Orestes lässt die Sau raus - Jürgen Brater - E-Book

Orestes lässt die Sau raus E-Book

Jürgen Brater

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Beschreibung

Zwei schräge Jungs, ein bildhübsches Mädchen, ein struppiger Hund und ein rotes VW-Cabrio, Baujahr 1962. Unterwegs in Deutschland. Um jede Menge Quatsch zu machen, aber auch, um sich gnadenlos zu rächen. Orestes Popp-Meyer, 16-jähriger Gymnasiast, wagt nicht, gegen seinen despotischen Großvater aufzumucken, dem er seinen skurrilen Namen verdankt. Doch alles ändert sich, als er Tjark Jankena kennenlernt, einen unbekümmerten Tunichtgut und begnadeten Zielpinkler. Gemeinsam reißen die beiden von zu Hause aus und stürzen sich in ein turbulentes Abenteuer, in dem ein Gag den anderen jagt. Ein furioser Roadmovie-Roman und zugleich die Geschichte einer tiefen Freundschaft.

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Jürgen Brater

Orestes lässt die Sau raus

Ein Roadmovie-Roman

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Klotränen

Nennök negnirb kcilbtiew rednlegnam dnu tiehruts nenie nihow, rüfad leipsieb sehcsissalk nie teteib trauts airam.

Ein echt cooler Schlusssatz!

Zugegeben, nicht ganz easy, aber für einen Deutschlehrer ja wohl kein echtes Problem. Schon gar nicht für einen, der die ganze Zeit von »schriftstellerischer Inspiration« labert, der uns ungefähr tausend Mal in der Woche vorbetet, beim Schreiben »nicht immerzu dieselben ausgetretenen Wege zu gehen. O-Ton Dr. Heinze: »Fantasie und Inspiration, Kreativität und Innovation – das sind die Dinge, die einen Sprachkünstler von einem profanen Schreiberling unterscheiden.«

Da gibt es bei meinem Aufsatz über Schillers Maria Stuart doch wirklich nichts zu meckern. Da muss ihn die geistige Leistung, alle Sätze von hinten nach vorn zu schreiben, doch glatt umhauen. Schließlich ist das deutlich schwieriger, als nur jedes einzelne Wörter zu verdrehen. Und den ganzen Text mit dem Ende zu beginnen und mich Zeile für Zeile nach vorne zu arbeiten, habe ich ihm ja nicht mal zugemutet. Obwohl das logisch noch viel kreativer und innovativer gewesen wäre.

»Also, ich versteh’ dich nicht«, mault Heinze und knallt mein Aufsatzheft mit einem angeekelten Gesichtsausdruck vor mir auf den Tisch, als wäre es gebrauchtes Klopapier. »Welcher Teufel hat dich denn da geritten?«

»Eine … eine Fünf?« Mehr kriege ich nicht raus.

Heinze zuckt mit den Schultern. »Selber schuld. Eigentlich eine glatte Sechs. Die eine Note besser kannst du dir als Bonus für deine Mühe gutschreiben.« Er schüttelt den Kopf, dass seine weißen Haare in alle Richtungen fliegen. »Sonst schreibst du lauter Einser und Zweier ... Nein wirklich, das verstehe, wer will.«

Ich bin irrsinnig enttäuscht. Und stinksauer. Spüre, wie der Zorn auf den kleinkarierten Klugscheißer mir den Magen zuschnürt, wie er mir die Brust einklemmt und sich als zäher Schleim auf meine Stimmbänder legt. »Aber ...«, krächze ich wie ein Papagei im Stimmbruch. »Ja, aber …«

Heinze zieht die faltige Stirn noch krauser. »Was aber?«

»Fantasie und ... und …Krea …«. Die Wörter bleiben mir im Hals stecken, meine Augen werden nass. »Ach, nichts.« Und noch bevor ich einen halbwegs klaren Gedanken fassen kann, springe ich auf und stürme aus dem Klassenzimmer.

Klar, dass Heinze »HALT, HIERGEBLIEBEN! WAS SOLL DAS?« hinter mir herkreischt. Aber das geht mir in diesem Moment so was von am Arsch vorbei! Mit in der Hosentasche geballten Fäusten schlappe ich Richtung Jungenklo, schließe mich in eine Kabine ein, krame mein Handy raus und rufe Tjark an.

Und während ich auf der miefigen Schüssel seine Nummer wähle, geht mir durch den Kopf, dass Großpap natürlich schon längst Bescheid weiß. Früher war er an unserem Gymnasium Lehrer, aber seit ungefähr elf Jahren ist er pensioniert. Hat Latein und Geschichte gegeben. Und als Wahlfach natürlich sein heiß geliebtes Griechisch. Heinze hat es mit Sicherheit nicht versäumt, dem Exkollegen das niederschmetternde Ergebnis seines missratenen Enkels gleich nach dem Korrigieren aufs Brot zu schmieren. Und der hat sich darüber mit Sicherheit tierisch aufgeregt, durfte aber blöderweise nichts verraten. Hatte also an seinem Zorn ein paar Tage zu kauen wie an einem zähen Stück Fleisch, das man nicht runterkriegt, aber auch nicht ausspucken kann.

