Orlando - Virginia Woolf - E-Book

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Virginia Woolf

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Beschreibung

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Vierhundert Jahre im Leben Orlandos: Im 16. Jahrhundert ist er ein hübscher Page mit literarischen Ambitionen am englischen Hof, als Gesandter in Konstantinopel wird er eine Frau, lebt bei einem Zigeunerstamm, kehrt als große Dame der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nach England zurück, sucht, als Mann verkleidet, verbotene Abenteuer, verliebt sich und ist, in der Gegenwart angekommen, eine erfolgreiche Schriftstellerin. Diese einzigartige, virtuose Romanbiographie gehört zu den unvergänglichen Werken der Weltliteratur.

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Seitenzahl: 446

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Virginia Woolf

Orlando

Eine Biographie

Herausgegeben und kommentiert von Klaus Reichert

Aus dem Englischen von Brigitte Walitzek

Fischer e-books

Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.

Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.

Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.

Für

V. Sackville-West

Orlando als Knabe

Vorwort

Viele Freunde haben mir geholfen, dieses Buch zu schreiben. Manche sind tot und so berühmt, daß ich sie kaum zu nennen wage, jedoch kann niemand lesen oder schreiben, ohne auf ewig in der Schuld Defoes, Sir Thomas Brownes, Sternes, Sir Walter Scotts, Lord Macaulays, Emily Brontës, De Quinceys und Walter Paters zu stehen – um die ersten zu nennen, die einem in den Sinn kommen. Andere sind noch am Leben und, obwohl vielleicht auf ihre Art ebenso berühmt, aus ebendiesem Grunde weniger ehrfurchtgebietend. Ich bin besonders Mr C. P. Sanger zu Dank verpflichtet, ohne dessen Kenntnis des Grundstücksrechts dieses Buch nicht hätte geschrieben werden können. Mr Sydney-Turners breite und besondere Gelehrsamkeit hat mir, wie ich hoffe, einige beklagenswerte Patzer erspart. Ich konnte Nutzen ziehen – wie sehr, kann nur ich allein ermessen – aus Mr Arthur Waleys Kenntnis des Chinesischen. Madame Lopokowa (Mrs J. M. Keynes) war zur Hand, mein Russisch zu korrigieren. Der unvergleichlichen Sympathie und Vorstellungskraft Mr Roger Frys verdanke ich, was immer ich an Verständnis für die Kunst der Malerei besitzen mag. Ich habe, wie ich hoffe, in einem anderen Bereich von der einzigartig scharfsichtigen, wenn auch strengen Kritik meines Neffen, Mr Julian Bell, profitiert. Miss M. K. Snowdons unermüdliche Forschungsarbeit in den Archiven von Harrogate und Cheltenham war nicht weniger mühselig, nur weil sie vergeblich war. Andere Freunde haben mir auf zu unterschiedliche Weisen geholfen, als daß sie einzeln aufgezählt werden könnten. Ich muß mich damit begnügen, Mr Angus Davidson zu nennen; Mrs Cartwright; Miss Janet Case; Lord Berners (dessen Kenntnis der elisabethanischen Musik sich als unschätzbar erwies); Mr Francis Birrell; meinen Bruder, Dr. Adrian Stephen; Mr F. L. Lucas; Mr und Mrs Desmond Maccarthy; jenen inspirierendsten aller Kritiker, meinen Schwager, Mr Clive Bell; Mr G. H. Rylands; Lady Colefax; Miss Nellie Boxall; Mr J. M. Keynes; Mr Hugh Walpole; Miss Violet Dickinson; the Honourable Edward Sackville West; Mr und Mrs St. John Hutchinson; Mr Duncan Grant; Mr und Mrs Stephen Tomlin; Mr und Lady Ottoline Morrell; meine Schwiegermutter, Mrs Sidney Woolf; Mr Osbert Sitwell; Madame Jacques Raverat; Colonel Cory Bell; Miss Valerie Taylor; Mr J. T. Sheppard; Mr und Mrs T. S. Eliot; Miss Ethel Sands; Miss Nan Hudson; meinen Neffen, Mr Quentin Bell (ein alter und geschätzter Mitarbeiter auf dem Gebiet der Fiktion); Mr Raymond Mortimer; Lady Gerald Wellesley; Mr Lytton Strachey; die Viscountess Cecil; Miss Hope Mirrlees; Mr E. M. Forster; the Honourable Harold Nicolson; und meine Schwester, Vanessa Bell – aber die Liste droht, zu lang zu werden, und ist jetzt schon viel zu distinguiert. Denn während sie mir Erinnerungen der erfreulichsten Art ins Gedächtnis ruft, muß sie im Leser unweigerlich Erwartungen wecken, die das Buch selbst nur enttäuschen kann. Daher will ich schließen, indem ich den Mitarbeitern des Britischen Museums und des Record Office für ihre gewohnte Liebenswürdigkeit danke; meiner Nichte, Miss Angelica Bell, für einen Dienst, den niemand außer ihr hätte leisten können; und meinem Mann für die Geduld, mit der er mir unermüdlich bei meinen Nachforschungen geholfen hat, und für das umfassende historische Wissen, dem diese Seiten den wie auch immer gearteten Grad an Genauigkeit verdanken, den sie erreichen mögen. Zum Schluß möchte ich, hätte ich seinen Namen und seine Adresse nicht verloren, einem Herrn in Amerika danken, der großmütig und unentgeltlich Interpunktion, Botanik, Entomologie, Geographie und Chronologie meiner früheren Arbeiten korrigiert hat und, wie ich hoffe, auch bei dieser Gelegenheit nicht mit seinen Diensten sparen wird.

Kapitel I

Er – denn es konnte keinen Zweifel an seinem Geschlecht geben, wenn auch die Mode der Zeit einiges tat, es zu verhüllen – war soeben dabei, auf den Kopf eines Mohren einzusäbeln, der von den Dachbalken baumelte. Dieser hatte die Farbe eines alten Fußballs und mehr oder weniger die Form eines solchen, bis auf die eingefallenen Wangen und die ein oder zwei Strähnen strohiger, trockener Haare, wie die Haare einer Kokosnuß. Orlandos Vater, oder vielleicht sein Großvater, hatte ihn von den Schultern eines riesenhaften Heiden geschlagen, der unter dem Mond der barbarischen Felder Afrikas aufgesprungen war; und nun baumelte er, leise, unablässig, in dem Luftzug, der niemals aufhörte, durch die Dachkammern des gigantischen Hauses des Lords zu wehen, der ihn erschlagen hatte.

