ZWEIMAL WIRST DU WEINEN - Jens Holger Fidelak - E-Book

ZWEIMAL WIRST DU WEINEN E-Book

Jens Holger Fidelak

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Beschreibung

Bolivien gilt als das letzte Land für echte Abenteurer. Mit gut einer Million Quadratkilometer fast dreimal so groß wie die Bundesrepublik Deutschland, verfügt der Binnenstaat Südamerikas über einzigartige, weitestgehend noch unberührte Landschaften. Vier Jahre lebten und arbeiteten der Autor und seine Familie in Bolivien. In dieser Zeit erschlossen sie sich das Land, seine Menschen und weite Teile des südamerikanischen Kontinents. In "ZWEIMAL WIRST DU WEINEN" wird der Leser eingeladen, dieses wunderbare Land, diesen vielfältigen, faszinierenden Kontinent aus einer ganz persönlichen Perspektive kennenzulernen. Zugleich wirft der Autor einen subjektiv kritischen Blick auf gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Entwicklungen. Dabei bleibt das Buch eine Liebeserklärung an ein Land, von dem seine Bewohner sagen, dass man zweimal weinen wird. Wenn man es betritt. Und wenn man es verlassen muss.

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Jens Holger Fidelak

ZWEIMAL WIRST DU WEINEN

Vier Jahre in Bolivien und Südamerika

© 2017 Jens Holger Fidelak

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-9640-7

Hardcover:

978-3-7345-9641-4

e-Book:

978-3-7345-9642-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Barbara, Mark und Karen

-La Paz-Bolivia-International Airport El Alto-26.Juli 2011–Rollfeld-

Die Stewardess beugte sich zu mir herab und zeigte auf mein Gurtschloss. Sie wartete, bis ich die beiden Metallteile hörbar einrastete und ging dann weiter, die nächsten Sitzreihen überprüfen. Fast gleichzeitig drehte der Pilot die Triebwerke höher und die Maschine bewegte sich weg vom Terminal auf das Rollfeld. Die Sonne hatte sich soeben den Tag erobert und der Himmel erstrahlte in hellstem, reinstem Blau. Als die Nacht noch kalt und schwer über dem tiefen Canon lag, in dem La Paz - vom Altiplano und El Alto quasi hineinfließend in dessen steile Hänge gebaut noch ruhte, hatte ich Abschied genommen von meinen Lieben. Und jetzt galt es vorerst Abschied zu nehmen von dem Land, das in den letzten vier Jahren zu meiner, zu unserer zweiten Heimat geworden war. Abschied von diesem so faszinierenden, oft widersprüchlichen Land und seinen Menschen. Abschied von La Paz. Meinem La Paz, in dem ich glücklich die letzten vier Jahre mit Familie, meinen Freunden und Kollegen verbracht habe und durch das ich mit unserem Ford Explorer genauso selbstverständlich fuhr, als wäre es Leipzig. Abschied auch von diesem fernen, unermesslich großen und vielfältigen Kontinent, den wir uns in den vergangenen Jahren von hier Stück für Stück erobert hatten. Erst in drei Monaten würde ich zurückkehren und mit unserer Tochter zusammen Bolivien für unbestimmte Zeit den Rücken kehren, ehe zwei Monate später meine Frau und unser Sohn folgen würden.

Die Maschine beschleunigte unter lautem Aufheulen der beiden riesigen Triebwerke. Am Fenster flogen die graubraunen unverputzten Häuser des Altiplano mit ihren vereinzelt die Sonnenstrahlen spiegelten Blechdächern an mir vorbei. Plötzlich neigte sich die Nase des Fliegers nach oben und in einer steilen Kurve zog der Pilot die Maschine in den Himmel. Die Häuser unter mir wurden kleiner, die unbefestigten, holprigen Straßen zu regelmäßigen Strichmustern. Nach einem großen Bogen nahm die Maschine Kurs auf Santa Cruz und neben mir kamen unten die hell gleisenden Gipfel der Königskordilleren ins Bild. Ein kurzes Piepen gab das Signal nun die Gurte lösen zu können. Die Maschine befand sich jetzt in der Waagerechten. Meine Augen starrten wie gebannt auf die majestätischen Berge. Ich konnte mich nicht rühren. Warm und still suchten sich die Tränen ihren Weg auf meinen Wangen.

Die Bilder, die ich sah, verschwammen vor meinen Augen. Bilder, die ich längst vergessen glaubte, traten an ihre Stelle.

Im Osten mal was Neues - Reisevorbereitungen

Keinem von uns war bewusst, dass dieses Telefonklingeln besonders war, sollte es doch nachhaltige Veränderungen in unseren vier Lebensläufen auslösen.

Am anderen Ende der Leitung war der damalige Schulleiter der Deutschen Schule in La Paz Bolivien und bot meiner Frau eine Stelle als Auslandsdienstlehrkraft der Bundesrepublik Deutschland an. Es war bereits das dritte Angebot und nach damaligem Verfahren unsere letzte Chance eine Vermittlung anzunehmen. Zuvor hatten wir Anfragen aus Spanien und Peru gehabt, die wir beide ablehnten, da an beiden Schulen für mich keine Verwendung vorgesehen war. Genau das war aber unsere verabredete Bedingung, das Abenteuer Auslandschuldienst in Angriff zu nehmen. Der Schulleiter sicherte meiner Frau bei Interesse zu, eine geeignete für Verwendung für mich zu finden. Er hätte da schon eine Idee. Noch bevor der Hörer den Weg zurück in die Ladestation fand, hatten wir einen Termin mit dem Schulleiter in unserer Wohnung in Leipzig verabredet.

La Paz. Anden. Die Anden! Das war mein erster Gedanke und mit fiebrigen Augen ließen wir unsere Finger über die südamerikanische Landkarte gleiten, nachdem wir sofort den Diercke aus dem Regal gefischt hatten.

"Bolivien das letzte Land für Abenteurer", wie ein Eintrag im Internet sofort meine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte und ein wohliges Kribbeln in mir auslöste, ist neben Paraguay das einzige Binnenland auf dem riesigen Kontinent. Küste? Fehlanzeige. Aber auf der Karte lag der Pazifik soweit gar nicht weg. Nur kurz rüber nach Peru oder Chile und schon war man am Wasser. Wir sollten uns noch wundern.

