Oulu oder Die Reise ins Ungewisse - Bernd Schreiber - E-Book

Oulu oder Die Reise ins Ungewisse E-Book

Bernd Schreiber

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Beschreibung

Oulu oder Die Reise ins Ungewisse ist die Geschichte von vier Fremden, die sich zufällig in Finnland begegnen. Gloria, die Hals über Kopf von Berlin nach Helsinki reist, möchte weiter nach Oulu, um ihren finnischen "Chat-Partner" zu treffen. Das ist zwar ihr Plan, aber nicht der wahre Grund für ihre Flucht. In Helsinki stößt sie auf ihren Landsmann Sören. Auch er ist auf dem Weg nach Oulu. Sören, der vor einer schweren Entscheidung steht, beabsichtigt an einem Radrennen für Amateure teilzunehmen. Zusammen brechen sie mit seinem Auto in den hohen Norden Europas auf. Unterwegs lernen die beiden noch den finnischen IT-Experten Mika und den Iren Brian kennen. Wie Gloria und Sören hadern auch sie mit ihrem Leben. Während Mikas Grund, nach Oulu zu reisen, lange ein Geheimnis bleibt, ist Brian aus Irland geflüchtet, als er erfahren hat, dass seine Freundin schwanger ist. Gemeinsam - und bisweilen auch gegeneinander - kämpft sich das Quartett quer durch Finnland. Ein Roadtrip, der das Leben der Reisenden nachhaltig verändern wird.

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Foto: svenwausw

Bernd Schreiber, geb. 1952 in der Pfalz. Studierte Germanistik und Ev. Theologie in Saarbrücken bzw. Deutsch, Religionspädagogik und Erziehungswissenschaften in Bremen. Er arbeitete für den Kinderfunk und war Mitinitiator von KLICK, Kinder- und Jugendzeitung (in den 80er Jahren). Heute lebt Bernd Schreiber in Worpswede. Er veröffentlichte bisher zahlreiche Kinderbücher sowie Kinderbuchreihen: Mister Fantastic & Miss World (dtv junior), Die Container-Füchse (dtv junior), Leselöwen (Loewe Verlag), Ritter Tollkühn (Carlsen) und Good by Macho (S. Fischer). Darüber hinaus schrieb er für Arena, Baumhaus und Thienemann.

Bernd Schreiber

OuluoderDie Reise ins Ungewisse

Roman

© 2019 Bernd Schreiber

www.berndschreiber.de

Umschlaggestaltung: svenwausw, Motive: pixabay

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-1780-4

Hardcover:

978-3-7497-1781-1

e-Book:

978-3-7497-1782-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Koirat kutsuen kulkevat, kunnon vieraat kutsumatta.

Hunde kommen, wenn man sie ruft, gute Gäste ungeladen.

Finnisches Sprichwort

1

Gott, was tue ich hier eigentlich? Bin ich komplett verrückt geworden? Gloria stand vor dem Hauptbahnhof von Helsinki und fragte sich ernsthaft, ob sie sich nicht auf ihren Geisteszustand untersuchen lassen sollte. So weit zu reisen für einen Mann, von dem sie nicht mal ein Foto hatte. So bescheuert konnte ein normaler Mensch doch gar nicht sein. Was, wenn er sie reingelegt hatte? Wenn alles, was er geschrieben hatte, gelogen war? Dann gute Nacht. Gloria blickte zu den beiden Statuen empor. Es waren zwei in finnischen Granit gemeißelte Wächter. Gloria nahm jedenfalls an, dass es Wächter waren. Was hätten sie sonst darstellen sollen? Wesen aus der finnischen Mythologie? Von finnischer Mythologie hatte sie keine Ahnung und sie hatte auch nicht vor, sich damit näher zu befassen. Die Wächter hatten glattes, längliches Haar, guckten etwas düster vor sich hin und hielten jeweils eine Lampe in ihrer Hand. Rechts von Gloria befanden sich zwei weitere Wächter. Die zwei Paare umrahmten den Eingangsbereich des Hauptbahnhofs. Gloria gruselte etwas beim Anblick der beiden monumentalen Wächter. Deren Blicke, so stellte sie fest, waren auf das gegenüberliegende Kaufhaus gerichtet. Vielleicht machten sie deswegen so ein finsteres Gesicht, denn vierundzwanzig Stunden am Tag auf ein- und dasselbe langweilige Gebäude zu starren, konnte selbst steinernen Riesen die Laune verderben. Während sie einige Schritte zurückwich, wurde aus dem leichten Gruseln Mitleid. Da es sich bei den Wächtern – oder was auch immer sie darstellen sollten – nicht um reale, sondern um in Stein gehauene Figuren handelte, hielt sich jedoch ihr Mitleid in Grenzen.

Hätte sich Gloria weniger um die Statuen gekümmert, hätte sie den Landrover bemerkt, der gerade ausparkte.

Der Wagen rollte immer weiter, als der Fahrer im Rückspiegel eine weibliche Person entdeckte. Dem Mann gelang es gerade noch rechtzeitig auf die Bremse zu treten. Erschrocken sprang er aus dem Wagen.

Zwischen Gloria, die er beinahe angefahren hätte, und der Stoßstange hätten keine zwei Bierdeckel mehr gepasst.

„Tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen. Ist Ihnen was passiert?“, plapperte der Mann auf Deutsch drauflos. Er war aufrichtig besorgt. Dabei ging es ihm nicht nur um Glorias Befinden, es ging auch um ihn. Der Mann wollte keinen Ärger haben.

Gloria musterte die Person mit einem Blick, der vielleicht eine Spur zu geringschätzig war. Ihr stand ein Mann gegenüber, der circa eins fünfundsiebzig groß war, relativ breite Schultern hatte, einen sehnigen Hals und braunes, leicht struppiges Haar. Er hatte Hände, mit denen er zupacken konnte wie ein Gewichtheber im Superschwergewicht, obwohl er vermutlich keine 70 Kilo wog. Besonders Frauen spürten die unbändige Kraft, wenn sie ihm zur Begrüßung die Hand reichten, aber auch Männern wurde jedes Mal bewusst, welch geballte Energie durch diesen Körper strömte. Der Mann war keiner, der bei einer Gefahr schnell die Nerven verlor und dennoch wäre die Situation für ihn weniger problematisch gewesen, hätte er es statt mit einer Frau, die ihn derart scharf musterte, mit einem streitsüchtigen Bären zu tun gehabt. Dann hätte er sich wesentlich sicherer gefühlt.