Orlandos Väter waren durch Felder von Asphodelen geritten, und durch steinige Felder und von fremden Flüssen bewässerte Felder, und sie hatten viele Köpfe von vielen Farben von vielen Schultern geschlagen und sie zurückgebracht, um sie von den Dachbalken hängen zu lassen. Das würde Orlando ebenfalls tun, gelobte er. Doch da er erst sechzehn war und zu jung, um in Afrika oder Frankreich mit ihnen zu reiten, stahl er sich oftmals fort von seiner Mutter und den Pfauen im Garten und ging in seine Dachkammer und hieb und stieß und zersäbelte die Luft mit seiner Klinge. Manchmal durchschnitt er die Schnur, so daß der Schädel auf den Boden plumpste und er ihn wieder aufhängen mußte, wobei er ihn mit einiger Ritterlichkeit fast außerhalb seiner Reichweite befestigte, so daß sein Feind ihn durch geschrumpfte, schwarze Lippen triumphierend angrinste. Der Schädel baumelte hin und her, denn das Haus, in dessen Dach er wohnte, war so riesig, daß der Wind selbst in ihm verfangen schien, hierhin wehte, dorthin wehte, Winter wie Sommer. Der grüne Wandteppich mit den Jägern darauf bewegte sich unablässig. Seine Väter waren von Adel gewesen, seit es sie gab. Sie waren, Kronen auf den Köpfen tragend, aus den nördlichen Nebeln gekommen. Stammten die Balken der Dunkelheit im Raum und die gelben Lachen, die Karos auf den Boden malten, etwa nicht von der Sonne, die durch das farbige Glas eines riesigen Wappens im Fenster fiel? Orlando stand nun mitten im gelben Leib eines heraldischen Leoparden. Als er die Hand auf das Fenstersims legte, um das Fenster aufzustoßen, färbte sie sich unverzüglich rot, blau und gelb wie ein Schmetterlingsflügel. So mag jenen, die eine Vorliebe für Symbole und eine Neigung, sie zu entziffern, haben, auffallen, daß die wohlgeformten Beine, der schöne Leib und die kräftigen Schultern zwar allesamt mit verschiedenen Tönungen heraldischen Lichts geschmückt waren, Orlandos Gesicht jedoch, als er das Fenster aufstieß, einzig von der Sonne selbst beleuchtet war. Ein aufrichtigeres, widerspenstigeres Gesicht ließe sich unmöglich finden. Glücklich die Mutter, die ein solches Leben austrägt, glücklicher noch der Biograph, der es aufzeichnet! Nie braucht sie sich zu grämen, noch er die Hilfe von Romanschreiber oder Dichter anzurufen. Von Tat zu Tat, von Ruhm zu Ruhm, von Amt zu Amt muß er schreiten, seinen Schreiber im Gefolge, bis sie jenen Punkt erreichen, welcher der Gipfel ihres Sehnens ist. Orlando war allein dem Aussehen nach für eine solche Laufbahn geschaffen. Das Rot der Wangen war von Pfirsichflaum überzogen; der Flaum auf den Lippen nur um ein weniges dichter als der Flaum auf den Wangen. Die Lippen selbst waren kurz und leicht geöffnet über Zähnen von erlesenem, mandelhellem Weiß. Nichts störte die pfeilgerade Nase auf ihrem kurzen, gespannten Flug; die Haare waren dunkel, die Ohren klein und eng am Kopf anliegend. Aber, ach, daß dieser Katalog jugendlicher Schönheit nicht enden kann, ohne Stirn und Augen zu erwähnen. Ach, daß die Menschen nur selten bar dieser drei geboren werden; denn sowie wir Orlando anblicken, der am Fenster steht, müssen wir eingestehen, daß er Augen hatte wie benetzte Veilchen, so groß, daß es schien, das Wasser habe sie bis zum Rand gefüllt und sie geweitet; und eine Stirn wie die Wölbung einer marmornen Kuppel, eingepreßt zwischen die beiden blanken Medaillons, die seine Schläfen waren. Sowie wir Augen und Stirn anblicken, geraten wir derart ins Schwärmen. Sowie wir Augen und Stirn anblicken, müssen wir eintausend Unstimmigkeiten eingestehen, die zu übergehen das Ziel eines jeden guten Biographen ist. Anblicke verstörten ihn, wie der seiner Mutter, einer wunderschönen Dame in Grün, die hinaustrat, um, gefolgt von Twitchett, ihrer Zofe, die Pfauen zu füttern; Anblicke rissen ihn hin – die Vögel und die Bäume; und machten ihn verliebt in den Tod – der Abendhimmel, die heimwärts fliegenden Saatkrähen; und so, die Wendeltreppe zu seinem Gehirn emporsteigend – welches ein geräumiges war – , begannen all diese Anblicke, und auch die Gartengeräusche, die Hammerschläge, das Holzhacken, jenen Aufruhr und jene Verwirrung der Leidenschaften und Gefühle, die jeder gute Biograph verabscheut. Um jedoch fortzufahren – Orlando zog langsam den Kopf zurück, setzte sich an den Tisch, holte mit dem halb bewußten Gebaren eines Menschen, der tut, was er jeden Tag seines Lebens um diese Stunde tut, ein Schreibheft hervor, welches die Aufschrift »Aethelbert: Eine Tragödie in fünf Akten« trug, und tunkte einen alten, fleckigen Gänsekiel in die Tinte.

Bald hatte er zehn und mehr Seiten mit Versen gefüllt. Er schrieb augenscheinlich fließend, aber er schrieb abstrakt. Das Laster, das Verbrechen, das Elend waren die Figuren seines Dramas; es gab Könige und Königinnen unmöglicher Territorien; gräßliche Verschwörungen vernichteten sie; edle Gefühle durchfluteten sie; nie wurde ein Wort gesprochen, wie er selbst es gesprochen hätte, aber alles war mit einer Gewandtheit und Süße in Worte gefaßt, die in Anbetracht seines Alters – er war noch keine siebzehn – und der Tatsache, daß das sechzehnte Jahrhundert noch einige Jahre hinter sich zu bringen hatte, durchaus bemerkenswert waren. Schließlich jedoch hielt er inne. Er beschrieb soeben, wie alle jungen Dichter dies stets tun, die Natur, und um die Schattierung von Grün präzise zu treffen, besah er sich (und hier bezeigte er mehr Kühnheit als die meisten) die Sache selbst, welche zufällig ein Lorbeerstrauch war, der unter dem Fenster wuchs. Danach konnte er, natürlich, nichts mehr schreiben. Grün in der Natur ist eine Sache, Grün in der Literatur eine andere. Natur und Buchstäbliches scheinen eine natürliche Abneigung gegeneinander zu hegen; bringt man sie zusammen, reißen sie sich gegenseitig in Stücke. Die Schattierung von Grün, die Orlando nun sah, verdarb seinen Reim und zerriß sein Versmaß. Überdies besitzt die Natur ihre ganz eigenen Kniffe. Man braucht nur einmal aus einem Fenster zu sehen, auf Bienen zwischen Blumen, auf einen gähnenden Hund, auf die untergehende Sonne, man braucht nur einmal zu denken, »wie viele Sonnen werde ich noch untergehen sehen« etc. etc. (der Gedanke ist zu bekannt, um es wert zu sein, niedergeschrieben zu werden), und man läßt die Feder fallen, nimmt seinen Umhang, stürmt aus dem Zimmer und bleibt dabei mit dem Fuß an einer bemalten Truhe hängen. Denn Orlando war ein wenig ungeschickt.

Er achtete mit Bedacht darauf, jede Begegnung zu vermeiden. Da kam Stubbs, der Gärtner, über den Pfad. Er versteckte sich hinter einem Baum, bis er vorbei war. Er schlüpfte durch ein kleines Tor in der Gartenmauer. Er umging alle Stallungen, Zwinger, Brauereien, Tischlerwerkstätten, Waschhäuser, Stätten, an denen Talglichter gemacht, Ochsen geschlachtet, Hufeisen geschmiedet, Wämser genäht wurden – denn das Haus war eine Stadt, widerhallend von Männern, die ihren verschiedenen Gewerben nachgingen – , und erreichte ungesehen den farnbewachsenen Pfad, der durch den Park bergan führte. Vielleicht gibt es eine Verwandtschaft zwischen Eigenschaften; die eine zieht die andere mit sich; und der Biograph sollte an dieser Stelle auf die Tatsache hinweisen, daß diese Ungeschicklichkeit oftmals mit einer Liebe zur Einsamkeit gepaart ist. Nachdem er über eine Truhe gestolpert war, liebte Orlando selbstverständlich einsame Orte, weite Ausblicke und sich für immer und immer und immer allein zu fühlen.

Und so, nach einem langen Schweigen, hauchte er endlich, »Ich bin allein«, und öffnete damit zum ersten Mal in dieser Niederschrift die Lippen. Er war sehr schnell durch Farne und Weißdornsträucher bergan gegangen, Rehe und wilde Vögel aufscheuchend, zu einer Stelle, die von einer alleinstehenden Eiche gekrönt war. Sie lag sehr hoch, so hoch in der Tat, daß man unten neunzehn englische Grafschaften sehen konnte; und an klaren Tagen dreißig oder vielleicht vierzig, wenn das Wetter sehr schön war. Manchmal konnte man den Ärmelkanal sehen, wo Welle sich auf Welle wiederholte. Flüsse konnte man sehen und Vergnügungsboote, die auf ihnen glitten; und Galeonen, die in See stachen; und Armadas mit Wölkchen von Rauch, von denen das dumpfe Dröhnen feuernder Kanonen kam; und Festungen an der Küste; und Schlösser auf den Wiesen; und hier einen Wachturm; und da eine Feste; und wieder ein weitläufiges Herrenhaus, wie das von Orlandos Vater, zusammengeballt wie eine Stadt im Tal, von Mauern umrundet. Im Osten waren die Türme von London und der Rauch der großen Stadt; und vielleicht zeigten sich ganz hinten an der Horizontlinie, wenn der Wind aus der richtigen Richtung kam, der schroffe Gipfel und die zerklüfteten Kanten des Snowdon bergig zwischen den Wolken. Einen Augenblick stand Orlando zählend, sehend, erkennend. Das war das Haus seines Vaters; das das Haus seines Onkels. Seiner Tante gehörten die drei hohen Türme zwischen den Bäumen dort hinten. Die Heide gehörte ihnen, und der Wald; der Fasan und der Hirsch, der Fuchs, der Dachs und der Schmetterling.