Der Gedanke tröstet mich ein bisschen.

 

»Na, du Leepisser«, meldet sich Tjark in seiner gewohnt einfühlsamen Art.

Ich kann nicht antworten, muss erst ein schleimiges Gemisch aus Rotz und Tränen runterwürgen. Doch gerade, als ich den Mund aufmachen will, höre ich, wie die Tür zum Jungenklo aufgeht. Vielleicht einer aus meiner Klasse, den Heinze hinter mir hergeschickt hat? Aber dann höre ich jemanden empört »He, bist du hier? Was soll der Blödsinn!« schnauben und weiß, dass es der Pauker selbst ist. Dem geht voll die Muffe! Hat Angst, ich könnte durchdrehen und man würde ihm dafür die Schuld geben.

»Was is'n los?«, höre ich Tjarks blecherne Stimme aus dem Handy. »Mensch, sag doch was.«

Schnell stopfe ich das Teil in die Hosentasche. Tjark ist jetzt zweitrangig. Denn Heinze ist gerade dabei, eine Klokabine nach der anderen aufzureißen. Gleich hat er mich am Wickel!

Da bleibt nur die Flucht nach vorn. Ich stöhne laut auf, ächze gequält »Ooh, ooh«, schiebe noch ein »Not… Notarzt« nach und lasse mich wie ein nasser Sack gegen die Kabinenwand plumpsen. Dann mache ich keinen Mucker mehr.

Prompt höre ich ihn an der Tür zu meinem Scheißhaus rütteln. »Was ist denn los? Mensch, mach doch auf!«

Ich schnaufe nur schwer und ächze wie ein Hundertjähriger in den letzten Zügen. Dazwischen höre ich aus meiner Hosentasche wie von weit her Tjarks Stimme. Aber der muss warten.

Heinze klingt jetzt echt verzweifelt: »O Gott, o Gott, wer konnte denn ahnen … War doch nur …«

Dann höre ich, wie er aus dem Lokus stürmt und die Tür hinter sich zuknallt. Das ist meine Chance. Nichts wie weg jetzt! Ich reiße Kabinen- und Klotür auf und spähe kurz den Flur rauf und runter. Niemand zu sehen! Ruckzuck bin ich draußen und presche den Gang runter. Als ich um die Ecke Richtung Treppe spurte, renne ich fast Dr. Spilling, unseren Musiklehrer, über den Haufen. »Hallo«, rufe ich im Vorbeispurten über die Schulter zurück und knalle prompt gegen das Aquarium vor dem Sekretariat. »Scheiße!« Durch meine Hüfte schießt ein stechender Schmerz. Aber um den kann ich mich jetzt genauso wenig kümmern wie um die Skalare und Guppys, die sich vorkommen müssen wie im Wellenbad. Drei Stufen auf einmal nehmend, stürme ich die Treppe runter. Unten höre ich noch, wie irgendwer irgendwas hinter mir herkreischt, kann aber nicht verstehen, was. Die Eingangstür aufreißen, rausspringen und um die nächste Ecke verschwinden, dauert nur wenige Sekunden. Vorsichtshalber blicke ich mich noch mal um, aber da ist weit und breit kein Mensch. Puh, das war knapp!

Ich japse nach Luft und trotte langsam die Straße runter. Dabei fingere ich mein Handy aus der Tasche und drücke auf den obersten Eintrag der Anrufliste.

»Was war'n los?«, meldet sich Tjark.

»Erzähl' ich dir später. Hab’ die Schnauze gestrichen voll.«

»Na endlich, wurde auch Zeit. Schätze, dein Rückwärtsaufsatz war ein Flop? Voll die Arschkarte gezogen, hä?«

›Ist doch allein deine Schuld!‹ will ich ihn schon anblöken, ›schließlich stammt die bescheuerte Idee von dir!‹ Doch dann sage ich mir, dass das jetzt auch schon egal ist und beiße mir auf die Zunge. »Du weißt, was das heißt. Hab’ absolut keine Lust, mich von dem Alten zur Sau machen zu lassen.«

»Kann ich nachvollziehen. Hätte ich auch nicht«. Kurze Pause. »Ich mein’, wenn ich einen Alten hätte.« Dann: »Lass uns abhauen!«

»Abhauen?«

»Ja, mal so richtig die Sau rauslassen.«

»Aber …«

»Mein Gott! Aber erstens ist doch noch Schule …, aber zweitens hab’ ich kein Geld …, aber drittens wird sich meine Mutter Sorgen machen ... Sonst noch was?«

Ich schüttle schweigend den Kopf.

