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Ann Cleeves

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Beschreibung

Emma Bennett sieht sich mit dem schlimmsten Trauma ihrer Kindheit konfrontiert: Zehn Jahre zuvor entdeckte sie an einem frostigen Wintertag in einem Graben die Leiche ihrer besten Freundin. Eine Frau wurde verhaftet, doch nun taucht ein Zeuge auf, der ihr umstrittenes Alibi nach all den Jahren bestätigt. Kommissarin Vera Stanhope würde den Mordfall gerne lösen, doch das gestaltet sich unerwartet schwierig: In dem Dörfchen Elvet findet sich kaum ein Einwohner, der kein Motiv gehabt hätte, die hübsche, verzogene und sehr gerissene Abigail zu töten. Binnen kürzester Zeit ist die Atmosphäre vergiftet. Und Vera fragt sich: Haben die Dorfbewohner Angst vor dem Mörder oder vor ihrer eigenen, schuldbeladenen Vergangenheit? «Mit Vera Stanhope hat die britische Autorin Ann Cleeves eine Kommissarin erfunden, die man mögen muss: ein wenig derb, übergewichtig, beziehungsgestört – aber schlauer als ihr gesamtes Team!» Freundin

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Seitenzahl: 554

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Ann Cleeves

Opferschuld

 

 

Übersetzt von Stefanie Kremer

 

Über dieses Buch

Emma Bennett sieht sich mit dem schlimmsten Trauma ihrer Kindheit konfrontiert: Zehn Jahre zuvor entdeckte sie an einem frostigen Wintertag in einem Graben die Leiche ihrer besten Freundin. Eine Frau wurde verhaftet, doch nun taucht ein Zeuge auf, der ihr umstrittenes Alibi nach all den Jahren bestätigt.

Kommissarin Vera Stanhope würde den Mordfall gerne lösen, doch das gestaltet sich unerwartet schwierig: In dem Dörfchen Elvet findet sich kaum ein Einwohner, der kein Motiv gehabt hätte, die hübsche, verzogene und sehr gerissene Abigail zu töten.

Binnen kürzester Zeit ist die Atmosphäre vergiftet. Und Vera fragt sich: Haben die Dorfbewohner Angst vor dem Mörder oder vor ihrer eigenen, schuldbeladenen Vergangenheit?

 

«Mit Vera Stanhope hat die britische Autorin Ann Cleeves eine Kommissarin erfunden, die man mögen muss: ein wenig derb, übergewichtig, beziehungsgestört – aber schlauer als ihr gesamtes Team!» (Freundin)

Vita

Ann Cleeves lebt mit ihrer Familie in West Yorkshire und ist Mitglied des «Murder Squad», eines illustren Krimi-Zirkels. Für ihren Kriminalroman «Die Nacht der Raben» erhielt sie den «Duncan Lawrie Dagger Award», die weltweit wichtigste Auszeichnung der Kriminalliteratur. 2017 wurde sie für ihr exzellentes Lebenswerk mit dem «Diamond Dagger» ausgezeichnet. Sowohl die «Vera Stanhope»-Reihe, als auch Cleeves zweite Serie um das Shetland-Quartett, sind verfilmt worden.

 

Stefanie Kremer, geb. 1966 in Düsseldorf, arbeitet freiberuflich als Übersetzerin für Sachbücher und Belletristik aus dem Englischen und Französischen. Sie lebt südlich von München.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel «Telling Tales» bei Macmillan/Pan Macmillan Ltd., London.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Februar 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg

«Telling Tales» Copyright © 2005 by Ann Cleeves

Redaktion Meike Herrmann

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-43631-2

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Teil eins

Kapitel eins

Emma sitzt am Schlafzimmerfenster und sieht auf den nächtlichen Platz hinaus. Im Wind, der scharf vom Friedhof her fegt, treibt eine Coladose über die Straße, ein Dachziegel klappert. An jenem Nachmittag, an dem Abigail Mantel ums Leben kam, hatte ein Sturm getobt, und es ist, als habe sich der Wind seither nicht gelegt, als dauere der Sturm seit zehn Jahren an, mit Hagelkörnern, die wie Gewehrkugeln gegen die Fenster prasseln, und entwurzelten Bäumen. Zumindest seit das Baby auf der Welt ist, ist es so. Wann immer sie seither nachts aufwacht, um den Kleinen zu stillen, oder wenn James spät von der Arbeit kommt, hört sie den Wind, ein Tosen um ihren Kopf, wie das Rauschen einer Muschel, die man sich ans Ohr hält.

James, ihr Mann, ist noch nicht zu Hause, aber seinetwegen ist sie nicht wach geblieben. Unverwandt blickt sie zur Alten Schmiede hinüber, in der Dan Greenwood seine Töpferei hat. Licht schimmert durch das Fenster, und hin und wieder bildet sie sich ein, einen Schatten zu sehen. Sie stellt sich vor, dass Dan noch arbeitet, in seinem blauen Kittel aus Segeltuch, die Augen zusammengekniffen, während er mit seinen kräftigen braunen Händen den Ton formt. Dann stellt sie sich vor, dass sie das schlafende Baby gut eingepackt in seinem Bettchen liegen lässt. Sie sieht sich auf den Platz hinausschlüpfen und zur Schmiede hinübergehen, wobei sie sich stets im Schatten hält. Sie stößt eine der beiden großen Türen auf, die einen Torbogen bilden, wie bei einem Kirchenportal. Der Raum ist hoch, und durch das verwinkelte Gebälk kann sie bis zu den Dachziegeln sehen. In ihrer Vorstellung fühlt sie die Hitze des Brennofens und sieht die staubigen Regale, auf denen unglasierte Tontöpfe stehen.

Dan Greenwood blickt auf. Sein Gesicht ist ganz dunkel, und in den Falten seiner Stirn klebt roter Staub. Er ist nicht überrascht, sie zu sehen, verlässt die Werkbank, an der er gearbeitet hat, und steht schon vor ihr. Sie spürt, wie ihr Atem schneller geht. Er küsst sie auf die Stirn und knöpft dann langsam ihre Bluse auf. Er berührt ihre Brüste, streichelt sie und hinterlässt dabei Streifen von rotem Ton, wie eine Kriegsbemalung. Sie fühlt, wie der Ton auf der Haut trocknet und ihre Brüste zu kribbeln beginnen.

Dann verblasst das Bild, und sie ist wieder in ihrem ehelichen Schlafzimmer. Sie weiß, dass ihre Brüste schwer von der Milch sind, nicht fest von trocknendem Ton. Das Baby fängt an zu weinen und greift mit den Händen ins Leere. Emma hebt es aus dem Bettchen, um es zu stillen. Dan Greenwood hat sie nie berührt und wird es wahrscheinlich auch nie tun, ganz gleich, wie oft sie davon träumt. Die Kirchturmuhr schlägt Mitternacht. Mittlerweile sollte James sein Schiff sicher in den Hafen gebracht haben.

 

Das also malte Emma sich aus, als sie in Elvet an ihrem Schlafzimmerfenster saß. Es war, als würde sie beständig ihr Befinden kommentieren, sich von außen selbst betrachten. So war es schon immer gewesen – ihr Leben als eine Abfolge erfundener Geschichten. Bevor Matthew auf die Welt kam, hatte sie sich gefragt, ob seine Geburt sie aus ihren Träumen herausreißen würde, schließlich gab es doch nichts Wirklicheres als die Wehen. Doch während sie jetzt mit dem kleinen Finger seinen Mund von ihrer Brustwarze löste, dachte sie, dass das nicht stimmte. Sie fühlte sich Matthew nicht enger verbunden als James. War sie eine andere gewesen, bevor sie Abigail Mantels Leiche gefunden hatte? Wahrscheinlich nicht. Sie legte sich ihren Sohn an die Schulter und rieb ihm über den Rücken. Er streckte eine Hand aus und umklammerte eine Strähne ihres Haars.

Das Zimmer lag unterm Dach eines gepflegten Hauses im georgianischen Stil. Es hatte eine symmetrische Fassade aus rotem Backstein und roten Ziegeln, die Tür war in der Mitte. Ein Seefahrer, der Handel mit Holland trieb, hatte es gebaut, und das hatte James gefallen. «Wir führen eine Tradition fort», sagte er, als er ihr alles zeigte. «Es ist, als würde man es im Familienbesitz halten.» Emma fand, dass es zu nah an zu Hause lag, an den Erinnerungen an Abigail Mantel und Jeanie Long, und schlug Hull vor, wo es auch günstiger für seine Arbeit sei. Oder Beverly. Beverly war eine hübsche kleine Stadt. Aber er sagte, Elvet gefalle ihm genauso gut.

«Für dich wird es nett sein, so nah bei deinen Eltern zu wohnen», sagte er, und sie lächelte und sagte ja, denn so lief es nun einmal zwischen ihr und James. Sie machte es ihm gern recht. In Wirklichkeit war ihr nicht allzu viel an der Gesellschaft von Robert und Mary gelegen. Da mochten die beiden noch so viel Hilfe anbieten, sie fühlte sich in ihrer Nähe unbehaglich und irgendwie schuldig.

