Orlando. Eine Biografie. Roman - Virginia Woolf - E-Book
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Orlando. Eine Biografie. Roman E-Book

Virginia Woolf

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Beschreibung

Ewige Jugend und Schönheit gibt es nur im Roman und in wohl keinem so viel wie in diesem: Über drei Jahrhunderte lebt Orlando in diversen Rollen und an den verschiedensten Orten. Der junge Adlige am Hof Königin Elisabeths I. wird Diplomat in Konstantinopel. Dann wandelt sich Orlando zur Frau, lebt bei einer Zigeunertruppe, bis sie nach England zurückkehrt und schließlich im 20. Jahrhundert als Schriftstellerin berühmt wird. Eine verrückte Idee? Ein faszinierendes Buch! Virginia Woolfs »Orlando« (1928) bricht energisch auf in die literarische Moderne und feiert die Liebe und das Leben.

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Virginia Woolf

Eine Biografie

Aus dem Englischenvon Marion Herbert

Anaconda

Titel der englischen Originalausgabe: Orlando. A Biography

(Hogarth Press 1928). Die Übersetzung folgt der Ausgabe Oxford:

Oxford University Press 2008 und erschien erstmals als

Neuüber­setzung im Anaconda Verlag im Jahr 2014.

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2014, 2022 by Anaconda Verlag, einem Unternehmender Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: Illustration eines Schuhs aus derSammlung Karl Friedrich Schoensiegels, Bridgeman Images /The Stapleton Collection

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: InterMedia – Lemke e. K., Heiligenhaus

ISBN 978-3-641-29236-2V001

www.anacondaverlag.de

FÜR

V. SACKVILLE WEST

1. Orlando als Knabe

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Register

Abbildungsverzeichnis

1. Orlando als Knabe

2. Die russische Prinzessin als Kind

3. Die Erzherzogin Harriet

4. Orlando als Botschafter

5. Orlando bei ihrer Rückkehr nach England

6. Orlando um das Jahr 1840

7. Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, Esquire

8. Orlando zur gegenwärtigen Zeit

Vorwort

Viele Freunde haben mir dabei geholfen, dieses Buch zu schreiben. Manche sind tot und so hochberühmt, dass ich kaum wage, sie zu nennen, doch niemand kann lesen oder schreiben, ohne ewig in der Schuld von Defoe, Sir Thomas Browne, Sterne, Sir Walter Scott, Lord Macaulay, Emily Brontë, De Quincey und Walter Pater zu stehen, – um die ersten zu nennen, die mir einfallen. Andere leben noch und sind, obwohl auf ihre Weise vielleicht ebenso hochberühmt, aus genau diesem Grund weniger eindrucksvoll. Ich bin besonders Mr C. P. Sanger zu Dank verpflichtet, ohne dessen Kenntnis des Grundbesitzrechts dieses Buch nie hätte geschrieben werden können. Mr Sydney-Turners umfassende und spezielle Gelehrsamkeit hat mir, wie ich hoffe, einige bedauerliche Schnitzer erspart. Ich kam in den Vorzug – dessen Wert nur ich allein schätzen kann – von Mr Arthur Waleys Chinesischkenntnissen. Madame Lopokova (Mrs J. M. Keynes) war zur Stelle, um mein Russisch zu korrigieren. Dem unübertroffenen Wohlwollen und Einfallsreichtum Mr Roger Frys verdanke ich sämtliches Verständnis der Malerei, das ich besitzen mag. Ich habe, so hoffe ich, in einem anderen Bereich von der außerordentlich gründlichen, wenn auch harten Kritik meines Neffen Mr Julian Bell profitiert. Miss M. K. Snowdons unermüdliche Recherchen in den Archiven von Harrogate und Cheltenham waren ebenso mühevoll wie vergeblich. Andere Freunde haben mir auf zu unterschiedliche Arten geholfen, als dass ich sie hier alle einzeln auflisten könnte. Ich muss mich damit begnügen, Mr Angus Davidson zu nennen; Mrs Cartwright; Miss Janet Case; Lord Berners (dessen Kenntnis der elisabethanischen Musik sich als unschätzbar wertvoll erwies); Mr Francis Birrell; meinen Bruder, Dr. Adrian Stephen; Mr F. L. Lucas; Mr und Mrs Desmond Maccarthy; jenen anregendsten ­unter allen Kritikern, meinen Schwager, Mr Clive Bell; Mr G. H. Rylands; Lady Colefax; Miss Nellie Boxall; Mr J. M. Keynes; Mr Hugh Walpole; Miss Violet Dickinson; Ehrenwert Edward Sackville West; Mr und Mrs St. John Hutchinson; Mr Duncan Grant; Mr und Mrs Stephen Tomlin; Mr und Lady Ottoline Morrell; meine Schwiegermutter, Mrs Sydney Woolf; Mr Osbert Sitwell; Madame Jacques Raverat; Colonel Cory Bell; Miss Valerie Taylor; Mr J. T. Sheppard; Mr und Mrs T. S. Eliot; Miss Ethel Sands; Miss Nan Hudson; meinen Neffen Mr Quentin Bell (ein langjähriger und geschätzter Mitstreiter auf dem Feld der Dichtung); Mr Raymond Mortimer; Lady Gerald Wellesley; Mr Lytton Strachey; Vicomtesse Cecil; Miss Hope Mirrlees; Mr E. M. Forster; Ehrenwert Harold Nicolson; und meine Schwester, Vanessa Bell – doch die Liste droht zu lang zu werden und ist jetzt schon viel zu exquisit. Denn während sie in mir Erinnerungen angenehmster Art hervorruft, wird sie zwangsläufig beim Leser Erwartungen wecken, die das Buch selbst nur enttäuschen kann. Deswegen werde ich nun zum Ende kommen, indem ich den Beamten des Britischen Museums und des Staatsarchivs für ihre übliche Hilfsbereitschaft danke; meiner Nichte Miss Angelica Bell für einen Dienst, den mir niemand sonst hätte erweisen können; und meinem Gatten für die Geduld, mit der er meine Recherchen stets unterstützt hat sowie für das fundierte historische Wissen, dem diese Seiten den Grad an Genauigkeit verdanken, den sie erreichen mögen. Abschließend würde ich, wären mir nicht sein Name und seine Adresse abhandengekommen, einem Herrn in Amerika danken, der großzügigerweise und unentgeltlich Interpunktion, Botanik, Entomologie, Geografie und Chronologie in meinen früheren Werken korrigiert hat und der, wie ich hoffe, auch bei der gegenwärtigen Gelegenheit nicht mit seinen Diensten geizen wird.

Kapitel I

Er – denn es konnte kein Zweifel an seinem Geschlecht bestehen, obwohl die damalige Mode einiges dazu beitrug, es zu verbergen – war gerade dabei, auf den Kopf eines Mohren einzuhacken, der von den Dachbalken baumelte. Dieser hatte die Farbe eines alten Fußballs und mehr oder weniger die Form eines solchen, abgesehen von den eingefallenen Wangen und ein, zwei Strähnen drahtigen, trockenen Haars, ähnlich den Haaren einer Kokosnuss. Orlandos Vater, vielleicht auch sein Großvater, hatte ihn von den Schultern eines riesenhaften Heiden geschlagen, der sich unter dem Mond in den barbarischen Weiten Afrikas erhoben hatte; und nun baumelte er, sanft und immerfort, in den ewig zugigen Dachgemächern des weitläufigen Hauses des Lords, der ihn niedergestreckt hatte.