»Erstens«, fährt er, nachdem er vernehmlich tief durchgeatmet hat, fort, »sind in drei Wochen große Ferien, da passiert doch eh nichts Wichtiges mehr. Zweitens hab’ ich ausreichend Kohle für uns beide. Und drittens: Soll sie doch!«

»Wegen Großpap wär mir’s ja wurscht«, wende ich lahm ein. »Aber meine Mutter …«

Dass ich zu meinem Großvater mütterlicherseits seit ich denken kann »Großpap« sage, liegt daran, dass ich meinen Vater immer nur »Pap« genannt habe. Weil ich als kleines Kind komischerweise das Schluss-A nicht hingekriegt habe. Und zu »Pap« passt »Großpap« nun mal perfekt. Dazu kommt, dass der griesgrämige Zausel jede Diskussion über seine Entscheidungen mit einem scharfen »PAPPERLAPAPP!« abzuwürgen pflegt. Wenn der Alte einen Facebook-Account hätte, ich würde mich mit Sicherheit nicht als seinen Freund outen.

Einigermaßen auszuhalten ist er eigentlich nur, wenn er hackevoll ist. Das ist er zum Glück ziemlich oft. Und was trinkt einer, für den Griechenland der Nabel der Welt ist? Natürlich Metaxa! Literweise. Meine Brüder und ich schenken ihm zu jeder halbwegs passenden Gelegenheit ein paar Flaschen: zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Allerseelen, zu seinem eigenen oder Omas Geburtstag, zu ihrem gemeinsamen Hochzeitstag, Omas Todestag und so weiter. Das Geld ist echt gut angelegt.

»Ach Quatsch!«, unterbricht Tjarks Handystimme meine trüben Gedanken. »Hat deine Mutter jemals zu dir gehalten? Nur ein einziges Mal dem Herrn Studienprofessor a. D. Kontra gegeben? Erspar dir die Antwort. Nee, hat sie nicht. Also, was is'?«

 

Offi

Ich habe Tjark vor etwas mehr als einem Jahr kennengelernt, bei einer Geburtstagsparty meines Klassenkameraden Maximilian. Mit einer Menge Alkopops im Blut, die die Eltern des Geburtstagskindes für Fruchtsaft hielten. Ich probierte gerade, im parkartigen Garten hinter dem noblen Schuppen ein welkes Blatt von einem Busch zu pissen, als ich hinter mir plötzlich eine Stimme hörte: »So word dat nix!«

Ich fuhr herum, wobei ich mir über beide Hände pinkelte, und sah hinter mir einen Jungen, Typ wie ein Bär und ungefähr mein Alter, der mit konzentrierter Miene dabei war, seinen Pimmel aus dem Hosenschlitz zu schälen.

»Ich zeig’ dir mal, wie man das macht«, erklärte er großspurig und brachte sich neben mir in Stellung. Dabei drückte er sein Teil mit Daumen und Zeigefinger fest zusammen, hielt die Luft an und presste drei, vier Sekunden lang. Schließlich zielte er sorgfältig, richtete die Mündung mit einem genuschelten »Seitenwind, also vorhalten« ein bisschen weiter nach rechts und drückte ab. Das Blatt hatte keine Chance. Wie vom Strahl eines voll aufgedrehten Gartenschlauchs getroffen, flog es davon.

»Winkel und Wucht«, dozierte der Meisterschütze, während er seine Waffe sichtlich zufrieden wieder einpackte. »Die beiden entscheidenden Kenngrößen der Ballistik.« Er lächelte mich mit einem beseelten Ausdruck fachmännischer Überlegenheit an. »Und immer auf den Wind achten.« Dabei streckte er mir die Hand entgegen. »Ich bin Tjark.«

»Wer?«, entfuhr es mir, während ich die mächtige Pranke schüttelte.

»Tjark wie Quark, mit T statt QU. Wie in ›Tja dann‹ oder ›Tja nun‹.«

»Ich sag’ aber immer ›Ja dann‹ und ›Ja nun‹.«

Er winkte ab, als verscheuche er eine lästige Fliege. »Mach das, wie du willst. Aber auf Jark hör' ich nicht.«

»Also Tjark«, sagte ich und bemühte mich, das Anfangs-T knallen zu lassen. »Und wie weiter?«

»Jankena, diesmal ohne T. Ostfriesischer Name. Und du?«

Klar, die Frage musste kommen. Früher oder später kommt sie immer. Ich holte tief Luft, blickte Tjark Jankena so fest ich konnte in die Augen und verkündete feierlich: »Ich heiße Orestes. Komplett Orestes Popp-Meier. Mit Bindestrich nach dem Popp.«

Ich rechnete fest damit, dass er in kreischendes Lachen ausbrechen, »Ohne Scheiß?« keuchen oder zumindest scharf die Luft einziehen würde. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen blickte er mir gleichmütig ins Gesicht und murmelte: »Se tbig seremmilsch.«

In diesem Moment wusste ich, dass ich einen neuen Freund hatte. »Tsednif ud?«, fragte ich grinsend zurück

Während er sich mit offenem Mund erfolglos bemühte, sein Erstaunen unter Kontrolle zu bringen, antwortete er: »Aj, ednif chi. Wer im Glashaus sitzt, soll bekanntlich nicht mit Eiern werfen.«

»Steinen«, fiel ich ihm ins Wort und hätte mir im selben Moment am liebsten die Zunge abgebissen. Großpap ließ grüßen. Scheiß-Besserwisserei!

