Hereroland - Jens Holger Fidelak - E-Book

Hereroland E-Book

Jens Holger Fidelak

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Beschreibung

Deutsch-Südwestafrika im Februar 1903. Der Sergeant der Schutztruppe, August Ranke, erwartet die Ankunft seiner Frau Helene in Swakopmund. Auf dem Weg zu seinem Vorgesetzten trifft er zufällig auf die junge Freya von Rieben. Eine Begegnung mit schicksalhaften Folgen. Noch im gleichen Jahr erheben sich die einheimischen Stämme gegen die deutsche Schutzmacht. Es beginnt ein jahrelanger, unerbittlicher Kampf um die Macht im Schutzgebiet. Nach dessen Ende kehrt trügerische Ruhe ein. Der Erste Weltkrieg wirft seinen langen Schatten bis ins südliche Afrika voraus. Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen erzählt der Autor eine Geschichte von Schuld, Feigheit und Sühne. Eine Geschichte von der Angst vor dem Fremden, von Liebe und Verzweiflung. Die Geschichte einer deutschen Familie in Deutsch-Südwestafrika.

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Jens Holger Fidelak

Hereroland

© 2017 Jens Holger Fidelak

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144

Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7439-4903-4

Hardcover:

978-3-7439-4904-1

e-Book:

978-3-7439-4905-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

HEREROLAND

Alles Sinnen und Trachten des Herero dreht sich allein um sein Vieh, besonders das Langhornrind. Alle typischen Kulturelemente stehen in direktem Zusammenhang zur Rinderzucht. Dazu zählen unter anderem das Schlachten von Großvieh nur zu festlichen und kultischen Zwecken, das Waschen der hölzernen Milchgefäße mit dem Urin einer Kuh, das Verbot, in irdene oder metallene Gefäße Milch zu gießen oder diese mit Wasser zu vermischen, die Verbindung des Häuptlings mit dem Rind und sein Begräbnis in der Rinderhaut, die Verwendung der Butter als Salbe, das heilige Dauerfeuer, die Lebensrute - als Teil des Lebensbaumes mit den Kräften des Lebens und der Fruchtbarkeit geladen, die sich durch Berührung fortpflanzen - und der Sündenbock.

In ihren Trachten bevorzugen die traditionellen Herero die Lederkleidung, und als Waffen werden Wurflanze und Hautschild präferiert.

Karunga ist die Gottheit der Erde, des Wassers, der Unterwelt und er wohnt als roter Mann und erster Ahnherr im Norden, während Ndjambi der Hochgott im Himmel residiert. So vereinigen sich in Ndjambi-Karunga Himmel und Erde zu einer einzigen Gottheit. Der sendet Regen, Blitz und Donner und gebietet gleichzeitig über Leben und Tod. Die Unterwelt zeigt aber auch versöhnliche Züge, denn aus ihr kommt das Leben. Und Omumborombonga, der mythische Lebensbaum, entfaltet hier seine Zweige. Ihm entsprang dereinst das Stammelternpaar Mukuru und Kamangarungaund mit diesen kamen auch die Ozongombe, die Rinder auf die Erde.

Der Kult des Urahnen Mukuru und seiner Nachkommen, die die jeweils lebenden Häuptlinge verkörpern, spielt beim Ahnenkult der Herero eine zentrale Rolle. In Mukuru verkörpert sich das Glück des Stammes. Er ist der im Häuptling wiedergeborene Ahne. Sein Symbol ist der mythische Lebensbaum, dem auf der Erde der heilige Omuvapu Strauch entspricht.

Die Werftanlage der Häuptlinge Onganda, besitzt einen, nach mythischen Gesichtspunkten geordneten, kreisförmigen Grundriss. Um den Kälberkral in der Mitte liegen im nördlichen Halbkreis die Hütten der Frauen, im südlichen die der Männer. Von Norden her betritt man auch die Werft. Im Osten bzw. Nordosten liegen der Pontok des Häuptlings und die Hütte seiner Hauptfrau. In der Häuptlingshütte wacht die älteste, ledig gebliebene Tochter, die Ondangere, über das heilige Feuer, damit es niemals verlöscht. Dieses Feuer ist Symbol des lebenden Mukuru. Früh und am Abend, immer wenn die Kühe gemolken werden, zündet die Ondangere auf dem zwischen dem Kälberkral und der Hütte der Hauptfrau gelegenen Opferplatz Okuruo mit dem Brand vom heiligen Feuer ein neues Feuer an. Ein Verlöschen des heiligen Feuers gilt als größtes Unglück für den Stamm.

In der glutsengenden Hitze flimmerte der gelbe Sand. Sonnenblumenhelles Licht ergoss sich verschwenderisch üppig über das weite Land. Die wenigen Büsche und Sträucher entlang des Weges im ausgetrockneten Flussbett verschwammen zu dunklen flirrenden Schemen, die der Phantasie des Reiters keinen Müßiggang einräumten. Der junge Mann auf dem Pferd hatte seinen Hut tief in die Stirn gezogen und kauerte sich auf dem Sattel zusammen, um dem allgegenwärtigen leichten Flugsand keine zu große Angriffsfläche zu bieten. Das helle Halstuch war vor Mund und Nase gebunden. Von weitem dachte man, dass die Gestalt auf dem braunen Pferd mit der dunklen Mähne im Sitzen eingeschlafen wäre. Alles in allem ein friedliches Bild. Brav schritt der Braune dahin. Kleine Staubwölkchen bildeten sich da, wo der Hengst seine Hufe in den vertrockneten Boden setzte. Sein Reiter hatte die ledernen Zügel locker um den Sattelknauf gelegt und überließ es dem Pferd, Weg und Tempo selbst zu bestimmen. Seit neun Tagen waren sie jetzt unterwegs und die meiste Zeit waren sie allein gewesen auf ihrem Weg von Omaruru bis hierher.

Der klagende Schrei einer Möwe zerriss die Stille. Der Reiter straffte sich augenblicklich und richtete seinen Blick in den Himmel. Er fasste die Zügel und zog sanft daran. Willig blieb der Braune stehen. Mit der Linken bedeckte der Mann seine Stirn und spähte mit zusammengekniffenen Augen jetzt geradeaus. Dabei griff er mit der Rechten in die Brusttasche seiner khakifarbenen Uniformjacke und zog eine silberne Taschenuhr hervor. Das grelle Licht brach sich in gleißenden Blitzen, in deren spiegelblank poliertem Gehäuse. Geschickt klappte er mit der einen Hand den Deckel auf undlas die Zeit ab. Wieder ging sein Blick nach vorn und er begann kurz zu überlegen. Dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben. Er steckte die Uhr wieder in die Tasche, klopfte dem Braunen den Hals und schwang sich geschickt aus dem Sattel. „Pause, mein Braver", redete er mehr mit sich selbst, als dem Pferd zugewandt. Er warf die Zügel über die Ohren, nahm die Satteltaschen ab und ließ das Pferd frei. Dann machte er sich an den Satteltaschen zu schaffen. Mit einer Feldflasche gab er dem Pferd zu saufen. Gierig nahm das Tier die Flüssigkeit auf. Dabei tropfte das kostbare Nass durch die Hand des Reiters auf den Boden, wo es sofort im Sand für immer verschwand. Dem Reiter schien das nichts auszumachen. Ihn umgab die Aura eines Mannes, der genau wusste, was er tat. Er gab dem Tier solange zu trinken, bis die Flasche komplett leer war. Dann griff er erneut in die Satteltasche und förderte eine kleinere Feldflasche und zwei schrumpelige Äpfel hervor. Mit der flachen Hand reichte er dem Tier einen Apfel und biss selber in den anderen. Danach überließ er das Tier sich selbst.

Langsam den Apfel kauend, stellte er sich in die Mitte des staubigen Weges und fixierte nun mit seinem kleinen Fernglas wieder den Horizont vor ihm. Zufrieden mit seiner Beobachtung verstaute er das Glas und setzte sich auf den sandigen Boden. Aus der anderen Brusttasche seiner Jacke holte er eine Zigarette und zündete sich diese an. Grauweiß zogen die kleinen Kringel in den hellblauen Himmel über Swakopmund. Nur in der Ferne, über dem Meer, zog sich ein blütenweißes Wolkenband durch das strahlende Blau. Das war ungewöhnlich für diesen Landstrich, der sonst in ein dunstiges, alles verwischendes Grau getaucht war. In zwei Stunden würden sie die Stadt und damit ihr Ziel erreichen. Inacht Stunden wurde er am Hafen erwartet. Bis dahin hatte er noch ein paar Kleinigkeiten zu erledigen.

Als August Ranke aufgeraucht hatte, machte er sich auf die letzte Etappe seiner Reise. Wieder zog er den breitkrempigen Hut tief in die Stirn. Er lief langsam und ohne Eile zu dem Pferd, das neugierig seinen Kopf zu dem ihm vertrauten Reiter drehte. Willig ließ es sich die Zügel über die Ohren ziehen und drehte sich von allein in die richtige Richtung. Ganz so, als hätte es selber ein Interesse, die letzte Etappe in Angriff zu nehmen. Nach fünf Minuten waren Ross und Reiter wieder in den gewohnten Positionen. Nichts mehr erinnerte an die kurze Rast. Weit vor ihnen zogen sich nach links, in feinen, gerippten Wellen, die endlosen graugelben Sanddünen bis nach Walfishbay dahin.