Er seufzte tief und warf sich – in seinen Bewegungen lag eine Leidenschaft, die dieses Wort verdient – zu Füßen der Eiche auf die Erde. Er liebte es, unter all der Flüchtigkeit des Sommers das Rückgrat der Erde unter sich zu fühlen; denn als solches empfand er die harte Wurzel der Eiche; oder, denn Bild folgte auf Bild, sie war der Rücken eines großen Pferdes, auf dem er ritt; oder das Deck eines schlingernden Schiffs – sie war in der Tat alles, solange es hart war, denn er empfand ein Bedürfnis nach etwas, an das er sein strömendes Herz heften konnte; das Herz, das in seiner Seite zerrte; das Herz, das jeden Abend um diese Zeit, wenn er hinauswanderte, von würzigen und verliebten Stürmen erfüllt schien. An die Eiche band er es, und während er dort lag, wurde das Flattern in ihm und um ihn herum allmählich still; die kleinen Blätter hingen; der Hirsch blieb stehen; die blassen Sommerwolken verharrten; seine Glieder wurden schwer auf der Erde; und er lag so still, daß ganz allmählich der Hirsch näher kam und die Saatkrähen um ihn taumelten und die Schwalben herabschossen und kreisten und die Libellen vorbeizuckten, als sei alle Fruchtbarkeit und alle verliebte Aktivität eines Sommerabends wie ein Netz um seinen Leib gewoben.

Nach ungefähr einer Stunde – die Sonne ging schnell unter, die weißen Wolken waren rot geworden, die Hügel waren violett, die Wälder purpurn, die Täler schwarz – ertönte eine Trompete. Orlando sprang auf. Der schrille Ton kam aus dem Tal. Er kam von einem dunklen Fleck dort unten; einem Fleck, der dicht gedrängt und abgezirkelt war; einem Labyrinth; einer kleinen Stadt, und doch mit Mauern umgürtet; er kam aus dem Herzen seines eigenen großen Hauses im Tal, das, zuvor dunkel, noch während er schaute und die einzelne Trompete sich mit anderen, schrilleren Tönen verdoppelte und wiederum verdoppelte, seine Dunkelheit verlor und von Lichtern durchstochen wurde. Manche waren kleine, eilende Lichter, als hasteten Diener durch Flure, um Befehlen Folge zu leisten; andere waren hohe und strahlende Lichter, als brennten sie in leeren Bankettsälen, bereit zum Empfang von Gästen, die nicht gekommen waren; und andere kippten und wogten und senkten und hoben sich, als würden sie in den Händen ganzer Scharen von Bediensteten gehalten, die sich neigten, knieten, erhoben, empfingen, wachten, und mit aller Würde eine große Prinzessin ins Haus eskortierten, die aus ihrer Staatskarosse stieg. Kutschen drehten und wendeten im Hof. Pferde schüttelten ihre Federbüsche. Die Königin war gekommen.

Orlando schaute nicht länger. Er stürmte bergab. Er schlüpfte durch eine Seitenpforte ins Haus. Er rannte die Wendeltreppe hinauf. Er erreichte sein Zimmer. Er warf seine Strümpfe auf die eine Seite des Zimmers, sein Wams auf die andere. Er tunkte den Kopf ein. Er schrubbte seine Hände. Er schnitt seine Fingernägel. Mit Hilfe von nicht mehr als sechs Zoll Spiegel und zwei alten Kerzen legte er in weniger als zehn Minuten nach der Stalluhr eine karmesinrote Kniehose, Spitzenkragen, Weste aus Taffet und Schuhe mit Rosetten so groß wie gefüllte Dahlien an. Er war fertig. Er war erhitzt. Er war aufgeregt. Aber er war schrecklich spät.

Über Abkürzungen, die ihm bekannt waren, begab er sich nunmehr durch die weitläufige Ansammlung von Zimmern und Treppenfluchten zum Bankettsaal, der fünf Morgen entfernt auf der anderen Seite des Hauses lag. Aber auf halbem Wege, im hinteren Trakt, in dem die Dienerschaft lebte, blieb er stehen. Die Tür zu Mrs Stewkleys Wohnzimmer stand offen – sie war zweifellos gegangen, mit all ihren Schlüsseln, um ihrer Herrin aufzuwarten. Aber dort, am Gesindetisch, einen Krug neben sich und Papier vor sich, saß ein ziemlich dicker, ziemlich schäbiger Mann, dessen Halskrause eine Idee schmutzig und dessen Kleidung aus grobem, braunem Wollstoff war. Er hielt eine Feder in der Hand, aber er schrieb nicht. Er schien damit beschäftigt, eine Idee im Geiste auf und nieder zu rollen, hin und her, bis sie die Gestalt oder den Schwung annahm, wie es ihm beliebte. Seine Augen, rund und wolkig wie ein grüner Stein von merkwürdiger Textur, waren starr. Er sah Orlando nicht. Trotz all seiner Eile blieb Orlando wie angewurzelt stehen. War dies ein Dichter? Schrieb er ein Gedicht? »Sagt mir«, hätte er am liebsten gesagt, »alles auf der ganzen Welt« – denn er hatte die wildesten, absurdesten, extravagantesten Vorstellungen von Dichtern und Dichtung – , aber wie zu einem Mann sprechen, der einen nicht sieht? der statt dessen Menschenfresser, Satyrn, vielleicht die Tiefen des Meeres sieht? So stand Orlando und starrte, während der Mann die Feder in den Fingern drehte, einmal so und einmal so herum; und starrte und sann; und dann, sehr schnell, ein halbes Dutzend Zeilen schrieb und aufsah. Woraufhin Orlando, von Schüchternheit überwältigt, fortstürzte und den Bankettsaal gerade noch rechtzeitig erreichte, um auf die Knie zu sinken und, vor Verwirrung den Kopf hängen lassend, der großen Königin höchstselbst eine Schale Rosenwasser darzureichen.

So groß war seine Schüchternheit, daß er nicht mehr von ihr sah als ihre beringte Hand im Wasser; aber es war genug. Es war eine denkwürdige Hand; eine hagere Hand mit langen Fingern, die sich immer krümmten, wie um Reichsapfel oder Zepter; eine nervöse, reizbare, kränkliche Hand; auch eine befehlende Hand; eine Hand, die sich nur heben mußte, damit ein Kopf fiel; eine Hand, die, so vermutete er, an einem alten Leib befestigt war, der wie ein Schrank roch, in dem Pelze in Kampfer aufbewahrt werden; welcher Leib dennoch mit allen Arten von Brokat und Juwelen herausgeputzt war; und sich sehr aufrecht hielt, wenn auch vielleicht unter Schmerzen, die vom Hüftweh rührten; und niemals wich und wankte, wenn auch von tausend Ängsten zusammengehalten; und die Augen der Königin waren hellgelb. All dies fühlte er, als die großen Ringe im Wasser blitzten, und dann drückte etwas auf sein Haar – was, vielleicht, der Grund dafür ist, daß er nichts weiter sah, was für den Historiker von Nutzen sein könnte. Und wahrhaftig war sein Geist ein derartig undurchdringliches Gewirr von Widersprüchen – der Nacht und der flammenden Kerzen, des schäbigen Poeten und der großen Königin, der stillen Felder und des Geklappers der Diener – , daß er nichts sehen konnte; oder nur eine Hand.