Gloria, die etwas jünger war als ihr Gegenüber, sagte noch immer nichts. Sie hatte glattes kastanienbraunes Haar, die Augen waren blau und aufgeweckt, die Lippen schwarz geschminkt, das Kinn rund, aber nicht speckig. Dass sie drei, vier Kilo zu viel auf den Rippen hatte, war ihr durchaus bewusst, machte ihr aber nicht allzu viel aus. Nur wenn ihre Stimmung getrübt war, störte sie das leichte Übergewicht. Weitaus ärgerlicher fand sie den Leberfleck auf ihrer Unterlippe. Deswegen hatte sie es sich angewöhnt, die Lippen schwarz zu schminken. Sie war der Meinung, dass der Leberfleck bei rotem Lippenstift noch schwach zu sehen war. Das bildete sie sich zwar nur ein, wie Freunde und Kolleginnen ihr immer wieder bestätigten, es änderte aber nichts an ihrer Einstellung.

Der Mann musste davon ausgehen, dass Gloria ihn womöglich nicht verstanden hatte und da ihm die finnische Sprache so fremd war wie eine vegetarische Mahlzeit, wiederholte er seine Worte auf Englisch.

Die Antwort kam prompt. Auf Deutsch. „Gucken Sie denn nie in den Rückspiegel, wenn Sie ausparken?“, blaffte Gloria den Mann an. Sie hatte einen Rucksack und eine grüne Reisetasche aus Nylon dabei.

Der Mann war überrascht, so weit weg von seiner Heimat seine Muttersprache zu hören. Er war froh, dass er nicht weiter englisch sprechen musste. Wenn er englisch sprach, fühlte er sich immer so unsicher und er hasste nichts schlimmer als die eigene Unsicherheit.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte er. Die Reue, die er dabei an den Tag legte, war nicht gespielt. Der Mann wollte die Sache unbedingt wiedergutmachen. „Sind Sie gerade angekommen? Kann ich Sie vielleicht irgendwohin bringen?“

„Das bezweifle ich“, antwortete Gloria leicht gereizt. „Es sei denn, Sie fahren nach Oulu.“

„Da muss ich zufällig auch hin“, entgegnete der Mann verblüfft.

„Ja, klar“, meinte Gloria. Ihr spöttischer Blick verriet, dass sie nicht an solche Zufälle glaubte.

„Ich schwöre, ich habe wirklich dort zu tun“, beteuerte der Mann. Gloria gefiel ihm, wenn er einmal von den schwarz geschminkten Lippen absah. Sie war hübsch, nicht zu dünn und nicht zu dick und in dem lässig grauen Pulli mit der Knopfleiste und den Bändchen am Ausschnitt sah sie richtig sexy aus.

„Nicht, dass ich neugierig wäre“, sagte Gloria. „Aber mich würde schon interessieren, was Sie rein zufällig in Oulu zu tun haben.“

Der Mann erzählte ihr, dass er am Radrennen Oulu-Rovaniemi-Oulu teilnehmen würde. Es war ein Rennen für Amateure, die keine Scheu hatten, sich einen Tag lang auf einem Sattel zu quälen, der fast so schmal wie eine Bananenschale war.

„Radrennen“, wiederholte sie. „Mit dem Wagen?“ Sie blickte argwöhnisch auf das verschmutzte Heck des Landrovers.

„Nein, aber mit dem Rennrad, das sich darin befindet“, antwortete der Mann todernst. Er wollte auf keinen Fall, dass Gloria auch nur für einen Moment an seiner Rechtschaffenheit zweifelte. Der Mann legte großen Wert darauf, dass die Leute ihn für einen ehrlichen Menschen hielten. Er öffnete die Heckklappe, zog vorsichtig eine Plane beiseite und präsentierte Gloria ein schwarzgelbes Rennrad, das im Gegensatz zum Landrover vor Sauberkeit glänzte. Es war keine xbeliebige Marke, wie man sie für ein paar Euro im Supermarkt bekommen konnte. Dieses Rad war von hoher Qualität. Dreitausend Euro hatte es ihn gekostet. Der Mann würde jeden umbringen, der es wagen sollte, das Rad zu stehlen. Voller Stolz erklärte er Gloria, dass Rahmen und Gabel aus Carbon bestanden – dadurch wog das Rad gerade mal sechseinhalb Kilo.

„Dann sind Sie also ein Radrennfahrer“, schlussfolgerte Gloria.

„Nein, nein“, antwortete der Mann schnell, um ja kein Missverständnis aufkommen zu lassen. „Ich betreibe das nur als Hobby.“ Aus einem Missverständnis konnte schnell ein zweites werden und im Nu hatte man den Überblick verloren.

„Eigentlich wollte ich ja mit dem Zug fahren“, sagte Gloria, „aber mit dem Auto macht es wahrscheinlich noch mal so viel Spaß. Das Auto ist doch in Ordnung? Ich meine nur. Es sieht aus, als hätte es schon eine Million Kilometer hinter sich. Im Gegensatz zu Ihrem Fahrrad.“

Fahrrad hatte sie zu seinem Rennrad gesagt. Dem Mann tat die Verunglimpfung richtig weh. „Mit dem Wagen ist alles okay“, antwortete er leicht eingeschnappt.

„Ich bin übrigens Gloria.“

„Sören.“ Aus Angst, sein Rennrad könnte auch nur den kleinsten Kratzer abbekommen, verstaute er ihr Reisegepäck auf dem Rücksitz. Danach räumte er fix den Beifahrersitz frei und wischte mit der Hand einige Krümel weg.

Gloria wollte einsteigen, das aber stellte sich als unerwartetes Problem heraus. Die Tür des Landrovers quietschte nicht nur, sie ging auch schwer auf. Also doch. Gloria sah sich in ihrer Vermutung bestätigt, der Wagen könnte mindestens eine Million Kilometer hinter sich haben, dabei hatte er in Wirklichkeit lediglich 216.526 Kilometer auf dem Tacho. Sie nahm trotzdem auf dem Beifahrersitz Platz. Beim Versuch die Tür zu schließen, scheiterte sie. Gloria versuchte es erneut. Dieses Mal mit mehr Schwung. Sören sollte nicht glauben, sie wäre zu dumm eine Autotür zu schließen, doch auch dieser Versuch misslang. Sie hätte es noch zehnmal probieren können und es hätte nichts gebracht.

Da half nur Muskelkraft und von der hatte Sören mehr als genug. Er beugte sich rüber und zog die Tür zu, als wäre es ganz einfach. Dabei drang etwas von ihrem Parfüm in seine Nase. Er kannte die Marke nicht. Woher auch? Er hatte sich in seinem ganzen Leben nicht für Parfüm interessiert. Dennoch war er von dem Geruch recht angetan – seine Begleiterin roch nach einem zaghaften Flirt an einem lauen Sommerabend irgendwo am Ostseestrand auf Rügen. Das war zwar nicht annähernd sein Gedanke, aber wäre es der Fall gewesen, hätte er gar nicht mal so falschgelegen.