»Hä?«

»Ach, nichts.«

»Steine? Wieso Steine?«

»Weil das Sprichwort …« Ich winkte ab. »Vergiss es.«

»Na ja, in so was war ich noch nie gut.«

»War es das, was du mir sagen wolltest?«

»Nee.« Er kratzte sich ausgiebig am Hinterkopf. »Jetzt hab' ich den roten Faden verloren.«

Wortlos schluckte ich das ›rot‹. Na, also. »Es ging um das Glashaus.«

»Ach ja, richtig. Ich mein', wer Tjark Jankena heißt, soll bei anderen komischen Namen brav das Maul halten.«

»Wieso komisch?«

»Findest du nicht?«

»Doch.« Ich schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Saukomisch sogar.«

»Auf welches Gymnasium …?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln und merkte im selben Augenblick, wie überheblich das klang. Abrupt klappte ich den Mund zu.

Doch Tjark schien kein bisschen verlegen oder gar gekränkt zu sein. »Auf gar keins. Hab' eine Lehre angefangen.«

»Angefangen?«

»Ja, direkt nach der Hauptschule. Und Anfang zweites Jahr gleich wieder hingeschmissen. Kurz bevor ich mit meiner Mutter hergezogen bin.«

»Wie kommst du dann zu Maximilians Feier?«

»Zu Fuß.« Er lachte laut auf. »Nein, im Ernst: Ich wohn' im Nachbarhaus. Genauer gesagt, meine alte Dame wohnt da.«

»In der Villa da drüben? Mit dem schmiedeeisernen Tor?«

»Ja, ohne Scheiß. Da staunst du, was?« Er zog ein Plastikdöschen aus der Brusttasche seines Hemdes, ließ reichlich schwarzes Pulver auf seinen Handrücken rieseln und sog es sich geräuschvoll in beide Nasenlöcher. »Du auch?«

Ich schüttelte den Kopf.

Tjark wischte sich über Oberlippe und Nase und anschließend den Handrücken an seiner Hose ab. »Meine Mutter hat das Haus geerbt. Von einer steinreichen Tante. Wusste gar nicht, wie ihr geschah, als sie so von einem Tag auf den anderen Besitzerin des bombastischen Anwesens wurde. Und dazu noch von einem satten Batzen Geld. Deshalb sind wir hergezogen.«

»Aus Ostfriesland?«

»Ja, aus Weener. In der Nähe von Leer.«

»Und was macht deine Mutter so?«

»Nichts.« Tjark kicherte leise in sich hinein, aber sein Kichern klang alles andere als fröhlich. »Hängt den ganzen Tag rum, schaut Glotze, liest ab und zu einen Groschenroman und säuft. Wein, Bier, Schnaps, was gerade im Haus ist. Und macht alle paar Nächte einen Zug durch irgendwelche Kneipen.«

»Und du?«

»Die gute Tante war so schlau, auch mir ein hübsches Sümmchen zu vermachen. Kohle, an die meine Mutter nicht rankommt. Der lieben Verblichenen war offenbar vollkommen klar, dass ich von dem Zaster keinen Cent sehen würde, wenn ihn meine Alte in die Finger bekäme.« Wieder genehmigte er sich eine mächtige Ladung Schnupftabak. »Du willst noch immer nicht?«

Ich schüttelte stumm den Kopf. »Und deine Lehre?«

»Hab' mich nicht mehr drum gekümmert. Hab', ehrlich gesagt, auch gar keinen Bock dazu. Vielleicht später mal. Wohn' ja erst ein halbes Jahr hier.«

»Hier heißt in dem Nobelschuppen, oder?«

»Nicht ganz. Hinten im Garten steht eine Holzhütte. War früher scheint's das heimliche Liebesnest der guten Tante. Die hab' ich ein bisschen auf Vordermann gebracht und mich darin eingenistet. Hab' keine Lust, meine Mutter alle Naslang nachts mit irgendwelchen Männern rummachen zu hören.«

»Und sie macht dir keine Vorschriften? Kontrolliert dich nicht? Ich mein', wo du dich rumtreibst, wann du heimkommst und so?«

»Nee, nicht wirklich. Die ist froh, wenn ich sie in Ruhe lasse. Ab und zu macht sie mir was zu essen. Und manchmal, wenn sie gut drauf ist, wäscht sie sogar meine Klamotten.«

»Und dein Vater?«, fragte ich der Ordnung halber. Dabei konnte ich mir die Antwort schon denken.