Gleichermaßen kann die Königin nur einen Kopf gesehen haben. Aber wenn es möglich ist, von einer Hand auf einen Körper zu schließen, ausgestattet mit allen Attributen einer großen Königin, ihrer Reizbarkeit, ihrem Mut, ihrer Schwäche und ihrem Schrecken, kann ein Kopf sicherlich ebenso ergiebig sein, erblickt von den Höhen des Thronsessels einer Dame, deren Augen, wenn man den Wachsarbeiten in der Abbey trauen darf, stets weit geöffnet waren. Die langen, lockigen Haare, der dunkle Kopf, der so ehrerbietig, so unschuldig vor ihr geneigt war, ließen auf das prachtvollste Paar Beine schließen, auf denen ein junger Edelmann je aufrecht stand; und auf violette Augen; und ein Herz aus Gold; und Treue und männlichen Charme – alles Eigenschaften, die die alte Frau um so mehr liebte, je mehr sie sich ihr versagten. Denn sie wurde vor ihrer Zeit alt und verbraucht und krumm. Der Klang der Kanone war stets in ihren Ohren. Stets sah sie den glitzernden Gifttropfen und das lange Stilett. Wenn sie zu Tische saß, lauschte sie; sie hörte die Kanonen im Ärmelkanal; sie fürchtete – war das ein Fluch, war das ein Flüstern? Unschuld, Schlichtheit waren ihr um des dunklen Hintergrundes willen, vor dem sie sie sah, um so teurer. Und es war in ebenjener Nacht, so will es die Überlieferung, als Orlando tief und fest schlief, daß sie, indem sie zum Schluß Unterschrift und Siegel unter das Pergament setzte, das Geschenk des großen, klösterlichen Hauses, das erst dem Erzbischof und dann dem König gehört hatte, in aller Form Orlandos Vater übereignete.

Orlando schlief die ganze Nacht in Ahnungslosigkeit. Er war von einer Königin geküßt worden, ohne es zu wissen. Und vielleicht, denn der Frauen Herzen sind verworren, waren es seine Ahnungslosigkeit und sein Zusammenfahren, als ihre Lippen ihn berührten, die die Erinnerung an ihren jungen Cousin (denn sie hatten gemeinsames Blut) in ihrem Gedächtnis frisch hielten. Wie dem auch sei, es waren noch keine zwei Jahre dieses ruhigen Lebens auf dem Lande vergangen, und Orlando hatte nicht mehr geschrieben als vielleicht zwanzig Tragödien und ein Dutzend historischer Dramen und eine Vielzahl von Sonetten, als eine Nachricht kam, der Königin in Whitehall seine Aufwartung zu machen.

»Hier«, sagte sie, während sie beobachtete, wie er durch die lange Galerie auf sie zukam, »kommt meine Unschuld!« (Es war stets eine heitere Ruhe um ihn, die das Aussehen der Unschuld hatte, auch wenn das Wort, im eigentlichen Sinne, nicht länger anwendbar war.)

»Komm!« sagte sie. Sie saß hoch aufgerichtet am Kamin. Und sie hielt ihn auf Schrittlänge von sich fort und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Verglich sie ihre Vermutungen der damaligen Nacht mit der nun sichtbaren Wahrheit? Fand sie ihre Mutmaßungen berechtigt? Augen, Mund, Nase, Brust, Hüften, Hände – sie ließ ihren Blick über sie gleiten; ihre Lippen zuckten sichtlich, während sie schaute; aber als sie seine Beine sah, lachte sie laut auf. Er war das Inbild des vornehmen Edelmannes. Aber im Inneren? Sie richtete ihre gelben Habichtsaugen auf ihn, als wolle sie seine Seele durchbohren. Der junge Mann hielt ihrem Blick stand und errötete nur wie eine Damaszenerrose, wie es ihm anstand. Kraft, Anmut, Romantik, Torheit, Poesie, Jugend – sie las ihn wie die Seite eines Buches. Auf der Stelle zerrte sie einen Ring von ihrem Finger (der Knöchel war ziemlich geschwollen), und während sie ihn über den seinen streifte, ernannte sie Orlando zu ihrem Schatz- und Haushofmeister; hängte ihm als nächstes Amtsketten um; hieß ihn das Knie beugen und schlang um dessen schmalste Stelle den juwelenbesetzten Orden des Hosenbandes. Nichts wurde ihm hernach versagt. Wenn sie in vollem Staat ausfuhr, ritt er an ihrem Wagenschlag. Sie entsandte ihn in trauriger Mission zur unglücklichen Königin nach Schottland. Er stand im Begriff, zu den polnischen Kriegen zu segeln, als sie ihn zurückrief. Denn wie konnte sie den Gedanken ertragen, daß dieses zarte Fleisch zerfetzt und dieser lockige Kopf in den Staub gerollt werden sollte? Sie behielt ihn bei sich. Auf der Höhe ihres Triumphs, als die Kanonen des Tower dröhnten und die Luft vom Pulverdampf dick genug war, einen niesen zu machen, und die Hurrarufe des Volkes unter den Fenstern schallten, zog sie ihn hinab in die Kissen, auf die ihre Frauen sie gebettet hatten (sie war so verbraucht und alt), und hieß ihn das Gesicht in jener erstaunlichen Mischung vergraben – sie hatte ihr Kleid seit einem Monat nicht gewechselt – , die um alles in der Welt, so dachte er, sich seine jungenhafte Erinnerung ins Gedächtnis zurückrufend, wie ein alter Schrank zuhause roch, in dem die Pelze seiner Mutter aufbewahrt wurden. Er richtete sich, halb erstickt, aus der Umarmung auf. »Das«, hauchte sie, »ist mein Sieg!« – während eine Rakete in die Luft schoß und ihre Wangen scharlachrot tönte.

Denn die alte Frau liebte ihn. Und die Königin, die einen Mann erkannte, wenn sie einen vor sich sah, wenn auch nicht, so heißt es, auf die übliche Weise, schmiedete für ihn eine glänzende, ehrgeizige Karriere. Ländereien wurden ihm geschenkt, Häuser ihm überschrieben. Er sollte der Sohn ihres hohen Alters sein; das Glied ihrer Schwäche; die Eiche, an die sie ihre Gebrechlichkeit lehnen wollte. Sie krächzte diese Versprechungen und merkwürdig despotischen Zärtlichkeiten (sie waren nun in Richmond), während sie kerzengerade in ihrem steifen Brokat am Feuer saß, das sie, gleich wie hoch es aufgeschichtet war, nie wärmte.

Unterdessen zogen sich die langen Wintermonate dahin. Jeder Baum im Park war vom Frost überzogen. Der Fluß floß träge dahin. Eines Tages, als der Schnee auf der Erde lag und die dunklen getäfelten Räume voller Schatten waren und die Hirsche im Park röhrten, sah sie im Spiegel, den sie aus Angst vor Spionen immer bei sich trug, durch die Tür, die sie aus Angst vor Mördern immer offenhielt, einen Knaben – konnte es Orlando sein? – , der ein Mädchen küßte – wer in Dreiteufelsnamen war die freche Dirne? Ihren Degen mit dem goldenen Heft an sich reißend, schlug sie wütend auf den Spiegel ein. Das Glas zerbrach; Leute kamen gelaufen; sie wurde aufgehoben und wieder in ihren Sessel gesetzt; aber sie war danach geschlagen und seufzte, während ihre Tage sich ihrem Ende zuneigten, viel über die Treulosigkeit der Männer.