Vermutlich muss man wertvolle Jahre seines Lebens bei den Kommunisten hinter Mauern und Stacheldraht eingesperrt worden sein, um unser Fernweh zu begreifen. Dabei waren nach der Wiedervereinigung zunächst Studium und daran geknüpft der perspektivische Broterwerb und Familienplanung die dringlichsten Punkte auf der Agenda unserer Partnerschaft. Doch seit der Übernahme in den Schuldienst schwelte in uns beiden immer der Gedanke irgendwann gemeinsam unserem Leben einen besonderen Erfahrungshorizont zu ermöglichen. Schließlich rafften wir uns ein paar Jahre nach der Geburt unseres zweiten Kindes auf und begaben uns auf den Bewerbungsmarathon. Offensichtlich war das gerade Zeitgeist. Zahlreiche unserer Kolleginnen und Kollegen hatten dieselben Träume und Vorstellungen wie wir. Auf Partys tauschte man die exotischsten Orte aus, aus denen Angebote ins Haus geflattert kamen. Um dann wortreich zu begründen, warum man doch lieber davon Abstand nehmen wollte. Mal war es die Eigentumswohnung, mal die kranke Mutter, mal die totale Ablehnung der vor Ort herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen. Kurz, wir waren die einzigen, die den Container bestellten und ihre Wohnung ausräumten.

Natürlich las man alle gängigen Reiseführer und durchsuchte das Internet nach interessanten Informationen, nachdem das Gespräch mit dem Schulleiter bei uns zuhause mehr als erfreulich und angenehm verlaufen war und wir, fest entschlossen zunächst drei Jahre nach Bolivien zu gehen, der entsetzten Restfamilie unseren Plan vorstellten. Skepsis und offene Ablehnung gaben sich die Hand, wenn wir mit leiser Stimme unsere Pläne verkündeten. Recht hatten sie natürlich. Zum Teil. Weder meine Frau, unser damals vierzehnjähriger Sohn, die sechsjährige Tochter oder ich sprachen auch nur ein Wort Spanisch. Olé. Das war das Höchste der Gefühle. Weder waren wir je in Spanien noch in Südamerika gewesen. Und trotzdem war ich früher schon so oft vor Ort.

Mit Cortez und Pizarro habe ich den Kontinent erobert, habe sämtliche im Osten erhältliche Abenteuer- und Reiseliteratur gelesen und mich in meiner Phantasie in die Ferne geträumt. Man muss in der ersten sozialistischen Republik auf deutschem Boden groß geworden sein um zu begreifen, wie unfassbar weit weg das alles für mich war. Wie man sich als Zwölfjähriger wünschte endlich Rentner zu werden, damit man auch mal in den Westen fahren darf. Gefühlt war der Mond näher. Die Chance als Kosmonaut irgendwann den Mond zu betreten war auch nicht groß, aber sie existierte wenigstens in meiner Vorstellung.

Meine Schwiegereltern halfen uns den Container zu packen. Unsere Eigentumswohnung wollten wir nicht vermieten. Ein wichtiger Aspekt mit Blick auf ein mögliches vorzeitiges Abbrechen unseres geplanten interkontinentalen Abenteuers. Krankheit, Klima - in unserem speziellen Fall die Höhe -, das Sich-nicht-Wohlfühlen unserer Kinder; in der Phantasie gab es viele Gründe, die ein Scheitern in naher Zukunft durchaus realistisch erscheinen ließen. Als die letzten Versicherungen und Telefonverträge gekündigt waren, in der Wohnung nur noch die Hälfte unseres Mobiliars verloren rumstand und unten der stolze Besitzer unseres gerade verkauften Familienkombis beim Abfahren die Ventile freispülte, kam die Angst. War das alles richtig? Fühlte sich das jetzt immer noch gut an? Sind wir eigentlich verrückt? Mein Gott, die armen Kinder...

Ankunft

Die Hitze, die uns entgegenschlug, unterschied sich von der trockenen beißenden Glut Ägyptens durch eine gehörige Portion Luftfeuchtigkeit. Der Flughafen in Lima überraschte durch seine moderne und sehr europäische Architektur. Später sollte ich erfahren, dass die Frankfurter Flughafen Gesellschaft den Airport geplant und gebaut hatte. Wir hatten 18 Stunden Aufenthalt und ein Hotel gegenüber der Ausgangshalle gebucht. In der Nacht sollten wir von Lima weiter nach La Paz fliegen.

In der diesigen Schwüle musste ich zuerst eine Zigarette rauchen. Von Frankfurt über Madrid bis Lima hatte ich keine Gelegenheit dazu gefunden. Ich war ziemlich kaputt. Der Stress hatte bereits in Leipzig begonnen.

Ich war am Morgen im Hauptbahnhof und wollte den bei einer Mietwagenfirma bestellten Ford Mondeo Kombi abholen. Man war so freundlich und hatte mir ein Upgrade gewährt. Auf dem Parkdeck III warte ein Audi A6 Kombi auf mich, freute sich die Mitarbeiterin mir mitteilen zu können. Zunächst nichts, worüber man sich ärgern sollte als Kunde. Als mein Blick dann aber auf den Automatikhebel des ordentlich eingeparkten schwarzen Ingolstädters fiel, war es mit der Freude schnell vorbei. Meinem Einkommen entsprechend kannte ich nur Schaltgetriebe. Zum Glück hatte ich mir in grauer Vorzeit als studentischer Mitarbeiter an einer Tankstelle mal die Schaltung eines Automatikwagens erklären lassen müssen, bevor ich ihn auf Kundenwunsch durch die Waschanlage fuhr. Aber das war 15 Jahre her. Ich wählte also "D" und fuhr schweißgebadet mit über 180 Diesel PS aus der Parklücke. Zum Glück lerne ich schneller als die meisten meiner Schüler. Ich kam heil zuhause an. Beim Aussteigen streifte mein Blick den mir im Parkhaus verborgen gebliebenen, knackigen Hintern des A6. Im Gegensatz zu den konservativen Kanten des damaligen Mondeos durchaus dynamischer in der Wahrnehmung, aber was war mit den vier großen und zwei kleinen Koffern und den diversen Rucksäcken der Kinder? Beim Bestellen des Mondeos hatte ich mir doch was gedacht, verfluchte ich innerlich die Autovermietung und ihr segensreiches Upgrade. Am Ende musste tatsächlich einer der großen Koffer auf die Rücksitzbank zwischen die Kinder. Irgendwie ging es dann aber, auch wenn die Sicht durch den Rückspiegel vollständig eingeschränkt war und die Heckscheibe beim Schließen des Kofferraumes knisternde Geräusche machte. Immerhin wurde ich auf der Autobahn für das Unbill mit göttlichen Fahrleistungen entschädigt.