»Gibt's nicht. Oder besser gesagt, kenn' ich nicht. Hat meine Mutter geschwängert, als sie noch nicht mal achtzehn war. Und sich dann aus dem Staub gemacht. Weiß nicht mal, wie er heißt. Und will's auch gar nicht wissen.« Er hüstelte verlegen und räusperte sich dann ausgiebig. »Und du? Du lebst sicher in total behüteten Verhältnissen. Mit Eltern, die dich hätscheln und verwöhnen. Und irgendwann machst du Abi und übernimmst den väterlichen Betrieb. Stimmt's?«

»Wohnen, na ja«, antwortete ich. »Hätscheln und verwöhnen, nein. Abi, vielleicht. Betrieb, ganz sicher nicht.«

Tjark nickte bedächtig. »Komm, wir geh'n wieder rein.«

Auch im Sitzen war Tjark fast einen Kopf größer als ich. Obwohl ich kein Zwerg bin, musste ich zu ihm aufschauen wie ein Erstklässler zu seinem Vater. Zudem war er mit seinem breiten Oberkörper und den muskulösen Armen, die die Ärmel seines T Shirts wölbten, ein richtiger Kasten. Verglichen mit ihm war ich voll dürr, oder wie mein älterer Bruder immer sagt, »ein Duschstrahlhüpfer«. Tjark hat ein kantiges Gesicht, meines ist eher länglich, eine auffallend knubbelige Nase, meine ist eher spitz, und kurze blonde Haare, nach hinten gekämmt, viel Gel. Meines ist dunkelbraun und total kraus und lockig. Das Einzige, was wir äußerlich gemeinsam haben, sind unsere Brillen: meine allerdings ziemlich groß, rund und randlos, Tjarks dagegen dunkelblau, klein und eckig. Also, kurz gesagt: Tjark sieht eindeutig besser aus als ich, da beißt die Maus keinen Faden ab. Nur in einem Punkt liege ich klar vorn: Ich habe stechend blaue Augen, von meinem Vater geerbt. Carla, die blöde Tussi aus der Parallelklasse, hat mal spitz bemerkt, so tolle Augen in einem so langweiligen Gesicht, das wäre wie geile Alufelgen an einem alten Rostkübel.

Auf Tjarks hellblauem T-Shirt, unter dem er ausgewaschene Jeans und grau-weiße, reichlich schäbige Sneakers trug, prangte quer über die Brust die Aufschrift »Offi!«, in roter Schreibschrift mit einem Ausrufezeichen dahinter.

»Ach, das heißt ja gar nicht Ossi«, sagte ich, nachdem ich die Sache aus der Nähe betrachtet hatte.

Tjark grinste. »Nee, Offi. Kurzform für ›Ostfriese‹. Obwohl, das ist natürlich auch im Osten.«

»Isses nicht.«

»Hä?«

»Ostfriesland liegt in Niedersachsen.«

»Wenn du's sagst.«

»Im äußersten Nordwesten von Deutschland.« War das jetzt schon wieder schulmeisterlich? Ach was, egal.

Tjark schüttelte energisch den Kopf. »Laber doch keinen Scheiß. Dann müsste es ja Westfriesland heißen.«

»Das liegt in Holland. Heißt aber nur Friesland.«

»Und warum heißt Ostfriesland dann Ostfriesland?«

»Frag' mich was Leichteres. Vermutlich, um es von Nordfriesland zu unterscheiden. Das liegt …«

»Auch in Holland?«

»Nee, in Schleswig-Holstein.«

»Und Südfriesland?«

»Gibt's nicht. Obwohl ich glaub' mal gelesen hab', dass die Holländer den südlichen Teil von Friesland so nennen.«

»Von Ostfriesland?«

»Nee, von ihrem Friesland. Dem holländischen.«

Tjark tippte sich ein paar Mal an die Stirn. »Total bescheuert. Und …?« Er kaute eine Weile nachdenklich am Daumennagel herum. »Und wie nennen sie dann den Ostteil?«

»Keine Ahnung. Vermutlich Ostfriesland.«

»Ha, jetzt hab' ich dich!« Er lachte so laut auf, dass die Gespräche in unserer Umgebung schlagartig verstummten und alle Köpfe sich uns zudrehten.

»Wie? Was?«

»Du hast doch gesagt, Ostfriesland gehört zu Deutschland und nicht zu Holland.«

»Ja, stimmt ja auch.«

»Und gerade hast du behauptet, das wäre in Holland. Was denn nun?«

Ich winkte ab. »Lass gut sein.«

Merkwürdigerweise gab er sich damit zufrieden. »Okay. Ist ja auch scheißegal, wie die Käsköppe zu ihrem Land sagen.« Er schenkte sich und mir einen »Fruchtsaft« ein. »Hast du eigentlich Geschwister?« Bevor ich antworten konnte, setzte er hastig hinzu: »Ich nicht. Zumindest keine, von denen ich wüsste.«

»Zwei Brüder. Ares ist eineinhalb Jahre älter als ich und Hermes knapp drei Jahre jünger.«

»Und du bist?«

»Sechzehn.«

»Ich siebzehn. Wem habt ihr denn diese abgedrehten Namen zu verdanken?«

»Na, wem wohl? Meinem Großvater natürlich.« In kurzen Worten erzählte ich ihm, dass meine Eltern geschieden sind, dass Mam mit uns Jungs jetzt bei Großpap lebt, und dass der mal Lehrer war. »Der steht total auf alles Antike, vor allem auf die ollen Griechen. Platon, Perikles, Euripides und so. Hat deshalb auch einen mächtigen Rauschebart. Bei seinen Schülern hieß er früher nur Sokrates.«