Orlandos Väter waren über Asphodillfelder geritten, über steinige Felder und Felder, die von fremden Flüssen bewässert wurden, und sie hatten viele Köpfe vieler Farben von vielen Schultern geschlagen und mitgebracht, um sie an die Dachbalken zu hängen. Das würde Orlando auch tun, gelobte er. Aber da er erst sechzehn war und zu jung, um mit ihnen durch Afrika und Frankreich zu reiten, stahl er sich häufig von seiner Mutter und den Pfauen im Garten fort und ging in sein Dachgemach, und dort hieb und stieß und zerhackte er die Luft mit seiner Klinge. Manchmal durchtrennte er die Schnur, sodass der Schädel auf den Boden polterte und er ihn wieder anbinden musste, wobei er ihn mit einer gewissen Ritterlichkeit immer so befestigte, dass er ihn kaum erreichen konnte und sein Feind ihn durch verschrumpelte, schwarze Lippen triumphierend angrinste. Der Schädel baumelte hin und her, denn das Haus, dessen Dach Orlando bewohnte, war so riesig, dass der Wind selbst darin gefangen schien, der mal hierhin wehte, mal dorthin wehte, Winter wie Sommer. Der grüne Arazzo mit den Jägern war immer in Bewegung. Orlandos Väter waren von jeher adlig gewesen. Sie waren mit Kronen auf den Häuptern aus den nordischen Nebeln gekommen. Kamen die Streifen Dunkelheit im Raum und die gelben Pfützen, die den Boden sprenkelten, denn nicht von der Sonne, die durch das bunte Glas eines riesigen Wappens im Fenster fiel? Orlando stand nun mitten im gelben Leib eines heraldischen Leoparden. Als er die Hand aufs Fensterbrett legte, um das Fenster aufzustoßen, färbte sie sich augenblicklich rot, blau und gelb wie ein Schmetterlingsflügel. Wer eine Vorliebe für Symbole hat und sie gern ausdeutet, könnte so beobachten, dass zwar die wohlgeformten Beine, der hübsche Körper und die sehnigen Schultern allesamt mit verschiedenen Tönungen heraldischen Lichts verziert waren, Orlandos Gesicht aber, als er das Fenster aufstieß, einzig von der Sonne selbst erleuchtet wurde. Ein aufrichtigeres, trotzigeres Gesicht wäre unmöglich zu finden. Glücklich die Mutter, die solch einem Menschen das Leben schenkt, glücklicher noch der Biograf, der es festhält! Niemals muss sie sich beunruhigen, noch er die Hilfe eines Romanciers oder Dichters anrufen. Von Tat zu Tat, von Ruhm zu Ruhm, von Amt zu Amt muss er gehen, sein Schreiber ihm folgend, bis sie den Posten, der das höchste Ziel ihrer Wünsche ist, erreichen, welcher auch immer das sein mag. Orlando war dem Aussehen nach exakt für eine solche Karriere geschaffen. Das Rot der Wangen war von Pfirsichflaum bedeckt; der Flaum auf den Lippen war kaum dichter als der Flaum auf den Wangen. Die Lippen selbst waren kurz und leicht geöffnet über Zähnen von köstlichem, mandelfarbenem Weiß. Nichts störte die pfeilförmige Nase in ihrem kurzen und straffen Flug; das Haar war dunkel, die Ohren klein und eng am Kopf angelegt. Aber ach, dass diese Auflistungen jugendlicher Schönheit nicht enden können, ohne Stirn und Augen zu erwähnen. Ach, dass Menschen selten ohne diese drei geboren werden; denn sobald wir Orlando am Fenster stehend betrachten, müssen wir zugeben, dass er Augen hatte wie durchtränkte Veilchen, so groß, als seien sie randvoll mit Wasser gefüllt und davon geweitet; und eine Stirn wie die Rundung einer Marmorkuppel, eingefasst von den beiden blanken Medaillons seiner Schläfen. Sobald wir Augen und Stirn betrachten, geraten wir ins Schwärmen. Sobald wir Augen und Stirn betrachten, müssen wir tausend Unannehmlichkeiten zugeben, die zu ignorieren jeder gute Biograf bestrebt sein muss. Was er sah, verstörte ihn, etwa wie seine Mutter, eine sehr schöne Dame in Grün, gefolgt von ihrer Zofe Twitchett hinausging, um die Pfauen zu füttern; was er sah, begeisterte ihn – die Vögel und die Bäume; und machte ihn in den Tod verliebt – der Abendhimmel, die heimkehrenden Krähen; und während all diese Eindrücke und auch die Gartengeräusche, das Hämmern, das Holzhacken, die Wendeltreppe zu seinem Gehirn hinaufstiegen – das ein geräumiges war –, traten sie jenen Aufruhr und jene Verwirrung der Leidenschaften und Emotionen los, die jeder gute Biograf verabscheut. Doch fahren wir fort: Orlando zog den Kopf langsam wieder herein, setzte sich an den Tisch und holte halb unbewusst, wie jemand, der etwas tut, was er jeden Tag seines Lebens zu dieser Stunde tut, ein Schreibheft mit dem Titel Æthelbert: Eine Tragödie in fünf Akten hervor und tauchte einen alten fleckigen Gänsekiel in die Tinte.

Bald hatte er zehn Seiten und mehr mit Dichtung gefüllt. Offensichtlich schrieb er flüssig, aber abstrakt. Laster, Verbrechen, Elend waren die Figuren seines Dramas; es gab Könige und Königinnen fantastischer Territorien; abscheuliche Intrigen vernichteten sie; erhabene Gefühle durchströmten sie; nie wurde ein Wort so gesagt, wie er selbst es gesagt hätte, sondern alles war mit einer Gewandtheit und Süße ausgedrückt, die in Anbetracht seines Alters – er war noch keine siebzehn – und der Tatsache, dass das sechzehnte Jahrhundert bis zu seinem Ablauf noch einige Jahre vor sich hatte, recht bemerkenswert waren. Doch schließlich hielt er inne. Er beschrieb gerade die Natur, wie es alle jungen Dichter immer tun, und um den Grünton exakt wiederzugeben, betrachtete er (und hierin zeigte er mehr Kühnheit als die meisten) den Gegenstand selbst, der zufällig ein unter dem Fenster wachsender Lorbeerbusch war. Daraufhin konnte er selbstverständlich nicht weiterschreiben. Das Grün in der Natur ist eine Sache, das Grün in der Literatur eine andere. Zwischen Natur und Dichtung scheint eine natürliche Antipathie zu herrschen; bringt man sie zusammen, reißen sie sich gegenseitig in Stücke. Der Grünton, den Orlando nun sah, zerstörte seinen Reim und zerschlug sein Versmaß. Überdies hat die Natur ihre eigenen Mittel. Man muss nur einmal aus einem Fenster die Bienen zwischen den Blumen betrachten, einen gähnenden Hund, die untergehende Sonne, nur einmal denken: »Wie viele Sonnen werde ich noch untergehen sehen?«, usw. usf. (der Gedanke ist zu wohlbekannt, als dass es sich lohnte, ihn auszuführen), und schon lässt man die Feder fallen, nimmt seinen Umhang, eilt aus dem Zimmer und bleibt dabei mit dem Fuß an einer bemalten Truhe hängen. Orlando war nämlich etwas ungeschickt.