Meiner Frau ging es nicht gut. Pünktlich zum Abflug hatte sie sich eine heftige Erkältung eingefangen und litt seitdem. Aus diesem Grund wollte sie sich sofort im Hotel ins Bett legen. Ich war viel zu aufgedreht. Die Kinder hielten sich tapfer, murrten nicht und ließen alles mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Spontan beschloss ich den Tag zu nutzen und Lima zu erkunden. Damals ahnte ich noch nicht, dass wir noch häufiger Gelegenheit bekamen, nach Lima zu fliegen.

Blauäugig und voller Vertrauen in die Menschen rekrutierte ich den erstbesten Taxifahrer zur Stadtrundfahrt. Wir einigten uns auf 60 US Dollar für zwei Stunden. Tatsächlich war der Fahrer ein Glücksgriff. Es wurden nicht nur alle Hotspots der von Pizarro persönlich gegründeten peruanischen Hauptstadt angefahren, wir bekamen auch jederzeit Gelegenheit auszusteigen und uns umzusehen.

Vom Flughafen aus fuhren wir entlang der ersten Slums, die ich unmittelbar zu Gesicht bekam. Erschütterung machte sich breit, unter welchen Bedingungen hier Menschen leben mussten. Vier Jahre später, bei meinem letzten Besuch in Lima, war die Strecke vom Flughafen zur Innenstadt in großen Teilen saniert. Anlässlich des Weltwirtschaftsgipfels hatten die Verantwortlichen viel Geld in die Hände genommen. In den Nebenstraßen bot sich auch danach noch dasselbe Elend. Ehrlicherweise muss man aber sagen, dass sich Lima mit jedem Besuch in den folgenden vier Jahren mehr und mehr rausputzte. Und auch in Sachen Sicherheit kann ich nur Positives berichten. Allen Warnungen zum Trotz sind wir nie in eine auch nur in Ansätzen gefährliche Situation gekommen. Zum ersten Mal in meinem Leben tauchte ich an den rostbraunen Ufern Limas die Hände in die Fluten des Pazifiks und wusste, schon allein deshalb hat sich das hier alles bisher gelohnt.

Wir hätten misstrauisch werden sollen, als wir in den Warteraum des Fluges nach La Paz geleitet wurden. Im letzten hinteren Untergeschoss, weitab von Duty-Free und glamourösen Ladenzeilen saß eine Handvoll Personen im Halbdunkel und wartete auf den Check In. Natürlich waren wir die einzigen Europäer. Die anderen Fluggäste hatten eindeutig indigene Wurzeln. Vereinzelt konnte man einen Schuss Konquistador erahnen. Als wir die Maschine betraten überlegte ich, wer wohl älter war. Das Flugzeug oder ich. Wahrscheinlich das Flugzeug. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters brachte uns die Maschine zuverlässig über den Andenkamm. Landetermin war 01.30 Uhr Ortszeit La Paz. Während des Nachtfluges bekam man von der Gegend nichts mit.

Laut rumpelnd setzte die Maschine auf der Landebahn in El Alto, dem auf 4000 Meter Höhe gelegenen internationalen Flughafen von La Paz auf. Endlose Lichterketten sausten an uns vorbei. Schließlich gab der Pilot vollen Schub zurück und der Vogel kam zum Stehen. Aus dem Fenster wirkte das spärlich beleuchtete Flugfeld ziemlich leer und trist. Es regnete in Strömen. Mein Gott, wo sind wir denn hier gelandet? Was zum Teufel hat uns geritten? Endlich das Signal zum Aussteigen.

Im Flughafengebäude fiel es nicht schwer sich zu orientieren. Es gab nur einen Gang und nur einen Gepäckraum. Mit den luftigen Hallen Limas hatte das hier aber auch gar nichts gemein. Der düstere Eindruck wurde von den Milizionären in dicken, wattierten Tarnanzügen und mit Kalaschnikow im lässigen Hüftanschlag verstärkt. Wir hatten schon freundlichere Gesichter gesehen. Die Koffer! Ja, da waren sie. Das hatte zumindest geklappt. Nach der letzten Passkontrolle, die roten Dienstpässe waren nicht nur für uns ungewohnt, auch der Passkontrolleur wirkte überfordert und hielt mehrfach Rücksprache, bevor er sie abstempelte und uns Richtung Schiebetür entließ, begaben wir uns zum Ausgang, um einzutreten in unser neues Leben.

Jedem Neuankömmling wird von der Schule im Vorfeld ein Betreuungslehrer zugewiesen. Mit dem kann man im Vorfeld alle Fragen abklären und im Regelfall wohnt man sogar dort, ehe man eine eigene Wohnung gefunden hat. Auch die Abholung vom Flughafen gehört zum umfangreichen Betreuungsprogramm. Nach dem 32 Stunden Ritt waren wir freudig überrascht und unendlich erleichtert, als wir unter den Wartenden zwei eindeutig nicht indigene Gesichter entdeckten, die uns freundlich anlächelten und sich anschickten, uns in Empfang zu nehmen.

Schon zuhause hatten wir beschlossen die ersten Wochen im Hotel zu wohnen und uns dann vor Ort eine Wohnung zu suchen. Wir konnten uns einfach nicht vorstellen auf unbestimmte Zeit zu viert in einer fremden Wohnung zu hausen. Das wollten wir niemandem zumuten und uns selber auch nicht. Wir hatten ja keine Ahnung, dass wir künftig zu den sehr reichen Menschen im Land zählen würden und unsere Betreuungslehrer in einem riesigen Haus mit zwei Türmchen, einigen Schlafzimmern und Bädern residierten. Also ging es mit einem Taxi und dem Jeep unserer Betreuer zum Hotel.