»Hab' ich schon mal gehört, den Namen.«

»Griechischer Philosoph. Fünftes vorchristliches Jahrhundert.«

»Puh«, machte Tjark. »Das hast du so locker flockig im Kopf?«

Ich winkte ab. »Bleibt bei so einem Klugscheißer von Großvater gar nicht aus.«

»Und der hat dir und deinen Brüdern die blöden, äh … ich mein' ungewöhnlichen Namen verpasst? Ist so was nicht Sache der Eltern?«

»Meine Mutter hat mir mal erzählt, dass sie am Anfang ihrer Ehe vorn und hinten keine Kohle hatten. Mein Vater hat noch studiert, sie war schwanger. Da hat der Alte ihnen wohl aus der Klemme geholfen. Unter der Bedingung, dass sie möglichst bald heirateten.«

»Was hat er denn studiert, dein Vater?«, fragte Tjark dazwischen.

»Medizin. War Narkosearzt hier am Krankenhaus. Hat da wohl die ganze Zeit mit den Krankenschwestern rumgemacht. Behauptet meine Mutter jedenfalls. Na ja, ist ja jetzt wurscht.«

Tjark zuckte die Schultern. »War bei meinem Alten ähnlich. Und eure Namen?«

»Der zweite Teil der Bedingung. Ich geb' euch Zaster, wenn ihr mir dafür einen Gefallen tut.«

»Ah, ich glaub', jetzt kapier' ich.« Tjark tippte sich an die Stirn. »Griechische Namen für die zukünftigen Kids, richtig?«

»Genau. Großpap beklagt sich nämlich die ganze Zeit, dass sich kein Schwein mehr für die ›klassische Antike‹ interessiert. Dass keiner mehr Homer liest. Dass … Na ja, da dachte er eben, es wäre eine geniale Idee, seinen Enkeln altgriechische Namen aufs Auge zu drücken.«

Tjark grinste schief. »Und deine Mutter?«

»Unterrichtet Erst- und Zweitklässler. Mehr schlecht als recht, wenn du mich fragst.«

Er wechselte abrupt das Thema: »Sag mal. Hast du an so was wie querdenken Spaß?«

»Sag bloß, du auch?«

Er nickte eifrig. »Sozusagen mein Hobby.«

»Was ist das?«, fragte ich. »Englisches Mädchen nach offen

gesprochenem Exbundeskanzler?«

»Exbundeskanzler?«

»Na, einer, der früher mal Kanzler war.«

Tjark zog die Stirn kraus. »Also ehrlich, da kenn ich mich nicht besonders aus. Scheel vielleicht?«

»Nee, der war Präsident. Ich helf' dir: Helmuth Kohl.«

»Ach, der. So ein großer, dicker, stimmt’s?«

»Ognib!«

»Kohl? Offen gesprochen? Und englisches Mädchen? Ach, komm.« Er lächelte gequält, so wie man pflichtschuldig über einen Witz lacht, den man schon viel besser gehört hat. »Du hältst mich für den vollen Anfänger, he? Callgirl natürlich.« Einen kurzen Moment dachte er schweigend nach. »Handel mit verhunzten Frühlingsblumen?«

»Mhm, nicht einfach. Frühlingsblumen könnten Tulpen sein. Oder Narzissen, oder Krokusse.«

»Krokus ist nicht übel. Ich will's einfacher machen: Der Handel ist genauso englisch wie gerade das Mädchen.«

»Ach so: Deal! Krokodil!«

»Repus! Hinterteiliges Streichinstrument?«

Ich setzte das Bierglas ab und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Du willst mich veräppeln, oder? Arschgeige! Süßes Nein?«

Tjark kratzte sich am Kopf. »Ist von dir?«

»Ja. Mit Pfefferminzgeschmack.«

»Wie? Pfefferminz?«

»Pfefferminz eben. Hat schon wieder mit Englisch zu tun. Ich meine, aussprachemäßig.«

»Ach so. Du meinst das ›Nein‹?«

Ich nickte wortlos.

»Nine? Ach ja, jetzt hab' ich's: After eight.« Längere Pause, während der er sich wieder mal umständlich Bierschaum vom Mund und Schnupftabak von der Nase wischte. »Noch eins?«

»Lass hören.«

»Könnte vielleicht auf deinen Opa …«

»Großvater bitte!«

»Von mir aus, also auf deinen Großvater zutreffen: Produzent backzutatenhaltiger Exkremente?«

»Backzutatenhaltig? Wie – backzutatenhaltig?«

»Was Süßes.«

Eine Weile grübelte ich still vor mich hin und ging im Geist Synonyme für »Exkrementenproduzent« durch: AA-Macher, Stinker, Scheißer, Abprotzer … Dann hatte ich's plötzlich: Kacker! »Korinthenkacker! Passt echt genial auf den Alten!«

»Hoppla!« Tjark wischte mit der Hand einen Bierfleck vom Sofa. »Und du heißt wirklich Popp-Meier?«

»Ist das jetzt nötig?«, fragte ich stirnrunzelnd.