August erreichte die ersten Baracken am Rande Swakopmunds, das damals noch im Begriff war, eine Stadt zu werden. Immerhin, die unbefestigte Straße war an den Rändern ordentlich mit grauen und weißen Feldsteinen grob begrenzt. Sie bildete so in ihrer geometrischen Ordnung einen scharfen Gegensatz zu den halb verfallenen Baracken mit ihren schiefen Türen und zum Teil mit Brettern vernagelten kleinen Fenstern am äußeren Rand der kleinen Hafensiedlung, die schon jetzt trotzig von sich selbst behauptete, eine Stadt zu sein. Die Tageshitze, jetzt am späten Vormittag, hatte die meisten Bewohner von der Straße in die Häuser getrieben. August atmete in tiefen Zügen die würzige Seeluft, die man hier schon spüren konnte. Er schmeckte das Salz in der Luft, roch den frischen Seetang. Nachdem er dieersten einfachen Hütten passiert hatte, begegneten ihm Einheimische. Vor einem massiven zweistöckigen Holzgebäude luden zwei Neger mit glänzenden schwarzen Leibern einen Ochsenkarren aus und brachten die Ware durch die offenstehende blaugraue Flügeltür in das Ladengeschäft.Warenhaus Köhlerstand in schwarzen Buchstaben auf einem hölzernen, handgemalten Schild, das quer über dem Türrahmen an zwei kleinen Ketten befestigt war und sanft in der leichten Brise, die vom Ozean her wehte, schaukelte. Die Schwarzen nahmen August bei ihrer Arbeit nicht zur Kenntnis. Stoisch schulterten sie Bündel um Bündel auf ihre Schultern und trugen es riesigen Ameisen gleich in den Laden, um gleich darauf wieder herauszukommen und die nächsten Bündel abzuladen. Er brachte sein Pferd zum Stehen, legte die Zügel über den Sattelknauf, zog sein Halstuch vom Gesicht und band es sich neu um. Die beiden Ochsen, vorn am Wagen angespannt, schlugen mit den Quasten ihrer Schwänze nach Fliegen und wandten träge ihre Köpfe zu Ross und Reiter. Einer schüttelte sich und das Klirren des Geschirrs ließ den Braunen nervös auf der Stelle tänzeln. „Ruhig", tätschelte August sein Pferd am Hals und stieg ab. Er führte das willig folgende Tier zu der kleinen Balustrade aus Holz, die den Laden von der Straße trennte und band das Pferd lose an. Er straffte sich kurz, blickte noch einmal auf die Straße vor ihm und betrat dann den Laden. Beinahe wäre er mit einem der Neger zusammengestoßen, der im Begriff gewesen war, den Laden zu verlassen, um neue Ware vom Wagen zu holen. Im Laden traf er zunächst niemanden an. Hinter einer kleinen Theke standen mehrere Regale, die ordentlich befüllt und beschriftet waren. Da gab es Eisenwaren jeder Art und Größe. Mehl, Hafersäcke, Lederkleider inverschiedenen Größen, die meisten davon Jacken, aber auch einige gelbbraune Hosen hingen über aus Draht gebogenen Bügeln. Dazu Geschirrtücher, blauweiß karierte Bettwäsche, Hüte. August sah rechts im Regal Kerzen in einem der Fächer. Schön nach Farben und Größen sortiert, standen sie aufgereiht wie Zinnsoldaten in ihrem Fach. Alles wirkte sehr ordentlich und aufgeräumt. Vor der Theke bot sich ein anderes Bild. Hier hatten die beiden Neger vermutlich die neue Ware abgestellt. Überall stapelten sich Ballen und Kisten verschiedener Größe. Rechts neben der Theke, umrahmt von weiteren Regalen mit Gewürzen, irdenen Töpfen, Teekannen und Seilen, die wie Schlangen zusammengerollt lagen, stand eine kleine blau gestrichene Holztür offen, aus der August Stimmen vernahm. Er zögerte, trat einen Schritt in Richtung der geöffneten Tür, entschied sich aber dafür, an seinem Platz zu verharren. Kurz darauf verdunkelte zuerst ein Schatten den Eingang zum Magazin, ehe ein kräftiger, untersetzter Mann mit komplett kahlem Schädel, auf eine Liste in seinen Händen blickend, in den Verkaufsraum trat und sich gleich mit dem Rücken zum Eingang vor seine Regale stellte. Er bemerkte August nicht. Der räusperte sich verhalten, woraufhin der Glatzköpfige missmutig, ohne sich umzudrehen ein „Wir haben noch geschlossen" in den Raum raunzte.

„Verzeihung. Ich möchte nicht stören. Mein Name ist August Ranke. Ich möchte Sie nur kurz etwas fragen."

„Wir haben noch geschlossen, hab` ich gerade gesagt." Als wäre er noch immer allein, legte der Glatzköpfige den Kopf in den faltigen Nacken und blickte suchend in der Regalwand nach oben.

„Entschuldigung, ich wollte nur eine kurze Auskunft."

„Also sagen Sie mal..." Genervt drehte sich der Mann jetzt um. Als er August in seiner Uniform sah, besann er sich, lächelte verlegen oder besser, er versuchte es und wurde sofort umgänglicher. Seine Zornesfalte zwischen den Augenbrauen führte ihren eigenen Dialog.

„Entschuldigen Sie, Sergeant. Hab` heute ziemlich viel um die Ohren. Mein Name ist Köhler. Armin Köhler. Oder der Waren-Köhler, wie die Leute mich hier manchmal nennen. Ich bin der Besitzer hier. Wie Sie sehen, bekommen wir gerade Ware und wenn ich nicht genau aufpasse und Buch führe, klauen mir die beiden schwarzen Lumpen das letzte Hemd direkt vor der Nase weg." Einer der Angesprochenen schob sich gerade mit einer Kiste auf dem Kopf an August vorbei zum Magazin. „Das bleibt hier vorn! Wie oft soll ich das noch erklären", schnauzte Köhler den Schwarzen an. Der stellte gleichmütig die Kiste zu den anderen, die sich bereits vor der Theke stapelten und ging wieder nach draußen. „Was kann ich für Sie tun Herr."

„Ranke."

„Was kann ich für Sie tun, Herr Ranke?" Der Händler schwitzte jetzt erkennbar. Sein Hals war puterrot. Man sah ihm an, dass er sich zur Höflichkeit zwingen musste. August störte ihn mehr als offenkundig. Köhlers Augen flogen wie aufgescheuchte Fledermäuse immer wieder zwischen August und den beiden Schwarzen umher.

„Ich suche das Büro von Hauptmann von Rieben. Ich habe eine Nachricht für ihn, die ich persönlich überbringen muss."

„Hauptmann von Rieben?" Sofort nahm der Mann, der sich Köhler nannte, devote Haltung an und konzentrierte sich jetzt ganz auf sein Gegenüber. Was ihm immer noch sichtlich schwerfiel. August nahm das befriedigt zur Kenntnis und unterdrückte bewusst den Impuls, freundlich zu lächeln. „Der Herr Hauptmann hat sein Büro direkt am Hafen. Wenn Sie die Straße weiter vor reiten, sehen Sie bald den neuen Leuchtturm. Zwischen Bahnhof und Leuchtturm befindet sich das Hafenamt mit der Hafenmeisterei. Ein weißes, zweistöckiges Gebäude mit schwarzem Fachwerk in der zweiten Etage. Der Herr Hauptmann ist aber viel unterwegs. Es kann sein, dass Sie ihn nicht sofort dort antreffen." Die letzte Aussage hinterließ einen verwirrten Ausdruck in August Gesicht. Diese Möglichkeit hatte er gar nicht bedacht. Das würde seine gesamten Pläne gehörig durcheinanderbringen. Köhler sah ihn entgeistert an und befürchtete schon, etwas Falsches gesagt zu haben.

„Danke", presste August hervor und deutete ein Nicken an. „Dann will ich Sie nicht länger stören, Herr Köhler. Vielen Dank. Auf Wiedersehen." Die Erleichterung in Köhlers Gesicht äußerte sich im Schließen der Augen, einhergehend mit einem tiefen Atemzug. Als er die Augen wieder öffnete, war er wie ausgewechselt.

„Grüßen Sie den Herrn Hauptmann. Und vielleicht kommen Sie ja mal vorbei, wenn Sie was suchen. Bei mir bekommen Sie alles, was Sie in dem verdammten Land brauchen. Und auch das, was Sie nicht brauchen. Ab morgen haben wir wieder geöffnet." Dann hatte er August auch schon wieder den Rücken zugedreht und hakte weiter in seiner Liste ab.