Er gab sich Mühe, niemanden zu treffen. Dort kam Stubbs, der Gärtner, den Weg entlang. Er versteckte sich hinter einem Baum, bis der Mann vorbeigegangen war. Er schlüpfte durch ein kleines Tor in der Gartenmauer hinaus. Er umrundete alle Ställe, Hundezwinger, Brauereien, Tischlerwerkstätten, Waschhäuser, Orte, an denen Talgkerzen hergestellt, Ochsen geschlachtet, Hufeisen geschmiedet, Wämser genäht wurden – denn das Haus war eine Stadt, die widerhallte von Männern, die ihren unterschiedlichen Handwerken nachgingen – und erreichte unbemerkt den farnbewachsenen Pfad, der durch den Park den Hügel hinaufführte. Möglicherweise besteht eine Verwandtschaft zwischen Eigenschaften; die eine bringt die andere mit sich; und der Biograf sollte hier auf die Tatsache hinweisen, dass Ungeschicktheit oft mit einer Liebe zur Einsamkeit einhergeht. Da er über eine Truhe gestolpert war, liebte Orlando selbstverständlich einsame Orte, weite Aussichten und das Gefühl, für immer und ewig, immer und ewig allein zu sein.

Und so hauchte er schließlich nach langem Schweigen: »Ich bin allein«, und öffnete damit zum ersten Mal in dieser Aufzeichnung die Lippen. Hastig war er den Hügel hinaufgegangen, durch Farne und Weißdornbüsche, dabei Rehe und Wildvögel aufschreckend, bis an eine Stelle, die von einer einzelnen Eiche gekrönt wurde. Sie war sehr hoch gelegen, so hoch, dass man von dort neunzehn englische Grafschaften sehen konnte, und an klaren Tagen dreißig oder vielleicht vierzig, wenn das Wetter besonders gut war. Manchmal konnte man den Ärmelkanal sehen, Welle auf Welle folgend. Flüsse konnte man sehen, auf denen Ausflugsboote dahinglitten; und Galeonen, die in See stachen; und Kriegsflotten mit Rauchwolken, von denen man das dumpfe Donnern des Kanonenfeuers vernahm; und Forts an der Küste; und Schlösser in den Wiesen; und hier einen Wachturm; und dort eine Festung; und wieder ein riesiges Herrenhaus, gleich dem von Orlandos Vater, das zusammengedrängt wie eine Stadt von Mauern umgeben im Tal lag. Im Osten sah man die Türme Londons und den Rauch der Stadt; und vielleicht zeigten sich ganz fern am Horizont, wenn der Wind günstig stand, der schroffe Gipfel und die gezackten Kämme des Snowdon selbst gewaltig zwischen den Wolken. Einen Moment lang stand Orlando da und zählte, spähte, erkannte. Hier war das Haus seines Vaters; hier das seines Onkels. Seine Tante besaß jene drei großen Türme dort zwischen den Bäumen. Die Heide gehörte ihnen, und der Wald; auch der Fasan und das Wild, der Fuchs, der Dachs und der Schmetterling.

Er seufzte tief und warf sich – in seinen Bewegungen war eine Leidenschaft, die den Begriff verdient – auf die Erde am Fuß der Eiche. Er genoss es, unter all dieser sommerlichen Vergänglichkeit das Rückgrat der Erde unter sich zu spüren, denn als solches nahm er die feste Wurzel der Eiche wahr; oder, denn ein Bild folgte dem anderen, sie war der Rücken eines hohen Rosses, auf dem er ritt, oder das Deck eines schwankenden Schiffes – eigentlich konnte sie alles sein, was fest war, denn er verspürte das Bedürfnis nach etwas, an das er sein umhertreibendes Herz heften konnte; das Herz, das in seiner Brust stach; das Herz, das jeden Abend etwa um diese Zeit, wenn er hinausging, von würzig duftenden und verliebten Stürmen erfüllt zu sein schien. An die Eiche band er es, und während er dort lag, beruhigte sich langsam das Flattern in ihm und um ihn herum; die kleinen Blätter hingen herab, das Wild hielt inne, die hellen Sommerwolken blieben stehen; seine Glieder wurden schwer auf dem Boden; und er lag so still, dass das Wild Schritt für Schritt näher kam und die Krähen um ihn kreisten und die Schwalben hinabtauchten und umherwirbelten und die ­Libellen vorbeischossen, als wäre all die Fruchtbarkeit und all das verliebte Treiben eines Sommerabends netzartig um seinen Körper gesponnen.

Nach ungefähr einer Stunde – die Sonne sank schnell, die weißen Wolken waren rot geworden, die Hügel violett, die Wälder purpurn, die Täler schwarz – erschallte eine Trompete. Orlando sprang auf. Der schrille Ton kam aus dem Tal. Er kam von einem dunklen Fleck dort unten; einem kompakten und geplanten Fleck; einem Labyrinth; einer Stadt, doch eingefasst von Mauern; er kam aus dem Herzen seines eigenen großen Hauses im Tal, das, zuvor noch dunkel, während er hinsah und der einzelne Trompetenstoß sich vervielfältigte und wieder vervielfältigte mit anderen, schrilleren Tönen, seine Dunkelheit verlor und von Lichtern durchbrochen wurde. Manche waren kleine, eilende Lichter, als stürzten Diener Gänge entlang, um Anweisungen auszuführen; andere waren hohe und strahlende Lichter, als brannten sie in leeren Festsälen, hergerichtet, um Gäste zu empfangen, die nicht gekommen waren; und wieder andere neigten sich und winkten und sanken nieder und erhoben sich, als würden sie in den Händen von Scharen von Dienern gehalten, die sich verbeugten, niederknieten, aufstanden, empfingen, Wache hielten und voller Würde eine große Prinzessin hineingeleiteten, die ihrem Wagen entstieg. Kutschen fuhren vor und wendeten im Hof. Pferde schüttelten ihren Federschmuck. Die Königin war gekommen.

Orlando sah nicht weiter zu. Er stürzte den Hügel hinunter. Er schlüpfte durch eine kleine Pforte. Er stürmte die Wendeltreppe hinauf. Er erreichte sein Gemach. Er warf seine Strümpfe in die eine Ecke des Zimmers, sein Wams in die andere. Er tauchte den Kopf in Wasser. Er schrubbte sich die Hände. Er schnitt sich die Fingernägel. Mit der alleinigen Hilfe von sechs Zoll Spiegelglas und zwei alten Kerzen hatte er sich der Stalluhr zufolge in weniger als zehn Minuten karminrote Kniehosen, Spitzenkragen, Taftweste und Schuhe mit Rosetten so groß wie gefüllte Dahlien übergestreift. Er war bereit. Er war erhitzt. Er war aufgeregt. Aber er war furchtbar spät dran.