In das Heulen des Windes mischte sich ein neues Geräusch – der Motor eines Wagens. Scheinwerferlicht ergoss sich über den Platz und erhellte kurz die Kirchenpforte, vor der sich aus herumwirbelnden Blättern ein Haufen gebildet hatte. James parkte auf dem Kopfsteinpflaster, stieg aus und warf die Tür mit einem kräftigen Schlag zu. In dem Moment kam Dan Greenwood aus der Alten Schmiede. Er war genau so angezogen, wie Emma es sich vorgestellt hatte, trug Jeans und den blauen Kittel. Sie erwartete, dass er die großen Türflügel zuziehen und mit einem Schlüssel zusperren würde, den er an einer Kette an seinem Gürtel trug. Dann würde er ein schweres Vorhängeschloss aus Messing durch die Eisenringe schieben, die sich an beiden Türen befanden, und das Schloss zurechtrücken. Dieses Ritual hatte sie schon oft vom Fenster aus beobachtet. Doch jetzt ging er über den Platz auf James zu. Er trug schwere Arbeitsstiefel, die laut auf den Pflastersteinen hallten, sodass James sich umdrehte.

Als sie die beiden zusammen sah, fiel ihr auf, wie verschieden sie doch waren. Dan war so dunkel, dass man ihn für einen Ausländer halten konnte. In einem Horrorfilm hätte er gut den Mörder spielen können. Und James war ein blasser, höflicher Engländer. Plötzlich beunruhigte es sie, dass die beiden Männer sich einfach so begegneten. Auf keinen Fall konnte Dan etwas von ihren Phantasien ahnen. Sie hatte nichts getan, was sie verraten könnte. Vorsichtig schob sie das Fenster nach oben, um zu hören, was die beiden sprachen. Die Vorhänge blähten sich im Wind. Eine Brise, die leicht nach Salz schmeckte, wehte herein. Sie kam sich vor wie ein Kind, das heimlich der Unterhaltung von Erwachsenen lauscht, einem Elternteil und dem Lehrer vielleicht, die über seine schulischen Leistungen sprachen. Keiner der beiden Männer hatte sie bemerkt.

«Hast du Nachrichten gesehen?», fragte Dan.

James schüttelte den Kopf. «Ich komme gerade von einem lettischen Containerschiff. Hab mich in Hull nur kurz abgemeldet und bin direkt nach Hause gefahren.»

«Dann hat Emma dir auch nichts gesagt?»

«Sie interessiert sich nicht sonderlich für die Nachrichten.»

«Jeanie Long hat Selbstmord begangen. Ihr Antrag auf Bewährung wurde erneut abgelehnt. Das war vor ein paar Tagen. Sie haben die Meldung ein paar Tage zurückgehalten.»

James stand da, den Autoschlüssel in der Hand. Er hatte immer noch seine Uniform an und sah auf eine altmodische Weise flott aus, als gehörte er der Zeit an, in der das Haus erbaut worden war. Die Messingknöpfe an seiner Jacke schimmerten matt im Licht der Laternen. Seine Mütze trug er unter dem Arm. Emma erinnerte sich an die Zeit, als sie noch Phantasien über ihn gehabt hatte.

«Ich glaube nicht, dass sich für Em dadurch viel ändert. Nicht nach all der Zeit. Sie hat Jeanie doch nicht gekannt, höchstens mal gesehen. Und sie war noch sehr jung, als das alles passiert ist.»

«Sie wollen den Fall Abigail Mantel wiederaufnehmen», sagte Dan Greenwood.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Emma fragte sich, woher Dan das alles wusste. Hatten die beiden Männer schon zu anderen Gelegenheiten über sie gesprochen, ohne dass sie es beobachtet hatte?

«Weil Jeanie Long sich umgebracht hat?», fragte James.

«Weil sich ein neuer Zeuge bei der Polizei gemeldet hat. Scheint ganz so, als hätte Jeanie Long die Kleine gar nicht umbringen können.» Er hielt inne. Emma sah, wie er sich mit seinen kräftigen Fingern die Stirn rieb, als versuchte er, die Erschöpfung wegzureiben. Sie fragte sich, weshalb er einen zehn Jahre alten Mordfall so wichtig nahm. Dass er ihn wichtig nahm, dass er darüber nachgegrübelt hatte, spürte sie. Dabei hatte er damals noch nicht einmal hier im Dorf gewohnt. Er ließ die Hände vom Gesicht sinken. Auf seiner Haut waren keine Spuren vom Ton zurückgeblieben. Er musste sich die Hände gewaschen haben, bevor er aus der Schmiede gekommen war. «Eine Schande, dass niemand sich die Mühe gemacht hat, es Jeanie zu erzählen, was?», sagte er. «Sonst wäre sie vielleicht noch am Leben.»

Ein plötzlicher Windstoß schien die beiden Männer auseinanderzuwehen. Dan lief eilig zurück zur Alten Schmiede, um die Türen zu versperren. Der Volvo verriegelte sich mit einem Klicken, das Standlicht leuchtete auf, und James stieg die Treppenstufen zur Eingangstür hoch. Emma trat vom Fenster weg und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Sie hielt den Kleinen sanft im Arm und legte ihn an die andere Brust.

So saß sie noch da, als James hereinkam. Sie hatte eine kleine Lampe eingeschaltet, der Rest des großen Dachzimmers war in Schatten getaucht. Das Baby hatte aufgehört zu trinken, und die Augen waren ihm zugefallen, doch sie hielt es noch an der Brust, und ab und zu nuckelte es im Schlaf. Ein Tropfen Milch lief ihm über die Wange. Sie hatte gehört, wie James unten vorsichtig hin und her ging, dann hatten die Treppenstufen geknarzt. Ruhig und beherrscht saß sie nun da, ein Lächeln auf den Lippen. Mutter und Kind. Wie auf einem Gemälde der holländischen Meister in der Ausstellung, in die er sie geschleppt hatte. Er hatte dort einen Druck für das Haus gekauft, ihn in einen großen, vergoldeten Rahmen gehängt. Ihr Anblick verfehlte seine Wirkung nicht, auch er lächelte nun und sah plötzlich unsagbar glücklich aus. Sie fragte sich, wieso sie sich bloß von Dan Greenwood so angezogen fühlte, der immer ein bisschen schmuddelig wirkte und seine dünnen Zigaretten aus losem Tabak drehte.

Behutsam hob sie den Kleinen in sein Bettchen. Er spitzte die Lippen, als würde er noch nach der Brustwarze suchen, seufzte tief vor Enttäuschung, wachte aber nicht auf. Emma machte die Lasche des wenig kleidsamen Still-BHs wieder zu und wickelte sich in ihren Bademantel. Die Heizung lief, aber in diesem Haus zog es immer. James beugte sich herab, um sie zu küssen, seine Zungenspitze tastete nach ihren Lippen, er war genauso beharrlich wie das Baby beim Stillen. Er hätte gern mit ihr geschlafen, aber sie wusste, dass er sie nicht drängen würde. Nichts war so wichtig für ihn, dass es eine Szene rechtfertigen würde, und in letzter Zeit war sie unberechenbar gewesen. Er wollte doch nicht, dass sie am Ende in Tränen ausbrach. Sanft schob sie ihn von sich weg. Er hatte sich unten ein kleines Glas Whisky eingeschenkt, das er noch in der Hand hielt. Er nahm einen Schluck, bevor er das Glas auf den Nachttisch stellte.

«Alles in Ordnung bei dir?», fragte sie, um die Zurückweisung versöhnlicher zu machen. «Es war so windig heute Abend. Ich habe an dich gedacht, da draußen im Dunkeln mit den hohen Wellen.»

Sie hatte an nichts dergleichen gedacht. Nicht heute Abend. Anfangs, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, da hatte sie von ihm draußen auf dem dunklen Meer geträumt. Doch jetzt war der Zauber irgendwie verflogen.

«Wir hatten Ostwind», sagte er. «Richtung Küste. Hat uns geholfen reinzukommen.» Er lächelte sie liebevoll an, und sie war froh, dass sie das Richtige gesagt hatte.

Langsam zog er sich aus, lockerte die verspannten Muskeln. Er war Lotse. An der Mündung des Humber ging er an Bord der Schiffe und brachte sie sicher in den Hafen von Hull, Goole oder Immingham, oder er lotste sie aus dem Fluss in die Nordsee. Er nahm seine Arbeit sehr ernst, war sich der Verantwortung bewusst, und er war einer der jüngsten auf dem Humber zugelassenen Lotsen. Sie war sehr stolz auf ihn.

Das sagte sie sich nun, doch die Wörter zogen ihr ohne Bedeutung durch den Kopf. Sie versuchte, sich gegen die Panik zu wehren, die in ihr aufkam, seit sie die Männer draußen hatte reden hören. Die Panik schwoll an wie eine riesige Welle, die sich auf dem Meer aus dem Nichts heraus auftürmt.

«Ich habe dich draußen mit Dan Greenwood reden hören. Was war denn so wichtig um diese nachtschlafende Zeit?»