So einmalig und spektakulär der nächtliche Blick in die, wie ein riesiger Diamant im Kessel glitzernde Andenmetropole auch war, den Atem raubte uns auch nicht die Höhe, vielmehr ließ uns das unmittelbare Erleben dessen, was direkt hinter der Autoscheibe zum Vorschein, kam verstummen. Die Kinder und meine Frau saßen im Taxi. Rückblickend deckten sich unsere ersten Empfindungen. Nacktes Entsetzen. Pure Angst. Stumme Verzweiflung. Sind wir denn eigentlich bescheuert? Drei Jahre! Hier? Der Dauerregen war das Sahnehäubchen auf dem Elend, das uns hier umgab. Limas Slums kamen mir wie eine romantische Variante günstigen Wohnens vor, im Vergleich zu den hiesigen Häusern und Verschlägen. Die Wohnhäuser in El Alto und im oberen La Paz, dort wo die Armen wohnen müssen, sehen aus deutscher Sicht aus wie ausgebombte Garagen, verrottete und verlassene Bauruinen, Abrissbuden. Dazwischen gebeutelte und zerlumpte Gestalten, kleine Kinder (es war nachts um 02.15 Uhr!) und ganze Horden von streunenden Hunden.

Je tiefer man in den einzigartigen Schlund eintauchte, umso zivilisierter wurden die Straßenränder. Und ganz unten angekommen, beruhigte sich der Herzschlag. Der Klos im Hals wich langsam zurück und man suchte Trost in dem Glauben, diesen Teil der Stadt erstmal nicht verlassen zu müssen.

Vor dem HotelCalacoto, im Internet im Voraus gebucht, hielten wir uns die Hände und drückten sie heimlich. Wir mussten jetzt stark sein, für die Kinder mussten wir stark sein. Deren bisher gleichgültiger Gesichtsausdruck war schierem Entsetzen gewichen. Tapfer hielten wir alle die Tränen zurück. Bis zur Rezeption. Die Zimmer waren erst am nächsten Tag frei! Viva Bolivia!

Die Nacht verbrachten wir, in Klamotten schlafend, in irgendwelchen Kammern, aus denen man das Personal mitten in der Nacht vertrieben hatte. Die Bettlaken und Bettdecken waren noch warm. Ich hielt unser kleines Mädchen im Arm, meine Frau suchte Schutz bei unserem Sohn. Am nächsten Morgen bezogen wir dann unsere Suite. Beim Einschalten des Lichtes knallte es und Rauch zog durch die Räume. Später dann Ameisenkolonnen. Auch das Frühstück passte ins Bild. Ich hatte die Schnauze gestrichen voll.

Was dann folgte, ist bis heute schwer zu begreifen und für uns noch immer voll dankbarer Erinnerungen. Alle Kolleginnen und Kollegen, die wir trafen und denen wir vorgestellt wurden, halfen in einer ungekannten und ungeahnten Freundlichkeit und selbstlosen Hilfsbereitschaft, egal ob aus Ost oder West. Es hagelte Einladungen, die wir beim besten Willen nicht alle annehmen konnten. Dann hatte meine Frau die hervorragende Idee das Hotel zu wechseln. Mit ihrem perfekten Englisch handelte sie bei der Managerin eines Fünfsterne Hotels Sonderkonditionen für uns aus und wir zogen nach zwei Nächten insCamino Realum. Von da ab ging es nur noch bergauf. Dank der rührenden Unterstützung unserer Betreuungslehrer fanden wir nach einer Woche ein großzügiges, hübsches Haus mit Garten in unmittelbarer Nähe zur Schule. Zwei Wochen später kam der Container pünktlich auf die Minute vor unser neues Heim. Bis heute wohl der erste und einzige Container in der Geschichte des bolivianischen Auslandsschuldienstes. Jetzt wurde es wohnlich und das Schuljahr konnte beginnen.

Auf zum Pazifik!

Da stand er. Lange hatte ich gesucht und dann hatten wir uns gefunden. Im dunklen Nato Grün glänzteWörnerin der Sonne. Ich konnte es kaum erwarten mit ihm auf große Reise zu gehen. Unsere Kollegen und Freunde, Nettchen und Obelix, hatten vorgeschlagen in unseren ersten Ferien gemeinsam nach Iquique an die chilenische Küste zu reisen. Mit dem Auto!

Der riesige Kofferraum des Ford Explorer fraß förmlich das Gepäck. Im Dunkel des frühen Morgen fuhren wir los. Von unserem Wohnviertel Achumani hinauf ins Zentrum von La Paz und dann weiter bis hoch nach El Alto. Der V6 schnurrte vor sich hin. Allerdings erinnerten die Fahrleistungen in der Höhe am Berg an einen Ford Escort. Allein in der Stadt galt es tausend Höhenmeter (!) zu überwinden. Die Luft oberhalb 3000 Meter ist so arm an Sauerstoff, dass der Sechszylinder einen großen Teil seiner Kraft beim Ringen um Atem verliert. Endlich zeigte sich die Sonne am unglaublich blauen Andenhimmel. Im Licht und inzwischen an die Besonderheiten der Stadt gewöhnt, verdrängte der Eindruck des Exotischen die Wahrnehmung des Tristen.

Die Beschilderung in Bolivien ist für Fremde so gut wie nicht vorhanden. Kartenmaterial gab es nicht, erst nach unserem ersten Heimaturlaub diente eine bei Hugendubel gekaufte Südamerikakarte der groben Orientierung. Also galt meine ganze Konzentration dem blauen Mitsubishi unserer Freunde vor mir. Ich bin so schon ein orientierungsloses Wesen, aber in den engen Straßen von El Alto und unter Vernachlässigung aller Straßenverkehrsregeln im unvorstellbar dichten Verkehr von Vehikeln aus allen Jahrzehnten seit 1940, bedurfte es höchster Konzentration, den Anschluss nicht zu verlieren und die Abfahrten genau zu treffen.

Ist man dann auf einer der wenigen asphaltierten Überlandstraßen Boliviens, beruhigt sich der Verkehr sofort und die segensreiche Erfindung des Tempomats kann zum Einsatz kommen. Dafür lauern andere Gefahren. Zum einen in Gestalt der Vehikel, die einem entgegen kommen oder vor einem fahren. Zwei Drittel dieser Fahrzeuge würden nicht etwa nicht zum TÜV vorgelassen, geschweige denn dürften auf eine Plakette hoffen. Nein, ich könnte mir vorstellen, dass den meisten der Buden, die dort vollbeladen mit Material und Menschen über die Straßen gequält werden, sogar der Einlass auf deutsche Schrottplätze verwehrt wird. Natürlich ist das alles der furchtbaren Armut geschuldet und ich habe gewiss kein Recht, mich darüber lustig zu machen. Aber die Zahl der schweren Verkehrsunfälle und die vielen Toten und Verletzten, die nicht zuletzt damit im Zusammenhang stehen, lassen den Betrachter von außen nur mit dem Kopf schütteln. Das andere Gespenst im bolivianischen Straßenverkehr ist der Fahrer als solcher. Regeln existieren nicht im Verkehr. Und die dünne Oberschicht mit ihren schweren Geländewagen hat darüber hinaus noch selbstgesetzte Privilegien.