Gloria wurmte es, dass Sören so wenig Mühe hatte, die Tür zu schließen. Es hatte so schrecklich einfach ausgesehen.

Sören war die Sache etwas unangenehm. Er befürchtete, die klemmende Tür könnte ein schlechtes Licht auf ihn werfen.

„Und du bist wirklich sicher, dass der Wagen in Ordnung ist?“, erkundigte sich Gloria spöttisch. Nachdem sie sich mit ihren Vornamen vorgestellt hatten, gab es für sie keinen Grund mehr, sich noch weiter zu siezen.

Ihr spöttischer Ton machte Sören etwas nervös. „Keine Sorge“, antwortete er bierernst. Er konzentrierte sich ganz aufs Ausparken. Er hatte keine Lust auf einen weiteren Zwischenfall. Sonst käme er womöglich nie von hier weg. Oder er hatte das Auto bald voller Leute, die er dann kreuz und quer durch Finnland chauffieren durfte.

2

Sören schaltete das Navigationssystem ein und ließ sich von der weiblichen Stimme durch die Straßen von Helsinki führen. Er wollte so schnell wie möglich auf die E 75.

Gloria blickte aus dem Fenster – sie war von den Sehenswürdigkeiten wie berauscht. Allerdings muss man wissen, dass schon ein kleines, blau angestrichenes Friseurgeschäft sie geradezu euphorisch stimmen konnte. „Sind die Häuser nicht wunderschön?“, seufzte sie.

Sören tat sich mit ihrer Äußerung schwer. Was sollte er an den Häusern schön finden? „Ja, unbedingt“, antwortete er. Das war typisch für ihn. Sören war keiner, der jemandem mit seinen Ansichten die Tür einrannte. Das hatte viele Vorteile. Einer davon war, dass er erst gar nicht in die heikle Situation kam, sich verteidigen zu müssen, falls jemand eine andere Meinung vertrat. Auf diese Weise minimierte er das Risiko, dass er mit jemandem in Streit geriet. Außerdem lief er ungern Gefahr, dass man ihn für einen Ignoranten hielt. Und er musste nicht wirklich über das Gesagte nachdenken, wenn er dem Gesprächspartner zustimmte. Das war vor allem dann von Vorteil, wenn ihn der Gesprächsstoff nicht ums Verrecken interessierte. Überhaupt beschäftigte er sich höchst selten mit der Frage, ob etwas schön war. Es sei denn, die Rede war von einer Frau. Ansonsten zählte für ihn nur, was nützlich war und ob es auch Qualität hatte. Wie sein Rennrad zum Beispiel. Oder die passende Kluft dazu. Oder wenn er sich eine Winterjacke kaufte, dann musste es eine sein, die etwas aushielt und bei der man selbst bei minus fünfzig Grad nicht zu frieren begann, auch wenn er noch nie einen Winter erlebt hatte, der kälter war als minus zwanzig Grad. Aber darauf kam es nicht an, sondern auf Qualität.

„Bist du schon mal in Finnland gewesen?“, erkundigte sich Gloria.

„Das ist mein erster Finnlandtrip“, antwortete Sören.

„Meiner auch“, sagte Gloria.

„Und was treibt dich ausgerechnet nach Oulu?“, wollte Sören wissen.

Gloria überlegte, ob sie ihm die Wahrheit erzählen sollte. Dass sie in dieses ferne Land gereist war, um jemanden kennenzulernen, das hieß, richtig kennenzulernen, quasi von Angesicht zu Angesicht. Bis zu jenem Zeitpunkt kannte sie lediglich den Chatnamen des Mannes, den sie in einem Café in Oulu treffen wollte. Huuhteluaine nannte er sich (sie hatte sich scherzhaft das Pseudonym Sahnehäubchen zugelegt). Wie er aussah und welchen Beruf er hatte, wusste sie nicht. Er wusste auch nicht, wie Gloria aussah und womit sie ihr Geld verdiente. Fotos zu verschicken, war für beide nie ein Thema gewesen (diese Anonymität wollten sich beide bewahren) und schon gar nicht hatten sie das Verlangen, sich über ihren Beruf auszutauschen. Huuhteluaine nicht, weil er der Ansicht war, dass es nichts Interessantes darüber zu berichten gab, Gloria nicht, weil sie ihre Arbeit hasste und nicht mehr darüber nachdenken wollte, sobald sie das Büro verlassen hatte. Gloria hatte huuhteluaine im Chatroom einer bekannten Single-Website kennengelernt. Sie wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, jemandem aus dem Internet auch tatsächlich zu treffen. Daher passte es ihr ganz gut, dass ihr Chatpartner aus Finnland stammte, und, wie er behauptete, lediglich ein wenig seine Deutschkenntnisse auffrischen wollte. Huuhteluaine. Weichspüler. Sie hatte die Bedeutung mithilfe des Internets herausgefunden. Weichspüler. Der Name hatte sie stutzig werden lassen. Wen oder was wollte ihr Finne weichkriegen? Sie etwa? Seine Erklärung war verblüffend einfach gewesen. Als er damit beschäftigt gewesen wäre, sich einen Namen zu überlegen, hätte er gerade Wäsche gewaschen. Mehr würde nicht dahinterstecken. Hatte er zumindest behauptet. Und sie hatte es ihm geglaubt. Zwei Jahre hatten sie einander geschrieben. Manchmal hatten sie wochenlang nichts voneinander gehört und dann wiederum war kein Tag vergangen, an dem sie sich nicht miteinander austauschten. In all der Zeit hatte sich huuhteluaine kein einziges Mal eine plumpe Andeutung erlaubt. Er war immer darauf bedacht, freundlich zu sein. Weder hatte er sie nach den Farben ihrer Augen gefragt noch welche Unterwäsche sie gerade trug. Meist beschränkten sie sich auf ganz banale Dinge. Sie teilten einander ihre Lieblingsorte mit, ihre Lieblingsbücher, ihre Lieblingsspeisen, ihre Lieblingsschauspieler, ihre Lieblingssänger, ihre Lieblingsbands. Auf diese Weise erfuhr Gloria viel über die finnische Kultur und manchmal war sie erstaunt darüber, wie offen und sensibel huuhteluaine war. Sie hatte immer gedacht, finnische Männer wären wortkarg und introvertiert. Und nun war sie in Finnland und würde ihrer Internetbekanntschaft bald gegenübersitzen. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte. Sie war wohl noch dümmer als eine störrische Bergziege.