Dank Köhlers Wegbeschreibung gelangte August schnell zum Ziel. Seit seiner Ankunft in Deutsch-Südwest vor einem Jahr hatte sich die Gegend um den Hafen total verändert. Am auffälligsten war der neu errichtete, massive Leuchtturm, der sich fast zwölf Meter in die Höhe streckte. Als August vor gut einem Jahr nach Afrika kam, befand sich der Leuchtturm noch im Bau. Der weiß rote Turm mit den in Rot gehaltenen charakteristischen Zinnen unterhalb des Lichtfensters und der grünspanüberzogenen Kupferkuppel wies August den Weg zur Mole und zum Büro von Hauptmann von Rieben, in der ebenfalls neu errichteten Hafenmeisterei. Rund um das Hafenbecken war das Land mit verstreut stehenden, trostlosen Baracken und Bretterbuden bebaut, die dem ganzen einen noch unfertigen, provisorischen Eindruck gaben. Weiter hinten stand mit dem neu erbauten Bahnhofsgebäude ein weiteres repräsentatives Bauwerk. An einer Stelle sah August, wie schwarze Arbeiter unter der Aufsicht eines Schutztrupplers den Bretterzaun ausbesserten. Als der Gefreite August sah, nahm er sofort Haltung an und salutierte. August grüßte zurück und ritt weiter zur Reede. Hier direkt am Hafen herrschte ein reges Gewühl. Überall tummelten sich Menschen. Die meisten nahmen von August keinerlei Kenntnis. Jeder hatte seine eigenen Geschäfte und Tätigkeiten zu erledigen. Im Hafenbecken lagen knapp ein Dutzend Schiffe und schaukelten im leichten Wellengang. Ein großer Schlepper und mehrere kleine. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum heute so viele Menschen in Swakopmund am Hafen zu tun hatten. Heute, am 25. Februar 1903 wurde am späten Nachmittag dieEduard Bohlenerwartet. Auch August war genau deswegen heute nach Swakopmund gekommen. Denn mit derEduard Bohlenreiste auch Helene, seine Frau, die zum ersten Mal afrikanischen Boden betreten würde.

Neben der Hafenmeisterei, dort wo früher die Baracke mit den Büros der Woermann Linie waren, entstand gerade ein weiterer, für hiesige Verhältnisse prunkvoller Steinbau. August ließ seinen Blick schweifen. Am Hafen entwickelte sich Swakopmund noch am schnellsten. Trotzdem konnte man dieses Sammelsurium aus den vereinzelten Steinbauten und den ringsum verstreuten Baracken und Holzhütten inmitten dieser Sandwüste nicht mit einer deutschen Stadt vergleichen.

Weiter hinten, in der langen Schlange der hölzernen Lagerhäuser, die wie ein riesiger Wurm neben dem Ufer lagen und sich direkt neben den neu verlegten Eisenbahngleisen befanden, betrat August eine Schmiede. Mit dem Schmied, einem kräftigen Württemberger mit borstigem Schnauzbart und riesigen Händen, die mit Schwielen übersät aussahen, wie die Hände eines Aussätzigen, wurde er sich schnell einig, seinen Braunen im Stall des Geschäftes unterzubringen. Der Schmied pfiff mit zwei Fingern. Sofort kam aus dem Stall ein kleiner Negerjunge in abgeschnittenen Stoffhosen herbeigesprungen und übernahm das Pferd. August drückte ihm einen Groschen in die Hand und wies ihn kurz an, sich gut um das Pferd zu kümmern. Die weißen Zähne des Jungen blitzten auf, als er die Münze in seiner Tasche verschwinden ließ.

Ohne sein Pferd machte sich August auf den Weg zurück zur Hafenmeisterei. Er verdrängte die Möglichkeit von Rieben nicht anzutreffen einfach. Leutnant von Stein hatte ihnso zur Vertraulichkeit in der Sache gedrängt, dass die Nachricht, die er ihm für Hauptmann von Rieben mitgegeben hatte, von höchster Dringlichkeit zu sein schien. Und August hatte nicht vor, das Vertrauen des Leutnants zu enttäuschen. Vor dem riesigen Portal aus dunklem Tropenholz prüfte August noch einmal den Sitz seiner Uniform, als die große Tür aufschwang und eine junge Dame mit fliegendem Rock die Treppe herabeilte. Im Laufen öffnete sie ihren kleinen geblümten Schirm. So einen, wie ihn die weißen Frauen hier gegen die Sonne trugen. August riss sich den Hut vom Kopf und deutete eine kleine Verbeugung an, welche die Dame mit überraschtem Nicken erwiderte und zu einem kurzen Zögern veranlasste, ehe sie stehen blieb. Ihr Gesicht war leicht gerötet. Wie von Anstrengung oder leichtem Ärger. Und es war schön.

„Kennen wir uns?", fragte sie und besah August neugierig mit offenem Blick.

„Sergeant Ranke, gnädige Frau. Nein. Ich glaube, wir sind uns noch nicht begegnet." Langsam setzte August seinen Hut wieder auf. Und deutete eine weitere Verbeugung an. Er war auf alles vorbereitet gewesen, aber nicht darauf, dass die Dame ein Gespräch mit ihm führte.

„Freya von Rieben, angenehm", stellte sie sich vor. „Ein junger Sergeant mit Manieren." Sie schürzte kokett die Lippen, drehte leicht den Kopf schräg und nickte anerkennend. „Ich nehme an, Sie wollen zur Hafenmeisterei?" August musste kurz räuspern, ehe er sprechen konnte.

„Das ist richtig. Ich habe eine persönliche Nachricht des Herrn Leutnant von Stein an den Herrn Hauptmann von Rieben."

„Leutnant von Stein? Dann sind Sie aus Omaruru gekommen? Und Sie sagen es ist dringend?"

„Ja, gnädige Frau. Vor neun Tagen bin ich losgeritten und seit etwa einer Stunde hier in der Stadt."

„Sie sind allein von Omaruru hierher geritten?" Ein ungläubiges Staunen huschte über ihr feines Gesicht und wurde von einem anerkennenden Lächeln abgelöst. „Hauptmann von Rieben ist mein Ehemann. Er ist aber im Moment nicht hier in der Hafenmeisterei." August zuckte ungewollt mit dem rechten Lid, als er diese unerfreuliche Information bekam. „Ich habe es auch gerade eben erst erfahren. Er soll aber in der nächsten halben Stunde zurückkommen." Seine Züge entspannten sich. Der Rest seines Körpers hielt weiter gegen seine Willen Spannung.

„In einer halben Stunde, sagen Sie. Da werde ich die Zeit nutzen und mich nach einem geeigneten Quartier umsehen. Vielen Dank für Ihre Auskunft, Frau von Rieben." August versuchte, wenigstens entspannt zu klingen und deutete eine weitere kleine Verbeugung an. Immerhin. Die angedeutete Verbeugung gelang.

„Gern geschehen. Falls Sie noch nicht in Swakopmund waren, empfehle ich Ihnen übrigens das Gasthaus Köhler. Die haben dort noch die erträglichsten Zimmer. Das ist übrigens gleich da vorn." Kurzes Zögern. Ihr Blick folgte ihrem ausgestreckten Arm. „Wenn Sie möchten, dürfen Sie mich begleiten, dann zeig ich es Ihnen. Ich muss auch in diese Richtung." Scheu drehte sie den Kopf zu August und sah ihn an. Sie sah einen überforderten August, der blöd zurückblickte. Dafür gab es keine elegante Lösung.

„Danke." August wurde verlegen. „Verzeihung, Frau von Rieben. Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen." Unmöglich dieses Angebot auch nur zu Ende zu denken. Oder doch? Niemals! Wozu auch? Er hatte einen Auftrag zu erledigen. Nachher kam Helene. Schluss. Aus. „Ich kann Sie aber nur begleiten, wenn Sie mich ausdrücklich darum bitten, Ihnen Schutz zu gewähren." Oh mein Gott. War er verrückt geworden? August blickte zu Boden. Freya lachte laut auf.

„Na dann, Sergeant Ranke. Beschützen Sie mich mal vor den Eingeborenen und all den Strauchdieben, hier in Swakopmund." Aufatmen auf beiden Seiten lag in der Luft.

„Es ist mir eine Ehre, Frau von Rieben." Die beiden liefen äußerlich entspannt nebeneinander auf der staubigen Straße am Hafen entlang und bogen dann am Leuchtturm nach links in die Poststraße zurück in das kleine Zentrum der werdenden Wüstenstadt am Meer. Zusammen blieben sie kurz am Leuchtturm stehen und betrachten ihn. Freya lächelte, als August zufällig ihren Blick erhaschte. Trotz des geschäftigen Treibens auf der Straße nahm von den beiden niemand wirklich Notiz. Alle waren irgendwie mit sich oder anderen, für sie wichtigen Dingen beschäftigt. Da August es tunlichst vermied, ein Gespräch mit der Frau eines Vorgesetzten zu beginnen, schwieg er. Trotzdem begann er, unter seinen strahlend kornblumenblauen Kragenspiegeln zu schwitzen. Mit beiläufigen Blicken musterte er verstohlen die junge Frau. Freya von Rieben war eine natürliche Schönheit. Unter ihrem eleganten kleinen Hut quoll das goldblonde lockige Haar hervor.

Schon während ihres kurzen Gespräches war August das eigenwillige helle Leuchten ihrer grauen Augen aufgefallen. Kerzengerade schritt ihre zierliche, harmonische Gestalt gemächlich über die Straße.

„Gleich da vorn ist es.", riss sie ihn aus seinen stillen Betrachtungen. „Sehen Sie, dort das einstöckige Gebäude mit der blauen Tür." Ihr gebeugter Arm zeigte nach vorn.

„Ja. Danke, ich sehe es", wandte er sich ihr zu und ihre Blicke trafen sich erneut. Den Bruchteil einer Sekunde zu lang verfing sich August im Leuchten ihrer Augen. Erschrocken blickte er schnell zur Seite. Ohne sich zu trauen auch nur noch einmal in ihre Richtung zu denken, spürte er, wie ihr entspanntes reizendes Wesen einer höflichen Förmlichkeit wich.

Endlich erreichten sie das Gasthaus Köhler. August war unter seiner Uniform klatschnass.

„So, hier finden Sie bestimmt eine Unterkunft. Vielen Dank für Ihre Begleitung und Ihren Schutz, Sergeant."