Verträumt ließ ich mein Auge über das endlose Plateau des Altiplano gleiten. Immer wieder ertappte ich mich beim Blick nach rechts, wo sich majestätisch die Königskordilleren dem strahlenden Blau entgegenreckte. Mit 120 km/h glitten wir auf der schmalen Asphaltschlange dahin, die sich geradeaus im Nirgendwo am Horizont verlor. Vereinzelt sah man auf mühsam zu bestellenden Feldern Erdhütten. Kleine Ortschaften mit halbfertigen Ziegelhäusern und schütteren Mauern, mit den allgegenwärtigenEVOundMASBeschriftungen, in dicker weißer Farbe aufgemalt, wurden von uns durchquert. Es ging südlich des Titicacasees straff nach Westen in Richtung Oruro, hinein in den Sajama Nationalpark. Obelix setzte den Blinker und überholte einen kleinen Konvoi von drei Fahrzeugen. Artig setzte ich auch den Blinker und hängte mich dran. Obelix hatte gerade die ersten beiden Fahrzeuge überholt, da zog das letzte Auto des Konvois spontan nach links, um auch zu überholen. Blöd war nur, dass es genau dorthin zog, wo ich gerade mit 120 km/h vorbei gerauscht kam. Alternativen als solche gab es nicht viele. Das alles passierte in Bruchteilen von Sekunden. Ich musste nach links ausweichen, wollte ich eine Kollision verhindern. Da ich mich aber schon auf der linken Fahrbahnseite befand, führte der Weg direkt ins Altiplano. Der Explorer flog über den kleinen Graben am Fahrbahnrand, der an dieser Stelle zum Glück nur etwa einen Meter tief war und landete auf allen Vieren im tiefen Büschelgras der Hochanden. Nach einigen Metern und furchtbaren Geräuschen unterm Auto, kamen wir zum Stehen. Ich weiß nicht mehr ob und wer von uns Vieren, wie lange geschrien hat. Jedenfalls war es plötzlich ganz ruhig. Ich stieg aus und schüttelte mich kurz. Meine Frau war ziemlich aufgelöst und dankte mir, dass ich uns allen das Leben gerettet hatte. Ich weiß selber nicht wie, aber ein Überschlagen konnte ich verhindern. Bei 120 Sachen möchte ich nicht daran denken, was alles hätte passieren können. Obelix kam hupend zurück und die Beiden erkundigten sich besorgt nach unserem Zustand. Er hatte im Rückspiegel gesehen, wie ich von der Bahn geschossen bin. Der Verursacher ist übrigens seelenruhig weiter gefahren. Obelix schlug vor: "uns das Schwein zu greifen" und war schon auf dem Weg zum Wagen. Ich bat ihn Abstand zu nehmen. Meine Sorge galt Wörner, dem ich zärtlich über die Haube strich. Es sollte nicht das einzige Mal sein, dass er uns rettete.

Zum Glück war alles dran geblieben. Die Pfützen, die sich bei den Pausen unter dem Wagen bildeten, waren keine Bremsflüssigkeit, wie ich angstvoll vermutete. Die Klimaanlage sonderte Kondenswasser ab. In einer todesmutigen Aktion hatte ich den Finger in die Lache getaucht und gekostet. Betont vorsichtig fuhren wir weiter, jeder Überholvorgang begleitet von purer Angst.

Dann tauchte er am rechten Horizont auf. Sofort begriff man, warum die Aymara in ihm einen heiligen, magischen Berg sehen. Der Sajama! Der gleichförmige Kegel mit seiner ewig weißen Haube reicht bis 6542 Meter in den Himmel und ist zugleich der höchste Berg Boliviens. Weitab von den Hauptkämmen der Andenkette erhebt er sich, einsam, wie von Titanen-Hand hingestellt, inmitten des sonst meist ebenen Altiplano. Nur langsam kam der mächtige Berg näher. Lamas standen unmittelbar am Straßenrand und in den endlosen Büschelgrasebenen links und rechts verstreut in diesem riesigen Nationalparkgebiet und ließen sich von den vorbeirauschenden Autos nicht im Geringsten stören. Wenn man dem Riesen auf der vorbeiziehenden Straße am nächsten kommt, sind es nur noch gut 30 Kilometer, gleichmäßig leicht ansteigend, bis zur Chilenischen Grenze.