Es war vielleicht Orlandos Schuld; und dennoch, sollen wir Orlando tadeln? Das Zeitalter war das elisabethanische; seine Moralvorstellungen waren nicht die unseren; noch seine Dichter; noch sein Klima; nicht einmal sein Gemüse. Alles war anders. Das Wetter selbst, die Hitze und die Kälte von Sommer und Winter, war, so dürfen wir glauben, von völlig anderem Temperament. Der strahlend verliebte Tag war so streng von der Nacht geschieden wie Land von Wasser. Sonnenuntergänge waren röter und intensiver; Morgendämmerungen waren weißer und rosiger. Von unseren dämmrigen Halblichtern und verweilenden Zwielichtern wußten sie nichts. Der Regen fiel ungestüm oder gar nicht. Die Sonne glühte, oder es war dunkel. Dies in die geistigen Gefilde übertragend, wie es ihre Gewohnheit ist, sangen die Dichter wunderschön, wie Rosen vergehen und Blüten fallen. Der Augenblick ist kurz, sangen sie; der Augenblick ist vorbei; eine lange Nacht des Schlafs ist dann aller Los. Was nun die Benutzung von künstlichen Gebilden wie Gewächshäusern oder Wintergärten anging, um diese frischen Nelken und Rosen zu bewahren oder zu erhalten, so war das ihre Sache nicht. Die müden Verzweigtheiten und Zweideutigkeiten unseres mählicheren und zweiflerischen Zeitalters waren ihnen unbekannt. Ungestüm war alles. Die Blume blühte und welkte. Die Sonne ging auf und unter. Der Liebhaber liebte und ging. Und was die Dichter in Reimen sagten, übersetzten die jungen Leute in die Tat. Mädchen waren Rosen, und ihre Blütezeiten waren kurz wie die der Blumen. Gepflückt wollten sie werden, ehe denn die Nacht anbrach; denn der Tag war kurz, und der Tag war alles. Daher können wir es, wenn Orlando der Anleitung des Klimas, der Dichter, des Zeitalters selbst Folge leistete und seine Blume auf dem Fenstersitz pflückte, auch wenn der Schnee auf der Erde lag und die Königin im Korridor wachte, kaum über unser Herz bringen, ihn zu tadeln. Er war jung; er war knabenhaft; er tat nichts, als was die Natur ihn hieß. Was das Mädchen angeht, so wissen wir ebensowenig, wie Königin Elizabeth selbst es wußte, wie sie hieß. Vielleicht Doris, Chloris, Delia oder Diana, denn er verfaßte der Reihe nach Reime auf sie alle; gleichermaßen mochte sie eine Hofdame gewesen sein oder eine Dienstmagd. Denn Orlandos Geschmack war breit; er war nicht nur ein Liebhaber von Gartenblumen; auch die wilden und sogar die Unkräuter hatten stets eine Faszination für ihn.

In der Tat legen wir hier schnöde, wie ein Biograph es darf, einen seltsamen Charakterzug in ihm bloß, der sich vielleicht durch die Tatsache erklären läßt, daß eine seiner Großmütter einen Kittel getragen und Milcheimer geschleppt hatte. Einige Krümel der Erde von Kent oder Sussex waren unter die dünne, edle Flüssigkeit gemischt, die ihm aus der Normandie zukam. Er vertrat die Ansicht, daß die Mischung aus brauner Erde und blauem Blut eine gute sei. Gewiß ist auf jeden Fall, daß er stets einen Hang zu niederer Gesellschaft hatte, vor allem zu der gelehrter Leute, deren Witz sie so oft niederhält, als gäbe es eine Übereinstimmung des Blutes zwischen ihnen. In jenem Abschnitt seines Lebens, da sein Kopf überquoll vor Versen und er nie zu Bette ging, ohne vorher ein Concetto aufs Papier zu werfen, schien ihm die Keßheit einer Wirtstochter frischer und der Witz einer Wildhütersnichte treffender als jene der Damen bei Hof. Also fing er an, des Abends häufig nach Wapping Old Stairs[1] und in die Biergärten zu gehen, eingehüllt in einen grauen Umhang, um den Stern an seinem Hals und das Band an seinem Knie zu verbergen. Und dort, einen Krug vor sich, zwischen den sandbestreuten Wegen und den Rasenbahnen fürs Bowlspiel und all der schlichten Architektur jener Orte, lauschte er den Erzählungen der Seeleute von Härten und Schrecken und Grausamkeit auf den spanischen Meeren; wie manche ihre Zehen verloren hatten, andere ihre Nasen – denn die erzählte Geschichte war nie so abgerundet oder so schön gefärbt wie die geschriebene. Vor allem aber liebte er es, sie ihre Lieder von den Azoren grölen zu hören, während die Papageien, welche sie aus jenen Gegenden mitgebracht hatten, nach den Ringen in ihren Ohren pickten, mit ihren harten, gierigen Schnäbeln nach den Rubinen an ihren Fingern hackten und ebenso unflätig fluchten wie ihre Herren. Die Frauen waren kaum weniger kühn in ihren Reden und weniger frei in ihrem Benehmen als die Vögel. Sie setzten sich auf seine Knie, schlangen die Arme um seinen Hals und waren, da sie errieten, daß etwas Außergewöhnliches unter seinem wollenen Umhang verborgen lag, ebenso versessen darauf, zum Kern der Sache vorzudringen, wie Orlando selbst.

Auch fehlte es nicht an Gelegenheiten. Der Fluß wimmelte von früh bis spät vor Barken, Fährschiffen und Fahrzeugen jeglicher Beschreibung. Jeden Tag ging ein prächtiges Schiff in Richtung der beiden Indien in See; dann und wann kroch ein anderes, schwarz und zerlumpt, mit unbekannten, haarigen Männern an Bord, mühevoll vor Anker. Niemand vermißte einen Knaben oder ein Mädchen, wenn sie nach Sonnenuntergang noch ein wenig auf dem Wasser tändelten; oder zog die Augenbrauen hoch, wenn der Tratsch gesehen haben wollte, wie sie tief und fest und sicher und engumschlungen zwischen den Säcken mit Schätzen schliefen. Solcherart war in der Tat das Abenteuer, das Orlando, Sukey und dem Earl von Cumberland widerfuhr. Der Tag war heiß; ihre Liebe war lebhaft gewesen; sie waren zwischen den Rubinen eingeschlafen. Spät in jener Nacht kam der Earl, dessen Vermögen zum Großteil in die spanischen Unternehmungen eingegangen war, ganz allein mit einer Laterne, um die Beute zu sichten. Er leuchtete mit dem Licht auf eine Tonne. Er fuhr mit einem Fluch zurück. Um das Faß gewunden lagen zwei schlafende Geister. Von Natur aus abergläubisch und mit einem Gewissen, das mit so manchem Verbrechen belastet war, hielt der Earl das Paar – sie waren in einen roten Umhang gehüllt, und Sukeys Busen war fast so weiß wie der ewige Schnee in Orlandos Gedichten – für ein Phantom, das den Gräbern ertrunkener Seeleute entsprungen war, um ihm Vorhaltungen zu machen. Er bekreuzigte sich. Er gelobte Reue. Die Reihe von Armenhäusern, die noch heute in der Sheen Road stehen, ist die sichtbare Frucht jenes Augenblicks der Panik. Zwölf arme, alte Frauen aus dem Kirchspiel trinken da heute Tee bei Tag und segnen seine Lordschaft bei Nacht für das Dach über ihrem Kopf; so daß verbotene Liebe in einem Schiff voller Schätze – aber wir übergehen die Moral.

Bald indes wurde Orlando müde, nicht nur der Unbequemlichkeit jener Lebensweise und der düsteren Straßen der Umgebung, sondern auch der primitiven Art der Leute. Denn man darf nicht vergessen, daß Verbrechen und Armut für die Elisabethaner nichts von der Anziehungskraft hatten, die sie für uns haben. Sie wußten nichts von unserer modernen Scham über Buchgelehrsamkeit; nichts von unserer Überzeugung, daß es ein Segen ist, als Sohn eines Metzgers geboren zu sein, und eine Tugend, nicht lesen zu können; hatten keine Vorstellung davon, daß das, was wir »Leben« und »Wirklichkeit« nennen, auf irgendeine Weise mit Unwissen und Brutalität verknüpft ist; hatten nicht einmal, es ist wahr, etwas diesen beiden Wörtern Entsprechendes. Es war nicht, um das »Leben« zu suchen, daß Orlando unter sie ging; nicht im Streben nach »Wirklichkeit«, daß er sie verließ. Aber als er Dutzende von Malen gehört hatte, wie Jakes seine Nase und Sukey ihre Ehre verloren hatte – und sie erzählten die Geschichten bewundernswert, das muß zugegeben werden – , fing er an, der Wiederholung ein klein wenig müde zu werden, denn eine Nase kann nur auf eine Art abgeschnitten und Jungfräulichkeit nur auf eine andere verloren werden – oder so schien es ihm zumindest – , während die Künste und die Wissenschaften eine Mannigfaltigkeit besaßen, die seine Neugier in hohem Maße erregte. Und so, sie stets in glücklicher Erinnerung behaltend, hörte er auf, die Biergärten und die Kegelbahnen zu besuchen, hängte seinen grauen Umhang in den Schrank, ließ den Stern an seinem Hals blitzen und das Hosenband an seinem Knie funkeln und trat aufs neue am Hofe von König James in Erscheinung. Er war jung, er war reich, er war gutaussehend. Niemand hätte mit größerem Beifall aufgenommen werden können als er.