„Ich muss Ihnen danken, Frau von Rieben. Es war mir eine Ehre, Sie begleiten zu dürfen." Die Höflichkeit zwang August dazu, sie beim Sprechen anzusehen. Zeitgleich blickten beide so schnell wie möglich zur Seite. „Dann versuche ich mal mein Glück", sprach August und schritt zur Tür.

Eine halbe Stunde später stand er mit frisch gewichsten Stiefeln wieder vor dem Quartier des Hafenmeisters. Im Gasthaus Köhler hatte er sofort ein Zimmer bekommen. Wie sich herausstellte, war die Namensgleichheit mit dem Warenhändler Armin Köhler kein Zufall. Es handelte sich bei dem Inhaber des Gasthauses und dem Inhaber des Warenladensum ein und dieselbe Person. Stolz hatte der schlaksige junge Mann mit der schlechten Gesichtshaut, der sich als Walter vorstellte und der, so wie August vermutete, sein Leben lang und das womöglich auch noch freiwillig in diesem Gasthaus bleiben würde, hinter dem Tresen noch weitere Besitztümer seines Chefs aufgezählt, ohne dass August danach gefragt hätte. Aber während er für August die Anmeldung in seinem großen, in Leder eingebundenen Gästebuch ausfüllte, plauderte er munter drauf los. So erfuhr August, dass Armin Köhler neben seinen Geschäften in Swakopmund noch andere Dependancen unterhielt und im nächsten Monat ein Warenhaus in Windhuk eröffne. Dieses Gästehaus noch in diesem Jahr aufgestockt werden solle und mehrere große Farmen mit Vieh zum Besitz des emsigen Kaufmannes gehörten.

Mit jedem Schritt zwei Stufen auf einmal nehmend, erklomm August die kleine Treppe und betrat die Hafenmeisterei. Im Innern sah er, wie zwei Nama Frauen in weißen Putzkleidern auf Knien die dunklen Holzfußböden schrubbten. Rechts neben dem Eingang befand sich der Empfang. Hinter einer Scheibe, in die unten ein kleines Loch geschnitten war, das, mit gestanztem Blech verkleidet, die Kommunikation zwischen Davor und Dahinter verbessern sollte, saß ein älterer Zivilist mit Nickelbrille über dem wuchtigen Kaiserbart, der sein pockennarbiges Gesicht in großen Teilen dominierte, wie in einem Aquarium und sah August mit prüfendem Blick an.

„Sergeant Ranke", stellte sich August vor. „Ich möchte in einer dringenden Angelegenheit zu Hauptmann von Rieben.

„Da hamm`se Glück. Der Herr Hauptmann ist vor fünf Minuten rein. Sein Büro ist im ersten Stock. Wenn`se die Treppe hochgehen, die erste Tür links." Der Pförtner griff in seine Hosentasche und zog ein Taschentuch hervor. Damit wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn. August dankte und ging zur Treppe.

Schon nach dem ersten zaghaften Klopfen donnerte von drinnen ein kräftiges „Herein!". August öffnete die Tür und trat in das Büro von Hauptmann von Rieben.

„Sergeant Ranke vom Kommando Omaruru", salutierte August, die Hacken zusammenschlagend. „Gestatten Herr Hauptmann, dass ich Ihnen eine wichtige Nachricht von Leutnant von Stein überbringe."

„Rühren. Na dann zeigen Sie mal her, was Sie für mich haben." August griff in die Innentasche seiner Uniformjacke und entnahm ihr das versiegelte Schreiben. Er trat zwei Schritte auf von Rieben zu, der hinter seinem Schreibtisch saß und in einer Zigarrenkiste wühlte. Dann hielt er ihm den Brief über den Tisch. Mit der freien linken Hand nahm von Rieben das Schreiben entgegen und legte es vor sich auf den Stapel anderer Papiere. Mit derselben Hand wedelte er und bedeutete August, sich auf einen der Stühle zu setzen, die vor seinem Schreibtisch für Besucher aufgestellt waren. „Hinsetzen, Sergeant."

„Vielen Dank, Herr Hauptmann." August nahm steif auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Platz und sah zu von Rieben. Der war mittlerweile fündig geworden und steckte sich in aller Ruhe eine Zigarre an. Erst nachdem er ein paar Züge gepafft hatte, griff er nach dem Umschlag und erbrach das Siegel.

„Muss ja verdammt wichtig sein, wenn von Stein kein Telegramm schickt", murmelte er vor sich hin. Konzentriert begann er zu lesen. August beobachtete, wie die strengen Züge des Hauptmannes das Gelesene verarbeiteten. Seine Kiefermuskeln kontrahierten leicht - von ihm selbst unbemerkt. Unaufhaltsam zogen sich zwischen den Augenbrauen zwei kleine Stirnfalten zusammen. Ganz langsam wurden sie immer tiefer. Als von Rieben den Brief ablegte, blieben die beiden Stirnfalten, als wären sie schon immer da gewesen. Er griff nach einer kleinen, durchsichtigen, gläsernen Glocke und läutete. Sekunden später flog die Tür auf und ein Gefreiter salutierte. „Zur Stelle, Herr Hauptmann!"

„Klüver. Ich möchte die nächste halbe Stunde nicht gestört werden und suchen Sie mir den Telegrafenfritzen, diesen Feldmann oder wie der heißt. Verstanden?"

„Jawohl, Herr Hauptmann", brüllte Klüver und schon flog die Tür wieder zu.

„Kennen Sie den Inhalt des Schreibens, Sergeant? Hat Ihnen von Stein gesagt, womit er Sie hier losgeschickt hat?", wandte sich der drahtige von Rieben wieder August zu. Mit seiner tadellos sitzenden Uniform, dem vollen Haar und seinen vielleicht knapp fünfunddreißig Jahren war der Hauptmann eine respekteinflößende Erscheinung. Der Dienstgrad eines Hauptmannes in so jungen Jahren war sichtbare logische Konsequenz all seiner Fähigkeiten und Qualitäten.

„Nein, Herr Hauptmann. Der Herr Leutnant hat mich nur gebeten sicherzustellen, dass dieser Brief persönlich und ungeöffnet von mir an Sie übergeben wird." Von Rieben strich sich nachdenklich über den gezwirbelten Oberlippenbart.

„Hören Sie genau zu. Das ist ein Befehl." August straffte sich und blickte aufmerksam zu dem Offizier." Alles was ich Ihnen jetzt sage, ist streng vertraulich. Außer mit mir und Leutnant von Stein reden Sie mit niemanden über diese Angelegenheit, bis ich es Ihnen erlaube."

„Jawohl, Herr Hauptmann."

„Wenn das stimmt, was von Stein mir hier berichtet, hat er den Verdacht, dass bei den Herero verstärkt deutsche Waffen auftauchen. Und diese Waffen müssen irgendwoher kommen. Diese Neger sind ja wohl schlecht selbst in der Lage, Waffen zu bauen. Außer ihren Speeren und Pfeilen." Kurzes Lachen über seinen eigenen gelungenen Scherz. August lächelte brav. Von Rieben schüttelte verächtlich den Kopf. August tat es ihm gleich. „Zudem befürchtet Leutnant von Stein, dass die Stimmung bei einigen Herero sich gegen unsere Landsleute richtet. Ganz konkret deutet er mir an, dass er es für durchaus möglich hält, dass diese Primitiven zu gewalttätigen Handlungen fähig wären. Er fordert von mir Verstärkung für das Kommando in Windhuk und die umliegenden Feldposten. In Omaruru sind im Augenblick unter Hauptmann Franke genug Kräfte, glaubt er. Gleichzeitig soll ich versuchen herauszufinden, wo diese Kaffern die Waffen herbekommen. Dabei haben wir hier unten zurzeit immer wieder selber genug Ärger mit den Nama. Diesem störrischen alten Witbooi und seinen Hottentotten traue ich keinen Meter über den Weg. Verträge hin oder her." Er zog an seiner Zigarre und blickte in Gedanken versunken aus dem Fenster auf das Hafenbecken. „Was halten Sie von der Sache Ranke? Sie kennen die Umstände in Omaruru doch sicher auch schon eine Weile?"

„Seit einem knappen Jahr bin ich dort, Herr Hauptmann. Das mit den Waffen kann ich bestätigen. Auf Nachfrage behaupten die Neger stets, sie hätten sie ehrlich mit Handel erworben und benutzen sie nur für die Jagd oder um ihr Vieh zu verteidigen. Von einer erhöhten Gewaltbereitschaft gegenüber unseren Landsleuten weiß ich nichts. Und das eine oder andere Feldkommando im Hererogebiet kann tatsächlich noch ein paar tüchtige Männer gebrauchen. Die Missionsstationen ziehen immer mehr Herero in die unmittelbare Gegend um Windhuk."

„Mhm." Hauptmann von Rieben überlegte. „Schöner Mist. Von Stein schreibt, dass ihn Hauptmann Franke mit der Aufklärung dieser Sache betraut hat, weil er im Moment selber mit Aufrechterhaltung der Einsatzbereitschaft seiner Kompanie und Verwaltungsaufgaben voll ausgefüllt ist. Kann ich gut verstehen. Geht einem ja hier nicht anders. Ich muss mich auch um tausend Dinge gleichzeitig kümmern." Genervt trommelte er mit den Fingern auf seinen mit Akten überladenen Schreibtisch.

„Falls Herr Hauptmann gestatten?" Von Rieben nickte und erteilte mit der Zigarre in der Hand August die Erlaubnis, weiter zu reden. „Ich habe in meiner Tasche die Abkommandierung auf die Feste Windhuk. Mein Befehl lautet, mich morgen nach der für heute erwarteten Ankunft derEduard Bohlenmit der neuen Bahn nach Windhuk zu begeben und dort bei Oberleutnant Stehle zu melden. Das heißt für das Kommando in Omaruru noch ein Mann weniger."