Er saß auf dem Bett. Sein Oberkörper war nackt, überzogen mit feinem blondem Haar. Niemand wäre darauf gekommen, dass er fünfzehn Jahre älter war als sie, so gut hielt er sich in Form.

«Jeanie Long hat sich letzte Woche umgebracht. Jeanie Long, du weißt schon. Ihr Vater war Steuermann auf dem Lotsenboot an der Landspitze. Die Frau, die Abigail erwürgt haben soll.»

Sie wollte ihn anbrüllen: Natürlich weiß ich, wer das ist. Ich weiß mehr über diesen Fall, als du jemals wissen könntest. Doch sie sah ihn nur an.

«Eine schreckliche Geschichte, ein furchtbarer Zufall. Dan sagt, ein neuer Zeuge hätte sich gemeldet. Der Fall ist wiederaufgenommen worden. Jeanie wäre vielleicht freigesprochen worden.»

«Woher weiß denn Dan Greenwood das alles?»

Er antwortete nicht. Sie kam zu der Überzeugung, dass er schon wieder an etwas anderes dachte, an eine tückische Strömung vielleicht, ein überladenes Schiff, einen feindseligen Kapitän. Er machte seinen Gürtel auf und erhob sich, um aus der Hose zu steigen. Sorgfältig legte er sie zusammen und hängte sie in den Schrank.

«Komm ins Bett», sagte er. «Schlaf ein bisschen, solange es geht.» Abigail Mantel und Jeanie Long hatte er wohl schon wieder vergessen.

Kapitel zwei

Zehn Jahre lang hatte Emma versucht, den Tag zu vergessen, an dem sie Abigails Leiche gefunden hatte. Jetzt zwang sie sich dazu, sich zu erinnern, es wie eine ihrer Geschichten zu erzählen.

Es war November, und Emma war fünfzehn. Gewitterwolken verdüsterten die Landschaft, die nur noch aus Schlick und sturmzerzausten Bohnenstängeln bestand. Emma hatte in Elvet nur eine Freundin gefunden. Sie hieß Abigail Mantel. Sie hatte feuerrotes Haar. Ihre Mutter war an Brustkrebs gestorben, als Abigail sechs war. Emma, die heimlich davon träumte, dass ihr Vater starb, war bestürzt, als sie merkte, dass sie ein wenig neidisch auf das Mitgefühl war, das man Abigail deshalb entgegenbrachte. Abigail wohnte nicht in einem feuchten, zugigen Haus, und sie wurde auch nicht jeden Sonntag in die Kirche geschleppt. Abigails Vater war so reich, wie man es sich nur vorstellen konnte.

 

Emma fragte sich, ob das die Geschichte war, die sie sich damals erzählt hatte, aber sie konnte sich nicht erinnern. Woran erinnerte sie sich überhaupt, wenn sie an jenen Herbst dachte? An den riesigen schwarzen Himmel und den Wind, der immer Sand mit sich trug und ihr das Gesicht wund scheuerte, wenn sie auf den Schulbus wartete. Daran, wie wütend sie auf ihren Vater war, weil er sie alle hierher gebracht hatte.

Und an Abigail Mantel, schillernd wie ein Filmstar, mit ihrem nicht zu bändigenden Haar und den teuren Klamotten, mit ihrem Getue und dem Schmollmund. Abigail, die in der Schule neben ihr saß und bei ihr abschrieb und sich voller Verachtung für all die Jungs, die sie anhimmelten, das Haar in den Nacken warf. Zwei so gegensätzliche Erinnerungen: eine kalte, ausgebleichte Landschaft und eine Fünfzehnjährige, die so farbenfroh leuchtete, dass einem ganz warm wurde, wenn man sie nur ansah. Solange sie lebte, natürlich. Als sie tot war, hatte sie genauso eisig ausgesehen wie der gefrorene Graben, in dem Emma sie fand.

Emma zwang sich, an genau diesen Augenblick zu denken. Das war sie Abigail schuldig, wenigstens das. Im Zimmer des Hauses jenes holländischen Kapitäns schniefte das Baby, James atmete ruhig und gleichmäßig, und sie folgte noch einmal ihren Fußspuren entlang eines Bohnenfelds und gab sich alle Mühe, sich an das zu erinnern, was wirklich geschehen war. Und wenigstens dieses eine Mal nichts dazuzudichten.

 

Der Wind blies so heftig, dass sie den Atem stoßweise hinauspressen musste, beinahe so, wie man ihr später beibringen sollte, während der Wehen zu atmen. Nirgends ein Ort, um sich unterzustellen. In der Ferne wurde der Horizont von einer jener lächerlich riesigen Kirchturmspitzen zerteilt, die ein Merkmal der Grafschaft waren, aber der Himmel erschien ihr gewaltig, und sie stellte sich vor, dass sie der einzige Mensch darunter war.

«Was hast du denn da gemacht, allein draußen im Sturm?», sollte die Kommissarin sie später fragen, ganz freundlich, so als wolle sie es wirklich wissen und die Frage sei gar nicht Teil der Ermittlungen.

Doch als sie jetzt neben ihrem Mann lag, wusste Emma, dass diese Erinnerung, die Erinnerung an ihre Mutter und die Kommissarin, die in der Küche ihres Elternhauses saßen, ein Ausweichmanöver war. Abigail hatte Besseres verdient. Sie hatte die ganze Geschichte verdient.

 

Es war an einem Sonntag im November, spätnachmittags, vor zehn Jahren. Emma kämpfte sich gegen den Wind voran, auf die kleine Senke in der Landschaft zu, wo die umgebaute Kapelle stand, in der die Familie Mantel lebte. Sie war aufgebracht und wütend. Wütend genug, um an einem so scheußlichen Nachmittag aus dem Haus zu stürmen, obwohl es bald dämmern würde. Während sie das Feld entlanglief, tobte sie in Gedanken an ihre Eltern, an die Ungerechtigkeit, einen Vater zu haben, der uneinsichtig und tyrannisch war oder ihr jedenfalls so vorkam, seit sie älter wurde. Warum konnte er nicht so sein wie die Väter anderer Mädchen? Wie Abigails Vater zum Beispiel? Warum sprach er wie eine Gestalt aus der Bibel, sodass es, wenn man ihn in Frage stellte, war, als stellte man die Autorität der Bibel selbst in Frage? Warum fühlte sie sich ihm gegenüber immer schuldig, auch wenn sie überhaupt nichts falsch gemacht hatte?

Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Flintstein und stolperte. Tränen und Rotz verschmierten ihr das Gesicht. Einen Augenblick lang blieb sie, wie sie war, auf Händen und Knien. Beim Versuch, sich abzufangen, hatte sie sich die Handflächen aufgeschürft, aber hier unten, näher am Boden, konnte sie wenigstens einfacher atmen. Dann dachte sie, wie lächerlich sie doch aussehen musste, aber an einem Nachmittag wie diesem war wohl kaum noch jemand unterwegs, der sie sehen konnte. Der Sturz hatte sie wieder zur Vernunft gebracht. Am Ende würde sie ja doch nach Hause gehen und sich dafür entschuldigen müssen, dass sie sich so aufgespielt hatte. Je eher, desto besser.

Neben dem Feld verlief ein Entwässerungsgraben. Als sie sich wieder hochrappelte, packte der Sturm sie erneut mit ganzer Kraft, und sie wandte sich gegen den Wind. Und da blickte sie in den Graben und sah Abigail. Die Jacke erkannte sie zuerst – eine blaue Steppjacke. Emma hatte auch so eine haben wollen, doch ihre Mutter war entsetzt gewesen, als sie gesehen hatte, wie teuer die war. Abigail erkannte Emma nicht. Sie glaubte, dass es jemand anders sein müsse, dass Abigail ihre Jacke einer Cousine oder Freundin geliehen habe, jemandem, den Emma nicht kannte. Dieses Mädchen hier hatte ein hässliches Gesicht, und Abigail war nie hässlich gewesen. Und sie war auch nie so still gewesen, Abigail redete pausenlos. Dieses Mädchen hier hatte eine geschwollene Zunge und blaue Lippen und würde nie wieder reden. Nie wieder flirten oder sticheln oder spotten. Das Weiß der Augen war rot gesprenkelt.

Emma war wie erstarrt. Sie sah sich um und erblickte ein schwarzes Stück Plastik, an dem der Wind zerrte, es sah aus wie eine riesige Krähe, die über dem Bohnenfeld flatterte. Und dann tauchte wie durch ein Wunder ihre Mutter auf. Emma, die bis zum Horizont blicken konnte, hätte fast glauben können, ihre Mutter sei der einzige andere lebende Mensch im ganzen Dorf. Sie kämpfte sich auf dem Trampelpfad zu ihrer Tochter vor, das ergrauende Haar unter die Kapuze ihres alten Anoraks gesteckt, Gummistiefel unter dem Sonntagsrock. Das Letzte, was Robert gesagt hatte, als Emma aus der Küche stürzte, war: «Lass sie ruhig gehen. Einmal muss sie es ja lernen.» Er war nicht laut geworden. Er hatte ganz geduldig gesprochen, sogar freundlich. Mary tat immer, was Robert ihr sagte, und der Anblick ihrer Gestalt gegen den grauen Himmel, pummeliger noch als sonst, so dick hatte sie sich gegen die Kälte eingepackt, erschreckte Emma fast ebenso sehr wie der Anblick von Abigail Mantel, die im Graben lag. Denn nach ein paar Sekunden hatte Emma eingesehen, dass es tatsächlich Abigail war. Niemand sonst hatte solche Haare. Während sie darauf wartete, dass ihre Mutter zu ihr kam, liefen ihr die Tränen über das Gesicht.