„Eigentlich will ich von da gleich weiter nach Kuusamo“, sagte sie. Das war eine glatte Lüge. Kuusamo war ihr gerade erst eingefallen.

„Kuusamo?“, wiederholte Sören. „Na dann viel Spaß.“ Er grinste.

„Wieso?“, fragte Gloria. Sie verstand den Witz nicht.

„Kuusamo ist nicht gerade wegen seiner tollen Häuser bekannt“, antwortete Sören.

„Dafür soll die Umgebung umso schöner sein“, entgegnete Gloria. Er würde ihre Bemerkung wohl schlecht widerlegen können. In Finnland war es vermutlich überall schön.

„Du machst Urlaub?“, erkundigte sich Sören.

Gloria nickte. Urlaub. So konnte man es auch nennen. Urlaub von zu Hause. Urlaub von ihrer gestörten Mutter. Tatsächlich hatte sie eine Luftveränderung dringend nötig gehabt. Vermutlich wäre sie niemals nach Finnland gereist, wenn sie nicht gleichzeitig das Bedürfnis gehabt hätte, so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und ihrer Mutter zu bringen.

Sören war kein besonders neugieriger Mensch. Neugierde konnte zur Belastung werden, vor allem wenn er mit Dingen konfrontiert wurde, die er gar nicht hören wollte. Aber was seine neue Begleiterin beruflich machte, interessierte ihn schon. Also fragte er sie danach. So direkt war er selten. Meist wartete er darauf, bis man ihm die Informationen von selbst lieferte und dann entschied er, ob sie für ihn von Bedeutung waren oder nicht. In 99 von 100 Fällen war dies jedoch nicht der Fall.

„Ich arbeite für ein Inkasso-Unternehmen“, teilte ihm Gloria mit.

„Oh!“, entfuhr es Sören. Eine Schuldeneintreiberin. Auch das noch.

„Was meinst du mit oh?“, hätte Gloria gern gewusst.

„Ach, nichts“, antwortete Sören. Er wollte sie auf keinen Fall verärgern. Das Problem war nur, dass er keine Leute mochte, die Schulden eintrieben.

„Hörte sich ein bisschen so an, als hättest du auf dem Gebiet schlechte Erfahrungen gemacht“, sagte Gloria.

„Nicht so wichtig“, entgegnete Sören. Bis auf einen abbezahlten Bankkredit, hatte er nie irgendwelche Schulden gehabt. Und dennoch versuchte seit einigen Monaten ein Hamburger Inkassobüro 92 Euro für ein Abo von ihm einzutreiben. Für ein Abo, das es gar nicht gab, wohlgemerkt. Mit Mahngebühren war die Forderung bereits zu einem hübschen Sümmchen angewachsen. Sören hatte trotzdem nicht vor, auf die unverschämten Bescheide zu reagieren.

„Wir sind ein seriöses Inkasso-Unternehmen“, sagte Gloria, als könnte sie Gedanken lesen. Gott, was redete sie da? Seriös. Klar, wenn man einmal davon absah, dass sie es mit lauter unfähigen Kollegen und Kolleginnen zu tun hatte, deren einzige Motivation darin lag, einen Weltrekord nach dem anderen im Krankfeiern aufzustellen und ihre Vorgesetzten ein merkwürdiges Verständnis von Führung hatten, indem sie ihre Mitarbeiter systematisch schikanierten und wo die Unternehmensleitung die Einführung eines Betriebsrats kategorisch ablehnte.

„Glaub ich sofort“, entgegnete Sören. Um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hatte er auf jegliche Ironie verzichtet. Auf der sicheren Seite fühlte er sich dennoch nicht. Das wäre nur dann der Fall gewesen, wenn sich beide darauf verständigt hätten, das Reden einzustellen (er wäre der Letzte gewesen, der etwas dagegen gehabt hätte). Er hatte oft genug erlebt, wie leicht Worte und erst recht ganze Sätze zu bösen Fallen werden konnten, aus denen es dann kein Entrinnen gab.

Gloria bezweifelte, dass Sören ihr wirklich glaubte, ließ die Bemerkung aber so stehen. Sie wollte jetzt nicht ungemütlich werden. „Machst du auch Urlaub hier, oder bist du nur wegen des Rennens hergekommen?“, wechselte sie bewusst das Thema.

„Mal schauen“, antwortete Sören ausweichend. Eine Woche hatte er eingeplant. Dann musste er zurück auf die Fähre. Ob er wirklich erst nach einer Woche abreiste, hing ganz vom Ausgang des Rennens ab. Würde er unter die ersten zwanzig kommen, wäre er hochzufrieden und dann hätte er allen Grund gehabt, im Land der tausend Seen zu bleiben. Würde er einer der Letzten sein – wovon er nicht ausging –, wäre die Platzierung eine Demütigung für ihn. In diesem Fall würde er das Land Hals über Kopf verlassen und seine Reise nach Finnland für ewig aus seinem Gedächtnis streichen.

„Was meinst du mit mal schauen?“, fragte Gloria. „Hast du denn kein Ticket für die Rückfahrt gebucht?“

„Es gibt immer eine Möglichkeit zurück“, antwortete Sören. „Mit oder ohne Ticket.“

Einerseits beneidete ihn Gloria wegen seiner lockeren Art, andererseits wurde sie durch seine Unbekümmertheit an ihren Job erinnert. Unbekümmertheit hatte schon so manchen ihrer Kunden in den Ruin getrieben. „Und was machst du so, wenn du nicht gerade wegen eines Radrennens nach Finnland reist?“, fragte sie, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Ich arbeite bei der Autobahnmeisterei“, antwortete Sören. Er redete nicht gern darüber. Eigentlich war er gelernter Maschinenbauer, hatte es aber bei der ersten Firma wegen einiger Differenzen mit dem Chef nicht lange ausgehalten – er hatte es nie lange bei einer Firma ausgehalten –, arbeitete mal hier, mal da, auch in Bereichen, die nichts mit Maschinenbau zu tun hatten (unter anderem ein halbes Jahr als Möbelpacker), bis er schließlich bei der Autobahnmeisterei vorsprach, die händeringend Leute suchte. Am Ende des Monats hatte er drei Jahre hinter sich. Ein kleiner Rekord. Inzwischen liebäugelte er damit, erneut die Branche zu wechseln. Sören hatte seine Liebe zur Windenergie entdeckt. Als Servicetechniker von Windkraftanlagen zu arbeiten, war sein Traum. Er war schwindelfrei, fürchtete weder Tod noch Teufel und hatte unbändige Lust daran, an seine körperlichen Grenzen zu gehen. Und er hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung als Maschinenbauer, womit er schon mal eine wichtige Voraussetzung erfüllte. Was ihm zum Servicetechniker von Windkraftanlagen noch fehlte, war ein entsprechender Lehrgang. Der dauerte exakt ein halbes Jahr. An dem Lehrgang konnte er jedoch nur teilnehmen, wenn er bei der Autobahnmeisterei kündigte. Leistungen von der Agentur für Arbeit hätte er in diesem Fall nicht zu erwarten. Er wäre in der Zeit arbeitslos und müsste den Lehrgang aus eigener Tasche bezahlen. Dazu wäre er auch bereit gewesen – er hatte eisern gespart (das Rennrad war der einzige Luxus, den er sich in den letzten Jahren geleistet hatte, ansonsten lebte er eher spartanisch). Sören war sogar schon zu einem persönlichen Gespräch in einem der wenigen Ausbildungszentren gewesen – ein solches befand sich glücklicherweise in der Nähe seines Wohnsitzes – und hatte bei den Dozenten einen guten Eindruck hinterlassen. Er hatte noch eine Woche Zeit, dann lief die Frist für die Anmeldung ab. Er hätte sich auch längst angemeldet, wenn ihn die elende Büffelei nicht abgeschreckt hätte. Er würde lernen müssen bis zum Umfallen. Nun war Lernen nicht gerade eine seiner Stärken, schon gar nicht, eine Prüfung abzulegen, weil da auch immer die Angst mitspielte zu versagen.