„Das heißt, Sie reiten gar nicht nach Omaruru zurück?" Von Rieben war sichtlich verärgert. „Das wird ja immer schöner."

„Nein, ich reite nicht direkt nach Omaruru zurück." Kurze bedeutungsschwere Pause. Erstaunt blickte von Rieben zu August. Dann nickte er erst und danach begann er zu schmunzeln.

„Guter Mann Ranke. Solche wie Sie können wir hier unten brauchen. Was denken Sie, wie lange werden Sie brauchen, um von Windhuk nach Omaruru zu gelangen?"

„Das hängt davon ab, wie der Herr Oberleutnant Stehle Verwendung für mich geplant hat. Von Windhuk schaffe ich es allein in vier bis fünf Tagen nach Omaruru, Herr Hauptmann."

„Gut. Dann melden Sie sich bei Ihrer Rückkehr von dort sofort wieder bei mir. Bis dahin werde ich auch in Windhuk meine neue Funktion als Leiter der Ortskommandantur angetreten haben. Sie sagten, bis morgen sind Sie noch hier Swakopmund?"

„Abfahrt ist acht Uhr morgens, Herr Hauptmann." Von Rieben überlegte. Dabei zwirbelte er mit den Fingern seinen Bart. Unter dem Schreibtisch bemerkte August erst jetzt ein ununterbrochenes Wippen mit dem linken Bein.

„Ich muss morgen früh zu unseren englischen Freunden nach Walfishbay reiten. Vorher werde ich Ihnen noch heute zwei Schreiben aufsetzen. Eines für den Oberleutnant und eines für von Stein. Ich erwarte von Ihnen auch hier eine persönliche Übergabe und strengste Vertraulichkeit."

„Jawohl, Herr Hauptmann." Von Rieben nickte wie zur Bestätigung vor sich hin. Dann stand er plötzlich auf und schritt an das kleine Fenster. Mit dem Rücken zu August stand er da und blickte auf das Hafengelände. Er schiennach wie vor über eine nicht abgeschlossene Sache nachzudenken. Dann straffte er sich und drehte sich um.

„Haben Sie bis heute Abend noch weitere Aufgaben in Swakopmund zu erledigen?"

„Jawohl, Herr Hauptmann. Meine Frau erwartet mich auf derEduard Bohlen.Wir müssen heute noch ein paar Formalitäten erledigen, damit uns das Gepäck und unser Hausrat nach Windhuk nachgeschickt werden."

„Ihre Frau?" Von Rieben blickte überrascht auf. „Tüchtig, junger Freund. Sie haben also vor, in Afrika zu bleiben?"

„Wir möchten uns hier niederlassen. Sobald wir das Geld zusammengespart haben, möchten wir uns ein kleines Stück Land kaufen, Herr Hauptmann." Augusts Gesicht begann zu leuchten, wenn er an seine Pläne dachte, die er mit Helene noch in Deutschland geschmiedet hatte, bevor er nach Afrika eingeschifft wurde.

„Tüchtig, sehr tüchtig. Freut mich zu hören, dass so ein patenter junger Herr mit seiner Frau die deutsche Gemeinschaft stärken will. Wissen Sie was Ranke? Ich würde mich freuen, wenn Sie heute Abend, wenn Sie ihren ganzen Kram erledigt haben, mit Ihrer Frau bei uns zu Abend essen. Meine Frau ist auch noch neu hier und freut sich bestimmt über ein wenig kultivierte weibliche Unterhaltung. Und ich kann Ihnen dann die vertraulichen Schreiben gleich mitgeben, ohne vorher noch mal in dieses Büro zu müssen." Der Verweis auf den Unterhaltungsbedarf seiner Frau durch den Hauptmann brachten Augusts Schweißdrüsen erneut auf Trab. August war überrascht. Er fühlte sich, wie von einemOchsengespann angefahren. Für den Moment war er orientierungslos, verwirrt. Abgesehen davon, dass ein Hauptmann mit aristokratischer Herkunft ihn und seine Frau zu sich nach Hause zum Abendessen eingeladen hatte. Schon das war mehr als ungewöhnlich. Das war eigentlich gegen jede gesellschaftliche Regel. Aber zu seinem Erstaunen war es das nicht allein, was bei August sofort ein unangenehmes Gefühl hervorrief. Vielmehr die Erwähnung Freyas von Rieben verunsicherte ihn plötzlich. Ihm wurde schlecht. Die Ereignisse von vorhin holten ihn ein. Er wusste nicht warum, kämpfte aber auf einmal gegen ein Erröten an.

„Nun gucken Sie nicht so bedeppert. Keine Widerrede, Sergeant. Heute Abend neun Uhr. Das ist ein Befehl."

„Jawohl, Herr Hauptmann. Vielen Dank für die Einladung. Es wird mir und meiner Frau eine Ehre sein."

„Na also. Geht doch. Und jetzt machen Sie sich auf die Socken und nehmen Sie die verehrte Frau Gemahlin gebührend in Empfang. Sie können wegtreten."

Entlang der hölzernen Landungsbrücke reihten sich die Schaulustigen und malten bunte Punkte in das Hafengelände. Pünktlich vier Uhr nachmittags erschien am Rande der Bucht weißer Kesseldampf am Himmel, ehe das riesige schwarze Ungetüm des Dampfers der Woermann-Linie in die Bucht einfuhr und rund 900 Meter vom Ufer entfernt im tieferen Wasser ankerte. DieEduard Bohlengrüßte mit einem lauten Signal, das frenetisch mit wedelnden Tüchern und Hüten von der Mole beantwortet wurde. Die Passagiere der ersten, zweiten und der dritten Klasse standen ausnahmslos an der Reling und winkten schon von weitem der am Hafenwartenden Menge zu. Obwohl die Reederei Woermann regelmäßig die Häfen in den Kolonien, genauer den Schutzgebieten des Reiches ansteuerte, war die Ankunft eines solchen Schiffes immer noch ein Ereignis in der überschaubaren Welt der Kolonisten. Viele der deutschen Einwohner Swakopmunds waren zum Hafen gekommen. Kinder liefen aufgeregt durch die Reihen der Erwachsenen. Manche Familien hatten auch ihr schwarzes Personal mit zum Hafen gebracht. Ein paar Damara- und Hottentottenkinder streunten umher und waren genauso aufgeregt, wie die Kinder ihrer Herrschaften.

August selbst hielt sich zurück. Er hatte sich einen Platz an einem der Laternenpfeiler am Fuß der Landungsbrücke gesichert. Mit zusammengekniffenen Augen spähte er zur Reling und suchte nach seiner Helene. Sein Herz schlug vor Freude und Aufregung schneller. Hoffentlich würde es Helene hier in der Fremde gefallen. Bestimmt, beruhigte er sich. Endlich kämpfte sich der kleine Schlepper durch die flache Uferbrandung mit den ersten Passagieren immer näher. Inmitten der dicht vor ihm auf der Kaimauer stehenden und mit ihren Hüten und Tüchern winkenden Menschen konnte er unmöglich seine geliebte zierliche Helene auf dem Boot ausmachen. Er zwang sich zur Ruhe und Geduld. Spätestens wenn Helene die Mole betreten würde, musste er sie erkennen. Dann hätte er genug Zeit, seinen Platz aufzugeben und hinzueilen, um sie in seine Arme zu nehmen. Die Matrosen warfen jetzt schon die dicken, schwarzen Taue über den Rand des Schleppers, wo sie unten geschickt von schwarzen Hafenarbeitern aufgefangen und an den großen Pollern befestigt wurden. Auf dem Zubringerschiff machtensie sich jetzt zu schaffen, die Landungstreppe herunterzulassen. Unter dem Jubel der Wartenden schritten die ersten Ankömmlinge vom Schiff. August war angespannt.

„Kommen Sie, liebe Helene. Lassen wir die Herren für einen Moment allein." Von Rieben und August setzten sich wieder auf ihre geschwungenen Stühle. Freya von Rieben hakte Helene unter und zog sie weg von dem noch immer üppig eingedeckten Tisch in den kleinen Salon neben dem Esszimmer. „Sie müssen mir unbedingt von Hamburg erzählen. Ich will alles wissen. Ach, ich sehne mich so nach neuen Nachrichten aus der Heimat.", hörte August noch, als die beiden Frauen sich entfernten.

„Hauptmann von Rieben nahm seine Serviette vom Schoß und wischte sich damit über den Bart. Er wirkte satt und zufrieden. „Ein nettes Frauenzimmer haben Sie sich da geschnappt, mein lieber Ranke. Meine Frau scheint ja hocherfreut über die Unterhaltung mit einer Landsfrau." Für seine Helene war sich August da im Moment nicht ganz so sicher.

„Danke, Herr Hauptmann. Ja die Helene ist ein großes Glück für mich..."