Als sie auf ein paar Yards herangekommen war, breitete ihre Mutter die Arme aus, damit Emma ihr entgegenlief. Emma fing an zu schluchzen, stoßweise und erstickt, sodass sie kein Wort herausbrachte. Mary hielt sie fest und strich ihr die Haare aus dem Gesicht, so wie früher, als sie noch in York gewohnt hatten, als Emma noch ein Kind war und hin und wieder Albträume hatte.

«Nichts ist es wert, dass man sich so darüber aufregt», sagte Mary. «Was immer auch passiert ist, wir bringen das wieder in Ordnung.» Was sie meinte, war: Du weißt doch, dass dein Vater nur tut, was er für richtig hält. Wenn wir es ihm erklären, wird er es schon verstehen.

Dann zog Emma sie zu dem Graben und bedeutete ihr, nach unten zu sehen, auf Abigail Mantels Leiche. Sie wusste, dass nicht einmal ihre Mutter das hier wieder in Ordnung bringen konnte.

Erst herrschte entsetztes Schweigen. Es war, als bräuchte auch Mary Zeit, um zu begreifen, was sie da sah, doch dann ertönte ihre Stimme erneut, plötzlich laut und bestimmt: «Hast du sie angefasst?»

Der Schock riss Emma aus ihrer Erstarrung.

«Nein.»

«Wir können jetzt nichts mehr für sie tun. Emma, verstehst du mich? Wir gehen nach Hause und benachrichtigen die Polizei, und es wird uns alles wie ein furchtbarer Traum vorkommen. Aber du bist nicht schuld daran, und es gibt auch nichts, was du hättest tun können.»

Und Emma dachte: Wenigstens lässt sie Jesus aus dem Spiel. Wenigstens erwartet sie nicht, dass mich das trösten soll.

***

Im Schlafzimmer des Captain’s House rüttelte der Wind noch immer an dem undichten Schiebefenster. In Gedanken sprach Emma mit Abigail: Siehst du, ich habe mich der Sache gestellt, ich habe mich an alles erinnert, genau so, wie es passiert ist. Darf ich jetzt schlafen? Doch obwohl sie sich eng an James schmiegte, war ihr kalt. Sie versuchte, ihren Lieblingstraum von Dan Greenwood heraufzubeschwören, stellte sich seine dunkle Haut ganz dicht an ihrer vor, doch selbst das entfaltete keinen Zauber.

Kapitel drei

Was geschehen war, nachdem sie Abigail gefunden hatte, das konnte Emma nicht als eine ihrer Geschichten erzählen. Der Erzählfaden war nicht stark genug. Es war alles zu einem zu großen Kuddelmuddel in ihrem Kopf geworden. Einzelheiten fehlten. Sie hatte damals kaum verstanden, was vor sich ging. Im Schockzustand hatte sie sich auf nichts mehr konzentrieren können. Selbst heute noch tauchte das Bild der kalten, stummen Abigail immer dann vor ihrem inneren Auge auf, wenn sie es am wenigsten erwartete. An jenem Abend, dem Abend, nachdem sie die Leiche gefunden hatte, als sie alle in der Küche von Springhead House saßen, hatte es sich in ihren Gedanken eingenistet, es lähmte ihre Wahrnehmung und ließ alle Fragen wie von sehr weit her kommen. Und es war schuld daran, dass ihre Erinnerungen zusammenhanglos und unzuverlässig waren.

Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie mit ihrer Mutter zurück nach Hause gegangen war, doch sie sah sich am Hintereingang zögern, weil sie ihrem Vater nicht gegenübertreten wollte. Sie hatte es immer schon gehasst, ihn zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich gerade noch eine Standpauke zurechtgelegt, als er sie kommen hörte, doch die vergaß er schnell. Mary nahm ihn beiseite, den Arm um seine Schultern gelegt, und erklärte ihm im Flüsterton, was passiert war. Einen Augenblick lang stand er wie versteinert da. «Nicht hier», sagte er. «Nicht in Elvet.» Er drehte sich um und schloss Emma in die Arme, sodass sie seine Rasierseife riechen konnte. «Niemand sollte so etwas sehen müssen», sagte er. «Nicht mein kleines Mädchen. Es tut mir so leid.» Als wäre er auf irgendeine Weise schuld daran, als hätte er sie davor beschützen müssen. Dann wickelten sie sie in die kratzige Decke, die sie immer zum Picknicken benutzten, und riefen bei der Polizei an. In ihrem Schockzustand hatte sie das Gefühl, dass Robert, nachdem er einmal begriffen hatte, was geschehen war, das Drama ziemlich genoss.

Doch als dann die Kommissarin eintraf, um mit Emma zu reden, merkte er wohl, dass seine Anwesenheit nur störte, und ließ die drei Frauen in der Küche allein. Das musste ihm schwergefallen sein. Robert war in Krisenzeiten immer zur Stelle, er kümmerte sich um alle möglichen Notfälle: um seine Schützlinge, die sich vor seinem Büro die Pulsadern aufschnitten oder psychotische Anfälle bekamen oder die Kaution hatten verfallen lassen und nun auf der Flucht waren. Emma fragte sich, ob er seine Arbeit deshalb so liebte.

Vielleicht war mit der Kommissarin auch noch jemand anders nach Springhead House gekommen, der nun im Nebenzimmer mit Robert sprach, denn hin und wieder, während sie sich abmühte, die Fragen der Kommissarin zu beantworten, meinte Emma, gedämpfte Stimmen zu hören. Doch bei dem Heulen des Windes war das schwer zu sagen. Möglich, dass ihr Vater mit Christopher sprach und sie sich die dritte Stimme nur einbildete. Christopher musste an jenem Tag jedenfalls da gewesen sein.

Mary goss Tee auf in der großen braunen Steingutkanne, und sie setzten sich an den Küchentisch.

«Im Haus ist es so kalt», hob Mary an. «Hier haben wir wenigstens den Herd …» Und ausnahmsweise funktionierte der einmal vorschriftsmäßig und spendete etwas Wärme. Den ganzen Tag über war das Kondenswasser die Fenster heruntergelaufen und hatte auf den Fensterbänken kleine Seen gebildet. Damals kam Mary noch nicht mit dem Herd zurecht und trat ihm jeden Morgen gegenüber, als zöge sie in die Schlacht, wobei sie leise ein Gebet vor sich hin murmelte: Bitte heiz dich heute auf. Bitte geh mir nicht aus. Bitte bleib lange genug heiß, dass ich Essen kochen kann.

Doch der Kommissarin war offenbar immer noch kalt. Sie behielt den Mantel an und umklammerte ihren Teebecher mit beiden Händen. Sie musste Emma vorgestellt worden sein, aber ihr Name war Emmas Gedächtnis entwischt, kaum dass er einmal ausgesprochen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie dachte, die Frau müsse bei der Polizei sein, obwohl sie in Zivil war und so chic gekleidet, dass es Emma sofort aufgefallen war. Unter dem Mantel trug sie einen dezent figurbetonten, knöchellangen Rock und braune Lederstiefel. Die ganze Befragung hindurch versuchte Emma krampfhaft, sich zu entsinnen, wie die Frau hieß, die schließlich die einzige Verbindung der Familie zur Polizei werden und sie über neue Entwicklungen in dem Fall informieren sollte, damit sie sie nicht erst aus der Zeitung erfahren mussten.

Die Kommissarin – Kate? Cathy? – saß noch kaum, da stellte sie schon diese Frage: «Was hast du denn da gemacht, allein draußen im Sturm?»

Es war so schwierig zu erklären. Emma konnte ja schlecht sagen: Na ja, es war halt Sonntagnachmittag. Obwohl ihrer Meinung nach keine weitere Erklärung nötig gewesen wäre. An den Sonntagen waren sie oft so gereizt, alle waren daheim und versuchten, eine mustergültige Familie zu sein. Es gab nicht viel, was man nach der Kirche noch unternehmen konnte.

An jenem Sonntag war es schlimmer gewesen als sonst. Emma hatte durchaus ein paar gute Erinnerungen an die gemeinsamen Mahlzeiten in Springhead House, Gelegenheiten, bei denen Robert aufgeräumt und mitteilsam war und Witze erzählte, über die sie sich vor Lachen kugelten, oder bei denen ihre Mutter über ein Buch, das sie gerade las, ins Schwärmen geriet. Dann schien es fast so, als kehrten die guten Zeiten, die sie in York verlebt hatten, zurück. Doch das war, bevor Abigail ums Leben kam. Das Mittagessen an jenem Sonntag markierte einen Wendepunkt, einen Stimmungsumschwung, jedenfalls kam es Emma später so vor. Sie erinnerte sich mit erstaunlicher Klarheit daran: Sie saßen alle vier am Tisch, Christopher war schweigsam und wie üblich vollkommen in seine eigenen Unternehmungen versunken, Mary teilte mit einer Art verzweifelter Energie das Essen aus, wobei sie unentwegt redete, Robert war ungewöhnlich still. Emma nahm sein Schweigen als gutes Zeichen auf und flocht ihre Frage ganz beiläufig ins Gespräch ein. Fast hoffte sie, dass er sie gar nicht hören würde.