„Ist das nicht gefährlich, wenn die Leute so schnell an euch vorbeifahren?“, fragte Gloria.

Sören gab einen undefinierbaren Laut von sich, als wollte er nicht so richtig mit der Sprache heraus. Er hatte die E 75 erreicht und musste sich nicht mehr so auf den Verkehr konzentrieren.

„Gab es auch schon mal einen Unfall?“, wollte Gloria wissen.

Sören atmete tief durch. „Vor einem Jahr ist ein LKW durch die Absperrung gerast“, antwortete er.

„Das muss bestimmt schlimm gewesen sein“, sagte Gloria.

Sören würde den Tag jedenfalls nie vergessen. „Ein Kollege von mir ist dabei gestorben“, entgegnete er. „Es war sein erster Arbeitstag. Und ich war derjenige, der ihm die Stelle besorgt hatte.“ Sören hatte zum Schluss richtig verbittert geklungen und in der Tat ging ihm die Sache noch so an die Nieren, als wäre das Ganze erst ein Tag zuvor geschehen.

„Gibst du dir etwa die Schuld an seinem Tod?“, erkundigte sich Gloria. Es war ihr unangenehm, dass sie eine alte Wunde aufgerissen hatte, aber sie konnte jetzt nicht einfach schweigen oder von etwas anderem reden, obwohl ihr genau danach war. Das hätte sich einfach nicht gehört.

„Wenn ich nicht gewesen wäre, würde er heute noch leben“, antwortete Sören. Er erinnerte sich noch genau an die Zeit nach dem Unfall. Er hatte sich vor lauter Schuldgefühle gehasst. Damals dachte er zum ersten Mal darüber nach, der Autobahnmeisterei den Rücken zu kehren, war dann aber geblieben. Er wollte nicht schon wieder fortlaufen, wie er es all die Jahre zuvor getan hatte – möglicherweise ein Zeichen, dass er erwachsen geworden war.

„War es ein Freund von dir?“, fragte Gloria.

„Nein.“ Seinem Gewissen war das egal gewesen und das hatte es ihn auch lange spüren lassen.

Gloria beruhigte es, dass der Tote kein Freund von Sören war. Sie fand, dass jetzt eine gute Gelegenheit war, die Fragerei einzustellen, ohne den Eindruck zu erwecken, ihr fehle es womöglich an Empathie. Aber irgendwann musste einmal Schluss sein und so gut kannte sie Sören ja nicht, als dass es gerechtfertigt gewesen wäre, in seinem Seelenleben herumzustöbern wie ein Flohmarkthändler auf einem fremden Dachboden. Sie steckte sich die Stöpsel ihres iPhones ins Ohr, um sich das neueste Album von Adele anzuhören, deren Musik sie über alles liebte.

3

Helsinki lag hinter ihnen und die Gegend wurde allmählich ländlicher. Gloria blickte aus dem Seitenfenster des Landrovers. Sie fand es praktisch, dass sie sich um nichts kümmern musste. Es war lange her, dass sie sich so entspannt gefühlt hatte. Finnland war offensichtlich genau das Richtige für sie. Und auch der Typ neben ihr, der einen recht vertrauenerweckenden Eindruck auf sie machte.

Circa fünfzehn Kilometer hinter Lahti – sie befanden sich nun auf der Route 24 – zwitscherte es plötzlich im Wagen, als hätte eine Schar Vögel den Rücksitz in Beschlag genommen. Sören guckte etwas irritiert. Sekunden vergingen, bis es Gloria dämmerte, dass das Gezwitscher der Klingelton ihres Smartphones war. Sie löste hektisch den Gurt, befreite sich von den Stöpseln ihres iPhones, drehte sich nach ihrem Rucksack um und holte ihn zu sich nach vorne. Das Smartphone hatte sie in einer der Seitentaschen verstaut – die richtige war schnell gefunden. Misstrauisch blickte sie auf das Display. Dagmar. Gloria zögerte. Sie konnte sich schon denken, weshalb ihre ältere Schwester anrief. Für einen Augenblick dachte sie daran, das Smartphone ganz auszuschalten. Sie wollte ihre Ruhe haben und nicht mit diesen verfluchten Familienangelegenheiten belästigt werden. Nicht hier in Finnland. Sie ging trotzdem ran. Kaum hatte sie mit ihrer Schwester ein paar Worte gewechselt, wurde ihr Ton schärfer.

Das kriegte auch Sören mit, der gegen seinen Willen Zeuge der Unterhaltung wurde. Er hätte gern weggehört, also konzentrierte er sich auf die Landschaft. Es nützte nichts. Er hätte sich schon die Ohren zuhalten müssen, wenn er nichts von dem Gespräch mitbekommen wollte. Jedenfalls ging es um den Geburtstag ihrer Mutter, die demnächst fünfzig wurde.

„Keine Ahnung, ob ich kommen werde“, hörte er Gloria sagen.