Es ist in der Tat gewiß, daß viele Damen bereit waren, ihm ihre Gunst zu bezeigen. Die Namen von wenigstens dreien von ihnen wurden im Zusammenhang einer Vermählung offen mit dem seinen gepaart: Clorinda, Favilla, Euphrosyne – so nannte er sie in seinen Sonetten.

Gehen wir sie der Reihe nach durch; Clorinda war eine Lady von durchaus sanftmütigem, umgänglichem Wesen – tatsächlich war Orlando sechs und einen halben Mond lang sehr von ihr angetan; aber sie hatte weiße Wimpern und konnte kein Blut sehen. Ein Hase, der gebraten auf dem Tisch ihres Vaters aufgetragen wurde, ließ sie in Ohnmacht sinken. Zudem stand sie sehr unter dem Einfluß der Priester und sparte an ihrer Leibwäsche, um den Armen zu geben. Sie setzte es sich zur Aufgabe, Orlando von seinen Sünden zu bekehren, was diesem widerstrebte, so daß er von der Heirat Abstand nahm und es nicht sehr bedauerte, als sie wenig später an den Blattern starb.

Favilla, die als nächste kommt, war von völlig anderer Art. Sie war die Tochter eines armen Landedelmannes aus Somersetshire, die sich durch reine Beharrlichkeit und den Einsatz ihrer Augen bei Hofe emporgearbeitet hatte, wo ihre Haltung im Sattel, ihr hübscher Spann und ihre Anmut beim Tanzen ihr die Bewunderung aller eintrugen. Einmal jedoch war sie so schlecht beraten, einen Spaniel, der einen ihrer Seidenstrümpfe zerrissen hatte (und es muß der Gerechtigkeit halber gesagt werden, daß Favilla nur wenige Strümpfe besaß, und diese zum größten Teil aus Droguet), unter Orlandos Fenster um ein Haar totzuprügeln. Orlando, der eine leidenschaftliche Liebe zu Tieren hegte, bemerkte nun, daß ihre Zähne schief standen und die beiden Schneidezähne nach innen wuchsen, was, wie er sagte, bei Frauen ein sicheres Zeichen für eine widernatürliche und grausame Veranlagung sei, und löste daher die Verlobung noch am selben Abend auf immer.

Die dritte, Euphrosyne, war bei weitem die ernsteste seiner Flammen. Sie war von Geburt eine irische Desmond und hatte von daher einen Familienstammbaum, der ebenso alt und ebenso tief verwurzelt war wie Orlandos eigener. Sie war blond, blühend und eine Spur phlegmatisch. Sie sprach gut Italienisch, hatte im Oberkiefer eine perfekte Reihe von Zähnen, wiewohl die im Unterkiefer ein wenig verfärbt waren. Sie war nie ohne einen Whippet oder einen Spaniel an ihrer Seite; fütterte sie mit weißem Brot von ihrem eigenen Teller; sang mit süßer Stimme zum Spinett; und war dank der extremen Sorgfalt, die sie ihrer eigenen Person angedeihen ließ, nie vor Mittag angekleidet. Kurz gesagt hätte sie eine perfekte Frau für einen Edelmann wie Orlando abgegeben, und die Angelegenheit war so weit gediehen, daß die Anwälte beider Seiten schon beschäftigt waren mit Verträgen, Wittümern, Kontrakten, Leibgedingen, Häusern und Höfen und was immer sonst vonnöten ist, bevor ein großes Vermögen sich mit einem anderen paaren kann, als mit der Plötzlichkeit und Strenge, die das englische Klima der damaligen Zeit charakterisierten, der Große Frost kam.

Der Große Frost war, so erzählen uns die Historiker, der strengste, der diese Inseln je heimsuchte. Vögel erfroren mitten in der Luft und stürzten wie Steine auf die Erde. Zu Norwich wollte eine junge Bauersfrau in ihrer üblichen robusten Gesundheit die Straße überqueren und ward von Zuschauern gesehn, wie sie sich vor aller Augen in Pulver verwandelte und als ein Staubgewölk über die Dächer verwehte, als der eisige Sturm sie an der Straßenecke traf. Die Sterblichkeit unter Schafen und Rindern war enorm. Leichen froren ein und konnten nicht von den Laken gezogen werden. Es war kein ungewöhnlicher Anblick, auf eine ganze Herde von Schweinen zu stoßen, die unbeweglich auf der Straße angefroren waren. Die Felder waren voll von Schafhirten, Pflügern, Pferdegespannen und kleinen, Vögel scheuchenden Jungen, alle erstarrt in dem, was sie gerade getan hatten, der eine mit der Hand an der Nase, ein anderer mit der Flasche an den Lippen, ein dritter mit einem Stein, den er erhoben hatte, um ihn nach dem Raben zu werfen, der wie ausgestopft kaum einen Meter von ihm entfernt auf der Hecke saß. Die Strenge des Frostes war so außerordentlich, daß manchmal eine Art Versteinerung erfolgte; und es wurde allgemein angenommen, daß der große Zuwachs an Steinen in einigen Teilen Derbyshires nicht auf einen Vulkanausbruch zurückzuführen war, denn es gab keinen, sondern auf die Verfestigung unglückseliger Fahrensleute, die im wahrsten Sinne des Wortes dort, wo sie gingen und standen, zu Stein geworden waren. Die Kirche konnte in dieser Angelegenheit nur wenig Hilfe bieten, und obwohl einige Grundherren diese Relikte segnen ließen, zogen die meisten es vor, sie entweder als Grenzsteine, Kratzpfosten für Schafe oder, wenn die Form des Steins es zuließ, als Tränke für das Vieh zu benutzen, welchen Zwecken sie, zum größten Teil vortrefflich, bis zum heutigen Tage dienen.

Aber während das Landvolk die bitterste Not litt und der Handel des Landes zum Stillstand kam, erfreute sich London eines Karnevals von allergrößter Pracht. Der Hof hielt sich in Greenwich auf, und der neue König nutzte die Gelegenheit, die seine Krönung ihm bot, sich bei den Bürgern einzuschmeicheln. Er gab Anweisung, den Fluß, der in beiden Richtungen sechs oder sieben Meilen weit bis zu einer Tiefe von zwanzig Fuß und mehr gefroren war, auf seine Kosten zu fegen, zu schmücken und mit allem Anschein eines Parks oder Lustgartens zu versehen, mit Lauben, Irrgängen, Wegen und Zechbuden etc. Für sich selbst und die Höflinge reservierte er einen Platz unmittelbar vor den Toren des Palastes; der, vom Volk nur durch eine seidene Kordel abgetrennt, sogleich zum Zentrum der glanzvollsten Gesellschaft Englands wurde. Große Staatsmänner, mit ihren Bärten und Halskrausen, erledigten Staatsangelegenheiten unter dem karmesinroten Sonnensegel der königlichen Pagode. Soldaten übten die Unterwerfung des Mauren und den Sturz des Türken in gestreiften Lauben, überragt von Büschen aus Straußenfedern. Admirale schritten die schmalen Fußwege auf und ab, das Glas in der Hand, suchten den Horizont ab und erzählten Geschichten über die Nord-West-Passage und die spanische Armada. Liebende tändelten auf Diwanen, ausgelegt mit Zobelpelzen. Gefrorene Rosen regneten in Schauern, wenn die Königin und ihre Damen sich im Freien ergingen. Bunte Ballons schwebten reglos in der Luft. Hier und dort brannten riesige Freudenfeuer aus Zedern- und Eichenholz, üppig mit Salz bestreut, so daß die Flammen von grünem, orangem und purpurrotem Feuer waren. Doch so heiß sie auch brannten, die Hitze war nicht groß genug, das Eis zu schmelzen, das, wenn auch von einzigartiger Durchsichtigkeit, dennoch von stählerner Härte war. So klar war es in der Tat, daß man, in einer Tiefe von mehreren Fuß erstarrt, hier einen Tümmler sehen konnte, dort eine Flunder. Schwärme von Aalen lagen reglos in Trance; aber ob ihr Zustand ein Zustand des Todes oder nur einer aufgehobenen Beseelung war, die die Wärme ins Leben zurückrufen würde, gab den Philosophen Rätsel auf. In der Nähe der London Bridge, wo der Fluß bis zu einer Tiefe von rund zwanzig Faden gefroren war, war ein untergegangener Lastkahn deutlich sichtbar, wie er auf dem Grund des Flusses lag, wohin er im letzten Herbst gesunken war, überladen mit Äpfeln. Die alte Bumbootsfrau, die ihre Früchte zum Markt auf der Surreyer Seite hatte bringen wollen, saß dort in ihren Plaids und Reifröcken, den Schoß voller Äpfel, ganz genauso, als wäre sie im Begriff, einen Kunden zu bedienen, wenn auch eine gewisse Bläue um die Lippen die Wahrheit andeutete. Es war ein Anblick, in den sich König James ganz besonders gern versenkte, und oftmals brachte er eine Schar Höflinge mit, auf daß sie mit ihm schauten. Kurzum, nichts konnte den Glanz und die Fröhlichkeit der Szenerie bei Tage übertreffen. Aber bei Nacht erreichte der Karneval seinen ausgelassensten Höhepunkt. Denn der Frost hielt ungebrochen an; die Nächte waren von vollkommener Stille; der Mond und die Sterne gleißten mit der harten Starre von Diamanten, und zur zarten Musik von Flöte und Trompete tanzten die Höflinge.