Über ihm bekannte Abkürzungen machte er sich nun durch die gewaltige Anzahl von Zimmern und Treppen auf zum Festsaal, der fünf Morgen entfernt auf der anderen Seite des Hauses lag. Aber auf halbem Weg dorthin, bei den Hinterzimmern, wo die Dienstboten wohnten, blieb er stehen. Die Tür von Mrs Stewkleys Wohnstube stand offen – sie war ohne Zweifel mit all ihren Schlüsseln losgegangen, um ihrer Herrin zu Diensten zu sein. Aber dort, am Esstisch der Dienstboten, saß mit einem Humpen neben sich und Papier vor sich ein recht dicker, ärmlicher Mann, dessen Halskrause etwas schmutzig und dessen Kleidung aus rauem, braunem Wollstoff war. Er hielt eine Feder in der Hand, aber er schrieb nicht. Offenbar war er damit beschäftigt, einen Gedanken im Geiste hin und her zu wälzen, vor und zurück, bis er so weit Gestalt oder Kraft annahm, dass er damit zufrieden war. Seine Augen, kugelrund und trübe wie ein grüner, sonderbar gemaserter Stein, waren starr. Er sah Orlando nicht. Trotz seiner Eile blieb Orlando wie angewurzelt stehen. War das ein Dichter? Schrieb er Gedichte? »Erzählt mir«, wollte er sagen, »alles auf der ganzen Welt« – denn er hatte die wildesten, absurdesten, extravagantesten Vorstellungen von Dichtern und Dichtung – aber wie einen Mann ansprechen, der einen nicht sieht, stattdessen aber Menschenfresser, Satyrn, vielleicht die Tiefen des Meeres? Also stand Orlando da und starrte ihn an, während der Mann seine Feder zwischen den Fingern drehte, mal hierhin, mal dorthin, und starrte und grübelte, und dann, unglaublich schnell, ein halbes Dutzend Verse niederschrieb und aufschaute. Woraufhin Orlando, von Schüchternheit überwältigt, davonstürmte und den Festsaal gerade noch rechtzeitig erreichte, um auf die Knie zu sinken und, verlegen den Kopf neigend, der großen Königin persönlich eine Schale Rosenwasser darzubieten.

Er war so schüchtern, dass er nicht mehr von ihr sah als ihre beringten Hände im Wasser; doch das genügte. Es war eine bemerkenswerte Hand; eine schmale Hand mit langen Fingern, die stets gekrümmt waren wie um Reichsapfel oder Zepter; eine nervöse, kratzbürstige, kränkliche Hand; auch eine gebietende Hand; eine Hand, die sich nur erheben musste, damit ein Kopf fiel; eine Hand, so vermutete er, verbunden mit einem alten Körper, der wie ein Schrank roch, in dem man Pelze in Kampfer aufbewahrte, der jedoch herausgeputzt war mit sämtlichen Arten von Brokat und Edelsteinen und sich sehr aufrecht hielt, wenngleich womöglich vor Ischiasschmerzen, und nie zurückschreckte, obwohl er von tausend Ängsten zusammengeschnürt wurde; und die Augen der Königin waren hellgelb. All dies spürte Orlando, als die großen Ringe im Wasser blitzten und dann etwas auf sein Haar drückte – was vielleicht der Grund dafür ist, dass er nichts mehr sah, was einem Historiker hätte nützen können. Und tatsächlich waren seine Gedanken ein einziges Gewirr von Gegensätzen – die Nacht und die brennenden Kerzen, der ärmliche Dichter und die große Königin, stille Felder und das Getrappel von Dienstboten –, dass er nichts sehen konnte; oder nur eine Hand.

Ebenso kann die Königin selbst nur einen Kopf gesehen haben. Aber wenn man von einer Hand auf einen Körper schließen kann und daran all die Wesenszüge einer großen Königin erkennt, ihre Kratzbürstigkeit, ihren Mut, ihre Gebrechlichkeit und ihren Schrecken, kann ein Kopf gewiss ebenso ergiebig sein, wenn eine Dame von einem Prunksessel aus darauf hinunterblickt, mit Augen, die, wenn man den Wachsfiguren in der Westminster Abbey trauen darf, immer weit geöffnet waren. Das lange gelockte Haar, der dunkle Kopf, der sich so ehrerbietig, so unschuldig vor ihr neigte, deuteten ein Paar der schönsten Beine an, auf denen je ein junger Edelmann aufrecht gestanden hatte; und veilchenblaue Augen; und ein Herz aus Gold; und Treue und männlichen Charme – alles Eigenschaften, die die alte Frau umso mehr liebte, je mehr sie ihr abhanden kamen. Denn sie wurde alt und müde und gebeugt vor ihrer Zeit. Kanonen dröhnten stets in ihren Ohren. Stets sah sie den glitzernden Gifttropfen und das lange Stilett. Wenn sie bei Tisch saß, lauschte sie; sie hörte die Geschütze auf dem Ärmelkanal; sie fürchtete – war das ein Fluch, war das ein Flüstern? Vor diesem düsteren Hintergrund schätzte sie Unschuld und Einfachheit umso mehr. Und in derselben Nacht, so ist es überliefert, während Orlando tief und fest schlief, machte sie feierlich, indem sie abschließend ihre Unterschrift und ihr Siegel auf die Pergamenturkunde setzte, das große monastische Haus, das einst dem Erzbischof und dann dem König gehört hatte, Orlandos Vater zum Geschenk.

Orlando schlief die ganze Nacht nichts ahnend. Er war von einer Königin geküsst worden, ohne es zu wissen. Und möglicherweise, denn Frauenherzen sind fein verästelt, waren seine Unwissenheit und sein Aufschrecken, als ihre Lippen ihn berührten, das, was die Erinnerung an ihren jungen Cousin (denn sie waren blutsverwandt) in ihrem Geist lebendig hielt. Wie dem auch sei, keine zwei Jahre dieses ruhigen Landlebens waren vergangen, und Orlando hatte vielleicht nicht mehr als zwanzig Tragödien und ein Dutzend Historiendramen und ein paar Sonette geschrieben, als eine Botschaft eintraf, er solle der Königin im Whitehall-Palast seine Aufwartung machen.

»Hier«, sagte sie, während sie ihn durch die lange Galerie auf sich zuschreiten sah, »kommt mein Unschuldiger!« (Er strahlte immer eine Heiterkeit aus, die wie Unschuld wirkte, auch als das Wort im konkreten Sinn nicht mehr zutreffend war.)

»Komm!«, sagte sie. Sie saß kerzengerade am Feuer. Und sie hielt ihn einen Schritt von sich entfernt und musterte ihn von oben bis unten. Glich sie ihre Mutmaßungen jener Nacht mit der nun sichtbaren Wahrheit ab? Fand sie ihre Vermutungen bestätigt? Augen, Mund, Nase, Brust, Hüften, Hände – ihr Blick glitt über ihn; ihre Lippen zuckten sichtlich, während sie ihn betrachtete; aber als sie seine Beine sah, lachte sie laut auf. Er war das fleischgewordene Abbild eines vornehmen Edelmannes. Doch innerlich? Sie funkelte ihn mit ihren gelben Falkenaugen an, als wollte sie seine Seele durchbohren. Der junge Mann widerstand ihrem Blick und errötete nur wie eine Damaszenerrose, was ihm gut stand. Stärke, Anmut, Romantik, Narrheit, Poesie, Jugend – sie las ihn wie ein offenes Buch. Unverzüglich zog sie einen Ring von ihrem Finger (das Gelenk war ziemlich geschwollen), und während sie ihn an seinen steckte, ernannte sie ihn zu ihrem Schatz- und Haushofmeister; als nächstes hängte sie ihm Amtsketten um; und dann bat sie ihn, das Knie zu beugen, und legte ihm an der schmalsten Stelle den juwelenbesetzten Hosenbandorden an. Danach wurde ihm nichts mehr verwehrt. Wenn sie mit vollem Pomp ausfuhr, ritt er neben der Tür ihrer Kutsche her. Sie schickte ihn mit einer traurigen Botschaft für die unglückliche Königin nach Schottland. Er stand kurz davor, zu den polnischen Kriegen zu segeln, als sie ihn zurückrief. Denn wie sollte sie die Vorstellung ertragen, dass jenes zarte Fleisch zerrissen werden und jener lockige Kopf in den Staub rollen könnte? Sie behielt ihn bei sich. Auf dem Höhepunkt ihres Triumphes, als die Geschütze im Tower dröhnten und die Luft so von Schießpulver erfüllt war, dass man niesen musste, und das Hurra des Volkes unter den Fenstern erklang, zog sie ihn hinunter in die Kissen, auf die ihre Kammerfrauen sie gebettet hatten (sie war so müde und alt) und ließ ihn sein Gesicht in jener erstaunlichen Komposition vergraben – sie hatte ihr Kleid seit einem Monat nicht gewechselt –, die, dachte er, während er sich an einen Eindruck aus Kindertagen erinnerte, ganz genau wie ein alter Schrank zu Hause roch, in dem die Pelze seiner Mutter aufbewahrt wurden. Er erhob sich, halb erstickt von der Umarmung. »Dies«, keuchte sie, »ist mein Sieg!« – in demselben Augenblick, als eine Rakete emporschoss und ihre Wangen scharlachrot färbte.