Wieder war August gerührt, als er erinnerte, wie Stunden zuvor Helene in seine Arme gefallen war, nachdem sie sich auf der Landungsbrücke nach über einem Jahr endlich wiedergesehen hatten. „Mein Gustl, ich habe dich ja so unendlich vermisst", schniefte sie immer wieder und schmiegte sich an seine Brust. Den ganzen Weg bis zum Zimmer hatte sie ihn nicht losgelassen. Und sie hatte darauf bestanden, ihn auf allen Erledigungen zu begleiten, die sie in Vorbereitungihrer morgigen Abreise nach Windhuk noch zu tätigen hatten. Dabei hatte sie trotzig mit dem kleinen Fuß aufgestampft, so dass August sofort wusste: Widerstand ist zwecklos. August merkte in diesen Stunden erst richtig, wie sehr er seine Helene vermisst hatte. In großer Eile hatten sie sich schließlich am Abend frisch gemacht und August hatte dem schwarzen Hoteljungen noch seine Uniform zum Ausbürsten gegeben. Pünktlich um neun Uhr abends hatten sie das hübsche kleine Holzhaus in der Kaiser-Wilhelm-Straße betreten, in dem die von Riebens wohnten. Auf dem Weg zum Hauptmann und seiner Frau überlegte August fieberhaft, ob und wie er dem Hauptmann erklären sollte, dass er und Freya von Rieben bereits bekannt waren. Seine Schweigsamkeit war Helene sofort aufgefallen. Weiblicher Instinkt. Allerdings aus einer ganz anderen Richtung. „Was ist mein Gustl? Freust du dich denn schon gar nicht mehr, dass ich endlich hier bin?" „Und wie ich mich freue", hatte er ehrlich zu ihr gesagt. „Es ist nur…" August hatte überlegt, ob er Helene von seinen Bedenken erzählen sollte. „Es ist nur nicht so üblich, dass ein Sergeant mit seiner Frau von einem Offizier nach Hause eingeladen wird", improvisierte er wenig überzeugend und noch weniger überzeugt. Wie würde Frau von Rieben reagieren? Er beschloss, die Dinge einfach auf sich zukommen zu lassen. Schließlich hatte er alle Etikette eingehalten und sich nichts vorzuwerfen.

Seine Bedenken waren völlig unbegründet gewesen. Nachdem eine schwarze Hausangestellte sie an der Tür in Empfang genommen hatte, wurden sie in den sogenannten Salon geführt. Ein üppig ausgestatteter Raum mit viel Plüsch und samtenen Vorhängen. An der Decke glänzte ein Lüster im Kerzenschein und warf hunderte kleiner Schatten. Die vonRiebens erwarteten die beiden bereits mit Gläsern in der Hand. „Willkommen in unserem Haus, Sergeant Ranke. Welche Freude, Ihre Frau mit Ihnen begrüßen zu können. Meine Gattin ist schon ganz gespannt auf die neuesten Nachrichten aus Deutschland. Darf ich vorstellen: Meine Gemahlin, Freya von Rieben." Mit der Hand wies er auf seine in einem grünen Samtkleid neben ihm stehende Frau. „Sergeant Ranke und Frau Helene Ranke", stellte er August und Helene nun seiner Frau vor. „Angenehm", säuselte Freya und reichte erst August, der sich zum Handkuss verbeugte und dann Helene die Hand. „Kommen Sie Helene. Ich darf doch Helene sagen, Frau Ranke?" „Danke, natürlich gnädige Frau", hatte Helene ihr schüchtern geantwortet und hilfesuchend zu August geblickt. Wohl fühlte sie sich nicht. August konnte ihr Unbehagen greifen. Darum lächelte er ihr freundlich zu und nickte unmerklich. „Ach lassen Sie doch die gnädige Frau weg. Bitte nennen Sie mich Freya", sagte Frau von Rieben energisch und führte Helene an der Hand zu ihrem Platz. Hauptmann von Rieben lancierte August seinerseits an dem ihn zugewiesenen Platz an dem großen runden Tisch. Mit zunehmender Dauer entspannten August und Helene sich beim Essen in der ungewohnten Umgebung. Wobei die von Riebens es ihnen mit ihrer herzlichen, völlig distanzlosen und ungezwungenen Art auch leicht machten. Freya von Rieben hatte ihr Zusammentreffen mit keinem Wort erwähnt. Dann sollte es wohl so sein, konstatierte August. Die Frage nach dem Warum, verdrängte er erfolgreich im Verlauf des Abends und fand im guten Wein des Hauptmannes einen treuen Verbündeten. Stattdessen erfuhren August und Helene, dass Hauptmann von Rieben in seiner wesentlich jüngeren Frau – auf dem Heimweg insGasthaus Köhler hatten die mit Freya von Rieben ungefähr gleichalte Helene und ihr Mann August gerätselt, wie groß der Altersunterschied zwischen dem feschen Hauptmann und seiner jungen Frau wohl sei, und sich auf mindestens fünfzehn Jahre geeinigt – einen unbändigen Freigeist sah und sie sich deshalb mit Vorliebe immer wieder gesellschaftlichen Konventionen zu entziehen suchte. Die Ursache dafür glaubte er in ihrer Herkunft erkannt zu haben. Freya von Rieben hatte Hugenotten als Vorfahren. Laut Hauptmann von Rieben waren es ebendiese, die den preußischen Hof dereinst beinahe verlottern ließen, mit ihrem liberalen Getue. Helene und August nickten zunächst zögernd und zunehmend betreten zu den Ausführungen des Herrn Hauptmann. Erst als Freya von Rieben ein herzliches Lachen anstimmte und sich in keiner Weise von ihrem Mann getadelt zu fühlen schien, lächelten sie vorsichtig zurück in Richtung des Hauptmannes. August vermied es so gut wie möglich, Frau von Rieben in die Augen zu sehen. Was nicht immer leicht war, denn an dem runden Tisch waren sie so platziert worden, dass sich der Hauptmann und Helene und er und Freya direkt gegenüber saßen.

„...Zum Glück scheint Sie ja die Überfahrt auch recht gut überstanden zu haben.", fuhr August fort und wischte sich jetzt auch mit der Serviette über den Mund und legte das schwere Leinentuch auf den Tisch.

„Das hat Sie, mein lieber Ranke. Das kann man zum Glück sehen, finden Sie nicht?" Von Rieben griff ohne eine Antwort abzuwarten nach der Tischklingel. Mit gesenkten Köpfen räumten die beiden Namamädchen den Tisch ab. Von Rieben schob seinen Stuhl nach hinten und stand auf. „Kommen Sie. Wir gehen in mein Arbeitszimmer."

Nachdem von Rieben die Tür geschlossen hatte, lief er auf seinen schweren Eichenschreibtisch zu und entnahm aus einem Schub zwei Kuverts. Dann kam er wieder hinter dem dunklen Möbel hervor und stellte sich vor August auf.

„Hier, Sergeant Ranke." Dienstlicher Ton plötzlich. Er übergab August die beiden Briefe, die dieser sofort in seiner Brusttasche verstaute. „Grüßen Sie Stehle von mir und auch dem Leutnant von Stein richten Sie bitte meine Grüße aus. Und denken Sie daran, der Inhalt dieser Briefe ist streng geheim. Ich habe den beiden Offizieren die Entscheidung offen gelassen, inwieweit sie Sie in den Inhalt der Schreiben einweihen." Kurzes Räuspern. Die Züge des Hauptmannes wurden wieder weicher. „Und passen Sie gut auf sich auf, Ranke. Ich will Sie gesund und munter in Windhuk wiedersehen."

„Jawohl, Herr Hauptmann." Von Rieben nickte zufrieden. Er musterte August von Kopf bis Fuß. Wieder dieses Nicken, als möchte er sich selbst bestätigen.

„So, Ranke.", sagte er schließlich. „Und jetzt möchten meine Frau und ich noch etwas Persönliches mit Ihnen und Ihrer Helene besprechen." Er führte August am Arm aus seinem Arbeitszimmer zurück in den Salon und rief nach seiner Frau. Die beiden Frauen kamen zurück. In Helenes Augen konnte August erleichtert erkennen, dass alles in Ordnung war. Dafür war er Frau von Rieben dankbar. Als alle wieder am Tisch Platz genommen hatten, ließ von Rieben noch eine Flasche Wein und Gläser bringen. Als die Bedienung wieder aus dem Salon verschwunden war, nickten von Rieben und seine Frau sich zu. Dann begann der Hauptmann zu sprechen. August und Helene trauten ihren Ohren nicht.

„Sie reiten noch morgen los. Bisher gab es nur Gerüchte. Außer dem Schreiben von Hauptmann von Rieben bekommen Sie von mir noch eine persönliche Anweisung für Leutnant von Stein mit. Trauen Sie sich das überhaupt zu, schon morgen wieder aufzubrechen? Ich habe gehört, Sie sind erst heute mit Ihrer Frau eingetroffen. Nur wäre es mir schon lieber, wenn wie bisher nur ein kleiner Kreis eingeweiht bleibt."

„Ich werde morgen aufbrechen, Herr Oberleutnant." August war zwar erschöpft nach den Anstrengungen und Aufregungen der letzten Tage, spürte aber, dass es ein wichtiger Auftrag war, mit dem ihn Hauptmann von Rieben und jetzt der Oberleutnant Stehle betrauten. Und seit ihrem Besuch bei den von Riebens war August dem Herrn Hauptmann zutiefst ergeben. Oberleutnant Stehle nickte zufrieden.

„Warten Sie noch hier, bis ich den Brief aufgesetzt habe. Und richten Sie von Stein aus, dass ich mich persönlich dafür stark mache, dass demnächst auch nach Omaruru Verstärkung in Form von schweren Geschützen und vor allem einer Lichtfunkstation kommt. Dann wird hier einiges einfacher. Und jetzt kümmern Sie sich um die Frau Gemahlin, Ranke."