Orlando, es ist wahr, war keiner von jenen, die Courante und Lavolta leichtfüßig tanzen; er war ungeschickt und ein wenig zerstreut. Die einfachen Tänze seines eigenen Landes, die er als Kind getanzt hatte, waren ihm viel lieber als diese phantastischen ausländischen Taktarten. Er hatte in der Tat seine Füße eben erst in der Schlußfigur irgendeiner solchen Quadrille oder eines Menuetts gegen sechs Uhr abends am siebenten Januar zusammengebracht, als er aus dem Pavillon der moskowitischen Gesandtschaft eine Gestalt kommen sah, die ihn, gleich ob die eines Knaben oder einer Frau, denn die lose Tunika und die langen Hosen der russischen Mode verschleierten das Geschlecht, mit höchster Neugier erfüllte. Die Person, gleich wie Name oder Geschlecht sein mochten, war von mittlerer Größe, von sehr schmalem Körperbau und von Kopf bis Fuß in austernfarbenen Samt gekleidet, der mit einem unbekannten grünlichen Pelz verbrämt war. Aber diese Einzelheiten wurden überdeckt von etwas außergewöhnlich Verführerischem, das von der ganzen Person ausging. Bilder, Metaphern der extremsten und extravagantesten Art, verwoben und verflochten sich in Orlandos Geist. Er nannte sie eine Melone, eine Ananas, einen Ölbaum, einen Smaragd und einen Fuchs im Schnee, alles im Zeitraum von drei Sekunden; er wußte nicht, ob er sie gehört, geschmeckt, gesehen hatte oder alles auf einmal. (Denn obwohl wir in der Erzählung keinen Augenblick innehalten dürfen, mögen wir an dieser Stelle hastig anmerken, daß all seine Bilder zu dieser Zeit über die Maßen einfach waren, um seinen Sinnesempfindungen zu entsprechen, und zum größten Teil Dingen entnommen waren, deren Geschmack er als Knabe geliebt hatte. Aber wenn seine Empfindungen auch einfach waren, so waren sie gleichzeitig auch ungewöhnlich stark. Innezuhalten und nach den Ursachen der Dinge zu forschen steht daher außer Frage.) … Eine Melone, ein Smaragd, ein Fuchs im Schnee, so schwärmte er, so starrte er. Als der Knabe, denn, ach, ein Knabe mußte es sein – keine Frau konnte mit solcher Schnelligkeit und Kraft Schlittschuh laufen – , fast auf Zehenspitzen an ihm vorbeifegte, war Orlando bereit, sich die Haare auszureißen vor Kummer darüber, daß die Person seinem eigenen Geschlecht angehörte und alle Umarmungen daher außer Frage standen. Aber der Schlittschuhläufer kam näher. Beine, Hände, Haltung waren die eines Knaben, aber kein Knabe hatte je einen Mund wie diesen; kein Knabe hatte diese Brüste; kein Knabe hatte Augen, die aussahen, als seien sie vom Grund des Meeres gefischt. Schließlich, innehaltend und mit hinreißender Anmut vor dem König, der am Arm eines königlichen Kammerherrn vorbeischlurfte, in einen tiefen Hofknicks sinkend, kam die unbekannte Schlittschuhläuferin zum Stillstand. Sie war keine Handbreit von ihm entfernt. Sie war eine Frau. Orlando starrte; zitterte; ihm wurde heiß; ihm wurde kalt; er sehnte sich danach, durch die Sommerlüfte sich zu schleudern; Eicheln unter den Füßen zu zertreten; wie die Buchen und Eichen die Arme zu rühren. So jedoch zog er die Lippen über den kleinen, weißen Zähnen etwas hoch; öffnete sie vielleicht einen halben Zoll, wie um zu beißen; schloß sie, als hätte er gebissen. Die Lady Euphrosyne hing an seinem Arm.

Der Name der Fremden, erfuhr er, war Prinzessin Maruscha Stanilowska Dagmar Natascha Iliana Romanowitsch, und sie war im Gefolge des moskowitischen Gesandten gekommen, der vielleicht ihr Onkel war, oder vielleicht ihr Vater, um der Krönung beizuwohnen. Sehr wenig war über die Moskowiter bekannt. Mit ihren großen Bärten und Pelzmützen saßen sie fast stumm; tranken irgendeine schwarze Flüssigkeit, die sie hin und wieder auf das Eis ausspuckten. Keiner von ihnen sprach Englisch, und das Französische, mit dem wenigstens ein paar von ihnen vertraut waren, wurde damals am englischen Hof nur wenig gesprochen.

Durch diesen Zufall wurden Orlando und die Prinzessin miteinander bekannt. Sie saßen sich an der großen Tafel gegenüber, die unter einem großen Sonnensegel zur Unterhaltung der Notabeln gedeckt war. Die Prinzessin saß zwischen zwei jungen Lords, der eine Lord Francis Vere, der andere der junge Earl of Moray. Es war lachhaft, die mißliche Lage zu sehen, in die sie die beiden wenig später gebracht hatte, denn obschon beide auf ihre Art prachtvolle Burschen waren, besaß das ungeborene Kind ebensoviel Kenntnisse der französischen Sprache wie sie. Als die Prinzessin sich zu Beginn des Mahls an den Earl wandte und mit einer Anmut, die sein Herz entzückte, sagte: »Je crois avoir fait la connaissance d’un gentilhomme qui vous était apparenté en Pologne l’été dernier« oder »La beauté des dames de la cour d’Angleterre me met dans le ravissement. On ne peut voir une dame plus gracieuse que votre reine, ni une coiffure plus belle que la sienne«, gerieten sowohl Lord Francis als auch der Earl in die allergrößte Verlegenheit. Der eine tat ihr reichlich Meerrettichsauce auf, der andere pfiff nach seinem Hund und ließ ihn um einen Markknochen betteln. Daraufhin konnte die Prinzessin das Lachen nicht länger zurückhalten, und Orlando, der ihrem Blick über die Wildschweinköpfe und farcierten Pfauen hinweg begegnete, lachte ebenfalls. Er lachte, aber das Lachen auf seinen Lippen gefror in Verwunderung. Wen hatte er bisher geliebt, was hatte er bisher geliebt, fragte er sich in einem Aufruhr der Gefühle? Eine alte Frau, antwortete er sich selbst, nichts als Haut und Knochen. Rotbäckige Mägde, zu viele, um sie zu nennen. Eine zimperliche Nonne. Eine hartgesottene Abenteurerin mit grausamem Mund. Eine nickende Masse von Spitzen und Zeremonien. Die Liebe hatte ihm nichts als Sägespäne und Asche bedeutet. Die Freuden, die er daran gehabt hatte, schmeckten ihm über die Maßen schal. Er fragte sich verwundert, wie er all das ausgehalten hatte, ohne zu gähnen. Denn während er schaute, schmolz die Dicke seines Blutes; das Eis verwandelte sich in seinen Adern zu Wein; er hörte die Wasser fließen und die Vögel singen; der Frühling brach über die harte, winterliche Landschaft herein; seine Männlichkeit erwachte; er nahm seinen Degen in die Hand; er forderte einen wagemutigeren Feind als Pole oder Maure; er tauchte in tiefes Wasser; er sah die Blume der Gefahr in einer Felsspalte blühen; er streckte die Hand aus – in Wahrheit ratterte er eines seiner leidenschaftlichsten Sonette herunter, als die Prinzessin ihn ansprach: »Hätten Sie die Güte, mir das Salz zu reichen?«

Er wurde über und über rot.