Denn die alte Frau liebte ihn. Und die Königin, die wusste, was einen Mann ausmachte, wenn auch nicht, wie man munkelte, auf die übliche Weise, plante für ihn eine glanzvolle, aufstrebende Karriere. Ländereien wurden ihm geschenkt, Häuser ihm überschrieben. Er sollte der Sohn ihres Alters sein; die Stütze ihrer Schwäche; die Eiche, an die sie sich im Niedersinken anlehnte. Sie krächzte diese Versprechen und seltsame, gebieterische Zärtlichkeiten (sie waren jetzt in Richmond), während sie in ihrem steifen Brokat kerzengerade am Feuer saß, das sie, wie hoch es auch aufgeschichtet war, niemals wärmen konnte.

Unterdessen dauerten die langen Wintermonate fort. Alle Bäume im Park waren mit Raureif überzogen. Der Fluss strömte träge dahin. Eines Tages, als Schnee lag und die dunklen getäfelten Räume voller Schatten waren und die Hirsche im Park röhrten, sah sie im Spiegel, den sie aus Angst vor Spionen immer bei sich trug, durch die Tür, die sie aus Angst vor Mördern immer offen ließ, wie ein Junge – konnte es Orlando sein? – ein Mädchen küsste – wer zum Teufel war die unverschämte Göre? Sie packte ihren Degen mit dem goldenen Schaft und hieb rabiat auf den Spiegel ein. Das Glas zersprang; Leute eilten herbei; man hob sie auf und setzte sie wieder in ihren Sessel; aber danach war sie angeschlagen und stöhnte, während ihre Tage sich dem Ende zuneigten, viel über die Treulosigkeit der Männer.

Vielleicht war das Orlandos Schuld; doch können wir Orlando wirklich einen Vorwurf daraus machen? Das Zeitalter war das elisabethanische; ihre Sitten waren nicht die unseren; noch ihre Dichter; noch ihr Klima; nicht einmal ihr Gemüse. Alles war anders. Selbst das Wetter, die Hitze und Kälte von Sommer und Winter, war, wie wir vermuten dürfen, von gänzlich anderer Art. Der strahlende, liebeserfüllte Tag war so klar von der Nacht getrennt wie Land von Wasser. Sonnenuntergänge waren röter und intensiver; Tagesanbrüche waren weißer und rosiger. Von unserem dämmerigen Halbdunkel und anhaltenden Zwielicht wussten sie nichts. Der Regen fiel heftig oder gar nicht. Die Sonne brannte, oder es herrschte Dunkelheit. Die Dichter übertrugen dies ihrem Brauch gemäß in geistige Sphären und sangen wunderschön von welkenden Rosen und fallenden Blütenblättern. Der Augenblick ist kurz, sangen sie; der ­Augenblick ist vorüber; schließlich wird alles in einer langen Nacht Schlaf finden. Sich künstlich mit Gewächshäusern oder Wintergärten zu behelfen, um die Frische der Nelken und Rosen zu verlängern oder zu bewahren, das war nicht ihre Art. Die staubtrockenen Komplexitäten und Uneindeutigkeiten unseres eher allmählich voranschreitenden und zweifelnden Zeitalters waren ihnen unbekannt. Alles war heftig. Die Blume erblühte und verwelkte. Die Sonne ging auf und versank. Der Liebhaber liebte und ging. Und was die Dichter in Reimen ausdrückten, setzten die jungen Leute in die Tat um. Mädchen waren Rosen, und ihre Blütezeit war so begrenzt wie die der Blumen. Sie mussten gepflückt werden, bevor die Nacht hereinbrach; denn der Tag war kurz und der Tag war alles. Wenn Orlando also dem Ruf des Klimas folgte, dem der Dichter, dem des Zeitalters selbst, und seine Blume auf der Fensterbank pflückte, obwohl Schnee lag und die Königin auf dem Gang wachte, bringen wir es kaum übers Herz, ihm daraus einen Vorwurf zu ­machen. Er war jung; er war jungenhaft; er tat nur, was die Natur ihm gebot. Was den Namen des Mädchens betrifft, wissen wir ebenso wenig wie Königin Elizabeth selbst. Es hätte Doris, Chloris, Delia oder Diana sein können, denn er schrieb ihnen allen abwechselnd Verse; ebenso hätte es eine Dame vom Hof sein können oder irgendeine Dienstmagd. Denn Orlandos Geschmack war breit gefächert; er war nicht nur ein Liebhaber von Gartenblumen; die wilden und selbst das Unkraut übten stets eine Faszination auf ihn aus.

Hier legen wir in der Tat rüde, wie es einem Biografen erlaubt ist, einen merkwürdigen Zug von ihm dar, der möglicherweise darauf zurückzuführen ist, dass eine gewisse Großmutter von ihm einen Kittel getragen und Milcheimer geschleppt hatte. Ein paar Krumen Erde aus Kent oder Sussex waren mit der dünnen, edlen Flüssigkeit vermischt, die aus der Normandie zu ihm gelangt war. Er war überzeugt, dass braune Erde und blaues Blut eine gute Mischung ergaben. Fest steht, dass er an niederer Gesellschaft, besonders an der Gesellschaft gebildeter Leute, deren Verstand sie so oft unten hält, stets Gefallen fand, als bestünde eine Blutsverwandtschaft zwischen ihnen. In diesem Abschnitt seines Lebens, als sein Kopf randvoll mit Reimen war und er nie zu Bett ging, ohne vorher irgendeine Metapher zu notieren, schienen ihm die Tochter eines Wirts eine frischere Wange und die Nichte eines Wildhüters einen regeren Verstand zu haben als die Damen am Hof. Daher begann er, nachts ­regelmäßig nach Wapping Old Stairs und in die Biergärten zu gehen, eingehüllt in einen grauen Umhang, um den Stern an seinem Hals und den Hosenbandorden an seinem Knie zu verbergen. Dort, mit einem Becher vor sich, zwischen den sandbestreuten Gassen und Kegelbahnen und den ganzen einfachen Baulichkeiten solcher Orte, lauschte er den Geschichten der Seeleute von Elend und Schrecken und Grausamkeit im Karibischen Meer; wie manche ihre Zehen verloren hatten, andere ihre Nasen – denn die mündliche Erzählung war nie so geschliffen oder so zart gefärbt wie die schriftliche. Besonders gefiel es ihm, sie ihre Lieder von den Azoren schmettern zu hören, während die Papageien, die sie von dort mitgebracht hatten, an den Ringen in ihren Ohren knabberten, mit ihren harten, gierigen Schnäbeln nach den Rubinen an ihren Fingern pickten und ebenso derb fluchten wie ihre Herren. Die Frauen waren kaum weniger schamlos in ihrer Ausdrucksweise und weniger frei in ihren Umgangsformen als die Vögel. Sie setzten sich auf seinen Schoß, schlangen die Arme um seinen Hals und waren, da sie errieten, dass sich etwas Außergewöhnliches unter seinem Düffelumhang verbarg, ebenso begierig, der Wahrheit auf den Grund zu gehen, wie Orlando selbst.