Die bolivianische Grenzstation befindet sich auf über 5000 Meter Höhe und besteht aus einem bunten Sammelsurium verschiedenster abgewrackter Baracken. Zunächst gebietet eine dicke Eisenkette, quer über die Straße gespannt, Halt. Was dann folgt, kann man getrost als Irrsinn bezeichnen. In einer sich stets ändernden Reihenfolge muss man jede einzelne Baracke aufsuchen, um einen Wust von Papieren auszufüllen und entsprechende Unterlagen abgestempelt zu bekommen. Das gilt für Passagiere ebenso, wie für Fahrzeuge. Artig trottete ich Obelix hinterher. Unsere Frauen und die Kinder suchten unterdessen eine Toilette. Die muss sich hinter einer der größeren Baracken befunden haben und tatsächlich schnürte es einem den Atem ab, so stank es dort nach Urin, obwohl weit und breit keine Toilette zu sehen war. Generationen von Grenzgängern haben dort offensichtlich das Andengras getränkt. Wenn ich oben schreibe, in wechselnder und nicht erkennbarer Reihenfolge, so sollte es tatsächlich so sein, dass bei allen künftigen Grenzüberschreitungen an dieser Grenze die Reihenfolge der Baracken, die man zu besuchen hatte, wechselte. Warum? Das weiß ich bis heute nicht und auf Nachfrage wurde man nur entgeistert angeschaut. Angesichts dessen, dass man links und rechts der Grenze einfach über die Grashügel hätte laufen können, machten die einen ziemlichen Zirkus, wie wir fanden. Das ganze erinnerte mich an die Grenzübertritte meiner Kindheit in die befreundeten Ostblockstaaten. Auch dort war bewaffnetes Personal allgegenwärtig und freundlicher Umgang schon damals ein Fremdwort. Nach einer guten Stunde hatten wir es dann geschafft, rauchten noch eine Zigarette und tränkten das Gras an bekannter Stelle. Dann fährt man etwa fünf Kilometer meist bergauf, bis es dann auf den letzten Metern wieder in Kurven nach unten geht. Wir trauten unseren Augen kaum. Zunächst wurde der Blick von zwei Sechstausender Riesen gefangen, die wie Zwillinge nebeneinander in perfekter vulkanischer Kegelform, ähnlich dem Sajama, von der chilenischen Seite grüßten. Ein wirklich spektakulärer Anblick. Und links vor uns, direkt neben den chilenischen Grenzgebäuden, die diesen Namen tatsächlich verdienten, spiegelte sich eine türkisblaue Lagune in dieser Höhe. Beim Näherkommen erkannten wir zu unserer großen Überraschung, dass das Ufer des Sees bewohnt war. Und zwar von einer ganzen Kolonie Flamingos, die weiß und rosa den Ufersaum schmückten. Unglaublich! In dieser Höhe Flamingos? Mit allem hätten wir gerechnet, aber das war wirklich eine große Überraschung.

Mit dem Betreten der chilenischen Grenzanlagen befand man sich schlagartig in einer anderen Welt. Das Personal war komplett nicht indigener Abstammung. Das Grenzgebäude war verputzt und hatte ein komplettes Dach. Wer allerdings glaubt, dass sich der Ton besserte, der irrt. Auch hier wurde man zackig zusammengefaltet und den Grenzposten stand der Frust über ihren ziemlich abseits gelegenen Arbeitsplatz deutlich ins Gesicht geschrieben. Und die Autos durften komplett entpackt werden. Mehr noch als Erdbeben oder andere Naturgewalten, schien man in Chile die Fruchtfliege zu fürchten. Daher war die Einfuhr von Lebensmitteln aller Art strengstens verboten. Und wehe man fand einen Apfel, eine Banane oder ein belegtes Brötchen. Klassischer Reiseproviant, der nicht vorher auf bolivianischer Seite entsorgt wurde, konnte zu ernsthaften Folgen führen. Wenn man sich nicht devot entschuldigte, gestisch und mimisch nicht den Nachweis erbrachte, nicht vorsätzlich gehandelt zu haben, dann war nicht Chile, nein dann war Polen offen! Und Chile blieb einem verwehrt. In solchen Situationen half dann nur noch der rote Zauberpass, der uns als Mitarbeiter der deutschen Botschaft erscheinen ließ, die wir gar nicht waren. Bei uns kam verschärfend hinzu, dass ich Wörner ganz normal in Bolivien zugelassen hatte und mit einem bolivianischen Kennzeichen rumfuhr. Obelix mit seinem gelben MI Nummernschild, das für Mission International stand und ihn so schon von weitem als eine besonders wichtige Person ankündigte, war fein raus. Wir wurden solange für Bolivianer gehalten, bis man merkte, dass wir kein Wort verstanden. Das ging meist sehr schnell. Umso länger dauerte dann die Kontrolle unserer Pässe und unseres Autos. Beides passte irgendwie für die Grenzbeamten nicht so richtig zusammen. Das sollten wir in der Zukunft noch öfter merken.

Nachdem wir dann auch hier noch ein Stündchen Zeit vergeudet hatten und dabei wehmütig an Schengen dachten und erst einmal begriffen, wie unkompliziert wir innerhalb der Europäischen Union reisen können, ging es in gewohnter Reihenfolge weiter. Obelix und Nettchen vor uns, wir tapfer hinterher.

Unsere erste Pause machten wir am Fuß eines dieser beiden chilenischen Bergriesen. Irgendwo zwischen 4500 und 4800 Meter. Die Baumgrenze lag noch unter uns, nur ein bisschen Gras fand hier genügend Nährstoffe um zu überleben. Ansonsten erinnerten die Ausläufer der Vulkane mit ihren unzähligen, zum Teil riesigen Felsbrocken, die weite Flächen vollkommen vegetationslos und trocken erscheinen ließen, an eine Mondlandschaft. Dabei sollte die erst noch kommen.

Die nächsten 150 Kilometer ging es nur bergab. Man muss das mal gemacht haben um diese Dimensionen zu begreifen. Wir fuhren praktisch am Stück von fünftausend Meter bis auf null Meter. Das Ganze in Serpentinen und auf Straßen, die nicht ohne Gefahren waren, um es mal so auszudrücken. Findet man manchmal auf einer uns bekannten Straße ein Schlagloch, so taufte ich die hiesigen Vertiefungen Badewannen. Unvorstellbar welche Schläge es tat, wenn man mal nicht ausweichen konnte. Wörner erwies sich als äußerst belastbar in solchen Dingen. Seiner Bodenfreiheit sei Dank, konnten wir auch den anderen Unbilden, einer nicht glaubwürdig zu vermittelnden Vielzahl von Steinen, manchmal in Waschbeckengröße, größtenteils entgehen. Zum Glück fuhr Obelix vor uns. So konnte ich mich an seinen Notausweichmanövern orientieren. Verschärfend hinzu kam der Gegenverkehr. Wenn sich zwei riesige Lastkraftwagen aus den frühen Siebziger Jahren vollbeladen auf einer steil ansteigenden Straße überholen, dann dauert dieser Überholvorgang in der Regel mehrere Minuten. Auf einer sehr kurvenreichen Strecke ein suboptimales Vorhaben. Das galt übrigens auch für die Gegenrichtung, wie wir angstvoll erfahren sollten. Da kommt man dann also mit 90 oder 100 km/h um die Kurve und sieht in zwei Fahrerhäuser nebeneinander. Aus denen blicken einem dann zwei Aymara- oder Quetschua-Köpfchen erstaunt entgegen und beobachten interessiert entweder eine Vollbremsung oder ein Ausweichen auf die, leider selten vorhandenen und immer unbefestigten, Straßenränder. Die haben natürlich gut lachen in ihren Fahrerhäuschen, ausgestattet mit allem Schnickschnack, der böse Geister abwehrend und Glück verheißend, in der Frontscheibe rumbaumelt. Allerdings lassen die Wracks und die umgestürzten LKW, die in unregelmäßigen Abständen immer wieder am Streckenrand auftauchen, berechtigte Zweifel an der Wirksamkeit von Pachamama und den anderen Schutzgöttern aufkommen, die in Form bunter Wimpel, irgendwelcher Miniaturen oder getrockneter Lama-Föten mit an Bord waren.

