunten Gesicht leuchteten helle Augen. Der andere war kleiner, hatte einen scharf geschnittenen Scheitel und trug eine Nickelbrille.

„Morgen früh erwarte ich Sie in meinem Büro. Ihr Arbeitsplatz ist in meinem Vorzimmer“, drang Miles Stimme zu ihr durch. Seine Tonlage sollte bei ihr offensichtlich die Erwartung wecken, ein besonders romantisches Vorzimmer betreten zu dürfen. Schade um den Fisch, dachte sie. Kompletter Appetitsverlust.

„Ach so“, flocht sie ein und bekam erneut dieses selbstverliebte Grinsen samt kaputtem Gartenzaun zur Belohnung. Mein Gott sind Männer schlicht, dachte sie. Und alte Männer waren einfach nur peinlich. Der General schien gar nicht zu bemerken, wie sehr er seine Tischnachbarin langweilte. Unverdrossen sprach er auf sie ein und Wally brauchte sich nur auf die nötigsten Antworten zu beschränken. Zum Glück.

Erschöpft fiel sie am Abend in ihr Bett. Sie fühlte sich pudelwohl. Immerhin war sie in Berlin. Jetzt würde ihr Leben endlich beginnen. Die Vorstellung, wie Daddy reagieren würde, wenn sie ihm sagte, dass Miles ihr gegenüber anzüglich war, zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Mit der Gewissheit, dass Miles aus Angst vor ihrem Vater nie eine unsichtbare Grenze überschreiten würde, schlief sie belustigt ein.

Onkel Christian streckte sich genüsslich im Sessel und rauchte eine Zigarre. Die große schwarzlackierte Standuhr schlug vier Uhr nachmittags. Helene war in der Küche. Heinz hörte den Stepptanz des großen Küchenmessers auf dem Schneidebrett. Zwiebeln? August und die Jungs saßen im Halbkreis um den kleinen Rauchtisch im Salon, wie ihre Mutter das große Wohnzimmer im Erdgeschoss gern bezeichnete. Blaugrauer Qualm stieg von Christians Zigarre auf. Sieben Augenpaare folgten den hypnotisierenden Kringeln auf ihrem Weg an die Zimmerdecke.

„Göring und Diels haben mich nach Berlin beordert. Es geht um den Aufbau einer neuen Behörde. So wie es aussieht, werde ich wohl meinen Wohnsitz komplett in die Reichshauptstadt verlagern. Ich hoffe du besuchst mich mal“, sagte er an August gewandt.

„Natürlich kommen wir mal vorbei. Helene liegt mir schon länger in den Ohren, endlich mal wieder zu verreisen.“ Das Messer hatte die Schlagzahl erhöht. Vielleicht doch Petersilie? Heinz war sich unsicher.

„Onkel Christian. Theo hat mir versprochen, für mich ein Wort einzulegen, damit ich auch zur SA kann“, meldete sich Franz stolz. Christian Wolf nickte zustimmend. Dann richtete er sich in seinem Sessel auf und beugte sich nach vorn. Die linke Hand mit der Zigarre zwischen den dicken Fingern blieb an der Lehne. Entsetzt sah Heinz, dass die Asche jeden Moment abfallen könnte.

„Ich sag dir jetzt mal was Franz. Der Theo, der hat Recht. Es wird Zeit, sich in der neuen Ordnung seinen Platz zu suchen.“ Missbilligend streifte sein Blick zuerst Hugo, dann Gerhard und schließlich Heinz, die alle drei in keiner politischen Organisation aktiv waren, ehe er wieder zu Franz zurückkehrte. „Die SA ist in der Tat eine der wichtigsten Säulen unserer Bewegung…“ Theo griente blöde vor lauter Stolz. „…so viel ist klar. Aber wie du vielleicht weißt, ist dein Onkel Christian an der einen oder anderen Stelle verantwortlich für die weitere Entwicklung im Land.“ Zufrieden mit sich und seiner wichtigen Position, ließ er seine Worte zunächst einmal wirken. Franz hing an seinen Lippen, Hugo zog die Augenbrauen hoch und Heinz war gedanklich auf dem Weg zu Elisabeth. Er wäre schon längst angekommen, aber das drohende Desaster mit der Zigarrenasche hielt seine Sinne auf Trab. Langsam und vorsichtig führten die Wurstfinger die Zigarre über den schweren Kristallaschenbecher. Mit einem routinierten Schnippen des Daumens am unteren Ende, die Gesetze der Schwerkraft imponierend nutzend, beförderte Christian die Asche an den dafür vorgesehenen Ort. Große Erleichterung bei Heinz. Erlöst ließ er seine Gedanken von der Leine.