«Es ist doch okay, wenn ich später noch zu Abigail gehe, oder?»

«Mir wäre es lieber, du bleibst hier.» Er sprach ganz ruhig, doch sie ging in die Luft.

«Wieso denn?»

«Es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn du einmal einen Nachmittag mit deiner Familie verbringst.»

Das fand sie so ungerecht! Sie verbrachte jeden Sonntag eingepfercht in diesem schrecklichen, feuchten Haus, während ihre Freundinnen sich trafen und etwas unternahmen. Und noch nie hatte sie einen Aufstand gemacht.

Sie half ihm beim Abwasch, wie sonst auch, doch ihre Wut nahm nur weiter zu, schwoll an wie ein Fluss, der sich hinter einem Damm aufstaut. Als ihre Mutter später hereinschaute, sagte sie: «Ich gehe jetzt zu Abigail. Ich komme nicht so spät zurück.» Sie sagte es zu Mary, nicht zu ihm. Und dann stürmte sie an ihnen vorbei, ohne auf die flehentlichen Bitten ihrer Mutter zu achten.

All das kam ihr dumm und bedeutungslos vor, nun da sie wusste, dass Abigail tot war. Der Tobsuchtsanfall einer Zweijährigen. Und als dann ihre Mutter neben ihr saß und die schicke Frau sie ansah und auf etwas wartete, konnte sie ihren Frust und ihr Bedürfnis, da rauszukommen, kaum noch erklären.

«Mir war langweilig», sagte sie schließlich. «Sonntagnachmittag, Sie wissen schon.»

Die Kommissarin nickte, offenbar verstand sie das.

«Abigail war der einzige Mensch, den ich kenne. Auf der Straße sind es ein paar Meilen. Es gibt eine Abkürzung über die Felder.»

«Wusstest du denn, ob Abigail zu Hause sein würde?», fragte die Kommissarin.

«Ich habe sie Freitagabend im Jugendzentrum getroffen. Sie hat gesagt, sie will ihrem Vater am Sonntag was ganz Besonderes zum Essen kochen. Weil sie ihm dankbar ist.»

«Wofür war sie ihrem Vater denn dankbar?» Doch Emma hatte den Eindruck, dass die Kommissarin die Antwort darauf schon kannte oder zumindest eine Vermutung hatte. Aber woher denn? Wann hätte sie das denn herausfinden sollen? Vielleicht war es ja nur diese Aura der Allmacht, die sie umgab.

«Dafür, dass er Jeanie Long gebeten hat auszuziehen, sodass sie das Haus wieder für sich allein haben.»

Und da nickte die Kommissarin wieder, zufrieden, als wäre sie eine Lehrerin und Emma hätte eine Prüfungsfrage richtig beantwortet.

«Und wer ist Jeanie Long?», fragte sie, und erneut hatte Emma das Gefühl, dass sie die Antwort schon kannte.

«Das war die Freundin von Mr Mantel. Sie hat bei ihnen gewohnt.»

Die Kommissarin notierte sich etwas in einem Buch, sagte aber nichts dazu.

«Erzähl mir alles über Abigail, was du weißt.»

Emma war kein bisschen aufsässig mehr, das hatte der Schock ihr ausgetrieben. Sie wollte einen guten Eindruck machen und fing sofort an zu reden. Zu erzählen gab es schließlich mehr als genug, wenn man einmal damit anfing.

«Abigail war meine beste Freundin. Als wir hierhergezogen sind, war es echt schwer, so anders, wissen Sie. Wir waren an die Stadt gewöhnt. Abigail hat die meiste Zeit ihres Lebens hier gewohnt, aber sie hat auch nicht so richtig hierhergepasst.»

Wenn die eine einmal bei der anderen übernachtet hatte, dann hatten sie darüber gesprochen, wie viel sie doch gemein hätten. Dass sie Seelenverwandte seien. Doch selbst damals hatte Emma gewusst, dass das nicht stimmte. Sie waren beide Außenseiter, mehr nicht. Abigail, weil sie keine Mutter mehr hatte und ihr Vater ihr jeden Wunsch erfüllte. Emma, weil sie aus der Stadt kam und ihre Eltern vor dem Essen ein Tischgebet sprachen.

«Abigail und ihr Dad wohnten ganz allein. Na ja, bis Jeanie einzog, und Abigail konnte sie nicht ausstehen. Sie haben jemanden, der für sie putzt und kocht, aber die wohnt in einer Wohnung über der Garage, und das zählt ja nicht so richtig, oder? Abigails Vater ist ein Geschäftsmann.»

Dieses Wort beschwor für Emma noch immer den gleichen Zauber herauf wie damals, als sie es zum ersten Mal gehört hatte. Sie musste dabei an das große, elegante Auto denken, mit den Ledersitzen, mit dem sie manchmal von der Schule abgeholt wurden, an Abigail, die sich feingemacht hatte, um mit ihrem Vater und seinen Geschäftsfreunden essen zu gehen, an den Champagner, den Keith Mantel an ihrem fünfzehnten Geburtstag aufgemacht hatte. An den Mann selbst, so gewandt, charmant und aufmerksam. Aber das konnte sie der Frau nicht erklären. Für die war «Geschäftsmann» bestimmt einfach nur ein Beruf. So wie «Bewährungshelfer» oder «Priester».

«Weiß Abigails Vater es schon?», fragte Emma plötzlich mit einem flauen Gefühl im Magen.

«Ja», sagte die Kommissarin. Sie sah sehr ernst aus, als sie das sagte, und Emma fragte sich, ob sie wohl diejenige war, die es ihm mitgeteilt hatte.

«Sie waren sich so nahe», murmelte Emma, aber sie spürte, wie unzulänglich diese Worte waren. Sie sah Vater und Tochter vor sich, wie sie sich in dem märchenhaften Haus auf dem Sofa aneinanderkuschelten und über eine Serie im Fernsehen lachten.

 

Sie musste der Kommissarin bei jenem ersten Zusammentreffen noch mehr über Jeanie Long erzählt haben, darüber, wieso Abigail sie nicht hatte ausstehen können, doch die Einzelheiten wollten ihr einfach nicht mehr einfallen, als sie jetzt neben James im Bett lag. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, Christopher vor dem späten Abend noch einmal im Haus gesehen zu haben. Christopher war mittlerweile wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, er erforschte das Brutverhalten der Papageientaucher und verbrachte jedes Jahr einige Monate auf den Shetlandinseln. Damals war er ihr kleiner Bruder gewesen, eigenbrötlerisch und auf enervierende Weise aufgeweckt.

Aber war er immer schon so unnahbar gewesen? Vielleicht hatte er sich damals ja auch verändert, obwohl er das Drama nur aus zweiter Hand miterlebt hatte, und ihre Erinnerung trog sie. War er seit dem Umzug nach Elvet so in sich gekehrt und ernsthaft gewesen oder erst nach Abigails Tod? Nach all den Jahren konnte sie das nicht mehr beurteilen. Sie fragte sich, wie viel von jenem Tag er wohl noch wusste und ob er mit ihr darüber reden würde.

Auf jeden Fall war er in York aufgeschlossener gewesen, und … sie hielt in Gedanken inne, zögerte, das Wort zu benutzen, sogar ganz im Stillen: aufgeschlossener und normaler. Sie erinnerte sich an einen lebhaften kleinen Jungen, der mit seinen Freunden durchs Haus tobte und mit einem Plastikschwert herumfuchtelte oder im Auto auf dem Rücksitz saß und über einen Witz lachte, den er aus der Schule kannte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Sie war sich jetzt sicher, dass er an dem Tag, an dem Abigail ums Leben kam, auch da gewesen war. Er hatte keinen seiner einsamen Spaziergänge unternommen. Später, als die Kommissarin gegangen war, saßen sie gemeinsam in seinem Zimmer auf dem Dachboden, von dem aus man über die Felder blicken konnte. Der Wind riss eine Lücke in die Wolken, und es war Vollmond. Sie sahen dem emsigen Treiben auf dem Bohnenfeld zu, das Suchlicht der Scheinwerfer brachte seltsame Schatten hervor, die Männer dort unten sahen sehr klein aus. Christopher zeigte auf zwei von ihnen, die sich mit einer Tragbahre durch den Matsch kämpften.

«Das ist sie bestimmt.»

Dann stolperte einer der beiden Träger und fiel auf ein Knie, und die Bahre kippte besorgniserregend. Emma und Christopher sahen sich an und stießen ein peinlich berührtes Kichern aus.