Gloria verspürte nicht das geringste Verlangen, an diesem Tag bei ihrer Mutter aufzutauchen. Es würde doch nur wieder darauf hinauslaufen, dass alle den Mund hielten, wenn es eigentlich darauf ankam, ihr Paroli zu bieten, fünfzigster Geburtstag hin oder her. Gloria hatte genug von dem scheinheiligen Getue. Noch aber kämpfte sie mit der Entscheidung. Klein beigeben oder hart bleiben? Sie hatte gehofft, die Reise nach Finnland würde ihr helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Noch hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Auch nicht mit ihrer Schwester. Die fiel jetzt natürlich aus allen Wolken. Sie konnte sich kaum beruhigen und machte Gloria heftige Vorwürfe. Als sie dann auch noch erfuhr, dass sich Gloria in Finnland aufhielt – Gloria war bis dahin der Meinung gewesen, das ging niemanden aus ihrer Familie etwas an –, wurde ihre Schwester regelrecht hysterisch. Gloria hatte jedoch nicht die weite Reise unternommen, um sich von ihrer Schwester maßregeln zu lassen. Sie brach die Verbindung ab.

Alle Achtung, dachte Sören, seine Beifahrerin mochte zwar eine Inkasso-Tusse sein, aber sie war keine Frau, die der Familie zuliebe ihre Prinzipien verriet. Das gefiel ihm. Schon hatte sie ein paar Punkte bei ihm gutgemacht.

Verärgert steckte Gloria das Smartphone weg, tat den Rucksack auf den Rücksitz zurück und schnallte sich wieder an. Sie war wütend auf ihre Schwester und sie war wütend auf sich selbst, weil sie den Anruf nicht ignoriert hatte, vor allem aber weil sie nicht unmissverständlich gesagt hatte, dass sie nicht kommen würde und damit basta. Sie hatte sich um eine endgültige Entscheidung gedrückt.

„Dumme Gans!“, flüsterte sie, wobei nicht klar war, wen sie damit meinte, sich oder ihre Schwester, was letztlich egal war, denn es hätte auf beide zutreffen können.

Sören grinste mitfühlend, hütete sich aber davor, etwas zu sagen. Die Familienprobleme anderer Leute kümmerten ihn nicht und das sollte auch so bleiben.

Gloria dachte, dass sie ihm eine Erklärung schuldig sei. „Meine Mutter leidet an einer Art Bewusstseinsstörung“, sagte sie.

Sören atmete tief durch. Genau das hatte er befürchtet – die Konfrontation mit Nebensächlichkeiten, mit Dingen, die ihm so gleichgültig waren wie die Heerscharen toter Fliegen vorne an seinem Landrover.

„Sie verdreht immer alles so, wie sie es gerade braucht“, fügte Gloria hinzu. Wenn das keine Bewusstseinsstörung war, was dann? „Und tablettensüchtig ist sie auch.“

Sören hob leicht den Kopf, als habe er die Problematik verstanden.

„Sie benötigt unbedingt eine Therapie“, meinte Gloria noch. „Aber meine Geschwister wollen das nicht wahrhaben. Ich bin es leid, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sollen sie ohne mich heile Familie spielen.“

Sören spürte, dass er jetzt etwas sagen musste. Aber was? Es gab so viele Möglichkeiten, darauf zu antworten und gleichzeitig so viele Möglichkeiten, es sich mit ihr zu verderben. Am besten versuchte er es mit etwas Diplomatie.

„Klingt nicht gerade nach einem Kompromiss“, lächelte er Gloria an.

„Faule Kompromisse nützen keinem was“, entgegnete sie fast schon trotzig und blickte wie abwesend aus dem Seitenfenster.

Sören fand, dass das ein gutes Schlusswort war, er war kein Freund künstlich in die Länge gezogener Gespräche. Endlich konnte er sich wieder auf die E 75 und die Umgebung konzentrieren.

Gloria musste an ihre Mutter denken. Dabei hatte sie sich geschworen, genau das nicht zu tun, solange sie sich in Finnland aufhielt. Sie verachtete ihre Mutter. Obwohl …, nein, ganz so schlimm war es noch nicht. Sie war nur so riesig enttäuscht. Ihre Mutter war selbstsüchtig, verlogen und tablettenabhängig. Dass ihre Geschwister das nicht begreifen wollten. Gloria hatte es so satt. Ständig musste sie sich gegenüber ihren Geschwistern rechtfertigen. Dabei war sie doch diejenige, die den Kontakt zu ihrer Mutter pflegte und sich ständig über sie ärgerte. Ihre Geschwister waren fein raus. Robert und Dagmar waren weggezogen und ließen sich höchstens zum Geburtstag ihrer Mutter blicken. Oder an Heiligabend, wenn sich alle zu Würstchen und Kartoffelsalat und zum Verteilen der Geschenke trafen, mit denen nie einer so richtig etwas anzufangen wusste. Gloria war die Einzige, die ihrer Mutter Kontra gab. Und immer wenn das der Fall war, hatte ihre Mutter nichts anderes zu tun, als mit Dagmar zu telefonieren (Robert nahm die Gespräche aus Feigheit schon gar nicht mehr entgegen), um sich bei ihr über ihre ungerechte Schwester zu beschweren, worauf Dagmar wiederum umgehend bei Gloria anrief und diese heftig wegen ihres Verhaltens attackierte, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was ihre Mutter behauptet hatte, auch der Wahrheit entsprach. So geriet Gloria mit ihrer Schwester jedes Mal von Neuem in Streit. Doch Gloria hatte genug davon. Es machte sie von Mal zu Mal wütender, dass man ihr für alles die Schuld gab, nur weil ihre Mutter eine Spezialistin im Verdrehen von Tatsachen war. Manchmal konnte sie ihren Vater verstehen, dass er sich von dieser Frau hatte scheiden lassen. Was so schade war und was sie so richtig ärgerte, war die Tatsache, dass Dagmar nicht begreifen wollte, wie sehr ihre Mutter sie manipulierte.

Sören war an dem Punkt angelangt, wo er die Fahrt wieder genießen konnte. Manchmal fuhren sie durch Kilometer lange Waldgebiete, die hauptsächlich von Birken und Nadelbäumen geprägt waren, hin und wieder unterbrochen von einigen Felsbrocken zu beiden Seiten der Straße. Dann gab es Abschnitte mit Getreidefeldern, so weit das Auge reichte, darin gelegentlich (fast schon versteckt) ein einsam gelegener Bauernhof. Kamen sie an einem Dorf vorbei, was nicht oft geschah, hatte es in der Regel nicht mehr als ein paar Holzhäuser. Sören fuhr nicht schneller als die vorgeschriebenen 80 km/h. In der Heimat fuhr er nicht so diszipliniert, aber im Ausland konnte eine Geschwindigkeitsüberschreitung ein kleines Vermögen kosten, auch wenn er nicht wirklich wusste, wie viel man in Finnland für zu schnelles Fahren bezahlen musste. Sören verspürte auch kein Verlangen, es herauszufinden. Dafür fand er etwas anderes heraus und das verdarb ihm derart die Laune, dass er Mühe hatte, nicht die Beherrschung zu verlieren – das Kontrolllicht für die Kühlflüssigkeit leuchtete wieder auf. Schon in Helsinki am Hauptbahnhof hatte er ein Problem mit dem Kühler gehabt. Zum Glück hatte er einen Kanister mit Wasser dabei. So hatte er den Kühler wieder auffüllen können. Daher verstand Sören auch nicht, wieso das Kontrolllicht erneut aufleuchtete.