Es galt also höchste Konzentration und Vorsicht. Beides war nicht so einfach permanent aufrecht zu erhalten, weil hinter der flimmernden Hitze außerhalb des Wagens das Wunder der Atacama-Wüste immer wieder die Aufmerksamkeit auf sich zog. In dieser trockensten Wüste der Erde gibt es wirklich nichts Lebendiges zu entdecken. Endlos gleitet der Blick über einen rotbraunen, grobkörnigen Sand und auch wenn man den Mond noch nie betreten hat, ahnt man, wie es dort aussehen muss. In dieser lebensfeindlichen Umgebung findet man dann abseits der Straße auch nicht den geringsten Hinweis auf menschliche Besiedlung. Das verstärkt den absurd fremd wirkenden Eindruck des Betrachters dieser einzigartigen Welt.

Und genauso plötzlich und unerwartet tauchen dann inmitten der Sandhänge in einem riesigen Tal, die wie von Menschenhand errichteten Skulpturen der riesigen Kandelaber-Kakteen auf und besiedeln auf vielen Kilometern Länge die nun fast unerträglich heiße Ödnis.

Den Naturgesetzen folgend veränderten sich die Landschaft und die Vegetation hinter dem Tal der Kakteen jetzt mit jedem Höhenmeter, den man hinter sich ließ. Und dann endlich, nach der tausendsten Kurve, erstreckt sich links unten ein begrüntes Tal und gierig saugt das Auge jeden Farbtupfer auf, der sich links und rechts des Flusses, der mäandernd die Talsohle markiert, bietet. Wie ein grünes Band zieht sich entlang der Ufer, die von Menschenhand geschaffene, inmitten der sie umgebenden braunen Ödnis paradiesisch anmutende Oase mit ihren Viehkoppeln, Ackerflächen und liebevoll in die Landschaft eingepassten, Häusern. Fast eine Stunde dauert es, ehe man vom Beginn des Tales in die Außenbezirke von Arica einfährt, in die nördlichste Stadt Chiles.

Im Vergleich zu den bolivianischen Städten wirkt Arica sauber und gepflegt, wenn auch nicht von überbordendem Reichtum geprägt. Vor uns lag der Pazifik. Wir waren endlich da. Meine Frau, die in Lima im Hotel geblieben war, stand zum ersten Mal vor dem Friedlichen. Doch noch hatten wir keine Zeit uns in die Fluten zu stürzen. Später sollten wir hier noch mehrmals wiederkehren, immer von der Sehnsucht nach dem Meer getrieben. Diesmal machten wir aber nur einen kurzen Zwischenstopp und tankten Mensch und Maschine auf. Unser eigentliches Ziel war ja Iquique, die nördlichste Großstadt Chiles.

Arica ist so klein, dass man sich nicht verfahren konnte. Außerdem lernte ich, dass die Chilenische Küste im Norden von einem recht steil ansteigenden Hinterland geprägt ist, das direkt in die Ausläufer der Atacama-Wüste führt. Wir mussten also nur darauf achten, dass der Ozean immer rechts von uns blieb. Und die Wüste links. Parallel zur Küste fuhren wir jetzt über eine breite Straße, die diesen Namen auch verdiente. Da ging es durchaus mal 50 Kilometer geradeaus, ohne eine einzige Kurve. Links und rechts nur Wüste. Immerhin spürte man die Nähe des Meeres. Theoretisch hätte man hier mit 180 durchknallen können, aber wir nahmen die Warnungen vor der chilenischen Polizei ernst. Und wirklich tauchten immer wieder am Straßenrand Polizeifahrzeuge auf, die den Verkehr beobachteten. Wörners Fahrleistungen hatten sich wie von Zauberhand vom Escort zum Kampfjet gewandelt. Auf Meeresspiegel röhrte der V6 richtig angriffslustig, wenn ich ihn auf Drehzahl brachte. Zu schnelles Auskuppeln quittierte er mit quietschenden Rädern bis im dritten Gang.

Nach ein paar Stunden entspannten Gleitens erreichten wir dann noch vor Einbruch der Dunkelheit eine Kreuzung, die uns den Weg nach Iquique markierte. Erschöpft und glücklich betraten wir das sehr schöne Hotel, das sich malerisch an einer Steilküste in die Landschaft eingepasst hatte und genossen von unseren Zimmern den Blick auf das endlos vor uns liegende Meer. Direkt unter uns befand sich auf einer Terrasse ein herrlicher, azurblauer Pool. Wir waren angekommen.

Iquique als Stadt ist relativ unspektakulär. Direkt zwischen der im Hintergrund obligatorisch vor sich hin flimmernden Wüste und dem davor, in ewigem Rauschen sich bemerkbar machenden, Pazifik gelegen, teilt sie sich in einen ärmlichen, alten und einen relativ neuen, wohlhabenderen Teil. Kommt man von oben aus der Wüste, durchquert man ganze Straßenzüge einfacher Bauten, deren Einfachheit sicher auch den immer warmen klimatischen Verhältnissen geschuldet ist. Zum Zentrum hin erheben sich dann einige Hochhäuser, deren verspiegelte Fensterfronten das immer leicht diesige Licht gebündelt zurückwerfen.