 

Die Kirchturmuhr schlug zwei. Der Kleine schrie im Schlaf auf, als hätte er schlecht geträumt. Emma nickte ein, und dann erinnerte sie sich, ganz als würde sie selbst schon träumen: Die Kommissarin hatte Caroline geheißen. Caroline Fletcher.

Kapitel vier

Im Anfang war das Wort. Selbst als Teenager hatte Emma das nicht buchstäblich geglaubt. Wie konnte es ein Wort geben ohne jemanden, der es aussprach? Es war unmöglich, dass das Wort als Erstes kommen sollte. Es hatte ihr auch nie jemand richtig erklären können. Nicht in den Predigten, die sie sonntagmorgens in den gemeinsam mit der Familie besuchten Gottesdiensten über sich ergehen ließ. Nicht an den trostlosen Abenden im Konfirmationsunterricht.

Ihrer Meinung nach bedeutete der Satz: Im Anfang war die Geschichte. Die Bibel bestand nur aus Geschichten. Was sollte also sonst dahinterstecken? Und auch in ihrem eigenen Leben konnte sie nur dann einen Sinn in etwas entdecken, wenn sie eine Geschichte daraus machte.

Je älter sie wurde, desto ausgefeilter wurden die erträumten Geschichten – aber waren sie denn erträumt?

Es war einmal eine Familie. Eine ganz gewöhnliche Familie. Die Winters. Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Sie wohnten am Stadtrand von York in einem hübschen Haus in einer baumbestandenen Straße. Im Frühling waren die Bäume voller rosa Blüten, und im Herbst färbten die Blätter sich golden. Robert, der Vater, war Architekt. Mary, die Mutter, arbeitete Teilzeit in der Universitätsbibliothek. Emma und Christopher gingen in die Schule am Ende der Straße. Sie trugen eine Schuluniform mit kastanienbraunem Blazer und grauer Krawatte.

Und während sie sich das nun erzählte, sah Emma den Garten des Hauses in York vor sich: eine Mauer aus rotem Backstein, an die sich eine Reihe Sonnenblumen schmiegte, die Farben so leuchtend, dass ihr fast die Augen wehtaten. Christopher hockte neben einem Terrakottakübel, in dem Lavendel wuchs, in seinen zu einer Kugel geformten Händen hielt er einen Schmetterling gefangen. Sie konnte den Lavendel riechen, und sie hörte auch die aus einem offenen Fenster aufsteigenden Töne einer Flöte, die das junge Mädchen spielte, das gelegentlich vorbeikam, um auf sie aufzupassen.

Nie wieder werde ich so glücklich sein. Der Gedanke war ungebeten aufgetaucht, aber sie konnte nicht zulassen, dass er Teil der Erzählung wurde. Das war zu schmerzlich. Also fuhr sie mit der Geschichte so fort, wie sie immer erzählt wurde …

Dann fand Robert zu Jesus, und alles wurde anders. Er sagte, er könne nicht mehr als Architekt arbeiten. Er gab das alte Büro mit den hohen Fenstern auf und studierte noch einmal, um Bewährungshelfer zu werden.

«Wieso nicht Pfarrer?», hatte Emma gefragt. Zu jener Zeit gingen sie schon regelmäßig zur Kirche. Sie glaubte, er würde ein guter Pfarrer sein.

«Weil ich mich dazu nicht berufen fühle», hatte Robert gesagt.

In York könne er nicht als Bewährungshelfer arbeiten. Es sei ihm nicht bestimmt, dort zu bleiben, und überhaupt fehle das Geld, um das große Haus in der ruhigen Straße zu halten. Also zogen sie nach Osten, nach Elvet, wo das Land flach war und Bewährungshelfer gebraucht wurden. Mary kündigte bei der Universität und nahm einen Job in einer winzigen öffentlichen Bücherei an. Auch wenn sie die Studenten vielleicht vermisste, sagte sie doch nichts. Jeden Sonntag ging sie mit Robert in die Dorfkirche und sang genauso laut mit wie er. Was sie von ihrem neuen Leben in dem zugigen Haus inmitten von Bohnenfeldern und Schlick hielt, das wusste Emma nicht.

Aber auch das war nicht die ganze Geschichte. Selbst mit fünfzehn wusste Emma, dass es nicht alles sein konnte. Robert war doch nicht einfach in einem Augenblick wundersamer Erleuchtung und rauschender Zimbelklänge zu Jesus bekehrt worden. Dem war etwas vorausgegangen. Etwas hatte ihn verändert. In den Büchern, die sie las, gab es für alles einen Grund. Wie unbefriedigend war es, wenn die Geschehnisse aus heiterem Himmel hereinbrachen, zufällig, ohne jede Erklärung. Es musste etwas passiert sein in Roberts Leben, ein Trauma, eine Krise. Er hatte nie darüber gesprochen, und so stand es ihr frei, sich ihre eigene Erklärung auszudenken, ihre eigene Geschichte.

 

Es war Sonntag, und sonntags ging die Familie immer gemeinsam zum Abendmahlsgottesdienst in die Kirche auf der anderen Seite des Platzes. Nach Matthews Geburt war Emma ein paar Wochen zu Hause geblieben, doch einen Monat nach der Entbindung kam Robert bei ihnen vorbei. Es war am späten Vormittag, unter der Woche, sie war überrascht, ihn zu sehen.

«Solltest du nicht bei der Arbeit sein?», fragte sie.

«Ich bin unterwegs nach Spinney Fen und habe noch reichlich Zeit, einen Kaffee zu trinken und nach meinem kleinen Enkel zu schauen.»

Spinney Fen war das Frauengefängnis mit den hohen Betonmauern auf dem Kliff neben den großen Gastanks. Ein paar seiner Schützlinge saßen dort, rückfällig gewordene Frauen, um die er sich in der Gemeinde gekümmert hatte, und andere, die unter Auflagen entlassen werden sollten. Emma hasste es, an Spinney Fen vorbeizufahren. Oft war das Gefängnis ganz in den Nebel gehüllt, der vom Meer aufstieg, und es sah aus, als reichten die Betonmauern endlos hoch in die Wolken. Als sie nach Elvet gezogen waren, hatte sie anfangs Albträume gehabt, in denen er durch das schmale Metalltor hineinging und nie wieder herausgelassen wurde.

Sie machte ihm einen Kaffee und ließ ihn Matthew im Arm halten, doch die ganze Zeit über fragte sie sich, was er wirklich von ihr wollte. Als er ging, blieb er auf der Türschwelle kurz stehen.

«Sehen wir dich Sonntag wieder in der Kirche? Mach dir wegen dem Kleinen keine Sorgen. Wenn er schreit, kannst du jederzeit mit ihm rausgehen.»

Und natürlich war sie am darauffolgenden Sonntag da gewesen, denn seit Abigail Mantels Ermordung besaß sie nicht mehr den Willen, sich ihm zu widersetzen. Sich überhaupt jemandem zu widersetzen. Und er hatte immer noch eine Art an sich, die ihr Schuldgefühle machte. Ein Teil von ihr glaubte, dass die Geschichte vielleicht anders verlaufen wäre, hätte sie an jenem Sonntag vor zehn Jahren nicht gegen ihn aufbegehrt. Wäre sie nicht da gewesen, um die Leiche zu finden, wäre Abigail vielleicht nicht ums Leben gekommen.

Robert und Mary waren immer schon vor Emma und James in der Kirche. Robert war Gemeindevorsteher in St. Mary Magdalene, er trug, wenn es so weit war, selbst ein weißes Chorhemd und reichte den Wein aus dem großen silbernen Kelch. Emma war sich nicht ganz sicher, was er in der halben Stunde vor Beginn der Messe eigentlich tat. Er verschwand in der Sakristei. Vielleicht musste er dort noch etwas vorbereiten, vielleicht betete er. Mary ging immer in die kleine Küche des Gemeindesaals hinüber, um den Wasserkocher einzuschalten und die Kaffeetassen für hinterher aufzubauen. Dann stellte sie sich neben die Tür in der Kirche und teilte Gesangbücher aus. Solange Emma noch bei ihren Eltern wohnte, war von ihr erwartet worden, dass sie half.

James war kein bisschen religiös gewesen, als Emma ihn kennenlernte. Sie hatte das Thema bei ihrem ersten Rendezvous angesprochen, nur um sicherzugehen. Sogar jetzt, dachte sie, glaubte er nicht wirklich an Gott oder an irgendetwas, an das er zu glauben behauptete, wenn er das Glaubensbekenntnis sprach. Er war der nüchternste Mensch, der ihr je begegnet war. Wenn er vom Aberglauben der ausländischen Seeleute sprach, mit denen er bei der Arbeit zu tun hatte, lachte er nur. Er ging aus demselben Grund gern zur Kirche, aus dem er so gern im Captain’s House wohnte. Es brachte eine Tradition zum Ausdruck, eine gediegene Bürgerlichkeit. Er selbst hatte keine Familie mehr, auch das hatte ihn so anziehend gemacht. Oft beschlich Emma das Gefühl, dass er Robert und Mary näherstand als sie selbst, jedenfalls fühlte er sich in der Gesellschaft der beiden deutlich wohler.