Normalerweise hätte er jetzt ein paar Flüche ausgestoßen, aber das hätte keinen besonders souveränen Eindruck auf seine Begleiterin gemacht. Er überlegte, was er tun konnte, ohne das Gesicht zu verlieren. Lahti hatten sie bereits hinter sich. Er hätte umkehren können, aber bis Lahti waren es ungefähr fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer. Das konnte er nicht riskieren. Dann fiel ihm ein, dass er noch etwas Wasser in seinem Kanister hatte. Hoffentlich rächte es sich nicht, dass er zu bequem gewesen war, den Kanister im Hauptbahnhof wieder aufzufüllen. Er hasste sich wegen seiner Unbesonnenheit. Trotzdem. Vielleicht würde der Rover es ja mit dem bisschen Wasser bis zum nächsten Dorf schaffen. Nach zweihundert Metern kam ein Rastplatz.

„Zigarettenpause“, sagte Sören.

„Ich rauche aber nicht“, entgegnete Gloria.

„Ich muss nur ein bisschen Wasser nachschütten“, sagte Sören. Er versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen.

Gloria wurde misstrauisch. „Stimmt was nicht?“

„Alles in Ordnung“, antwortete Sören. Von wegen. Verdammte Dreckskarre. Er hätte große Lust gehabt, die Kiste in die Luft zu sprengen.

Sören fuhr auf den Rastplatz, nahm den Kanister aus dem Heck und füllte das restliche Wasser in den Kühler. Was er dabei entdeckte, raubte ihm fast den Verstand.

Gloria gefiel das Gesicht, das Sören beim Aussteigen gemacht hatte, gar nicht. Sie öffnete die Beifahrertür, was jedoch nicht so einfach war. Irgendwie schaffte sie es dann doch, die Tür so weit aufzustoßen, dass sie aussteigen konnte, ohne sich ernsthaft zu verletzen. Sie ging zu Sören, dessen Miene noch finsterer geworden war. Gloria brauchte gar nicht zu fragen, was der Anlass seiner Verstimmung war, sie erfasste das Problem auch so – das Wasser, das Sören in den Kühler gefüllt hatte, lief munter unten wieder heraus, sodass sich auf dem frischen Asphalt des erst kürzlich errichteten Rastplatzes eine Wasserlache gebildet hatte. Gloria konnte verstehen, dass Sören so ein Gesicht machte. Ihres sah jetzt nicht viel besser aus.

Sören legte sich unter den Wagen und betrachtete sich den Schaden. Das Loch war so groß wie eine Faust. Da war nichts mehr zu machen. Verdammter Dreck, verdammter!

„Was sagt der Fachmann?“, erkundigte sich Gloria. Noch nahm sie die Sache scheinbar gelassen. Sie ahnte aber, dass die Gelassenheit nur von kurzer Dauer sein würde, sie war sowieso nur gespielt.

Sören kroch wütend unter dem Wagen hervor. „Der Kühler ist hinüber!“

„Na klasse“, entgegnete Gloria sarkastisch. Sie sah keinen Grund mehr, sich zurückzunehmen. „Und jetzt?“

Sören hätte unmöglich in Worte fassen können, wie peinlich ihm die Angelegenheit war. Er hätte es auch gar nicht erst versucht. Hätte man ihm einen Vorschlaghammer in die Hand gedrückt, hätte er den Landrover ohne zu zögern mit ein paar wilden Schlägen zertrümmert.

„Ich brauche einen neuen Kühler“, antwortete Sören zerknirscht.

„Toll!“, entgegnete Gloria. Sie blickte sich theatralisch um. „Es gibt ja auch so viele Läden hier, wo man einen Kühler kaufen kann.“ Sie hätte es wissen müssen. Sie hätte wissen müssen, dass es Schwierigkeiten geben würde. Schon als sie das ungepflegte Auto sah. „In Helsinki hast du gesagt, dass der Wagen in Ordnung ist.“

„War er ja auch“, behauptete Sören.

„Und wie komme ich jetzt nach Oulu?“ Gloria schaute Sören an, als wäre er ein kleiner, mieser Taschendieb.

Sören fühlte sich eher wie ein Vollidiot, aber er wollte sich nicht so fühlen. Er wollte sich wie jemand fühlen, der Herr der Lage war. Daher wäre es ganz hilfreich gewesen, wenn sich Gloria nicht so egoistisch aufgeführt hätte. Er wollte schließlich auch nach Oulu.

„Du kommst schon nach Oulu“, antwortete Sören. „Versprochen.“ Er hatte zwar noch keine Ahnung, wie er das anstellen sollte, aber er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Gloria zu beweisen, dass absolut Verlass auf ihn war. „Ich muss nur irgendwie eine Werkstatt auftreiben.“

„Mit Betonung auf irgendwie“, lästerte Gloria. Sie hatte die Nase voll. Sie ging um das Auto herum und öffnete die Tür vom Rücksitz. Die Tür ließ sich problemlos öffnen. Welch Wunder, dachte sie. Gloria nahm ihr Gepäck und stapfte damit zur Straße.

„Was hast du vor?“, erkundigte sich Sören.

„Trampen“, antwortete Gloria.

Ist vielleicht auch besser so, dachte Sören. Egoistin.

In diesem Augenblick hielt ein rostbrauner Pontiac Chieftain auf dem Rastplatz, gut zwei Wagenlängen hinter Sörens Landrover.

Der kommt wie gerufen, sagte sich Gloria und stapfte mit ihrem Gepäck auf den Oldtimer zu. Der Mann, der am Steuer saß, beachtete sie nicht. Obwohl Gloria bemerkte, dass er am Telefonieren war, klopfte sie an die Scheibe. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter. Sein Gesicht verriet weder Überraschung noch Neugierde, es verriet lediglich, dass er einen Dreitagebart hatte und dass der Fahrer recht gut aussah, was vielleicht mit seinem schwarzen und leicht gewellten Haar zusammenhing, das nach hinten gekämmt war. Einige der Haare fühlten sich offensichtlich einer gewissen kreativen Disziplinlosigkeit verpflichtet, sie fielen einfach seitlich herunter. Gloria mochte das. Es hatte etwas dezent Wildes, Verwegenes an sich. Nun war der Mann weder wild noch verwegen, er wollte lediglich das Telefonat zu Ende führen, dann würde er Zeit für sie haben. Das teilte er Gloria mit. Auf Finnisch. Gloria beherrschte kein Finnisch, sie verstand aber auch so und wartete geduldig. Nach zwei Minuten war er mit Telefonieren fertig. Jetzt war doch so etwas wie Neugierde in seinem Gesicht zu erkennen.