»Mit dem größten Vergnügen von der Welt, Madame«, antwortete er, auf französisch, mit perfekter Aussprache. Denn, dem Himmel sei Dank, er beherrschte diese Sprache wie seine eigene; die Zofe seiner Mutter hatte sie ihn gelehrt. Und doch wäre es vielleicht besser für ihn gewesen, er hätte diese Sprache nie gelernt, dieser Stimme nie geantwortet, wäre dem Licht dieser Augen nie gefolgt …

Die Prinzessin fuhr fort. Wer waren diese Tölpel, fragte sie ihn, die mit den Manieren von Stallknechten neben ihr saßen? Was war das für eine ekelerregende Mixtur, die sie ihr auf den Teller geschüttet hatten? Aßen die Hunde in England vom selben Tisch wie die Menschen? War jene Witzfigur am Ende der Tafel, die die Haare aufgetürmt hatte wie ein Maibaum (comme une grande perche mal fagotée), wirklich die Königin? Und sabberte der König immer so? Und wer von diesen Gecken war George Villiers? Obwohl diese Fragen Orlando zunächst einigermaßen aus der Fassung brachten, wurden sie mit solcher Schalkhaftigkeit und Drolligkeit gestellt, daß er nicht umhinkonnte zu lachen; und da er an den ausdruckslosen Gesichtern der Gesellschaft sah, daß niemand ein Wort verstand, antwortete er ihr so frei, wie sie ihn fragte, genau wie sie untadeliges Französisch sprechend.

So begann eine Vertrautheit zwischen den beiden, die bald zum Skandal des Hofes wurde.

Bald wurde beobachtet, daß Orlando der Moskowiterin weit mehr Aufmerksamkeit zollte, als die reine Höflichkeit gebot. Er fehlte selten an ihrer Seite, und ihre Gespräche, wenn auch für alle anderen unverständlich, wurden mit einer solchen Lebhaftigkeit geführt, riefen ein solches Erröten und Gelächter hervor, daß selbst die Dümmsten sich das Thema denken konnten. Zudem war die Veränderung an Orlando selbst außerordentlich. Niemand hatte ihn je so lebhaft gesehen. In einer einzigen Nacht hatte er seine knabenhafte Ungeschicklichkeit abgelegt; er hatte sich von einem eigensinnigen Grünschnabel, der das Zimmer einer Dame nicht betreten konnte, ohne den halben Zierat vom Tisch zu fegen, in einen Edelmann voller Anmut und männlicher Courtoisie verwandelt. Zu sehen, wie er der Moskowiterin (wie sie genannt wurde) in ihren Schlitten half oder ihr seine Hand zum Tanz reichte oder das getüpfelte Tuch auffing, das sie fallen gelassen hatte, oder irgendeine andere jener mannigfachen Pflichten versah, welche die höchste Dame fordert und welche vorauszuahnen der Liebende sich beeilt, war ein Anblick, der die matten Augen des Alters aufleuchten und den schnellen Puls der Jugend schneller schlagen ließ. Doch hing eine Wolke über alledem. Die alten Männer zuckten die Schultern. Die jungen kicherten hinter vorgehaltener Hand. Lady Margaret O’Brien O’Dare O’Reilly Tyrconnel (denn das war der richtige Name der Euphrosyne aus den Sonetten) trug Orlandos prachtvollen Saphir am zweiten Finger ihrer linken Hand. Sie war es, die das höchste Anrecht auf seine Aufmerksamkeiten besaß. Und doch konnte sie alle Taschentücher aus ihrem Schrank (von denen sie viele Dutzende hatte) auf das Eis fallen lassen, und Orlando bückte sich kein einziges Mal, sie aufzuheben. Sie konnte zwanzig Minuten darauf warten, daß er ihr in ihren Schlitten half, und mußte sich am Ende doch mit den Diensten ihres Mohren begnügen. Wenn sie Schlittschuh lief, was sie eher ungeschickt tat, war niemand an ihrer Seite, sie zu ermutigen, und wenn sie fiel, was sie eher schwerfällig tat, half niemand ihr auf die Füße und klopfte ihr den Schnee von den Röcken. Obwohl sie von Natur aus phlegmatisch war, nicht leicht Anstoß nahm und weniger als die meisten Menschen geneigt war, zu glauben, daß eine, die schließlich nur eine Ausländerin war, sie aus Orlandos Zuneigungen vertreiben könnte, wurde sogar Lady Margaret zum Schluß dahin gebracht, zu argwöhnen, daß sich gegen ihren Seelenfrieden etwas zusammenbraue.

Tatsächlich gab sich Orlando, wie die Tage dahingingen, immer weniger Mühe, seine Gefühle zu verbergen. Mit dieser oder jener Entschuldigung verließ er die Gesellschaft, sobald sie gespeist hatten, oder stahl sich von den Schlittschuhläufern fort, die sich zur Quadrille formierten. Im nächsten Augenblick wurde dann bemerkt, daß auch die Moskowiterin fehlte. Was den Hof jedoch am meisten aufbrachte und ihn an seiner empfindlichsten Stelle traf, welches die Eitelkeit ist, war die Tatsache, daß man das Paar oft dabei beobachten konnte, wie es unter der seidenen Kordel hindurchschlüpfte, welche die königliche Einfriedung vom öffentlichen Teil des Flusses abtrennte, und in der Menge des gemeinen Volkes verschwand. Denn plötzlich stampfte die Prinzessin mit dem Fuße auf und rief: »Bring mich fort. Ich verabscheue diesen englischen Pöbel!«, womit sie den englischen Hof selbst meinte. Sie könnte ihn nicht länger ertragen. Er wäre voll von neugierigen alten Weibern, sagte sie, die einem ins Gesicht starrten, und von aufgeblasenen jungen Männern, die einem auf die Füße trampelten. Sie röchen schlecht. Ihre Hunde liefen einem zwischen die Beine. Es sei, als lebte man in einem Käfig. In Rußland gebe es Flüsse, die zehn Meilen breit seien und auf denen man sechs nebeneinandergespannte Pferde den ganzen Tag galoppieren lassen könne, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Außerdem wollte sie den Tower sehen, die Beefeaters, die Köpfe von Temple Bar und die Juweliergeschäfte in der Stadt. Und so kam es, daß Orlando sie in die Stadt brachte, ihr die Beefeaters und die Köpfe der Rebellen zeigte und ihr kaufte, was immer ihr in der Royal Exchange in die Augen stach. Aber dies war nicht genug. Jeder der beiden ersehnte zunehmend die Gesellschaft des anderen in völliger Ungestörtheit den ganzen Tag lang, wo es niemanden gab, zu staunen oder zu starren. Statt den Weg nach London zu nehmen, schlugen sie folglich die andere Richtung ein und waren bald jenseits der Menge auf den gefrorenen Ausläufern der Themse, wo, mit Ausnahme der Seevögel und einer alten Bauersfrau, die auf dem Eis herumhackte in einem vergeblichen Versuch, einen Eimer Wasser zu ziehen, oder die wenigen Äste oder abgefallenen Blätter, die sie finden konnte, zum Feuermachen sammelte, keine lebende Seele je in ihre Nähe kam. Die Armen blieben dicht bei ihren Hütten, und die besseren Leute, die es sich leisten konnten, drängten der Wärme und der Lustbarkeit wegen in die Stadt.