»Du willst nicht darüber sprechen?«

Ich gab mir einen Ruck. » Cha saw! Früher oder später muss es ja doch sein.«

»Muss gar nicht. Wenn du nicht willst …«

Ich überging seinen Einwand. »Ist schon schlimm genug, wenn du jemandem sagen musst, du heißt Popp-Meier. Dann grinst der halt blöd, und das war's. Richtig scheiße wird's erst, wenn du dazu sagst: mit Bindestrich nach dem Popp.«

Tjark nickte ernst. »Kann ich mir vorstellen.«

»Der Name stammt von meinem Urgroßvater. Diesmal väterlicherseits. Der hat früher in irgendeinem Kaff, ich glaub', in Thüringen, gewohnt, wo scheint's jeder Zweite Meier hieß. Damit die Leute wussten, um wen's gerade ging, haben sie den vielen Meiers eine Art Etikett vor den Namen gepinnt. So war der Metzger zum Beispiel der Fleisch-Meier, der Bäcker der Bretzel-Meier und der Lehrer sinnigerweise der Schlau-Meier.«

»Und wieso Popp?«

Zugrätsel

»Also, was is' nun?«, drängt Tjark.

Ich schlucke. Kann ich das Mam wirklich antun? Doch während ich mir den letzten Schwall Wuttränen aus den Augen wische, höre ich mich zu meiner eigenen Verblüffung nuscheln: »Okay.«

»Nnad sol!«, sagt Tjark trocken. »Um elf an der üblichen Stelle.«

»Darf ich Stotti mitbringen?«

»Klar doch.«

»Kümmert sich ja sonst niemand um das arme Schwein.«

Natürlich ist Stotti kein Schwein, sondern ein Hund. Eine dunkelbraune, zottige Mischung aus Cockerspaniel, Rauhhaardackel und weiß Gott welchen mysteriösen Rassen noch. Auffällig dicker Kopf, eher länglich als hoch, gutmütig und anhänglich bis zur Selbstaufgabe. Aber ganz klar nicht der Hellste. Und höchstens lasch erzogen. Das Einzige, was er zuverlässig beherrscht, ist auf Kommando das Bein zu heben und loszupissen. Und dann hat er noch eine weitere Supernummer drauf. Aber von der erzähle ich später. Mit vollem Namen heißt er eigentlich Aristotterles-Sokrates, aber so nenne ich ihn nur, wenn Großpap in der Nähe ist. Weil den das total ankotzt. Das Doppel-T in der Namensmitte hab' ich dem Hund verpasst, weil sein merkwürdig abgehacktes Bellen echt so klingt, als würde er stottern. Manchmal kommt es mir sogar so vor, als würde er mir den Tick mit dem Rückwärtssprechen nachmachen. Nicht etwa, dass er »uaw, uaw« oder »Ffuw, ffuw« bellen würde, nein, das nicht, aber wie andere Hunde so richtig kernig Laut geben, das kriegt er entschieden nicht hin.

Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: nur noch eine knappe Stunde. Wird Zeit, dass ich ein paar Klamotten zusammenkrame. Also ab nach Hause. Als ich leise aufschließe, hat Stotti natürlich keinen Plan, was er von einem Besuch um diese Zeit halten soll. Er bellt kurz auf, dann hält er erschrocken das Maul, als wäre ihm sein Ausbruch peinlich. Doch schließlich springt mit begeistertem Gekläffe an mir hoch.

»Halt die Klappe!«, raunze ich ihn an. Und erstaunlicherweise gibt er tatsächlich Ruhe. Ich lausche. Von Großpap ist nichts zu hören. Entweder hockt er in seinem dicken englischen Sessel und schmökert in einem Wälzer über Perikles, Drakon, oder wie die antiken Gestalten alle heißen. Oder er thront auf dem Klo, wo er oft länger als eine halbe Stunde inmitten seines Altmännergestanks in einem Schinken über die Perserkriege schmökert.

So leise ich kann, schleiche ich die Treppe hoch und öffne den Kleiderschrank. Den muss ich, wie das ganze Zimmer, mit Hermes teilen, während Ares, der feine Pinkel, natürlich einen Raum für sich hat. Großpap hat das irgendwann mal so entschieden, und wenn der was entscheidet, dann punktum, basta, papperlapapp! Eilig raffe ich ein paar Klamotten zusammen, stopfe dazu noch Kamm und Zahnbürste in den Rucksack und denke im letzten Moment gerade noch daran, meine Sparkuh zu schlachten. Das hätte ich mir allerdings genauso gut schenken können, denn mehr als 14 Euro 12 kommen nicht raus. Na ja, besser als nichts. Ich stecke das Geld in die Tasche, schleiche die Treppe runter und will gerade die Haustüre hinter mir zuschlagen, als mich in letzter Sekunde doch noch das schlechte Gewissen packt.