Sie kamen verspätet zur Kirche. Die Story von Jeanies Selbstmord stand auf der Titelseite der Sonntagszeitung. Ihr ins Leere starrendes Gesicht hatte vom Fußabtreter zu Emma emporgeschaut und sie vor Schreck erstarren lassen. Dann erbrach sich Matthew, gerade als sie aus dem Haus wollten, auf seine Kleider, und schließlich hasteten sie über den Platz wie Kinder, die zu spät zur Schule kommen. Als ein plötzlicher Schauer einsetzte, hüllte Emma den Kleinen unter ihren Mantel, um ihn vor dem Regen zu schützen. Ihr war klar, dass sie dadurch wieder schwanger aussah. Ein paar Reporter, die vor der Kirche standen und rauchten, eilten zu ihren Autos.

Das erste Lied hatte schon angefangen, und sie folgten dem Pfarrer und den drei alten Damen, aus denen der Chor bestand, den Mittelgang entlang und bildeten so den unwürdigen Abschluss einer ohnehin durcheinandergewürfelten Prozession. Mary rückte auf, um sie auf ihre gewohnten Plätze vorn beim Altar zu lassen. Emma stolperte über die riesige Patchwork-Tasche, die ihre Mutter immer dabeihatte und die zwischen den Reihen stand.

Erst nachdem sie einen Augenblick lang auf den Knien Atem geschöpft hatte, was als Gebet durchging, und wieder stand, um die letzte Strophe mitzusingen, fiel ihr auf, dass die Kirche besser besucht war als sonst. So voll waren die Kirchenbänke für gewöhnlich nur bei einer Taufe, wenn, wie ihr Vater sie bissig nannte, «die Heiden» kamen. Aber heute wurde niemand getauft, und außerdem kannte sie die meisten Gesichter. Es waren keine fremden Leute, die die Kirche füllten, vielmehr sah es so aus, als hätte sich jeder im Dorf die Mühe gemacht zu erscheinen. In Elvet sorgten schlechte Neuigkeiten immer für Aufregung. Wenn man Jeanie Longs Selbstmord denn als schlechte Neuigkeit betrachten konnte.

Die arthritisgeplagte Organistin schloss gerade mit einem wackeligen Akkord, als die Tür noch einmal aufging. Der Wind musste sich dahinter gefangen haben, denn die Tür schlug mit lautem Knall zu, und die Gemeinde drehte sich missbilligend um. Ganz hinten in der Kirche stand Dan Greenwood neben einer dicken, äußerst unattraktiven Frau. Obwohl Emma bei seinem Anblick die übliche Erregung durchzuckte, war sie doch enttäuscht, Dan zu erblicken. Sie hatte ihn noch nie in der Kirche gesehen und geglaubt, er würde das Ganze verachten. Was seine Kleidung betraf, hatte er allerdings keine Zugeständnisse gemacht, er trug immer noch die Jeans und den Kittel vom Vorabend. Die Frau hatte ein mit lila Blümchen übersätes sackartiges Kleid und eine flauschige lila Strickjacke an und trug trotz der Kälte flache Ledersandalen an den Füßen. So, wie sie da standen, ging etwas Unheilvolles von ihnen aus, und einen Augenblick lang erwartete Emma eine Bekanntmachung, die Aufforderung, die Kirche wegen eines Feuers oder einer Bombendrohung zu räumen. Selbst der Pfarrer zögerte kurz und sah zu den beiden hinüber.

Die Frau war jedoch ganz gefasst, sie schien die Aufmerksamkeit sogar zu genießen. Sie nahm Dan beim Arm und zog ihn in eine Bank. Die Vertrautheit dieser Geste stieß Emma auf. In was für einem Verhältnis stand sie zu ihm? Sie war zu jung, um seine Mutter zu sein, keine zehn Jahre älter als er. Aber so unattraktiv, wie sie war, konnten die beiden unmöglich eine Liebesbeziehung haben. Emma mochte noch so unsicher sein, doch sie zweifelte nicht daran, dass sie attraktiv war. Und es stand außer Frage, dass James ihr nie einen Antrag gemacht hätte, wenn sie fett gewesen wäre oder Pickel gehabt hätte. Während des restlichen Gottesdienstes hörte Emma die Stimme der Frau bei den Liedern und Responsorien deutlich heraus. Sie sang hell, laut und ziemlich falsch.

In der Predigt wurde Jeanie Long nicht erwähnt, und Emma dachte, dass der Pfarrer vielleicht gar nicht von dem Selbstmord erfahren hatte, doch in den Gebeten für die Verstorbenen tauchte ihr Name auf, zusammen mit Elsie Hepworth und Albert Smith. Während Emma, Matthew auf dem Schoß, in der Bank saß und auf die gesenkten Köpfe der knienden Gemeinde niederblickte, versuchte sie, vor ihrem inneren Auge ein Bild von Jeanie aufzurufen. Sie hatte sie nur ein einziges Mal im Haus der Mantels gesehen. Jeanie hatte auf dem Flügel gespielt, den Keith für Abigail gekauft hatte, als diese ein flüchtiges Interesse an Klavierstunden an den Tag gelegt hatte. Eine hochgewachsene, dunkelhaarige junge Frau, sehr konzentriert und ernst über die Tasten gebeugt. Dann war Keith hereingekommen, sie hatte sich umgedreht, und ihre Züge hatten sich zu einem Lächeln entspannt. Jeanie musste damals jünger gewesen sein als Emma heute, gerade mit dem Studium fertig.

Der Gottesdienst war nun beim Abendmahl angekommen. Robert stand in seinem weißen Chorhemd neben dem Pfarrer vorn beim Altar. Mary war die Erste, die Brot und Wein empfing, dann eilte sie in die Küche, um löslichen Kaffee in Thermoskannen zu löffeln. Die arthritische Organistin kämpfte sich zu ihrem Platz zurück und spielte etwas Sanftes und Melancholisches. Im Mittelgang hatte sich eine Schlange gebildet. Emma gab den Kleinen James, der sich trotz Roberts unermüdlicher Überzeugungsversuche nie hatte konfirmieren lassen, und stellte sich in die Reihe. Vor ihr stand ein großer, gebeugt gehender Mann in einem glänzenden grauen Anzug, der ihm zu weit war. Er gehörte nicht zu den regelmäßigen Kirchgängern, doch sie meinte, ihn im Dorf schon gesehen zu haben. Er hatte allein in einer Bank gesessen, und niemand war auf ihn zugegangen, was ungewöhnlich war. Die Damen der Pfarrgemeinde rühmten sich doch, alle Fremden willkommen zu heißen.

Die Schlange bewegte sich langsam vorwärts. Der Mann kniete sich unbeholfen hin, und sie kniete sich neben ihn, wobei sie plötzlich den durchdringenden Geruch nach Mottenkugeln wahrnahm. Es war lange her, dass dieser Anzug das letzte Mal getragen worden war. Der Mann streckte seine zu einer Schale geformten Hände aus, um die Oblate entgegenzunehmen. Sie waren rissig und braun, wie aus Holz geschnitzt und sehr kräftig, obwohl er mindestens sechzig sein musste. Der Pfarrer fing seinen Blick auf und schenkte ihm ein kleines, anerkennendes Lächeln. Dann kam Robert mit dem Kelch, er wischte den Rand mit einem weißen Tuch sauber. Der Mann streckte automatisch die Hand aus, um den Kelch zu stützen, bevor er ihn an den Mund hob. Dann blickte er hoch, in Roberts Gesicht, und ein Schock des Wiedererkennens durchzuckte ihn. Als Robert weitertrat zu ihr, spuckte der Mann den Mundvoll Wein in seine Richtung. Das weiße Chorhemd war voller roter Spritzer von dem schweren, süßen Wein. Wie Blut, dachte Emma, das aus einer Wunde sickert. Die Frau an Emmas anderer Seite zog hörbar die Luft ein vor Sensationslust, die sie als Schrecken zu tarnen versuchte. Der Pfarrer hatte nichts gemerkt, und Robert tat, als sei nichts geschehen. Der Mann sprang auf, und anstatt sich wieder in seine Bank zu setzen, lief er den Mittelgang hinunter und verließ die Kirche.

Das Ganze war sehr schnell vor sich gegangen, und bestimmt hatte man es, verborgen von den stehenden Gläubigen, vom Hauptschiff aus nicht sehen können. Doch als der Mann an ihr vorbeiging, sprang Dan Greenwoods Begleiterin auf und folgte ihm hinaus.

Kapitel fünf

Nach der Kirche gingen sie zu Robert und Mary zum Mittagessen. Das gehörte unumstößlich dazu, wie die Lesung des Apostelbriefs und die Tageslosung. Emma sah es nicht ein, dass ihre Mutter, die nach dem Gottesdienst noch eine Stunde lang Kaffee ausschenkte und Geschirr abwusch, sich daheim gleich wieder auf ihre hausfraulichen Tätigkeiten stürzen sollte. Mary behauptete, es würde ihr Spaß machen, doch die Mary, an die sie sich aus York erinnerte, war alles andere als eine Hausfrau gewesen. Damals hatten sie eine Putzhilfe gehabt und waren oft auswärts essen gegangen. Emma konnte sich noch an ein nettes italienisches Restaurant erinnern, an lange Sonntagnachmittage mit Nudeln und Eis und daran, dass sie und ihre beschwipsten Eltern erst in der Dämmerung nach Hause gingen.