Am Tag nach der Schlägerei hatte sich Elisabeth in der engen Backstube nach seinem Befinden erkundigt. Aber außer einer dicken Beule am Hinterkopf, war mit ihm alles in Ordnung. Theo hatte es schlimmer erwischt. Dem hatte man den Arm ausgekugelt und zwei Finger gebrochen. Na bitte, hatte Heinz gedacht. Was sollte dieser ganze Scheiß mit nichtarischen Melodien? Die SA hatte ihm den ganzen Abend versaut. Dabei wollte er an jenem Abend Elisabeth endlich seine Liebe gestehen. Jetzt war er nur noch wütend auf diese Braunhemdärsche. Wütend auf ihren Anführer, seinen Bruder. Elisabeth mit ihrem guten Herzen hatte auch noch die Größe, sich nach seinem bekloppten Bruder und dessen Befinden bei ihm zu erkundigen. Das gab ihm komplett den Rest. Was hatte sie nur für ein goldenes Herz? Ganz erschrocken hatte sie geschaut und sich nach allen Details bei ihm erkundigt. Natürlich behielt er Elisabeths Grüße an seinen Bruder für sich. Wäre ja wohl noch schöner. Sein jüngster Bruder Gerhard hatte ihn und Hugo irgendwie aus dem Gewühl rausbekommen und war mit ihnen nach Hause geeilt.

„Franz. Hör zu! Ich mach dir einen Vorschlag. Unser Führer braucht neben seiner SA und der SS noch andere, absolut zuverlässige Männer. Der Erfolg der Bewegung hat Hitler nicht nur Freunde gemacht. Der Führer muss vor diesen fanatischen Dummköpfen und Volksverrätern geschützt werden. Du bist ein kluger, kräftiger junger Mann mit den rechten Überzeugungen. Was hältst du davon, wenn ich mich dafür verwende, dass du mit mir nach Berlin kommst?“

„Oh mein Gott Christian. Du denkst unser Franzl könnte mit dir nach Berlin?“ Helene, die niemand hatte kommen hören, hielt die Hände vor den Mund. Die Augen geweitet, suchte sie den Blick ihres Gatten. August hob fragend die Augenbrauen und sah dann zu seinem alten Kameraden. Der lächelte generös und nickte August zu. Franz starrte Christian an und knetete die Hände. Heinz, gedanklich gerade wieder aus der Bäckerei zurück, pfiff leicht durch die Zähne, Hugo schüttelte den Kopf. Gerhard blickte zu Theo. Heinz tat es ihm gleich. Theo, kreidebleich, sah so aus, als würde er vor Wut platzen. Sehr schön, dachte Heinz.

„Wenn er will, und ich weiß, dass er will…“ Christian sah zu Franz, der eifrig nickte und dem Tränen in die Augen stiegen „…rede ich in Berlin mit Hermann. Kann mir nicht vorstellen, dass es Probleme gibt. Er vertraut mir. Ich vertraue ihm.“

Bist du sicher, dass du Franz eine solche Kariere eröffnen kannst?“, mischte sich August ein. „Ich will nicht, dass du dem Jungen Flausen in den Kopf setzt.“ Heinz beobachtete seinen Bruder Theo. Hämische Hoffnung huschte über dessen Gesicht. Onkel Christian amüsiert sich köstlich. Nickte Hugo zu, der ihm devot nachschenkte.