Gloria erklärte dem Finnen in einem recht passablen Englisch, dass sie nach Oulu müsse. Ob er zufällig in dieselbe Richtung fahren würde und ob er sie eventuell mitnehmen könne.

„Steig ein“, sagte der Finne auf Deutsch.

Gloria blickte den Mann verblüfft an. Dass er deutsch konnte, war natürlich fantastisch. Das Blatt schien sich doch noch zu ihren Gunsten zu wenden. Gloria verstaute das Gepäck auf dem Rücksitz und nahm neben dem Finnen Platz. Von ihr aus konnte die Fahrt beginnen.

Noch aber machte der Finne keine Anstalten, den Pontiac zu starten. „Habt ihr Streit?“, erkundigte er sich. Sein Blick war auf den Landrover von Sören gerichtet.

„Was? Oh, nein“, antwortete Gloria irritiert. „Wir sind uns zufällig am Hauptbahnhof in Helsinki begegnet. Er muss ebenfalls nach Oulu und hat mich mitgenommen. Jetzt ist der Kühler hinüber. Ich kann aber nicht warten, weil …“ Weil sie dort eine Verabredung hat, wollte sie eigentlich sagen, überlegte es sich dann aber anders. Sie fand, dass der wahre Grund ihrer Reise niemanden etwas anging. Außerdem schützte sie sich so vor unangenehmen Fragen. Wie sollte sie jemandem verständlich machen, dass sie wegen eines Mannes nach Oulu wollte, von dem sie nicht einmal den richtigen Vornamen kannte, ohne dass man sie für verrückt erklärte? „Na ja, eigentlich wollte ich von da gleich weiter nach Kuusamo“, behauptete sie.

Der Finne nickte. „Ich heiße Mika“, sagte er.

„Gloria.“ Sie lächelte.

Mika startete den Pontiac. Gloria war froh, dass es endlich weiterging. Als der Finne langsam an dem Landrover vorüberfuhr, würdigte Sören Gloria und ihren neuen Reisegefährten keines Blickes. Er würde schon allein klarkommen. Er war bisher mit jeder Situation klargekommen.

Mika fuhr ein paar Meter und hielt wieder an. Dann legte er zur Verwunderung von Gloria den Rückwärtsgang ein. Kurz vor Sörens Landrover kam der Pontiac zum Stehen.

„In Finnland helfen wir einander, wann immer jemand in Not ist“, klärte Mika sie auf, schaltete den Motor ab und stieg aus dem Oldtimer. Der Lack glänzte, als hätte der Wagen eben erst die Produktion verlassen.

4

Sören passte es überhaupt nicht, dass der Besitzer des Pontiacs ausgestiegen war. Er brauchte keinen Zuschauer und schon gar keinen, der dumme Fragen stellte und der ihm sowieso nicht helfen konnte.

Mika stellte sich neben Sören und schaute ihm schweigend zu. Sören tat so, als wäre er mit dem Kühler beschäftigt. Er hatte absolut keine Lust, seine Lage zu erklären, obwohl es da nicht viel zu erklären gab. Dass sein Kühler defekt war, hätte selbst die Großmutter von Rotkäppchen erkannt, wäre sie noch am Leben gewesen. Sören war klar, dass er den Fremden nicht ewig ignorieren konnte. Er war zwar noch immer sauer auf sich, aber das war noch lange kein Grund, sich wie ein Idiot zu benehmen. Unhöflichkeit in einem fremden Land konnte schnell zum Bumerang werden. Er schaute auf und blickte in das scheinbar gleichgültige Gesicht von Mika. Sören nickte ihm freundlich zu, das heißt, er bemühte sich, einigermaßen freundlich zu wirken, auch wenn dies für ihn unter diesen Bedingungen eine Zumutung war.

Mika nickte mit dürftiger Miene zurück. „Hast du ein Seil, damit ich dich abschleppen kann?“, kam er gleich zur Sache.

Sören guckte verdutzt, zum einen, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass der Finne die deutsche Sprache beherrschte, zum anderen, weil der Fremde die Situation sofort erfasst hatte und ihm ohne Umschweife genau die Unterstützung anbot, die er in diesem Augenblick benötigte. Hätte Mika ihn gefragt, ob er ihm helfen könne, hätte Sören verneint und versucht, den Mann so schnell wie möglich loszuwerden. So aber kam er erst gar nicht dazu, seinen Stolz oder was sonst noch hätte hinderlich sein können, die Hilfe eines Fremden anzunehmen, ins Spiel zu bringen.

„Ein Abschleppseil? Ja, klar“, antwortete er überrascht.

„Ich weiß, wo es eine Werkstatt gibt“, sagte Mika.

Werkstatt klingt nicht schlecht, dachte Sören. Er ging nach hinten, öffnete die Heckklappe und suchte nach dem Abschleppseil. Natürlich lag es nicht da, wo es eigentlich hätte liegen sollen. Sören fluchte innerlich. Als machten manche Sachen das absichtlich. Nur um ihn zu provozieren. Er musste fast das ganze Heck ausräumen und kam sich dabei richtig dämlich vor. Schließlich fand er das Seil. Hektisch räumte er alles wieder ein, das Rennrad zuletzt, mit der obligatorischen Plane darüber.

Mika hatte geduldig gewartet. Er hatte zwar gesehen, dass Sören ein Rennrad dabeihatte, sagte aber nichts dazu. Er konnte nichts Außergewöhnliches daran erkennen. Er fand, dass jeder ein Recht hatte, ein Rennrad dabei zu haben, wenn es ihm Spaß machte.

Das Abschleppseil war schnell angebracht. Sören verlor über den Pontiac kein Wort, auch wenn ihm der Oldtimer gefiel und er gern mal am Steuer eines solchen Schlittens gesessen hätte. Obwohl er so einen Wagen nicht unbedingt besitzen wollte, allein der Spritkosten wegen. Es reichte ihm schon, dass sein Landrover so ein Benzinschlucker war.

Mika fuhr langsam an. Als sich das Seil spannte, spürte Sören, wie ein Ruck durch den Landrover ging. Sorgen, dass beim Abschleppen etwas passieren könnte, machte er sich keine. Der Finne schien zu wissen, was er tat.

Mika vergewisserte sich, dass von links kein Auto kam und lenkte den Oldtimer auf die Landstraße, den Rover im Schlepptau.