Als August die Feste verließ, blickte er sehnsuchtsvoll nach Nordosten. Im Hintergrund verschwanden gerade die Konturen einer Bergkette in den von Osten her aufziehenden Wolken. Er suchte mit den Augen einen imaginären Punkt gleich hinter der Kammlinie, die das Windhuker Tal im Nordosten begrenzte, dort, wo sich in Kürze Helenes und seine Träume verwirklichen sollten. Ein Lächeln umspielte seinen Mund. Leicht schritt er entlang der großen Mauer, diezwischen zwei geduckten, eckigen Türmen verlief und begab sich, vorbei am Truppengarten mit seinen grünen Bäumen, hinunter in die Kaufmannsstadt, wie der untere Teil von Windhuk genannt wurde. Seine Augen suchten immer wieder den Blick über das breite flache Tal, in dem sich die verstreuten Häuser von Groß Windhuk und Klein Windhuk befanden.

Vorher war er noch in den einfachen Baracken im Innern der markanten Festung gewesen, in denen Teile der Mannschaften untergebracht waren. Vor dem Quartier waren einige Soldaten mit dem Reinigen ihrer Gewehre und der Pflege anderer, diverser Ausrüstungsgegenstände beschäftigt gewesen. Er hatte sein ihm zugewiesenes Zimmer betreten, das er sich mit einem Sergeant Jackisch teilte, den er aber seit seiner Ankunft noch nicht gesehen hatte. Wie die anderen Kameraden ihm berichteten, war Jackisch bei einem Rekognoszierungsritt im Hinterland unterwegs. August war in die kleine, freistehende Baracke eingetreten und hatte die Briefe in seiner Satteltasche sorgsam verstaut.

Unten, in der Kaufmannstadt mit ihren kleinen Geschäften, der Poststelle und diversen Gasthäusern, hatten er und Helene als Ehepaar in einem einfachen, aber sauberen Gasthof ein Zimmer gemietet. Hier war Helene fürs erste untergebracht. Als er die Tür zu dem kleinen, spartanischen Zimmer öffnete, war Helene gerade dabei ihre wenigen Sachen aus dem großen Lederkoffer in ein einfaches Holzregal in dem kleinen Wohn- und Schlafraum, der auch als Küche und Esszimmer dienen musste, einzusortieren. Als August eintrat, ließ sie von ihren Kleidern ab und warf sich in seine Arme.

„Gustl, ich kann unser Glück noch immer kaum fassen." August drückte sie zärtlich an sich und strich ihr übers Haar. Dankbar nahm er ihren Geruch in sich auf. Für einen kostbaren Moment besiegte er sein schlechtes Gewissen.

„Und es macht dir nichts aus, vorerst hier zu wohnen?"

„Ach mein Liebster. Ich finde es hier so wunderbar. Alles ist so neu und so exotisch. Viel aufregender und schöner noch, als ich es mir in der Heimat habe ausmalen können. Und außerdem werden wir ja bald etwas Eigenes für uns haben." Ihre Stimme hatte den reinen Klang der Euphorie und schwang in der Melodie großer Vorfreude und Erwartungen. Sie schob sich an August vorbei und verschloss kichernd die Holztür. Dann drehte sie sich um und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. Sanft zog sie ihn zu sich heran und küsste ihn leidenschaftlich. Nach einigen innigen Küssen, die Augusts Blut in die richtigen Bahnen lenkte, machte er sich - das schlechte Gewissen hatte den Blutstrom jäh unterbunden - vorsichtig los. Helene schaute etwas verwirrt.

„Mein Liebes. Ich muss dir noch etwas sagen." Helenes Blick wurde unsicher. August rang nach Worten. Helens Blick wurde kalt. Aber er musste es ihr jetzt sagen. „Ich muss schon morgen wieder zurück nach Omaruru. Ich hoffe, du bist nicht böse, wenn ich dich schon gleich wieder allein zurücklasse. Aber Oberleutnant Stehle hat eine sehr wichtige Mission, für die er mich ausgewählt hat. Und ich muss auch noch den Auftrag von Riebens erledigen." Über Helenes Gesicht wischte die Erleichterung erlösend wie ein feuchter Waschlappen, der die Müdigkeit des Morgens von den Wangen reibt, nur für Bruchteile von Sekunden huschte ein Anflug von Traurigkeit hinterher. Sogleich wich der aberwieder ihrem glücklichen Strahlen, mit dem sie August empfangen hatte. Aus Tauwetter wurde Hitze.

„Dass die Herren Offiziere dir so vertrauen Gustl, das macht mich sehr stolz. Natürlich musst du deinen Dienst erledigen. Ich will dir ein gutes Frauenzimmer sein und werde hier geduldig auf dich warten." Sie nahm die Haltung eines braven Schulmädchens ein, das fiebrig der Aufgabenstellung ihrer Lehrer erwartet. „Wann musst du denn los?"

„Morgen schon. Sehr früh. Ich kann dir auch noch nicht sagen, wann ich zurück sein werde." August klang immer noch bedrückt. Er blickte Helene an und zog die Augenbrauen hoch. Helene schmunzelte, dann lächelte sie schelmisch.

„Morgen früh. Soso. Und der Herr Sergeant kann mir nicht sagen, wann er wieder zurück sein wird." Sie trat erneut einen Schritt auf August zu und griff ihn bei seinen Kragenspiegeln. Dann schob sie ihn vor sich her durch das kleine Zimmer, in dem außer dem kleinen Tisch und zwei Stühlen nur noch ein Bett und ein winziger Nachtschrank mit einer Waschschüssel drauf, Platz fanden, bis August rückwärts auf der Bettkante zum Sitzen kam. „Bis dahin wird der Sergeant Ranke unter meinen Befehl gestellt", schnurrte sie leise und schob sich auf seinen Schoß. Dann küsste sie ihn erneut heftig und leidenschaftlich, bis sich August mit Helene fest im Arm nach hinten auf das Bett fallen ließ.

„Zu Befehl, Majestät", hauchte er ihr ins Ohr.

Leise schlichen die drei jungen Männer durch das braune Grasland. Plötzlich blieb der Vorderste von ihnen stehenund hob langsam die Hand. Die beiden anderen Hererokrieger duckten sich und sanken lautlos auf die Knie. Dabei stützten sie sich auf ihren langen Speeren in ihrer Rechten ab. In der linken Hand hielten die bis auf einen Lendenschurz nackten Jäger, ihre Langbögen mit den Pfeilen. Der Anführer selbst war im Besitz eines neuen Gewehres, dessen Lauf manchmal verräterisch in der Sonne glänzte. Deshalb hielt er es in eine Decke aus feinem Leder gewickelt. Auch er war auf die Knie gesunken und drehte sich leise zu seinen Gefährten. Mit den Fingern zupfte er ein paar Grassamen und lies sie langsam zu Boden rieseln. Der Wind stand günstig für die jungen Krieger. Das Wild vor ihnen würde keine Witterung aufnehmen können. Doch die drei Jäger interessierten sich nicht für die kleine Antilopenherde, etwa hundert Meter vor ihnen zwischen den Akazien, die mit spitzen Ohren und ständig in Fluchtbereitschaft mit zitternden Vorderläufen vorsichtig ästen. Dabei hoben die grazilen Tiere immer wieder die Köpfe, spähten und witterten in alle Richtungen, sich der omnipräsenten Gefahr ihrer natürlichen Feinde instinktsicher bewusst. Das eigentliche Ziel der drei jungen Hereros war ungefähr zweihundert Meter von ihnen auf einem kleinen roten Felsen entfernt. Ein mächtiger Löwe lag dort gähnend auf dem kahlen Felsplateau und leckte sich gelangweilt die Pranken. Sein Harem kümmerte sich knapp zwei Meter unter ihm um den Nachwuchs. Insgesamt gehörten drei Weibchen und fünf Junge zu der kleinen Gruppe. Die Löwenfamilie schien satt. Keine der großen Katzen interessierte sich für die Antilopenherde zwischen sich und den für die Löwen noch unsichtbaren Männern.

In Zeichensprache verständigten sich die Herero. Daraufhin schwärmten die beiden Speerträger lautlos nach links undrechts aus, während der Anführer mit seiner Schusswaffe sich geradeaus weiter vorsichtig dem Löwenfelsen näherte.

Plötzlich hob eine der Antilopen den Kopf und stob mit wilden Sprüngen davon. Fast gleichzeitig setzten sich ihre Artgenossen in Bewegung und flohen in wilder Jagd durch die Büsche und Sträucher zwischen den Akazienbäumen. Dabei zerstob die Gruppe wie eine Handvoll geworfener Kiesel in alle Richtungen auseinander. Auch in die Löwenfamilie war jetzt Bewegung gekommen. Die Löwinnen brachten sich und ihren Nachwuchs in Sicherheit und verschwanden vor dem Auge des Jägers mit der Büchse. Der mächtige Pascha hatte sich aufgerichtet und witterte in die Richtung des sofort wieder im Gras untergetauchten Jägers. Dann trottete er auf samtweichen Pfoten lautlos mit schnellen Schritten vom Felsen und verschwand im Buschland. Jetzt hörte auch das feine Ohr des Herero ein fremdes Geräusch. War das die Ursache für das fliehende Wild? Bestimmt. Vorsorglich blieb er in Deckung. Nach zwei Minuten vernahm er deutlich den dumpfen Hufschlag eines Pferdes. Bald schon sah er einen weißen Reiter in Uniform auf seinem Pferd, der ohne große Rücksicht und noch weniger Vorsicht quer durch die fruchtbare Landschaft hier im nordwestlichen Hochland von Windhuk ritt. Lautlos wickelte der Krieger das Gewehr aus der Decke.