Seufzend tappe ich zurück in die Küche und horche. Nicht dass ich im letzten Moment noch dem Alten in die Arme latsche. Doch alles ist ruhig. Also fische ich aus einer Schublade einen von Mams Notizzetteln und schreibe darauf: »Hallo Mam, bin ein paar Tage weg. Mach dir keine Sorgen. Gruß O.«

Plötzlich höre ich, wie Großpap aus dem Klo schlurft. Jetzt habe ich ein Problem. Wenn der Alte in die Küche kommt, hat er mich am Wickel. Wie soll ich ihm halbwegs glaubhaft erklären, was ich um diese Zeit hier zu suchen habe? Noch dazu mit einem Rucksack voller Klamotten? Zu allem Überfluss muss der blöde Köter jetzt auch noch in den Flur tappen, um nachzusehen, was da los ist. Ich halte die Luft an, lausche und spüre, wie mir der Schweiß ausbricht. Doch dann atme ich erleichtert wieder aus, als Großpap direkt vom Lokus ins Wohnzimmer tappt.

In dem Moment schrillt das Telefon. Und ich mache einen entscheidenden Fehler! Denn anstatt schleunigst meinen Rucksack zu schnappen und zu verschwinden, lausche ich. Na ja, lauschen kann man das eigentlich nicht nennen, denn bei Großpaps Gedröhne müsste ich mir schon die Ohren zuhalten, um nicht jedes Wort zu verstehen.

»Popp-Meier«, bellt er in den Hörer. Dann, wie immer: »Wer ist da?« Und schließlich: »Ach du bist's, Kurt.«

Der blöde Heinze! Der hat mir gerade noch gefehlt.

»Was sagst du?«, grölt Großpap. »Ob der Junge zu Hause ist?« Und nachdem er sich offenbar noch mal hat erklären lassen, worum es geht: »Bleib' kurz dran.«

Während er das brüllt, höre ich, wie er seinen Sessel zurückschiebt und ein paar Sekunden später im Flur rumschlappt. Hoffentlich begnügt er sich damit, nachzuschauen, ob meine Schultasche da ist. Vorsichtshalber verstecke ich mich mit Stotti hinter der Küchentür. Wobei ich natürlich prompt vergesse, den Zettel für Mam verschwinden zu lassen. Doch dann atme ich erleichtert durch, als der Alte ins Wohnzimmer zurücktappt. »Nein Kurt, hier ist er nicht«, schreit er ins Telefon, und nach einer kurzen Pause: »Tut mir aufrichtig leid.«

Ich gebe mir einen Ruck. Nur weg jetzt! Doch verfluchter Mist: Wo zum Teufel steckt Stotti? Gerade war er doch noch da. Ist die Töle etwa hinter dem Alten hergelatscht? Ähnlich sähe es ihr.

Einen Sekundenbruchteil geht mir durch den Kopf, ohne den Köter abzuhauen. Aber das geht natürlich gar nicht. Stotti ist mein Hund, und um den habe ich mich zu kümmern, niemand sonst. Aber soll ich warten, bis der Alte vielleicht einpennt? Nein, dazu bleibt mir keine Zeit. Und um einfach ins Wohnzimmer zu stürzen, den Hund zu grabschen und Hals über Kopf davonzustürmen, fehlt mir der Mut.

Da kommt mir eine Idee. Wie oft haben wir uns gewundert, dass Stotti jedes Mal mitkriegt, wenn jemand an den Kühlschrank geht. Gesagt, getan: Kühlschrank auf und die Daumen gedrückt! Und tatsächlich ist auf den Köter Verlass. Mit sehnsüchtigem Triefblick kommt er in die Küche gewackelt. Rasch stopfe ich ihm ein Stück Leberwurst in die Schnauze, packe ihn am Nacken und schmeiße mir den Rucksack über die Schulter. Im nächsten Augenblick bin ich draußen. Die Küchentür lasse ich offen. Spätestens wenn Großpap beim Kaffeeholen den Zettel entdeckt, weiß er sowieso, was Sache ist.

Um zehn vor elf stehe ich am Bahnhofskiosk. Der Himmel strahlt in leuchtendem Blau, nur hin und wieder verschwindet die Sonne kurz hinter einer Wattewolke. Dafür, dass es noch nicht mal Mittag ist, ist es schon ganz schön warm, sicher mehr als 25 Grad. Wie immer muss ich auf Tjark warten. Wenn der nämlich was nicht ist, dann pünktlich. Und als er endlich auftaucht, was hat er da an? Natürlich eines seiner beknackten ärmellosen Shirts, auf die er total steht, dunkelblau mit der Aufschrift »I'm not the Greatest, but simply the Best«. Im Vergleich zu meinem Rucksack ist seiner winzig. Aber mit dem Frische-Sachen-Anziehen hat er es, so lange wir uns kennen, noch nie gehabt.

»Hallo, du armes Schwein«, begrüßt er mich warmherzig und kauft uns erst mal zwei Flaschen Bier.

Eigentlich ist mir Bier am Vormittag zuwider, aber heute tut es richtig gut. »Und jetzt, Offi?«, frage ich zwischen zwei Schlucken.

»Sag' mal 'ne Automarke.«