Es mangelte auch nicht an Gelegenheit. Auf dem Fluss tummelten sich von früh bis spät Lastkähne, Jollen und Schiffe jeglicher Art. Jeden Tag stach irgendein schönes Segelschiff nach Südostasien in See; dann und wann schleppte sich ein anderes verschmutztes und marodes, mit behaarten, unbekannten Männern an Bord, schwerfällig zum Anlegeplatz. Niemand vermisste einen Jungen oder ein Mädchen, wenn sie nach Sonnenuntergang noch ein wenig auf dem Wasser tändelten, oder zog eine Augenbraue hoch, wenn gemunkelt wurde, man habe sie zwischen den Säcken voller Schätze einen im Arm des anderen geborgen tief schlafen sehen. Ein ebensolches Abenteuer erlebten Orlando, Sukey und der Graf von Cumberland. Es war ein heißer Tag; ihre Liebesspiele waren lebhaft gewesen; sie waren zwischen den Rubinen eingeschlafen. Spät in jener Nacht kam der Graf, dessen Vermögen eng mit den spanischen Eroberungen verknüpft war, allein mit einer Laterne zurück, um die Beute zu begutachten. Er warf das Licht auf eine Tonne. Er schreckte mit einem Fluch zurück. Eng um das Fass geschlungen lagen zwei schlafende Geister. Der Graf war von Natur aus abergläubisch, und sein Gewissen war mit zahlreichen Verbrechen belastet, deshalb hielt er das Paar – sie waren in einen roten Umhang gehüllt, und Sukeys Busen war fast so weiß wie der ewige Schnee in Orlandos Gedichten – für eine Erscheinung, die den Gräbern ertrunkener Seeleute entstiegen war, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Er bekreuzigte sich. Er gelobte Buße. Die Reihe Armenhäuser, die noch immer in der Sheen Road steht, ist die sichtbare Frucht der Panik jenes Augenblicks. Zwölf arme alte Frauen, die die Gemeinde unterhält, trinken dort heute Nachmittag Tee und segnen heute Abend Seine Lordschaft für das Dach über ihrem Kopf; sodass heimliche Liebe in einem Schiff voller Schätze – doch verzichten wir auf die Moral.

Bald jedoch hatte Orlando genug, nicht nur von der Unbequemlichkeit dieses Lebensstils und den unfreundlichen Gassen des Viertels, sondern auch von der primitiven Art der Leute. Denn man darf nicht vergessen, dass Kriminalität und Armut auf die Elisabethaner nicht die gleiche Anziehungskraft ausübten wie auf uns. Unsere moderne Scham für Gelehrsamkeit war ihnen fremd, ebenso unser Glaube, dass es ein Segen ist, als Sohn eines Metzgers geboren zu sein, und eine Tugend, nicht lesen zu können; sie teilten nicht die fixe Idee, dass das, was wir »Leben« und »Wirklichkeit« nennen, irgendwie mit Unwissenheit und Brutalität verbunden ist; sie hatten nicht einmal irgendein Äquivalent für diese beiden Wörter. Nicht um das »Leben« zu finden, hatte Orlando sich unter die Leute gemischt, sie nicht auf der Suche nach »Wirklichkeit« verlassen. Aber nachdem er zigmal gehört hatte, wie Jakes seine Nase verloren hatte und Sukey ihre Unschuld – und sie waren begnadete Erzähler, das muss man ihnen lassen –, wurde er der Wiederholung langsam überdrüssig, denn eine Nase kann nur auf eine Weise abgeschnitten und Jungfräulichkeit auf eine andere verloren werden – zumindest kam ihm das so vor –, wohingegen die Künste und die Wissenschaften eine Vielfalt bargen, die in ihm große Neugier erregte. Also hörte er auf, die Biergärten und Kegelbahnen zu besuchen, behielt sie aber für immer in glücklicher Erinnerung, und hängte seinen grauen Umhang in den Schrank, ließ den Stern an seinem Hals leuchten und den Hosenbandorden an seinem Knie funkeln und erschien wieder am Hof König James’. Orlando war jung, er war reich, er war gut aussehend. Niemand hätte mit mehr Beifall empfangen werden können als er.

Es steht ohne Zweifel fest, dass viele Damen bereit waren, ihm ihre Gunst zu erweisen. Die Namen von wenigstens dreien wurden freimütig mit seinem im Zusammenhang einer Heirat erwähnt – Clorinda, Favilla, Euphrosyne –, so nannte er sie in seinen Sonetten.

Aber der Reihe nach: Clorinda war ein recht sanftmütiges, liebenswürdiges Fräulein; Orlando war in der Tat sechseinhalb Monate lang schwer von ihr angetan, aber sie hatte weiße Wimpern und konnte kein Blut sehen. Ein Hase, der gebraten am Tisch ihres Vaters serviert wurde, ließ sie in Ohnmacht fallen. Sie stand auch stark unter dem Einfluss der Priester und sparte an ihrer Unterwäsche, um den Armen mehr geben zu können. Sie machte es sich zur Pflicht, Orlando von seinen Sünden zu bekehren, was er nicht ausstehen konnte, sodass er die Heirat aufkündigte und es nicht sehr bedauerte, als sie bald darauf an Blattern starb.

Favilla, die nächste, war von ganz anderer Art. Sie war die Tochter eines armen Edelmannes aus Somersetshire, die sich allein durch Beharrlichkeit und den Einsatz ihrer Augen am Hof nach oben gearbeitet hatte, wo ihre Geschicklichkeit in der Reitkunst, ihr eleganter Rist und ihre Anmut beim Tanzen ihr die Bewunderung aller einbrachten. Einmal jedoch beging sie den Fehler, einen Spaniel, der einen ihrer Seidenstrümpfe zerrissen hatte (und zu ihrer Verteidigung muss gesagt werden, dass Favilla wenige Strümpfe besaß und diese zum Großteil aus grober Wolle waren), unter Orlandos Fenster um ein Haar zu Tode zu peitschen. Orlando, der ein leidenschaftlicher Tierfreund war, bemerkte nun, dass ihre Zähne krumm waren und die beiden vorderen nach innen gedreht, was, wie er sagte, bei Frauen ein sicheres Zeichen einer perversen und grausamen Veranlagung sei, und daher löste er die Verlobung noch an demselben Abend für immer.