James brachte immer ein paar ganz ordentliche Flaschen Wein mit zum Essen. Emmas Ansicht nach brauchte er den Alkohol, um die Kälte abzuwehren und die Langeweile zu betäuben. Doch als sie einmal vorschlug, sich eine Entschuldigung auszudenken und nicht hinzugehen, wollte er davon nichts hören.

«Ich mag deine Eltern. Dein Vater ist ein interessanter und intelligenter Mensch, und deine Mutter ist ganz bezaubernd. Du kannst von Glück sagen, dass sie so hinter dir stehen.»

Nach dieser versteckten Zurechtweisung brachte sie das Thema nicht mehr zur Sprache.

Springhead House war kantig und grau und lag am Rande des Dorfes. Früher war es ein Hof gewesen, doch das Land war verkauft worden. Vor diesem Haus hatten sie damals gestanden, als sie aus York weggezogen waren. Robert hatte siegreich gestrahlt. Während seiner Ausbildung zum Sozialarbeiter hatten sie all ihre Ersparnisse aufgebraucht, und er hätte nie geglaubt, dass er etwas so Geräumiges finden würde, das auch noch bezahlbar war. Das Gutachten, in dem vor allem auf die hochsteigende Feuchtigkeit und die Holzwürmer in den Dachbalken hingewiesen wurde, schlug er in den Wind und behauptete steif und fest, dies sei der Ort, an den die Vorsehung die Familie geführt habe. Emma sagte sich, dass es so am besten sei. In einer Doppelhaushälfte in einer Neubausiedlung konnte sie ihn sich nicht vorstellen, sein Ego würde eine solche Enge nicht aushalten, mochte es auch ungerecht sein, das so zu sagen. Und ohne sein Wohlwollen ging es ja schließlich doch nicht.

Von Christophers altem Zimmer unterm Dach aus sah man noch immer auf das Feld, auf dem Abigails Leiche gelegen hatte. Der Ausblick hatte sich nicht verändert. Das flache Land befand sich so nah an der Küste, dass es nicht weiter erschlossen werden durfte. Erst kürzlich hatte die Umweltbehörde vor Überflutungen gewarnt, womöglich sei sogar die ganze Halbinsel gefährdet und könne weggespült werden.

Als sie nach Springhead House hinausfuhren, regnete es wie aus Kübeln, es war so duster, dass sie die Scheinwerfer anmachen mussten. Die Gräben standen voll Wasser, und in der Mitte der Fahrbahn hatte sich ein Bach gebildet. Sie saßen in James’ Volvo. Robert und Mary waren schon vorausgefahren.

«Wer war denn bloß diese schreckliche Frau, die Dan dabeihatte?», fragte James. Er mochte Schönes um sich herum. Nach Emmas Ansicht war dies auch der Grund dafür, dass er ihre derzeitigen Launen ertrug.

«Keine Ahnung. Ich habe sie noch nie gesehen.»

«Vielleicht hat er geschäftlich mit ihr zu tun. Sie würde doch gut in einen Kunstgewerbeladen passen. In Harrogate vielleicht oder in Whitby.»

«Ja, das stimmt.» Manchmal war sie von seinen scharfsinnigen Schlussfolgerungen geradezu überrascht – in solchen Momenten hatte sie ihn am liebsten. «Aber bestimmt in Whitby. Für Harrogate ist sie nicht chic genug.» Sie machte eine Pause. «Glaubst du, dass Dan deshalb in der Kirche war? Ihr zuliebe? In der Hoffnung, einen Verkauf abzuschließen? Das klingt aber schon ziemlich merkwürdig. Und gar nicht nach ihm. Er wirkt immer so geradeheraus. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendwem etwas vorspielt, um sein Ziel zu erreichen.»

«Nein.» James drosselte den Wagen auf Schrittgeschwindigkeit. Ein Graben war übergelaufen, und ein torfiger Sturzbach rauschte quer über die Straße. «Ich glaube, er hat Jeanie Long gekannt. Gestern Abend kam er mir ganz schön betroffen vor, als er über ihren Selbstmord sprach. Manchmal ist die Kirche wohl der richtige Ort, selbst wenn einem der Glaube fehlt.»

«Könnte sein, dass er Jeanie gekannt hat.» Emma war skeptisch, doch sie wollte den Gedanken nicht einfach abtun. Es war schon lange her, dass sie so miteinander gesprochen hatten, so ungezwungen. «Er ist zwar erst danach nach Elvet gezogen, aber sie war ja auch weg, zum Studieren. Als sie bei Keith Mantel einzog, hatte sie gerade erst ihren Abschluss gemacht. Dan könnte ihr begegnet sein, als sie noch studiert hat, aber ich habe keine Ahnung, wie und wo.»

James ging nicht auf ihre Vermutungen ein. «Dan hat gemeint, der Selbstmord könnte dich aufregen.»

«Ich habe sie doch gar nicht gekannt. In der Kirche habe ich darüber nachgedacht, ich habe sie überhaupt nur einmal gesehen.» Sie zögerte. «Ist dir klar, dass es fast auf den Tag zehn Jahre her ist, dass Abigail Mantel ums Leben kam? Eine schreckliche Übereinstimmung. Oder glaubst du, sie war sich dessen bewusst und hat es geplant? Eine dramatische Geste, um den Jahrestag zu begehen?»

«Kann schon sein», sagte James nach einer Weile. «Ich war schon immer der Überzeugung, dass Selbstmord etwas sehr Selbstsüchtiges ist. Die Hinterbliebenen leiden doch am meisten.»

So vertraut, wie sie miteinander redeten, war sie versucht, ihm von dem Mann zu erzählen, der seinen Abendmahlswein auf Robert gespuckt hatte, aber es kam ihr noch immer so ungeheuerlich vor, dass sie sich nicht dazu durchringen konnte. James bog in den holprigen Weg ein, der zwischen zwei riesigen Feldern schnurgerade aufs Haus zuführte, und sie saß schweigend neben ihm.

Robert stand in der Küche vor dem Herd. Seine durchnässte Hose dampfte. Emma forschte nach einem Anzeichen dafür, dass der Vorfall beim Abendmahl ihn ebenfalls erschüttert hatte, doch er sagte mit einem feinen Lächeln: «Wir haben Miss Sanderson nach Hause gefahren. Ich habe ihr nur aus dem Wagen geholfen und war schon patschnass.»

«Geh und zieh dich um, Liebling. Du wirst dich noch erkälten.» Mary war dabei, das Gemüse zuzubereiten, und er stand ihr im Weg. Trotz seiner verantwortlichen Stellung in der Kirche und bei der Arbeit behandelte sie ihn manchmal wie ein Kind.

Robert schien sie nicht zu hören und trat nur vom Herd weg, um ihnen allen ein Glas Sherry einzuschenken. Emma stellte den Kleinen in seinem Sitz auf den Boden und deckte ihn gut zu. Mary hob den verkratzten gusseisernen Deckel vom Ofen, um die Herdplatte frei zu legen. Plötzlich wurde es wärmer in der Küche. Sie bückte sich, hievte eine Kasserolle aus dem Ofen und schob sie auf die Herdplatte. Das Essen begann zu brodeln. Mary war vor Hitze und Anstrengung ganz rot im Gesicht. Sie hatte ihr dünnes graues Haar nach hinten gebunden, und Emma dachte, sie sollte es sich schneiden lassen, vielleicht sogar färben. Bei einer Frau in Marys Alter sah ein Pferdeschwanz einfach lächerlich aus. Mary legte ein Geschirrtuch um den Deckel der Kasserolle und hob ihn ab, um den Inhalt umzurühren. Es roch nach Lamm und Knoblauch und Tomaten, und mit einem Mal war Emma sich sicher, dass sie genau dieses Gericht an dem Tag gegessen hatten, an dem Abigail ermordet wurde. Unvermittelt sah sie zu ihrer Mutter hinüber, erwartete, dass auch sie sich erinnerte, aber Mary lächelte nur, erleichtert, dass der Herd heiß genug geblieben und das Fleisch gut geschmort war, und Emma kam sich töricht vor. Sie fragte sich, ob ihr Verstand ihr wohl Streiche spielte. Ihre Phantasien wirkten immer so echt.

Zu dieser Jahreszeit aßen sie in der Küche. Im Esszimmer gab es keinen Kamin, und obwohl das Haus Nachtspeicheröfen besaß, waren die morgens gerade mal lauwarm und bis zum Abend wieder kalt. Emma deckte den Tisch, glitt zurück in die familiäre Routine, ihre Hände fanden das Besteck und die Gläser wie von selbst. Es war, als ob sie nie weg gewesen wäre. Dabei hatte sie doch, genau wie Jeanie Long, jahrelang studiert. Hätte sie James nicht kennengelernt und geheiratet, wäre sie wohl nie wieder hierher zurückgekommen. Ob das insgeheim der Grund dafür war, dass sie so viel an ihm auszusetzen hatte?