Noch ganz auf den Reiter konzentriert, hörte der Anführer den durchdringenden Schrei eines seiner Begleiter. Zeitgleich erzitterte der Boden unter seinen nackten Füßen von einem wilden Getrampel. Noch als der Jäger sich aufrichten wollte, brach aus dem großen Dornengestrüpp links von ihm, aus der Richtung, aus der unmittelbar zuvor der markerschütternde Schrei gekommen war, ein ausgewachsenes,wütendes Nashorn und hielt auf ihn zu. Schreiend ließ der Herero sein Gewehr fallen und wollte sich mit einem wilden Sprung zur Seite retten. Das rasende Tier folgte aber seiner Bewegung und streifte ihn mit seinem spitzen, riesigen Horn am linken Bein. Derart getroffen flog er in einen Dornenbusch und blieb regungslos liegen. Das tobende Tier wurde von seinem eigenen Schwung an dem Jäger vorbei geschoben. Schnaubend fand es Halt und drehte seinen schweren Kopf zu dem Dornengestrüpp, in dem der Jäger gefangen lag. Mit dem mächtigen Horn pflügte es den staubigen Boden vor seinen massiven grauen Vorderbeinen. Dann stob es wild auf den wehrlos im Gestrüpp hängenden Krieger zu.

Ein lauter Knall zerriss über den Geräuschen des ungleichen Kampfes. Im selben Moment strauchelte das graue Ungetüm knapp einen Meter vor seinem hilflosen, zum Sterben bereiten Opfer, um sich gleich darauf noch rasender wieder aufzurichten. Laute Schreie und ein wildes Wiehern in seinem Rücken sorgten für einen Moment der Verwirrung bei dem gepanzerten Koloss. Das riesige Nashorn machte eine halbe Drehung auf der Stelle und sah jetzt den Reiter vor sich, der wie verrückt mit den Armen wedelte und weiter auf das Nashorn einschrie. Das Pferd unter ihm stieg in Todesangst auf die Hinterbeine und drohte seinen Reiter abzuwerfen, der es erbarmungslos mit seinen Sporen bearbeitete. Wieder knallte ein Schuss aus dem Revolver des Reiters und das Nashorn spürte einen heißen Strahl in seiner linken Schulter, was seine Raserei ins Unermessliche steigerte. Wütend, wild zum Angriff entschlossen, fixierten die kleinen Augen in dem großen Kopf den neuen Gegner. Plötzlich unentschlossen und zunehmend verunsichert durch einen erneuten Knall mit giftigem Schmerzstrahl im linken Vorderbein, blickte das Tier zurück zu seinem reglos in den Dornen liegenden, stark blutenden, ersten Opfer. Dann nahm es die neue Herausforderung an. Donnernd warf es sich in die Richtung des Reiters. Der wollte sein Pferd noch herumreißen, aber da bohrte sich schon das mächtige Horn zwischen den Vorderläufen des Tieres in die Brust und hob es in die Luft. Der Reiter fiel nach hinten und konnte gerade noch seitlich abrollen, ehe ihn das stürzende, vor Schmerzen irre wiehernde Pferd, unter sich begraben hätte. Er raffte sich auf und rannte jetzt um sein Leben. Nach etwa zwanzig Metern war das tödliche Horn nur wenige Schritte von dem Fliehenden entfernt, als dieser einen verzweifelten Schwenk nach rechts machte und sich auf einen knorrigen Baum rettete. Schwer atmend, zitternd und trotz seiner ledernen Reiterhandschuhe mit aufgeschürften, blutigen Händen vom Klettern an der rauen Rinde, inmitten silberner Dornen an den Ästen, beobachte der Mann von seinem unsicheren Platz aus, wie das Tier den Baum umrundete. Aus der Entfernung drang das schaurige Wiehern seines Pferdes im Todeskampf an ihn heran. Sofort spitzte auch das Nashorn die Ohren und stürmte dann in wildem Galopp davon. Starr vor Entsetzen sah August, wie sein Pferd von dem Nashorn zu Tode malträtiert wurde. Von seinem unfreiwillig eingenommenen Ausguck aus, beobachtete er kurze Zeit später die Nashornmutter, mit ihrem kleinen Kälbchen im Schlepptau, mürrisch, wegen der drei Revolverkugeln im Körper, in die weite Buschlandschaft davontrotten. Vorsichtig, unaufhörlich zitternd und bebend, glitt er von dem Baum, zog sich die Dornen aus den schmerzenden Handballen und lief aufden noch immer im Gebüsch verfangenen, verletzten Herero zu. Der atmete schwer. Sein schwarzglänzender Körper war schweißüberströmt und nur dort, wo er den staubigen Boden berührt hatte, waren stumpfe Flecken. An seinem linken Bein klaffte eine große offene Fleischwunde. August konnte tief im Innern etwas Weißes glänzen sehen und die rosafarbenen Muskelbündel, die aus der tiefschwarzen Haut des Afrikaners in der Wunde ausfransten. Der Mann hatte schon viel Blut verloren und schwächte zusehends. August zog den stöhnenden Mann aus dem Dornengestrüpp, zog seine Handschuhe aus und riss sein Halstuch runter. So fest er konnte, umwickelte er damit das Bein des Mannes. Dann löste er Koppelschloss. Mit dem Gurt aus der Uniformhose band er provisorisch den Oberschenkel oberhalb der Wunde ab. Erst danach lief er zu seinem Braunen und sah mit Entsetzen, wie die wütende Nashornmutter seinen treuen Begleiter zugerichtet hatte. Der Bauch des Pferdes war komplett aufgeschlitzt. Riesige Darmschlingen traten aus der Bauchhöhle heraus und lagen auf dem staubigen Boden. Einige hatte das wütende Rhinozeros zerstampft. Die Augen des Pferdes waren im Todeskampf verdreht und starrten irr ins Nichts. Ein fürchterlicher Gestank aus Gedärm, Blut und Tod lag in der Luft. August musste würgen. Irgendwie zwang er sich in die Nähe des blutenden Fleischberges und löste mit angehaltenem Atem den Sattelgurt. Mit lautem Glucksen rutschte eine weitere Ladung Darmschlingen aus dem geöffneten Leib. August sprang zurück und übergab sich neben dem toten Tier. Nachdem er tief Luft geholt hatte, zerrte er den Sattel von dem toten Tier weg. Außerhalb des bestialischen Gestankes löste er die Feldflasche vom Sattel und lief zurück zum verletzten Herero. Kurz erschrak er,denn über dem von ihm notdürftig verbundenen Krieger, beugte sich ein großer schwarzer Mann, der sich auf einen Speer stützte. Neben dem Mann lagen ein großer Bogen und Pfeile. Er redete mit dem Verletzten. August lief weiter und trat zu den beiden Herero. Wortlos reichte er dem anderen Krieger die Wasserflasche. Der hatte die ganze Zeit so getan, als nehme er August nicht zur Kenntnis und dabei leise zu dem Verletzten gesprochen. Jetzt blickte er zu August auf und nahm die Flasche. Er nickte kurz und dann galt seine ganze Aufmerksamkeit wieder dem Verletzten.

„Friedrich schlaft jetzt." Der riesige, mindestens zwei Meter große Herero, hatte sich von dem Verletzten gelöst und war zu August gekommen, der sich erschöpft mit seinem jetzt überflüssigen Sattel unter einem Akazienbaum in den Schatten geworfen hatte und Pfeife rauchte. „Ich Moses. Hereromann. Deutij hat gerettet meinen Bruder. Kembo tot." Er setzte sich neben August in den Schatten und reichte ihm seine Flasche zurück.

„Sergeant August Ranke", erwiderte August erschöpft und blickte den Herero an. „Was machen wir jetzt?" In dem Moment, als August dem schwarzen Riesen die Frage stellte, wurde ihm seine Situation bewusst. Nämlich, dass er mit wichtigen Dokumenten in der Brusttasche, mitten im Hereroland, ohne Pferd und ungefähr noch über hundertdreißig Kilometer von Omaruru entfernt war. Seine Mission war innerhalb von Sekunden in weite Ferne gerückt. Gütiger Himmel. Mein Gott. Himmelarsch und zugenäht!

„Gehen in Onganda. Nehmen Friedrich und Kembo mit.", wurde er von dem Herero, der sich als Moses vorgestellt hatte, aus seinen unglücklichen Gedanken gerissen.

„Woher kannst du Deutsch?"

„Mission. Schule." Der Riese erhob sich und forderte August mit einer Geste auf, auch aufzustehen. „Komm!" Sie liefen ungefähr zweihundert Meter weit nach links durch das Buschland, weg von der Stelle, wo noch immer der verletzte Friedrich lag. Hinter einer kleinen Akazie bemerkte August zwei schwarze Beine vorragen, die in unnatürlicher Haltung zueinander schienen. Als die beiden bei dem Leichnam des dritten Herero ankamen, den Moses als Kembo bezeichnet hatte, musste August sich erneut zur Seite wenden und übergeben. Die Nashornmutter hatte den Unglücklichen offenbar mit ihrem Horn im Schritt aufgespießt und durch die Luft gewirbelt, bevor sie anschließend dem Sterbenden mit spitzem Horn und den Vorderhufen weitere zahlreiche Quetschungen und Wunden beigebracht hatte. Der zertrümmerte Schädel lag in einer Lache aus dunklem, fast schwarz getrocknetem Blut und hellem, weißgrauen Hirn.