Die dritte, Euphrosyne, war bei Weitem die ernsthafteste seiner Liebschaften. Sie war eine geborene irische Desmond und besaß daher einen Stammbaum, der ebenso alt und tief verwurzelt war wie Orlandos. Sie war blond, rosig und nur ein klein wenig phlegmatisch. Sie sprach gut Italienisch, hatte eine Reihe makelloser Zähne im Oberkiefer, die unteren jedoch waren leicht verfärbt. Sie hatte stets einen Windhund oder Spaniel zu ihren Füßen, den sie mit Weißbrot von ihrem eigenen Teller fütterte, sang lieblich zum Virginal und war nie vor Mittag angekleidet aufgrund der außerordentlichen Sorgfalt, die sie ihrer Person widmete. Kurz, sie wäre die perfekte Frau für einen Edelmann wie Orlando gewesen, und die Angelegenheit war schon so weit gediehen, dass sich die Anwälte auf beiden Seiten mit Abkommen, Vermögenszuwendungen, Eigentumsübertragungen, Anwesen, Grundbesitz und allem anderen beschäftigten, was sonst noch nötig ist, bevor ein großes Vermögen sich mit einem anderen vermählen kann, als mit der Heftigkeit und Strenge, die damals das englische Klima kennzeichnete, der Große Frost hereinbrach.

Der Große Frost war, wie Historiker berichten, der härteste, der diese Inseln je heimsuchte. Vögel erfroren im Flug und fielen wie Steine zu Boden. In Norwich machte sich eine junge Bäuerin auf, in ihrer üblichen robusten Gesundheit die Straße zu überqueren, und zerfiel vor den Augen der Umstehenden zu Pulverschnee und wurde in Form einer Staubwolke über die Dächer geweht, als der eisige Wind sie an der Straßenecke traf. Die Sterblichkeit von Schafen und Rindern war enorm. Leichen gefroren und konnten nicht von den Laken gelöst werden. Es war nicht ungewöhnlich, auf eine ganze Schweineherde zu stoßen, die unbeweglich auf der Straße festgefroren war. Die Felder waren voll von Schäfern, Pflügern, Pferdegespannen und kleinen Jungen, die Vögel aufschreckten, alle in einem einzigen Augenblick stocksteif gefroren, einer mit der Hand an der Nase, ein anderer mit der Flasche an den Lippen, ein dritter mit einem erhobenen Stein, um ihn nach den Raben zu werfen, die wie ausgestopft ein Yard von ihm entfernt auf der Hecke saßen. Der Frost war so außergewöhnlich heftig, dass es manchmal zu einer Art Versteinerung kam; und man nahm allgemein an, dass die große Zunahme von Gesteinsblöcken in manchen Teilen Derbyshires nicht auf einen Vulkanausbruch zurückzuführen war, denn es hatte keinen gegeben, sondern auf das Erstarren unglückseliger Reisender, die buchstäblich an Ort und Stelle in Stein verwandelt worden waren. Die Kirche konnte in der Sache wenig helfen, und obwohl manche Grundbesitzer diese Relikte segnen ließen, zog der Großteil es vor, sie entweder als Grenzsteine, Kratzbäume für Schafe oder, wenn die Form des Steins es zuließ, als Viehtröge zu benutzen, welchen Zwecken sie, zum Großteil auf bewundernswerte Weise, bis zum heutigen Tag dienen.

Doch während die Landbevölkerung größte Not litt und der Handelsverkehr des Landes zum Erliegen gekommen war, feierte London ein rauschendes, ausgelassenes Volksfest. Der Hof war in Greenwich, und der neue König nutzte die Gelegenheit, die seine Krönung ihm bot, um sich bei den Bürgern beliebt zu machen. Er ordnete an, dass der Fluss, der nach beiden Seiten über sechs, sieben Meilen hin mehr als zwanzig Fuß tief gefroren war, auf seine Kosten gefegt, geschmückt und wie ein Park oder Lustgarten hergerichtet werden solle, mit Lauben, Labyrinthen, Kegelbahnen, ­Getränkebuden usw. Für sich und die Höflinge reservierte er einen festen Platz direkt gegenüber den Palasttoren, der, nur durch ein seidenes Band von der Bevölkerung getrennt, augenblicklich zum Zentrum der vornehmsten Gesellschaft Englands wurde. Große Staatsmänner mit Bart und Halskrause führten Staatsgeschäfte unter dem karminroten Vordach der königlichen Pagode. Soldaten planten die Eroberung des Mohren und den Sturz des Türken in gestreiften, von Straußenfedern gekrönten Lauben. Admiräle spazierten mit einem Glas in der Hand die schmalen Wege auf und ab, deuteten auf den Horizont und erzählten Geschichten von der Nordwestpassage und der Spanischen Armada. Liebespaare tändelten auf mit Zobelpelzen ausgelegten Diwanen. Es regnete gefrorene Rosen, wenn die Königin und ihre Hofdamen ausgingen. Bunte Ballons schwebten reglos in der Luft. Hier und dort brannten riesige, von Zedern- und Eichenholz genährte Freudenfeuer, die großzügig gesalzen wurden, sodass die Flammen grün, orange und violett leuchteten. Aber wie heiß sie auch brannten, die Hitze reichte nicht aus, um das Eis zu schmelzen, das, obschon von einzigartiger Transparenz, dennoch die Härte von Stahl hatte. Es war in der Tat so klar, dass man, erstarrt in einer Tiefe von mehreren Fuß, hier einen Tümmler, dort eine Flunder sehen konnte. Schwärme von Aalen lagen reglos in Trance, aber ob sie sich im Zustand des Todes befanden oder lediglich in einem stillgelegter Lebendigkeit, die die Wärme wiederherstellen würde, gab den Philosophen Rätsel auf. In der Nähe der London Bridge, wo der Fluss bis in eine Tiefe von gut zwanzig Klaftern gefroren war, konnte man deutlich einen schiffbrüchigen Lastkahn erkennen, der im Flussbett lag, wo er letzten Herbst mit Äpfeln überladen gesunken war. Die alte Bumbootsfrau, die ihr Obst zum Markt am Surrey-Ufer brachte, saß in ihren Plaids und Reifröcken mit dem Schoß voller Äpfel geradeso da, als wollte sie gleich einen Kunden bedienen, doch ein gewisser bläulicher Ton um die Lippen deutete die Wahrheit an. Dieser Anblick gefiel König James besonders gut, und er kam oft mit einer Truppe von Höflingen, die ihn mit ihm betrachten sollten. Kurz, nichts konnte den Glanz und die Fröhlichkeit des Treibens bei Tag übertreffen. Doch bei Nacht war das Fest am ausgelassensten. Denn der Frost hielt ununterbrochen an; die Nächte waren vollkommen still; der Mond und die Sterne strahlten mit der harten Beständigkeit von Diamanten, und zur lieblichen Musik von Flöte und Trompete tanzten die Höflinge.