Am nächsten Morgen schwebten wir zum Hauptstrand, inmitten der Stadt gelegen. Der feine Sand hatte denselben rotbraunen Ton, den wir aus der Wüste kannten und der sich am Horizont hinter der Stadt anschloss. Trotz geringen Windes an Land brachen die Wellen gleichmäßig und majestätisch im flachen Wasser. Zeit die Wake-Boards aus Obelix Wagen zu holen. Mit etwas Übung konnte man dann zwischen 30 und 50 Meter auf dem Wellenkamm gleiten, dass Brett dabei vor der Brust fest unter dem Bauch gepresst. Der Humboldtstrom biegt erst auf Höhe Lima nach Westen. So kamen wir in den zweifelhaften Genuss polaren Frischwassers. Denn frisch war es im Wasser und ohne Neoprenanzüge war die Badezeit natürlich begrenzt. Über die Wellen glitten vor unseren Augen Pelikane wie kleine Zeppeline. Unzählige Krabben huschten über den dunklen Sand und gruben sich blitzschnell ein, wenn ihre seismischen Sensoren die Erschütterung neugieriger menschlicher Füße signalisierten. Der Strand selber war wohltuend leer, allerdings wohnten dort auch einige herrenlose Hunde, immer auf der Suche nach einem Snack, der von den Menschen übrig bleiben könnte. Da halfen keine Tiraden und keine Steine. Immer wieder schlichen die Köter näher und nervten den nach Entspannung suchenden Badegast.

Den Nachmittag verbrachten wir am Hafen. Unzählige Pelikane wohnten dort und hatten eindrucksvoll ihr Revier markiert. Zentimeterhoch klebte das Zeug an manchen Stellen und in der Hitze entstand eine interessante Mischung aus Fischgeruch und Fäulnis. Die wenigen Fischerboote, die noch im Betrieb schienen, verkauften ihre schmale Fracht direkt am Hafen, Gelegenheit die heimische Unterwasserfauna näher kennenzulernen. Noch unerschrockener als die Pelikane, die wenigstens ab und zu das Feld räumten, wenn man sich ihnen näherte, waren die Seelöwen, die im Hafen ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatten. Es gab keinen Steg und keinen Felsen, der nicht mit Seelöwen jeder Größe und jeden Geschlechts randvoll gefüllt war. Augenscheinlich sehr kommunikationsbedürftig ergänzten sie den beißenden Geruch durch einen nicht minder durchdringenden Lärm. Für uns war das alles neu und spannend, die Kinder waren fasziniert von den Tieren, die sie allenfalls aus Zoos kannten. Neben den wenigen Arbeitern waren einige Touristen im Hafengebiet zu sehen. Ausnahmslos Südamerikaner, wahrscheinlich die meisten Chilenen. Soweit wir das beurteilen konnten, waren wir die einzigen Europäer.

Zurück im Hotel entschlossen sich die anderen drei Erwachsenen einen kühlen Drink am Pool zu genießen und dabei die spektakuläre Sicht auf den Ozean auf sich wirken zu lassen. Als fürsorglicher Vater hatte ich mich bereit erklärt, die Kinder beim Duschen zu beaufsichtigen und wollte dann dazu stoßen.

Ich war gerade selber unter der Dusche, da rumpelte es nebenan im Zimmer so gewaltig, dass ich zunächst dachte, die Kinder hätten den großen Fernseher aus der Wandverankerung gerissen. Noch bevor ich mich lautstark nach der Ursache des Lärmes erkundigen konnte, begann der Boden unter mir, in dem konkreten Fall die Badewanne, zu schwanken. Mit den Händen an der Wand Halt suchend, spürte ich auch hier plötzlich schwankende Bewegungen der ganzen Wand. Erdbeben!

Tsunami! Das war mein zweiter Gedanke. Ich sprang aus der Wanne, zog dabei ein Handtuch von der Stange und brüllte nach meinen Kindern. Unterdessen gingen die Erdstöße weiter, hatte man das Gefühl, auf einem schaukelnden Schiff zu laufen. Die Kinder kamen mir verängstigt entgegen, mit der Situation mindestens genauso überfordert, wie ich. Ich riss die Zimmertür auf und schob meinen Sohn auf den Gang, meine Tochter am Handgelenk hinter mir her zerrend. "Raus. Raus hier!", brüllte ich und stürzte, fest entschlossen mein Fleisch und Blut zu retten, auf den Flur. In Sekundenschnelle analysierte ich die Gefahr. Zuerst aus dem Gebäude raus kommen und dann nichts wie weg nach oben, der Monsterwelle zuvorkommend. Tatsächlich hatte ich die Fernsehbilder der letzten großen Tsunamikatastrophe im Kopf, da wurde unsere Flucht jäh aufgehalten. Eine Angestellte, mit einem dieser Wagen, die sämtliches Zubehör zum Reinigen und Neuausstatten der Zimmer vor sich her schob, versperrte den rettenden Gang. Zunächst erschrocken blickte sie auf meinen kleinen Rettungstrupp, dann auf mich, der ich nur notdürftig mit einem Handtuch um die Hüften zur Flucht aufgebrochen war und begann schließlich, als erneut ein Erdstoß den Boden unter uns allen wackeln ließ, laut zu lachen. "Teremoto"! strahlte sie und machte beschwichtigende Gesten.

Dieser Vorfall lehrte mich zwei Dinge. Ich kannte jetzt das spanische Wort für Erdbeben und offensichtlich gehörten solche kleinen Ruckler eines ganzen Hotels dort zum Alltag. Zu meiner Entschuldigung kann ich aber anführen, dass meine Kinder ebenso erschrocken waren wie ich und dass wir in den vier Jahren, sowohl an der peruanischen, als auch an der chilenischen Küste, nie wieder ein Beben solcher Stärke erlebt haben. Ironischerweise sollten wir Jahre später nach Iquique zurückkehren und statt ins Hotel einchecken zu können, zunächst zwangsweise an einer der größten Tsunamiübungen in der Geschichte Chiles teilnehmen.

Richtig mysteriös wird der Fall, wenn ich berichten muss, dass die Drei am Pool so gut wie gar nichts gemerkt haben wollen. Entweder waren sie gerade im Wasser, das würde Sinn machen oder aber es war nicht bei einem Drink geblieben.

Guter Negro. Böser Negro.

"Da müsst ihr unbedingt hin. Das ist so unglaublich, so viele Tiere haben wir in keinem Zoo der Welt gesehen." Die Rede war von Rurrenabaque, einem kleinen Ort im Madidi-Nationalpark im bolivianischen Dschungel, am Rio Negro gelegen, der wiederum ein Amazonasausläufer ist. Mehrere unserer neuen Freunde hatten uns diesen Tipp gegeben. Schon allein wegen der Kinder!

Dschungel! Mein Gott! Endlich! Das klang sehr verheißungsvoll. Also ran ans Internet und buchen. Das HotelSafariwar schnell als erstes Haus am Platz identifiziert, die Flüge nur noch ein Routineakt.