Orlando, müssen wir zugeben, gehörte nicht zu jenen, die leichten Fußes die Courante oder die Volta tanzten; er war ungeschickt und ein wenig geistesabwesend. Er zog die schlichten Tänze seines eigenen Landes, die er als Kind getanzt hatte, diesen ausgefallenen fremden Rhythmen eindeutig vor. Tatsächlich hatte er gerade erst nach irgendeiner solchen Quadrille oder einem Menuett, um etwa sechs Uhr am Abend des siebten Januar, seine Füße geordnet, als er vom Pavillon der moskowitischen Botschaft eine Gestalt kommen sah, die, ob Jüngling oder Frau, denn die lockere Tunika und Hose moskowitischer Mode verhüllten das ­Geschlecht, ihn mit größter Neugier erfüllte. Die Person, welchen Namens oder Geschlechts auch immer, war von etwa mittlerer Größe, schlanker Statur und ganz in austernfarbenen Samt gekleidet, der mit einem fremdartigen grün­lichen Pelz besetzt war. Aber diese Details verschwanden hinter dem außerordentlichen verführerischen Reiz, der von der ganzen Person ausging. Bilder, Metaphern von extremster und extravagantester Art verschlangen und verflochten sich in seinem Kopf. Er nannte sie eine Melone, eine Ananas, einen Olivenbaum, einen Smaragd und einen Fuchs im Schnee, alles innerhalb von drei Sekunden – er wusste nicht, ob er sie gehört, sie geschmeckt oder sie gesehen hatte oder alles drei auf einmal. (Denn obwohl wir die Erzählung keinen Augenblick anhalten dürfen, können wir hier eilig bemerken, dass all seine Bilder zu dieser Zeit extrem einfach waren, um seinen Sinneseindrücken zu entsprechen, und hauptsächlich von Dingen inspiriert, deren Geschmack er als Junge gemocht hatte. Aber wenn seine Sinneseindrücke auch einfach waren, so waren sie doch gleichzeitig extrem stark. Anzuhalten und den Dingen auf den Grund zu gehen, kommt daher nicht in Frage.) … Eine Melone, ein Smaragd, ein Fuchs im Schnee – so schwärmte er, so starrte er. Als der Jüngling, denn ach, ein Jüngling musste es sein – keine Frau konnte mit solch einer Geschwindigkeit und Kraft eislaufen – beinahe auf Zehenspitzen an ihm vorbeirauschte, war Orlando nahe dran, sich vor Frust die Haare zu raufen, dass die Person seinem eigenen Geschlecht angehörte und daher jegliche Zärtlichkeiten ausgeschlossen waren. Doch der Eisläufer kam näher. Beine, Hände, Haltung waren die eines Jünglings, aber kein Jüngling hatte je einen solchen Mund gehabt; kein Jüngling hatte jene Brüste; kein Jüngling hatte Augen, die aussahen, als wären sie vom Grund des Meeres gefischt worden. Schließlich, langsamer werdend und mit einem schwungvollen, unglaublich anmutigen Knicks zum König hin, der gerade am Arm eines Kammerherren vorbeischlurfte, kam das unbekannte Wesen zum Stehen. Sie war keine Handbreit entfernt. Sie war eine Frau. Orlando starrte, zitterte; ihm wurde heiß, ihm wurde kalt; er wollte sich in die Sommerluft schwingen, Eicheln unter seinen Füßen zerdrücken; die Arme hochwerfen wie die Buchen und die ­Eichen ihre Zweige. Stattdessen bewegte er die Lippen vor seinen kleinen weißen Zähnen; öffnete sie vielleicht einen halben Zoll, wie um zuzubeißen; schloss sie, als hätte er zugebissen. Lady Euphrosyne hing an seinem Arm.

Der Name der Fremden, erfuhr er, war Prinzessin Maruscha Stanilowska Dagmar Natascha Iliana Romanowitsch, und sie war im Gefolge des moskowitischen Botschafters gekommen, der möglicherweise ihr Onkel war, möglicherweise auch ihr Vater, um der Krönung beizuwohnen. Über die Moskowiter war sehr wenig bekannt. Mit ihren langen Bärten und Pelzmützen saßen sie fast schweigend da und tranken irgendeine schwarze Flüssigkeit, die sie hin und wieder aufs Eis ausspuckten. Niemand von ihnen sprach Englisch, und Französisch, das zumindest einige beherrschten, wurde damals am englischen Hof kaum gesprochen.

Durch diesen Umstand wurden Orlando und die Prinzessin miteinander bekannt. Sie saßen einander gegenüber an der langen Tafel, die unter einer riesigen Zeltplane zur Unterhaltung der Honoratioren gedeckt war. Die Prinzessin war zwischen zwei junge Lords platziert worden, der eine war Lord Francis Vere und der andere der junge Graf von Moray. Es war urkomisch, die Bedrängnis zu sehen, in die sie die beiden bald gestürzt hatte, denn auch wenn sie auf ihre Weise feine Burschen waren, verstanden sie von der französischen Sprache ebenso viel wie ein ungeborenes Kind. Als die Prinzessin sich zu Beginn des Essens an den Grafen wandte und mit einer Anmut, die sein Herz entzückte, sagte: »Je crois avoir fait la connaissance d’un gentilhomme qui vous était apparenté en Pologne l’été dernier«, oder auch: »La beauté des dames de la cour d’Angleterre me met dans le ravissement. On ne peut voir une dame plus gracieuse que votre reine, ni une coiffure plus belle que la sienne«, gerieten sowohl Lord Francis als auch der Graf in größte Verlegenheit. Der eine bediente die Prinzessin großzügig mit Meerrettichsoße, der andere pfiff seinen Hund herbei und ließ ihn um einen Markknochen betteln. Daraufhin konnte sich die Prinzessin das Lachen nicht länger verhalten, und ­Orlando, der über die Wildschweinköpfe und gestopften Pfauen hinweg einen Blick mit ihr tauschte, lachte ebenfalls. Er lachte, aber das Lachen auf seinen Lippen erstarrte vor Verwunderung. Wen, was, fragte er sich in einem Aufruhr der Gefühle, hatte er bis jetzt geliebt? Eine alte Frau, antwortete er, nichts als Haut und Knochen. Rotbackige Dirnen, zu viele, um sie aufzuzählen. Eine wimmernde Nonne. Eine abgebrühte Spekulantin mit grausamem Mund. Eine nickende Ansammlung von Spitze und Förmlichkeiten. Liebe hatte ihm nicht mehr bedeutet als Sägemehl und Asche. Die Freuden, die sie ihm gebracht hatte, schmeckten durch und durch schal. Er wunderte sich, wie er das durchgehalten hatte, ohne zu gähnen. Denn während er hinübersah, schmolz die Dicke seines Blutes; das Eis wurde zu Wein in seinen Adern; er hörte das Wasser rauschen und die ­Vögel singen; der Frühling brach über die harte, winterliche Landschaft herein; seine Männlichkeit erwachte; er legte die Hand um ein Schwert; er bekämpfte einen wilderen Feind als den Polen oder Mohren; er tauchte in tiefes Wasser ein; er sah die Blume der Gefahr in einer Felsspalte wachsen; er streckte die Hand aus – tatsächlich war er mittendrin, eines seiner leidenschaftlichsten Sonette herunterzurattern, als die Prinzessin ihn ansprach: »Hättet Ihr die Güte, mir das Salz zu reichen?«

Er wurde dunkelrot.

»Mit dem größten Vergnügen der Welt, Madame«, antwortete er in akzentfreiem Französisch. Denn dem Himmel sei Dank beherrschte er diese Sprache wie seine eigene; die Zofe seiner Mutter hatte sie ihm beigebracht. Dennoch wäre es für ihn vielleicht besser gewesen, hätte er jene Sprache niemals gelernt; jener Stimme niemals geantwortet; wäre niemals dem Licht jener Augen gefolgt …